Seite:Die Gartenlaube (1873) 658.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Friedrich Hecker, der in dieser Stunde auf dem Meere nach seiner Heimath schwimmt, hat vor seiner Abreise noch ein Abschiedsschreiben an den Redacteur dieses Blattes gerichtet, welches Zeugniß von dem reichen Gemüthsleben dieses vielfach verketzerten Mannes ablegt. Wenn wir auch den Inhalt des Schreibens, soweit er privater Natur ist, nicht veröffentlichen können, so glauben wir doch das Interesse unserer Leser durch Mittheilung eines Auszuges aus dem Briefe, der eine Art Glaubensbekenntniß enthält, anzuregen. Nachdem er mit warmen Worten für die ausdauernde Freundschaft gedankt, die das alte Vaterland ihm treu bewahrt, fährt er fort:

„Es ist in dieser materiellen, erwerbjagenden Zeit wohlthuend und den Glauben an die Menschheit stärkend, daß auch unter auseinandergehenden politischen Ansichten die gegenseitige Achtung, Freundschaft und Zuneigung unberührt stehen bleibt, fest und sonder Wanken. So wir zu einander. Mag nach Ihrer Ansicht das Heil unserer Nation in einer Verfassung mit constitutionell-monarchischer Spitze bestehen, so ist mein Arcturus auf der Steuerfahrt durch’s Leben die Republik. Ich habe keinen Glauben an die Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit der Monarchie gegenüber dem zur Mittheilnahme an der Regierung berufenen Volke. Es ist diese Form ein steter Kampf um die Oberherrschaft, ein Kampf, dessen Endziel immer die Vernichtung der andern Gewalt ist, sein wird, sein muß. Von Trugspielen, politischer Heuchelei und Winkelzügen bin ich kein Freund, nein, ein offener ehrlicher Feind. Eine Mischung von Absolutismus und Republicanismus (Demokratie) ist eine Unmöglichkeit, und früher oder später endet die sich wechselseitig täuschende Komödie oder Tragödie, wie sie will.

Ich habe mich eingehend mit dem Studium der Gesetze des heutigen Deutschlands befaßt, denn die Gesetze eines Volkes sind die ehernen Tafeln seines Lebens in der Zeit. Blicke ich auf dieselben, soweit sie politischer Natur sind, so entsprechen sie meinen Begriffen von republikanischer, von bürgerlicher Vollfreiheit nicht, es fehlt eine bill of rights, es fehlen sogar die wirklichen constitutionellen Garantien, das gepriesene System der Theilung der Gewalten ist nicht vorhanden; die Herrschaft und Macht ruht auf der einen Seite der Wage. Ich will das hier nicht erörtern; es genügt zu sagen, daß das Strafgesetz, soweit es den politischen Theil derselben angeht, hinter dem zurücksteht, was wir 1846, wenigstens in der südlichen Hälfte Deutschlands, errungen hatten. Es mag ein Fortschritt in Preußen gegen jene Zeitepoche vorliegen, in Süddeutschland nicht, welches schon 1846 alle Fragen constitutionell-monarchischen Staatsrechts durchgekämpft hatte, als in Preußen noch nicht einmal eine Volksvertretung bestand. Dasselbe gilt vom Gemeindeleben.

Schon 1830 bis 1846 war die Selbstständigkeit und die Selbstverwaltung der Gemeindeordnung mehr oder minder zu Recht beständig und lebendig. Heute will man das Bevormundungssystem, die herrschende Oberhand einer beschränkenden Städteordnung, auf diese freie Selbstbestimmung legen. So könnte ich in’s Vielfache ausführen, wie es um politische Freiheit und Fortschritt steht. Was Befreiung des Verkehrs, Handel und Wandel, Arbeitsbewegung anbetrifft, wer wollte da den Fortschritt leugnen? Aber dieses ist nicht das Product einer Bewilligung von oben, sondern einer Entwickelung, gegen welche jeder Machtspruch, jede Schraube, jede Gewalt vergeblich kämpft. Es ist der Industrialismus unserer Zeit, es sind die neuen Verkehrsmittel, es liegt in der Annäherung der Nationen und dem Austausch ihrer Producte der arbeitenden Kraft. Diese unwiderstehliche, demokratische Bewegung des Handels- und Verkehrslebens ist bis tief in die asiatischen Reiche eingedrungen, hat sich Geltung verschafft, durchsickert und reformirt sie. Es ist kein specifisch einem oder zwei Nationen angehöriger Fortschritt.

