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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Von der Wiege des preußischen Liberalismus.
Von Rudolf Gottschall.
II.

Wer an unseren politischen Fortschritten zweifelt, der blicke dreißig Jahre zurück auf die Zeit nach der Thronbesteigung des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten; er versetze sich in die damaligen Stimmungen und Bestrebungen und er wird finden, daß es kaum möglich ist, die rührende Unschuld des politischen Bewußtseins in jener Zeit sich mit voller Klarheit vor die Seele zu führen.

Was damals die liberale Bewegungspartei anstrebte, das ist jetzt längst in Fleisch und Blut unserer Staatsverfassung übergegangen, und selbst der extremste Anhänger des Bestehenden nimmt als selbstverständlich an, was damals ein Zankapfel der erregten politischen Parteien war. Wo ist jetzt ein Conservativer, welcher noch die Berechtigung einer reichsständischen Verfassung bestreiten wollte? Bis zur Behauptung der Möglichkeit directer Urwahlen verstiegen sich in jener Zeit nur die extremen Politiker, deren seiltänzerische Kühnheit angestaunt wurde, und ich selbst besinne mich, wie noch im Jahre 1848 ein Königsberger Professor des Staatsrechts mir bei einer öffentlichen Debatte über dieses Thema in einer politischen Versammlung entgegnete, direkte Urwahlen seien höchstens in kleinen Republiken möglich, in größeren Staaten aber unausführbar.

Ein anderes kühnes Begehren der Liberalen von 1840 war die Preßfreiheit – wer hält es heutigen Tags noch für möglich, daß ein großer Theil der Beamten und die ganze conservative Partei sich auf das Aeußerste gegen dieses Verlangen sträubte? Wie groß waren die Erfolge von Hoffmann von Fallersleben, wenn er in seinen „Unpolitischen Liedern“ seine epigrammatischen Pointen wie Kletten auf die Censoren warf; wie imponirte Freiligrath, wenn er mit tragischem Schwung einen Censor als Gedankenmörder darstellte!

Doch diese „Gedankenmörder“, welche die Phantasie des Dichters wie im Wahnsinn umherirren sah, mit dem Kainszeichen auf der Stirn, verfolgt von den Schatten der Erschlagenen, waren in Wirklichkeit gar nicht so schreckenerregend, wie ich selbst mich überzeugte, wenn ich bei einer gemüthlichen Tasse Kaffee mit einem solchen Inhaber des officiellen Rothstiftes über die Druckfähigkeit meiner politischen Gedichte verhandelte. Statt eines haarsträubenden Flüchtlings vor den Erinnyen hatte ich einen wohlwollenden Sterblichen mir gegenüber, und zwar zunächst Niemand anders, als denselben Schulrath Lucas, der meinem Abiturientenexamen präsidirt hatte. Wir erwogen in freundlicher Gemeinsamkeit, welche Gedichte als Opfer auf dem Altar der unentrinnbaren Nothwendigkeit, der Censur, bluten mußten. Als feiner Aesthetiker enthielt sich dieser Censor der nutzlosen Grausamkeit, Poesien zu verstümmeln, ihnen gleichsam die Hände und Füße abzuhacken und sie so als lebendige Anklagen gegen das ununterbrochene Opferfest eines vom Staat geheiligten Gedankenmordes in die Welt zu schicken. War es doch oft noch Brauch, durch Gedankenstriche die Lücken anzudeuten, welche die Censur in den Ideenverbindungen der Prosaiker oder gar in den Versen der Dichter gerissen hatte. Schulrath Lucas verurtheilte ein subordinationswidriges Gedicht augenblicklich zum Tode, wenn auch nur eine einzige Strophe rebellisch war – und ich fand dies vom ästhetischen Standpunkt aus vollkommen gerechtfertigt. Ja, ich hatte den liebenswürdigen Censor oft in Verdacht, daß er seine Censur von einer feinsinnigen Kritik nicht freihielt und manches Gedicht wegen leichten Vergehens doch zu Pulver und Blei verdammte, blos weil es ihm nicht werth erschien, im Lichte der Oeffentlichkeit zu wandeln. Am Abend nach einem solchen Autodafé war ich oft bei meinem Gedankenmörder zu einem Thé dansant eingeladen und über die Cotillonorden, die ich von seinen anmuthigen Töchtern erhielt, vergaß ich meine grausam hingeopferten Geisteskinder. War das nicht gemüthlicher und patriarchalischer als die „Preßfreiheit mit dem Galgen daneben“, welche dem Herrn von Thadden lange Jahre auf dem vereinigten Landtag als Ideal vorschwebte?

