Der Wohlthäter der Taubstummen

Textdaten
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Autor: Ernst Stötzner
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Titel: Der Wohlthäter der Taubstummen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 85–88
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Wohlthäter der Taubstummen.


In der Nähe von Hamburg liegt an der seenartig sich erweiternden Alster das Dorf Eppendorf. Im Sommer ziemlich belebt, da die hübsche Lage des Orts viele Hamburger anlockt, ist es im Winter desto stiller und einsamer. So war es auch schon vor hundert Jahren. Eine Ausnahme machte jedoch das Jahr 1769. Da hatte in der Neujahrszeit eine seltsame Erregung die sonst so stillen Eppendorfer ergriffen und in den Familien, vor Allem aber in der Schenke wurde viel und heftig debattirt über – den neuen Schulmeister, der vor wenigen Tagen im Dorfe eingezogen war.

Samuel Heinicke.

„Dat ist gar keen richtiger Schulmeister,“ meinte der Eine, „er ist ja so stark und groß, daß er kaum in der Schulstube gerade stehen kann.“

„Er soll auch früher Soldat gewesen sein,“ sagte ein Anderer, „aber das möchte Alles sein, wenn er nur nicht, wie unser Pastor erzählt, ein Freimaurer wäre.“

Alle entsetzten sich, fanden es aber schließlich kaum glaublich, da die Freimaurer ja bekanntlich nicht in die Kirche gingen, und der Schulmeister doch morgen zum Neujahrstage die Orgel spielen müßte. Da würde sich die Sache schon ausweisen.

Die Kirche war gedrückt voll, weniger der Predigt wegen, als um den neuen Schulmeister zu sehen und zu hören. Ein großer Mann war er, das sahen nun Alle; er schien gar nicht auf das kleine Chor und die schmale Orgelbank zu passen. Als er aber die Orgel zu spielen begann und mit wohltönender voller Baßstimme das Morgenlied anfing, da winkten die Eppendorfer vergnügt einander zu; denn ein Mann, der so erbaulich singen und spielen konnte, war gewiß kein Freimaurer.

Jetzt betrat der Pastor, ein ziemlich unbedeutend aussehendes Männchen, die Kanzel. Wie wurden nun die guten Leute erschreckt, als dieser, nachdem er viel von der Verderbniß der jetzigen Menschheit gepredigt, mit erhobener Stimme gegen die falschen Aufklärer, die Freimaurer, donnerte, die überall die fromme Christenheit verführen wollten und sich nun auch hier in der stillen Gemeinde Eppendorf eingeschlichen hätten!

Das konnte nur dem neuen Schulmeister gelten. Nun war’s also doch wahr. Aller Augen richteten sich nach dem Chore, dort stand der falsche Aufklärer, der Freimaurer. Aber anstatt von der Wucht der schweren Anklage zerknirscht zusammenzusinken, stand er hoch aufgerichtet da und blickte den erregten Pastor ruhig an. Ja, einige Näherstehende meinten sogar, ein flüchtiges Lächeln auf seinem Gesichte bemerkt zu haben. Der Mann mußte furchtbar verstockt sein.

Am Abende war die Gesellschaft im Wirthshause lebendiger denn je. Der Bälgetreter hatte Genaueres beim Pastor erfahren und erzählte nun, daß der neue Schulmeister von Haus aus ein Obersachse sei, der früher Soldat gewesen, dann desertirt und sich nun viel herumgetrieben habe. In Hamburg habe er vielen Umgang mit Komödianten und Freimaurern gehabt und sei dann lange beim dänischen Grafen Schimmelmann gewesen, der solche Freigeister liebe. Der habe ihm nun auch zu der Stelle hier in Eppendorf verholfen. Der Pastor sei wohl dagegen gewesen, weil er die gute Stelle gern seinem Vetter verschafft hätte; er wäre aber rundweg abgewiesen worden.