Es mag ein politischer Fortschritt, verglichen mit der düsteren Reactions-Periode der fünfziger Jahre, vorliegen. Einen Weiterbau, einen stetigen freiheitlichen Weiterbau auf dem 1846, 1847, 1848 bereits Errungenen kann ich nicht sehen, denn ich bin kein Epigone, dem die frühere Zeit so fremd ist, wie der jungen Generation, die zur Schule ging in der Zeit der fünfziger Reactions-Periode.

Wer mir die Sprache, das Treiben der sogenannten Socialdemokraten vorhält zum Beweise nationaler Duldung, dem diene einfach: Man läßt sie als abscheuliches Exempel gewähren, um die Andern in Furcht und Zittern zu erhalten. Man ist gewiß, daß die Anarchisten sich selbst todt machen, und bereits zeigt sich die Richtigkeit der Calculation an der Zersetzung der Internationalen.

Zu lange habe ich Sie schon mit diesen Zeilen aufgehalten. Nehmen Sie mich wie ich bin, durch und durch Republikaner, Feind jedes Vorrechts, jeder Gewalt, die nicht im Volke wurzelt und von ihm ausgeht, drüben sowohl als anderwärts. Sie sehen, daß ich in der Antimonopolbewegung, die ich vor etwas länger als vierzehn Monaten aufgriff, die rechten Saiten angeschlagen habe und daß daraus eine gewaltige Reformbewegung entstanden ist. Ich glaube eben an die Freiheit, an das Volk und an den Sieg der reinen republikanischen Principien.“


Kirchenfest für Taubstumme. Ende August dieses Jahres fand in Berlin ein großes Kirchenfest für Taubstumme statt, welches von beinahe tausendzweihundert Taubstummen aus allen Theilen Deutschlands und Oesterreichs besucht wurde. Es waren zu diesem Behufe mehr als neunhundert Freikarten zu Eisenbahnfahrten ausgegeben worden. Nach dem Gottesdienste, der in der Dorotheenstädtischen Kirche abgehalten wurde, fand eine gesellige Zusammenkunft aller von auswärts gekommenen Taubstummen statt, bei welcher im eigentlichsten Sinne des Wortes viel mit Händen und Füßen, also durch Geberden, gesprochen wurde. Sind auch die in deutschen Anstalten gebildeten Taubstummen fast sämmtlich in der Lautsprache unterrichtet worden, so bedienen sie sich doch im Verkehr unter einander meist der Geberdensprache, weil ihnen diese eine schnellere Unterhaltung gestattet. Im Umgange mit Hörenden gebrauchen sie dagegen die in den Anstalten erlernte Tonsprache.

Am Tage nach dem Feste fand ein Congreß der Vorstände und Deputirten der deutschen und österreichischen Taubstummenvereine statt, in dem etwa achtzehn Vereine vertreten waren. Als Vorsitzende fungirten der Geheimsecretär Fürstenberg aus Berlin und der Lehrer Rasch aus Leipzig, beide taubstumm. Man verhandelte über nähere Beziehungen der Vereine zu einander und machte Vorschläge, in welcher Weise das geistige und leibliche Wohl der Taubstummen mehr und mehr gefördert werden könnte, wobei besonders hervorgehoben wurde, daß es in Deutschland zur Zeit noch zu wenig Taubstummenanstalten gebe.

Sachsen ist in dieser Beziehung mit gutem Beispiele vorangegangen, denn durch die beiden großen Landesanstalten zu Dresden und Leipzig ist so ziemlich für die Bildung aller in Sachsen lebenden schulpflichtigen Taubstummen gesorgt worden. Bekanntlich war es auch ein sächsischer Fürst, der einst den edeln Samuel Heinicke nach Leipzig berief und daselbst die erste größere Taubstummenanstalt Deutschlands begründete. Im vergangenen Frühling waren es hundert Jahre, daß Heinicke’s erster taubstummer Schüler confirmirt und damit der menschlichen Gesellschaft zurückgegeben war. Die Leipziger erwachsenen Taubstummen feierten damals den Tag in würdigster Weise und verherrlichten durch prachtvoll ausgeführte lebende Bilder das Gedächtniß jenes Mannes, der zuerst die Taubstummen in der Lautsprache unterrichtet hat und nach dessen Grundsätzen noch heute in den deutschen Taubstummenanstalten gelehrt wird. Die Gartenlaube hat zu verschiedenen Malen von Heinicke erzählt und in Nr. 6 1870 sogar sein wohlgetroffenes Bild gegeben. Wir verweisen hier auf diese Artikel und erwähnen nur noch, daß unser Mitarbeiter, der Taubstummenlehrer Stötzner in Leipzig, das bewegte Leben dieses interessanten Mannes, der sich auch um die Volksschule große Verdienste erworben hat, in einer eigenen Schrift ausführlich geschildert hat. Wir empfehlen hiermit das lebendig und frisch geschriebene Werkchen, das für jeden Volks- und Menschenfreund Interesse hat, unseren Lesern. Es ist unter dem Titel „Samuel Heinicke. Sein Leben und Wirken dargestellt von Heinrich Ernst Stötzner“ bei Julius Klinkhardt in Leipzig erschienen.