Auch andere Censoren waren indeß keineswegs unnahbar. Einige Jahre später hatte ich mit dem damaligen Königsberger Polizeipräsidenten über ein Festspiel zu verhandeln, dessen Censur ihm oblag. Im Gegensatz zu Schulrath Lucas war der Präsident wieder besonders auf die Beseitigung einzelner Stellen und Ausdrücke bedacht, welche ich mit dem Aufwand meiner ganzen Beredsamkeit zu retten suchte. Es würde heute sehr seltsam klingen, wenn ich erwähnen wollte, was Alles damals „beanstandet“ wurde. Doch ließ sich der Polizeichef durch Gründe überzeugen und mancher bereits verurtheilte Gedanke wurde für die Prosceniumslampen gerettet. In Erinnerung ist mir aber noch geblieben, daß der Präsident, als ich mich, um eine Stelle zu vertheidigen, auf eine ähnliche Wendung in Goethe’s „Faust“ berief, sich im Eifer der Debatte zu der Behauptung hinreißen ließ, es wäre überhaupt besser, wenn Goethe seinen „Faust“ gar nicht geschrieben hätte!

Welche Bedeutung eine Zeitschrift, ein Blatt, ein Werk damals behauptete – das hing wesentlich von dem geistigen Standpunkt seines Censors ab. Ein engherziger Censor lastete wie ein Alp auf der ganzen Literatur seines Sprengels; ein liberaler, welcher möglichste Gedankenfreiheit gab, förderte den Aufschwung der Geister. Nur eine im Ganzen milde Censur machte es möglich, daß Königsberg als Vorort der politischen Freiheit die Augen von ganz Deutschland auf sich zog. Die Königsberger Hartung’sche Zeitung, die sich in Format und Papier damals wenig von dem Rastenburger Kreisblatt unterschied, erregte durch ihre Leitartikel das allgemeinste Aufsehen. Von den Gestaden des Frischen Haffs schien ein frischer Hauch herüberzuwehen in das damals noch regungslose Deutschland – und nur von der Oder antwortete dem Pregel das lebhafteste Echo. Der Leitartikel, heutzutage oft der vertraute Freund unseres Halbschlafs, stand damals noch in voller Jugendblüthe; ein geharnischter Leitartikel war ein Ereigniß; diese politische Weisheit war noch so neu, so jungfräulich, daß sie alle Welt wie mit einem geheimen Zauber anzog. Die Leitartikel der Königsberger Zeitung hatten etwas von der schneidenden Klarheit eines ostpreußischen Wintertages; was sie verlangten, Reichsstände, Preßfreiheit – das gehört jetzt zu den Thatsachen unseres Staatslebens, mit denen ganze Geschlechter aufgewachsen sind. Damals aber gehörte Muth zu solchem ungestümen Anklopfen an die Pforten der Zukunft – und diejenigen, welche sich behaglich angesiedelt haben auf dem mühsam errungenen Boden unseres Verfassungslebens, sollten der ersten „Pfadfinder“ nicht vergessen, welche sich mit der Axt den Weg durch das Dickicht gehauen haben.

Bald sollte ich in Königsberg auch die Männer des Tages, die „öffentlichen Charaktere“ kennen lernen, von denen die Bewegung ausging. In nächste Berührung kam ich mit einem Manne, der in jener Zeit zwar seitab stand von der gewaltigen Zeitströmung, der sich aber nachher unter den politische Charakteren Deutschlands eine hervorragende Stellung erobert hat.

In einem der Hörsäle der baufälligen Albertina versammelten sich die juristischen Novizen, um sich in die „Institutionen“ einweihen zu lassen und die ersten Blumen auf jenem Anger des römischen Rechts zu pflücken, der so reich ist an Disteln und Dornen, und auf welchem mancherlei Nüsse wachsen, die der menschliche Scharfsinn nur mit großer Anstrengung zu knacken vermag. Auf den Katheder stieg ein junger Professor, ungefähr dreißig Jahre alt, von ausdrucksvollen Zügen und stattlicher Repräsentation. Es lag in seinem Auftreten und Erscheinen etwas Würdevolles, was über die Lebensjahre des jungen Gelehrten hinausging; doch streifte diese Gemessenheit durchaus nicht an Pedanterie. Im Gegentheil, es war eine gewisse Eleganz in seiner Toilette unverkennbar, etwas Behagliches und Vermögliches, was wir bei wenigen anderen Docenten der Universität zu entdecken vermochten. Es hatte Alles seine Art, wenn er den Hut ablegte, den Rock aufknöpfte – man glaubte immer, es müsse ein Ordensstern dabei zum Vorschein kommen. Sein Kopf gehörte in jene Classe der Jupitersköpfe, wie sie Goethe, Varnhagen und andere berühmte deutsche Männer besaßen, nur daß dieser Zeus noch sehr jugendlich war und dabei eine leise, aber interessante alttestamentliche Schattirung nicht verleugnete.

Kräftig und voll war das Organ des Vortragenden, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_216.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)