Die Stimmung wurde immer bedenklicher. Man wollte zu einem solchen Menschen die Kinder nicht schicken; ja, einige Hitzköpfe hielten es für das Beste, den Schulmeister mit Kind und Kegel zum Dorfe hinauszuwerfen. Da erhob sich der Pachtmüller, ein angesehener und erfahrener Mann, und erklärte, wenn der Schulmeister das Schulehalten so gut verstände, wie heute in der Kirche das Singen und Orgelspielen, da möchte er immerhin ein Freimaurer sein. Der Pastor sei wahrscheinlich nur deswegen so fuchswild, weil sein Vetter die Stelle nicht bekommen habe. Das war denn auch den Meisten einleuchtend, und so war wenigstens zunächst der Friede gesichert. – Am andern Morgen erzählte der Bälgetreter dem Pastor, wie der Pachtmüller, den doch der liebe Gott mit seinem taubstummen Kinde hart genug gestraft, den Freimaurer in Schutz genommen habe. „Ja,“ meinte der Pastor, „das sind hartgesottene Sünder, aber wir werden sie schon zu beugen wissen.“

In der stillen Küsterwohnung saß an demselben Abende still und allein der neue Küster, Cantor und Schulmeister Samuel Heinicke. Weib und Kind waren längst zu Bette, ihn ließ die Sorge um die Zukunft nicht schlafen. Was sollte daraus werden. Nach einem vielbewegten Leben meinte er endlich ein arbeitsvolles, aber friedliches Wirken gefunden zu haben, und nun begann ein neuer Kampf mit dem bigotten, hochmüthigen Pastor und der aufgehetzten Gemeinde. – Lassen wir den Mann jetzt weiter sinnen und überlegen und sehen wir uns einstweilen seine Vergangenheit etwas genauer an. – Im Jahre 1729, dem Geburtsjahre Lessing’s, geboren, blieb Samuel Heinicke der einzige Sohn wohlhabender Landleute. Da er später das väterliche Gut bewirthschaften sollte, so sah es der Vater gar nicht gern, daß sein kleiner Samuel so große Lust zu den Büchern zeigte. Und als dieser gar den Wunsch zu studiren äußerte, da nahm der Bauer, außer Bibel und Gesangbuch, alle Bücher weg. Wozu brauchte ein rechtschaffener Bauer solchen gelehrten Krimskrams! Der arme Junge fügte sich mit schwerem Herzen und war nur froh, daß er bei seinem Großvater das Violin- und Orgelspielen lernen durfte. Später wollte der Vater wieder gewaltsam in das Leben des Sohnes eingreifen. Er meinte eine Frau für ihn aussuchen zu müssen. Samuel hatte aber bereits gewählt, und als sein Mädchen dem Alten nicht gefiel, war der Friede wieder auf lange Zeit gestört. Da nun auch die Eltern des Mädchens einen andern Freier bevorzugten, so faßte der hitzige Bursche raschen Entschluß. Er prügelte seinen Nebenbuhler tüchtig ab und ging dann heimlich nach Dresden, wo sich der kräftige, hochgewachsene Bauernbursche, eine wahre Siegfriedsgestalt, in die kurfürstliche Leibgarde aufnehmen ließ. Hier brach der lang zurückgehaltene Wissensdurst mächtig durch und mit Aufopferung jeder freien Zeit suchte er sich Kenntnisse zu erweitern. So lernte er mit Hülfe des Feldpredigers französisch und lateinisch, [086] und bald konnte der Gardist Samuel Heinicke die Classiker dieser beiden Sprachen lesen. Inzwischen hatten sich die Eltern mit ihm ausgesöhnt, er verheiratete sich und verdiente durch Privatstunden den Unterhalt für seine Familie. Aber noch war er Soldat und eben, als er den Abschied nehmen wollte, brach der siebenjährige Krieg aus und er mußte mit in’s Feld rücken. Der Finkenfang bei Maxen brachte ihn in preußische Gefangenschaft. Er entfloh und seine Frau verbarg ihn hinter alten Fässern vor den eifrig suchenden Preußen. Als alter Dorffiedler verkleidet gelang es ihm endlich aus Dresden zu entkommen und nach Jena zu flüchten. Dort ließ sich Heinicke als Student inscribiren; aber wieder waren es die preußischen Werber, die ihn auch hier aufjagten. Jetzt, fast ganz mittellos, ging er nach Hamburg. Hier nahmen sich Klopstock und Cramer, später Reimarus, Büsch, Unzer des armen Flüchtlings an und verschafften ihm Privatstunden. Auch die Loge nahm sich seiner an, und als er später in das Haus des Grafen Schimmelmann als Secretär kam, da hatte für ihn und die Seinen die äußere Noth ein Ende. Jetzt hatte der Graf ihm auch zu der Eppendorfer Stelle verholfen.

