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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

sollte, nachzuweisen, wie sich in Deutschland unser ästhetischer Begriff „Romantisch“ entwickelt hat aus dem so geistiglebendigen, bahnbrechende achtzehnte Jahrhundert heraus, ja sogar aus den Seherblicken der unbefangensten, freisinnigsten Forscher, eines Rousseau, eines Herder. Der Geschichtsschreiber der Romantik würde erst durch manche, sogar „classische“, Propyläen und Vorhöfe gelangen zu jener vorhin angedeuteten vollen Glanzperiode der Romantik, die wir dem brennenden Farbenlicht einer Kirchenfensterrose über dem Portal eines Münsters vergleichen möchten. Er würde hierauf zu verzeichnen haben die Uebergänge aus diesem romantischen Vollbewußtsein zum Humor, zur Satire, zur Ironie, bis sich der romantische Gedanke, schon zersetzt, dem aus einem weitaus andern Bereich entstammenden Begriff des „Modernen“ näherte. In fast allen Meistern der romantischen Dichtungszeit sind diese Uebergänge mitgegeben. Sogar bei Görres finden sie sich, bei Achim von Arnim, Clemens Brentano und vollends bei Ludwig Tieck. Nur bei einigen wenigen schien es nicht mehr möglich, daß sie dem Zauberbann ihrer ausschließlichen Phantasienwelt entrannen. Nicht bei Novalis-Hardenberg, nicht bei Joseph von Eichendorff, welcher letztere sogar mitten unter den gebieterischen Notwendigkeiten der verstandeskühlen Neuzeit in’s Grab gegangen ist unter dem ihm noch immer vernehmbar gebliebenen geisterhaften Wehen jener „Trösteinsamkeit“ von Heidelberg, unter dem Nachhall von Waldhornklängen aus unergründlichen Waldestiefen der Ahnung, unter dem märchenhaften Rauschen von schöngefiederten Reihern, wie sie an goldenen Kettchen Briefe dahintragen mit einem Selam an zierliche Erker eines maurischen Schlosses, wo Märchenprinzessinnen wohnen, Zauberinnen wunderbar verschlungener Lebensschicksale und Märchenabenteuer.

Nur die allerroheste Hand könnte es sein, die im Vollbewußtsein „gesunden Menschenverstandes“ in die allmähliche Abwickelung des romantischen Zauberfadens innerhalb unserer neuen deutschen Literatur gewaltsam hineingreifen und den vielen Verirrungen und sogar moralischen Selbsttäuschungen, die allerdings im Gefolge der Romantik, im Gefolge eines systematische Scheinlebens, nicht ausbleiben konnten, nicht blos die ewigen Gesetze der Kunst, sondern sogar die Paragraphen - des Strafgesetzbuches entgegenhalten wollte! Eines feinen Analytikers ist es vielmehr würdig, zu schildern, wie der romantische Scheingedanke allerdings allmählich auch ein - Truggedanke wurde, ein ästhetischer Truggedanke schon bei Heinrich von Kleist, noch mehr bei E. T. A. Hoffmann und bei vielen Andern, ein moralischer sogar bei Denen, die ihr romantisches Kunstprincip aus die Forderungen der Neuzeit im Leben des Staates, der Kirche, der Gesellschaft übertrugen. Wie anmuthig vermählte sich aber noch die Romantik mit dem Begriff des Modernen bei Heinrich Heine! Allerdings wird der Analytiker nachzuweisen haben, wie weit noch für Heine die Romantik Ernst oder Spielerei, ich für mein Theil meine, ein abgezogener Tripleextract gewesen, geträufelt auf gemachte Blumen. Er wird nachzuweisen haben, wie eine ganze Phase der neuern Romandichtung zunächst aus den Uebergängen der Romantik in die Ironie hervorging. Tieck's Beispiel voran, nach ihm Immermann, andersbedingter Kräfte, wie Rehfues, Steffens, Heinrich König, Mörike, nicht zu gedenken. Die Bezeichnung der Stelle, wo dann plötzlich ein niederfallender Schlagbaum zu sagen hätte: Bis hieher und nicht weiter! wird nicht fehlen dürfen. Sie muß offen und ehrlich angegeben werden. Bei Immermann´s „Münchhausen“ liegt sie in der Nähe. Bei dem, was in diesem Arabeskenbuche Ernst oder Scherz sein sollte, hat sich der kritische Feldmesser anzusiedeln, seinen Meßtisch aufzuschlagen und die Visire zu richten. Denn hier beginnen die Scheidewege des Modernen und der noch zurückgebliebenen - romantischen Flunkerei.