Berichtigung. In Nr. 38. der Gartenlaube ist im „Kleinen Briefkasten“ am Schluß des mitgetheilten Citats aus einer Zuschrift von E. Marlitt statt: „ich werde mich endlich bemühen“, zu lesen: „ich werde mich redlich bemühen“.


Unser Aufruf zur

Ehren-Dotation für Roderich Benedix

hat bereits gute Früchte getragen. Von zwei Theatern und einer Liebhaberbühne sind die Zusicherungen von Benefizvorstellungen eingelaufen, und überall öffnen sich die Herzen und Börsen für den kranken Dichter. Heute schon, wo die Aufrufsnummer kaum oder noch gar nicht in die Hände des Publicums gekommen, können wir folgende Gaben verzeichnen:

Durch Herrn Hofrath Dr. Hoffmann in Leipzig 200 Thlr.; M. 1856 2 Thlr.; H. F. M. R. in Leipzig 10 Thlr.; N. N. in Düsseldorf 5 Thlr.; von Theaterbesucherinnen in Erfurt 1 Thlr.; anonym aus Görlitz 2 Thlr.; von Einem, der noch nie ein Benedix’sches Stück gesehen, 1 Thlr.; Frau Paulcke in Dresden 2 Thlr.; vom Turnerball in Lauscha 4 Thlr. 3 Ngr. 1 Pf.; Pauline Meißner 5 Thlr.; Lange in S. 1 Thlr.; N. N. in Bochum 2 Thlr.; Th. Weißengrund in Frankfurt a. M. 3 Thlr.; B. u. S. in Berlin 6 Thlr. 20 Ngr.; G. E. Friedlein 1 Thlr.; Pauline von Hoffmann 10 Thlr.; August Lienhardt in B. 5 Thlr.; Victor Bernar in Potsdam 2 Thlr.; J. F. W. in Bochenem 2 Thlr.; W. in Markneukirchen 1 Thlr.; Westermacher in Darmstadt 2 Thlr. 25 Ngr. 8 Pf.; G. Adolf in Köln 1 Thlr.; Namenlos in Berlin 5 Thlr.; A. B. bei Held in Zittau 2 Thlr. 5 Ngr. 5 Pf. mit den Worten:

Den ersten Gruß dem lust’gen, deutschen Alten,
Mit Allem, was sie noch im Beutel fanden,
Das bringen dankbar die nicht wohlbestallten
Bemoosten Burschen und die zärtlichen Verwandten.

An früher eingegangenen und noch nicht quittirten Gaben verzeichnen wir noch:

Von den Sündenböcken in Düsseldorf 50 Thlr.; C. Kühler in Wesel 1 Thlr.; G. Groß in Landsberg a. d. W. 2 Thlr.; Einnahme bei der Benedix-Feier und Versammlung dramatischer Vereine von Chemnitz und Umgegend 50 Thlr.; von R. J. aus St. Petersburg 5 Thlr.; Prof. Wächter 20 Thlr.; eine fröhliche Gesellschaft im „Adler“ zu Usingen 20 Ngr.; Reinertrag einer Benefizvorstellung des Thaliatheaters zu Ehrenfriedersdorf 16 Thlr.; L. M. B. in Königsberg 15 Thlr.; W. Peters in Hamburg 5 Thlr.; Sonneberg in Freienwalde 5 Thlr.; K. in Görlitz 1 Thlr.; von der Theater-Dilettanten-Gesellschaft in Warnsdorf 30 fl. österr. W.; bewilligt von der Hoftheater-Intendanz in Wien 200 fl. österr. W.; Ergebniß einer Sammlung unter den Mitgliedern des Wiener Hofburgtheaters 204 fl. österr. W.; Reinertrag einer Vorstellung des „Aschenbrödel“ vom dramatischen Vereine zu Meerane 26 Thlr. 18 Ngr.; Fräulein Sophie Ruze in St. Petersburg 1 Thlr. 9 Ngr. 5 Pf.

Die Redaction.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 658. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_658.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)