Nach solchem vielbewegten Leben sollte also Heinicke noch immer nicht zur Ruhe kommen. – Die Gereiztheit der Eltern hatte sich auch auf die Schulkinder übertragen, sie versuchten den Schulmeister zu ärgern. Es blieb aber beim Wollen. Die mächtige äußere Erscheinung des Mannes, sein ruhig ernster Blick, vor Allem die eigenthümliche Art und Weise seines Unterrichts übten bald auf die Kinder einen solchen Einfluß aus, daß sie zum großen Staunen der Alten sehr gern in die Schule gingen und mit großer Achtung von dem Lehrer sprachen. Nun wurde auch die Stimmung im Dorfe milder, man grüßte ihn freundlicher; aber bis jetzt war nur Einer in engeren persönlichen Verkehr mit ihm getreten. Das war der schon oben erwähnte Pachtmüller. Bei einem Spaziergange sah Heinicke dessen taubstummes Kind und sein warmes Herz trieb ihn, sich dieses Unglücklichen anzunehmen. Hatte er doch schon vor Jahren, als er noch in Dresden[1] lebte, einen taubstummen Knaben mit dem besten Erfolge unterrichtet. Mit dankbarer Freude ging der Pachtmüller auf den Vorschlag, sein Kind zur Schule zu schicken, ein. Auch die andern Dorfbewohner, obschon sie im Sinne ihrer Zeit das Unglück des Pachtmüllers als Strafe Gottes ansahen, fühlten die Menschenfreundlichkeit des Lehrers heraus und näherten sich ihm mehr und mehr; nur der Pastor stand ihm noch ebenso schroff und feindlich gegenüber, wie am ersten Tage. Er konnte es nicht vergessen, daß Heinicke gegen seinen Willen hergekommen, und sein Aerger stieg, als er sah, daß der fleißige und gewandte Lehrer immer einheimischer wurde. Er suchte neue Angriffspunkte und fand sie in Heinicke’s Lehrweise, die allerdings von der damals gebräuchlichen Schulmeisterei himmelweit verschieden war. Der althergebrachte Schulschlendrian war dem denkenden Lehrer ein Gräuel und mit Eifer begann er in seiner Schule zu reformiren. Vor Allem trat er dem „quälenden, zeitraubenden, begriffslosen, leeren Wortkram im Buchstabiren und Lesen und dem damit verbundenen Bläuen und Poltern in den Schulen, wodurch das Volk von Jugend an auf die unsinnigste Weise behandelt wird,“ auf’s Entschiedenste entgegen.

Mit dieser Art Schulmeisterei wollte Heinicke nichts zu thun haben. Vom Leichten zum Schweren fortsteigend, führte er seine Schüler erst in die sinnliche und dann in die geistige Welt ein. „Lehrt eure Lehrlinge mit Worten Begriffe verbinden; und wenn ihr nicht unsinnig seid, so fangt nicht mit zarten unwissenden Kindern da an, wo ihr aufhören sollt. Der Katechismus ist daher kein Buch für begrifflose Leseanfänger.“ Das Lesen lehrte Heinicke nach der damals ganz ungewöhnlichen Lautirmethode, und hier meinte der Pastor seinen Haken einschlagen zu können. Den guten Eppendorfern kam es nämlich wider alle Natur sonderbar vor, daß ihre Kinder gern zur Schule gingen. Und wenn an schönen Sommertagen die Fenster der Schule geöffnet waren, so vernahmen die Vorübergehenden ganz seltsame Töne. Das zischte, knurrte, brummte, summte so eigenthümlich, daß, „wenn es nicht lichter Tag gewesen, den Bauerweibern die Gänsehaut über den Rücken gelaufen wäre.“. Es fiel dem Pastor nicht ein, den Leuten zu sagen, daß dies die Lautirmethode so mit sich bringe, daß jene merkwürdigen Töne weiter nichts als Sprachlaute seien, die sie ja selbst bei jedem Worte gebrauchten. Er erklärte vielmehr, daß dies ganz unnütze Allotria wären, wodurch der Schulmeister die Kinder an sich lockte, und daß überhaupt die neue Lehrweise nichts tauge, sondern sogar ganz gottlos sei.