Sie wünschen mein Urtheil über Levin Schücking’s Schloß Dornegge oder der Weg zum Glück. Roman in vier Bänden“ (Leipzig, Brockhaus) zu haben. Der Verfasser ist ein liebenswürdiger, vielseitig unterrichteter, höchst weltgebildeter Autor, der sich schon in mannigfacher Weise um unsere Literatur verdient gemacht hat. Bei seinen Romanen aber vertritt er durchaus jene Romantik, die nach meinem Dafürhalte hinter uns liegt. Nicht etwa, daß wir ihm auf jenen Wegen noch begegneten, wo einst Novalis seinen Heinrich von Osterdingen „die blaue Blume“, jene wunderbare Verheißung im Geschmack des heiligen Graal, suchen ließ, auf Wegen, die noch unser vor Kurzem von unsäglichen Leiden erlöster Julius Mosen mit so behaglichsicherem Schritt und träumerisch- sorglos wandelte - im Gegentheil, Levin Schücking ist geradezu bei den Franzosen allerjüngsten Datums in die Schule gegangen. Er hat verstanden, sich einen Ruf „beliebter Erzählerschaft“ zu begründen, ganz, wie ihn nur ihre Ponson du Terrail und andre Matadore ihres Feuilletons genießen. Er greift in's volle moderne Leben hinein, hat Paris, Rom, Neapel gesehen, versteht sogar die Sprache der Börse. In diesem seinem neuesten Roman läßt er den großen belgischen Dr. Stroußberg, den päpstlichen Grafen Langrand Dumonceau, der die österreichische Finanzschuld aus seinen Beutel hatte übernehmen und den Nächten des Doctor Brestel in Wien den süßesten Schlummer garantiren wollen, persönlich auftreten, und nach allen Richtungen hin glaubt man bei ihm die Personen und Zustände des Tages und vorzugsweise das Leben auf den Schlössern und Höfe Westphalens mit Händen greifen zu könne. Er setzt, was er berichtet, lebhaft in Scene. Wenn es wahr ist (und wenn es wahr ist, wäre es „ schade“, wie Polonius sagt), daß unsere Lesewelt keine andere Darstellungsform mehr genießen mag, als Dialog, so besteht der vorliegende Roman fast nur aus Dialog. Man glaubt zuweilen in ein Handbuch der Conversationsprache zu blicken.

Die vorliegende Erzählung ist die Combination eines gebornen Märchenerzählers. Würde Levin Schücking diese Geschichte von einer Millionärstochter, die durch einen unwiderstehlichen Hang zu persönlicher Charakterbewährung in die Ferne getrieben und Hauslehrerin wird, dabei eine Cassette mit einer halben Million, theilweise in baarem Gelde, mit sich trägt, um dieselbe Personen zu übergeben, die durch einen letzten Willen des auf dem Berge Athos in Griechenland als Einsiedler verstorbenen Barons von Nesselbrook die wahren Erben seines großen Vermögens und des Schlosses Dornegge sein sollen, würde er sie, sage ich, in die Sprache der Tausend und Eine Nacht oder der Märchen der Gebrüder Grimm übersetzen, so würde sie eine allerliebste Wirkung hervorbringen. Der alte Nesselbrook wäre dann unbeschadet der Eigenschaften die ihn als eine geistreiche Charakterzeichnung des bekannten Freiherrn von Harthausen und einen Geistesbruder des von mir in meinem „Zauberer von Rom“ geschilderten „Onkel Levinus“ erkennen lassen, gleichsam „der Alte vom Berge“, der „Hüter des großen Schatzes“ sein, während „Saladin erst den kleinen verwaltet“, ein Derwisch gewordener großer Emir der Wüste. Die Tochter des belgischen Dr. Stroußberg wäre dann eine Sultanstochter, die sich vor einem Dämon der Hölle, hier Baron Jauffroi von Montenglaunt geheißen, zu retten sucht, dabei aber das Schicksal erleben muß, immer wieder andere Abgesandten der unteren Mächte, vielleicht wegen einer alten Verfeindung derselben mit ihrem Papier statt Gold in die Welt einführenden Vater, in die Hände zu fallen, von welchen Freiern zwei sogar tödlich verwundet werden von einem Abgesandten des hehren Geistes Ormuzd, des Lichtregierers. Durchaus märchenhaft ist jener Schuß eines Barons Dankmar auf eine Gruppe, wo die Sultanstochter mit einem andern der Abgesandten Ahrimans, dem Baron Beltram, auf einer einsamen Insel im Verzweiflungskampfe ringt. Es ist ein Schuß, märchenhaft wie der Schuß des Tell. Denn wie leicht hätte auch der schwirrende Pfeil (im Buche steht die Flintenkugel) die Heißgeliebte (und Dankmar ist der Auserwählte) bei diesem Ringen und Sichentwinden treffen können! Dankmar muß entfliehe. Aber die Sultanstochter telegraphirt (im Märchen würde ein abgerichteter Falke oder eine Taube diese Botschaft übernommen haben), es sollte ein im Hafen von Antwerpen zu jeder Stunde für ihren Vater bereitliegendes Dampfboot (sinnig, weil an Prospero, den Beherrscher der Wellen und Stürme, erinnernd, die „Miranda“ genannt) sich sofort rüsten, den von Steckbriefen verfolgten Freund aufzunehmen und als alleinigen Passagier nach Neapel zu führen. Auf dem Schiff läßt ihn dann die Sultanstochter (allerdings ist das ein Rückfall wieder in die Welt Goethe's und Varnhagen’s) einen gesammelten Briefwechsel entdecken aus welchem dem Freunde ihre wahre Herkunft ersichtlich werden soll. Die Scene jedoch, wo Baron Jauffroi, der inzwischen auf dem Berge Athos die vermißte Originalurkunde jenes Testaments des Alten vom Berge gefunden hatte (mit einem Dutzend internationaler Poststempel und als noch uneröffnetes Postpaket), jenen Briefwechsel mit Dankmar gegen diese Originalurkunde austauschen will und darüber mit dem hartnäckigen Verteidiger des Briefwechsels

in eine Rauferei gerät, die zuletzt mit wiederum

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 380. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_380.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)