Jetzt wurde den Bauern wieder angst; sie meinten, ihr Schulmeister wolle eine neue Religion einführen, und in der Schenke erhoben sich abermals heftige Debatten. Es kam sogar so weit, daß Einige beschlossen, in die Schule zu gehen und den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen. Und wirklich, eines schönen Tages kam ein Haufe angezogen, und die Vorlautesten drangen gewaltsam in die Schule ein. Da aber regte sich in Heinicke das alte Soldatenblut; er machte kurzen Proceß, warf die Deputation zur Thür hinaus, und hatte nun auf einmal – da überlegene Körperkraft dem Ungebildeten am meisten imponirt – vor seinen Bauern Ruhe.

Eine bald darauf folgende Schulprüfung ergab nun ein sehr gutes Resultat, und die Bauern sahen mit Erstaunen; daß man mit der neuen Schulmeisterei viel weiter komme, als mit dem alten Schlendrian. Bei ihnen hatte der Schulmeister gewonnen, aber der Pastor blieb unversöhnlich. Er suchte einen neuen Angriffspunkt. –

Wie ich schon oben erzählte, hatte sich Heinicke des taubstummen Kindes des Pachtmüllers bald nach Antritt seines Lehramtes angenommen. Er sann auf Mittel und Wege, auch dieses Kind zu bilden und ihm Begriffe beizubringen. Die mechanische Fertigkeit des Schreibens bot keine Schwierigkeit dar; aber das genügte Heinecke nicht, er überlegte, ob der arme Junge nicht so viel von der Sprache zu lernen vermöge, daß er sich nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich mit anderen Menschen verständigen könne. Die Schrift allein war seiner Meinung nach nicht dazu ausreichend, da ja ein gut Theil der gewöhnlichen Leute nicht lesen konnte. Hier gab’s nur Ein Verständigungsmittel – das gesprochene Wort. Sollte es nicht möglich sein, da der Knabe wohlgebildete Sprechwerkzeuge hatte, ihn das Sprechen zu lehren? – Heinicke forschte nach, ob nicht früher schon solche Versuche gemacht worden seien, und er fand Manches. So hatte in Spanien Ende des sechszehnten Jahrhunderts Ramirez de Carrion einen taubstummen Marquis de Priego sprechen gelehrt. Der Schüler mußte eine seinem Temperamente angemessene Purganz einnehmen, der nach einiger Zeit eine stärkere, aus Nießwurz und Blätterschwamm bestehend, folgte. Hierauf wurden ihm oben auf dem Wirbel die Haare abgeschnitten und die kahle Stelle jeden Abend mit einer Salbe von Spiritus, Salpeter, bitterm Mandelöl und Wasserlilienwasser eingerieben. Dann mußte sich der Schüler jeden Morgen mit einem Kamme aus Ebenholz die Haare wider den Strich kämmen und abermals eine Latwerge einnehmen, die diesmal aus Mastix, Ambra, Moos und Süßholz bestand. Nun mußte er sich das Gesicht waschen, Nase und Ohren ganz besonders rein abtrocknen, und der Lehrer sprach ihm dann mit lauter Stimme oben über dem Wirbel erst die einzelner Buchstaben des Alphabets, dann Sylben und endlich die Namen bekannter Dinge vor. Der Marquis soll in kurzer Zeit nach diesem Verfahren die Sprache erlernt haben. Es war klar, daß der kluge Spanier solche eigenthümliche Mittel gewählt hatte, um nicht der Inquisition in die Hände zu fallen, die das Streben, Taubstumme ohne äußere Hülfsmittel redend zu machen, bestimmt als Teufelswerk hingestellt haben würde. Damit war also Heinicke nicht gedient. Nutzbringend war ihm aber das Verfahren des Arztes Johann Conrad Amman, der, 1669 in der Schweiz geboren, sich später nach Holland gewandt hatte. Der hatte seinen Schülern die jedem Laute eigenthümliche Mundstellung gezeigt und sie veranlaßt, dieselben vor dem Spiegel nachzuahmen. Da nun aber hierbei noch kein Ton zum Vorschein kam, so ließ er den Taubstummen, während er selbst den Laut aussprach, die Hand an seine Kehle halten, um ihn auf die beim Sprechen entstehende zitternde Bewegung der Luftröhre aufmerksam zu machen. Der Schüler legte dann die Hand an den eigenen Kehlkopf und ahmte dem Lehrer so lange nach, bis der gewünschte Ton kam. Amman’s Schrift: „surdus loquens“ (der redende Taubstumme) gab unserm Heinicke wichtige Fingerzeige, obschon sie über das rein mechanische Verfahren wenig hinausgeht. Von den Versuchen, die Abbé de l’Epée in Paris mit Taubstummen anstellte, hatte Heinicke damals noch keine Kenntniß, es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er wollte die Taubstummen entstummen, während de l’Epée die Stummen stumm ließ, und ihnen anstatt des lebendigen Wortes die Schrift und die Pantomime gab.

[087] Heinicke benützte die von Ammann gegebenen Fingerzeige, und weiteres Nachdenken über die Natur der Taubstummen führte ihn auf den richtigen Weg. Zur großen Freude des Pachtmüllers und zum großen Erstaunen aller Eppendorfer begann der stumme Knabe zu sprechen und schon nach zwei Jahren konnte er, da er gut befähigt war, zur Confirmation angemeldet werden.

Nun denke man sich aber die Verwunderung Aller, als der Pastor – ich will seinen Namen bei dieser Gelegenheit der Vergessenheit entreißen: er hieß Granau – am nächsten Sonntag gegen Heinicke predigte und von der Kanzel herab den erstaunten Bauern nachwies, daß ihr Schulmeister ein Frevler gegen Gottes Allmacht und Weisheit sei, ein Mensch, der Gott meistern wolle, da er die, welche Gott gezeichnet habe – die Taubstummen sprechen lehre!

Der arme Pastor – er würde vergessen sein, wenn ihn sein Streit mit Heinicke nicht lächerlich gemacht hätte. Es wird aber auch erklärlich, warum Heinicke der Geistlichkeit seiner Zeit – es gab noch mehr solcher Zeloten – nicht eben günstig gesinnt war und sie in seinen späteren Schriften so hart mitgenommen hat. Zunächst kümmerte er sich nicht weiter um seinen Pastor, sondern ging mit seinem Zögling nach Hamburg zum Hauptpastor Götze[WS 1], dem bekannten Gegner Lessing’s, und machte ihn mit der Sachlage bekannt. Das sofort angestellte Examen fiel befriedigend aus und nun stand der Confirmation kein Hinderniß im Wege und Granau mußte sie auf höheren Befehl selbst vollziehen. Heinicke’s Lehrverfahren hatte die gelehrte Welt Hamburgs interessirt und zu verschiedenen Artikeln in öffentlichen Blättern Veranlassung gegeben. In Folge davon wurden dem tüchtigen Lehrer von verschiedenen Seiten her taubstumme Kinder zur Erziehung übergeben und die Eppendorfer konnten sich nicht genug wundern, was für vornehmen Besuch ihr Schulmeister fortwährend erhalte. Ihr Erstaunen fand aber keine Grenzen, als sogar 1774 der russische Graf von Vietinghof bei dem Küster vorfuhr und ihm seine taubstumme Tochter zur Erziehung übergab. Doch stets erzielte Heinicke glückliche Resultate und namentlich ward die Sprechfertigkeit seiner Schüler gerühmt. So erklärten verschiedene Hamburger Gelehrte ihre Verwunderung über die Fortschritte, welche die taubstummen Zöglinge im Sprechen machten, und waren überrascht von der Fertigkeit, mit welcher z. B. die Baronesse von Vietinghof vom Munde abzulesen verstand. Kein Wunder, daß sich der Ruf Heinicke’s mehr und mehr steigerte und ihm neue Schüler zuführte. Wie aber sollte er Zeit finden sie alle zu unterrichten? Die Dorfschule war überfüllt und forderte eine volle Manneskraft, und doch galt es auch die taubstummen Pensionäre nach Möglichkeit zu fördern. Es war eine Riesenarbeit, die auf Heinicke lastete, die nur eine solche körperlich und geistig kräftige Persönlichkeit einige Jahre bewältigen konnte. Auf die Dauer vermochte es aber auch diese eiserne Natur nicht auszuhalten. Heinicke ward seines Lebens nicht mehr froh, er fühlte, daß er sein Amt oder sein junges Institut aufgeben müsse, und es konnte für ihn nicht fraglich sein, welches von beiden. Sofort ließ sich dies aber nicht ausführen.

Da wurde ihm durch den Grafen Schimmelmann, seinen alten Gönner, der mit großer Theilnahme die Bestrebungen Heinicke’s verfolgt hatte, der ehrenvolle Antrag gestellt, er möge sein junges Institut nach Wandsbeck, dem Lieblingssitze des Grafen, verlegen. Dort werde die Anstalt sowohl durch hinreichende Localitäten, wie durch Geldmittel in ausreichender Weise unterstützt werden. Heinicke würde auf dieses großmüthige Anerbieten sofort mit Freuden eingegangen sein, wenn der Graf eine größere Stadt, etwa Altona, gewählt hätte, denn er meinte, daß „für eine Taubstummenbildungsanstalt eine große volkreiche Stadt gewählt werden müsse, in deren vielbewegtem bürgerliche Leben für taubstumme Zöglinge sich ein weites und reiches Feld nützlicher und bildender Anschauungen und Erfahrungen öffne“. Das bot aber das eben erst zum Flecken erhobene Wandsbeck nicht, und deshalb zerschlugen sich die Verhandlungen mit dem Grafen, dessen Lieblingsidee es eben geworden war, diesen Ort zu vergrößern und zu verschönern und durch die Begründung einer Taubstummenanstalt – der ersten in Deutschland – berühmt zu machen.

Die Last, welche unsern Heinicke drückte, wurde immer größer, als im Spätherbste des Jahres 1775 seine Gattin starb, die einundzwanzig Jahre hindurch so treulich Freud und Leid mit ihm getragen hatte. Sie hinterließ ihm vier Kinder.

Wohl traf ihn dieser Schlag härter, als alle früheren zusammen, aber seine kräftige Natur überwand auch diesen Verlust; in schwerer Arbeit begrub er seinen Schmerz und unablässig waren seine Bemühungen seine Methode zu vervollkommnen. Die junge Anstalt in Eppendorf wurde immer bekannter. Das Dorf wurde durch Heinicke berühmt und Besucher aller Art selbst aus den höchsten Ständen, kehrten ein in der niedrigen Küsterwohnung. Es ging nun nicht mehr länger, Heinicke mußte sich entscheiden und Ostern 1777 legte er sein Amt als Cantor, Organist und Küster in Eppendorf nieder, um nun ganz seinen Taubstummen leben zu können. Es war dies ein schwerer Schritt, er hatte für vier Kinder zu sorgen und die Eppendorfer Stelle hatte ihn reichlich genährt; aber um der guten Sache willen wagte er das Entscheidende. Zunächst blieb er noch in Eppendorf.

Da, im Sommer desselben Jahres, kam unter anderem Besuche auch ein sächsischer Hauptmann von Schröder nach Eppendorf, der sich ungemein für Heinicke’s Bestrebungen interessirte. Er erfuhr im Verlaufe des Gesprächs, daß Heinicke aus Kursachsen gebürtig sei, und fragte nun, warum Heinicke nicht nach Sachsen zurückkehre. Daran hatte Heinicke nie gedacht. Der Gedanke entzückte ihn, aber er hielt ihn nicht für ausführbar. Schröder erklärte weitere Schritte thun zu wollen, und hielt rechtschaffen Wort. Nach Dresden zurückgekehrt, sprach er mit dem Geheimrath von Ferber weiter über diese Angelegenheit und dieser, eine bei Hofe angesehene Persönlichkeit, legte dieselbe dem Kurfürsten vor und hatte in Folge davon die Freude, an unsern Heinicke schreiben zu können, daß der Kurfürst „den ihm desfalls gewordenen Vorschlag beifällig angenommen habe, und daß Heinicke seinen Willen und die Bedingungen unter welchen er sein Institut nach Sachsen verlegen würde, schriftlich einsenden möge.“

Heinicke zögerte nicht mit der Antwort. Er erbat sich eine Besoldung, die dem Einkommen der Eppendorfer Stelle – vierhundert Thaler – gleichkomme und ihn mit den Seinigen gegen Mangel schütze, wofür er sich anheischig machte, arme Taubstumme, wenn sonst für ihre Beköstigung gesorgt würde, zu unterrichten. Da ihm die Wahl des Ortes freigestellt war, so bestimmte er Leipzig hierzu.

Sehnsuchtsvoll harrte Heinicke auf den Bescheid, der so tief in sein Leben eingreifen sollte. Er sollte nicht lange warten Das kurfürstliche Schreiben kam an und mit zitternder Hand erbrach er das Siegel. Alles war ihm bewilligt, und der Brief enthielt schon das von Friedrich August eigenhändig unterzeichnete Vocations-Rescript, datirt vom 13. September 1777. Es sei unvergessen in der Geschichte der Menschheit, daß dieser Fürst der erste gewesen, der in seinem Lande eine Taubstummenanstalt errichtete.

Heinicke war glücklich. Ohne Sorge für die Existenz seiner Familie war er nun in den Stand gesetzt sich ganz seinen edeln Bestrebungen hingeben zu können. Er wendete sich zunächst nach Hamburg, um von dort aus seine Vorbereitungen zur Uebersiedlung nach Leipzig zu treffen, vor Allem aber um seinen Kindern und Pflegekindern eine neue Mutter zu geben. Diese Frau, Katharina Elisabeth Heinicke, ist für die Leipziger Anstalt von großer Wichtigkeit geworden, denn sie hat nach Heinicke’s Tode durch die schlimmsten Kriegsjahre hindurch die Anstalt geleitet und behütet und somit ihres Mannes Schöpfung vor sicherem Untergange bewahrt.

Anfangs April 1778 war endlich Alles zur Abreise fertig und Heinicke zog mit den Seinen – unter ihnen neun taubstumme Zöglinge – dem alten Heimathlande zu. Als armer hülfloser Flüchtling hatte er dasselbe vor zwanzig Jahren verlassen müssen und jetzt kehrte er zurück, gerufen von dem Fürsten des Landes, als ein angesehener, hochgeehrter Mann. Am 13. April kam er in Leipzig an, stieg im Gasthofe zum Helm, dem jetzigen Hôtel de Prusse, ab und eröffnete daselbst schon am nächstfolgenden Tage sein Institut, das erste seiner Art in Deutschland.

Nur zwölf Jahre waren ihm noch vergönnt, am 30. April 1790 starb er, aber in dieser Zeit hat er unendlich viel für das Wohl der Taubstummen gethan. Leider fand er nicht die Anerkennung[WS 2], die er verdiente. Er mußte sogar erleben, daß auch in Deutschland die Lehrweise des Abbé de l’Epée der seinigen vorgezogen wurde, daß Kaiser Joseph in Wien eine Anstalt nach französischem Muster einrichten ließ. Freilich war Heinicke hierbei nicht ohne Schuld; er war verbittert worden und schrieb eine so scharfe Feder; daß die Zahl seiner Gegner fortwährend wuchs. Literarische Fehden ohne Ende waren die Folge hiervon, und diese schadeten seiner Person und seinem Werke. Erst die Neuzeit ist [088] ihm gerecht geworden. In allen deutschen Anstalten bildet die Lautsprache die Grundlage des Unterrichts und jetzt, hundert Jahre nachdem Samuel Heinicke damit begonnen, fangen auch Franzosen und Engländer an, die deutsche (Heinicke’sche) Unterrichtsweise als die richtige und naturgemäße zu erkennen und anzunehmen. (Vgl. Gartenlaube 1869, Nr. 3, S. 42.[WS 3]) Frankreich hat dem Abbé de l’Epée ein prächtiges Denkmal zu Versailles errichtet, während in Deutschland Samuel Heinicke nahe daran war, ein vergessener Mann zu werden. Gewiß wird aber nun das deutsche Volk diesem echten Menschenfreunde ein treues Gedächtniß bewahren. An der Leipziger Taubstummenanstalt wirkt heute noch segensreich eine Enkelin Heinicke’s als Mutter der Taubstummen. Es ist dies die Gattin des gegenwärtigen Directors, Frau Elisabeth Eichler. Das beigegebene Portrait ist nach einem im Besitz dieser Familie befindlichen Oelgemälde gefertigt worden.

Ernst Stötzner. 



  1. Ob im Jahre 1754 oder 55, ist nicht genau erwiesen, aber beachtenswerth ist es, daß es in derselben Zeit war, als Abbé de l’Epée in Paris anfing, Taubstumme zu unterrichten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Melchior Goeze
  2. Vorlage: Anerkennnung
  3. Vorlage: Nr. 42.