Schnepfenthal (Die Gartenlaube 1884/24)

Textdaten
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Autor: H. Schwerdt
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Titel: Schnepfenthal
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 402–403
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Schnepfenthal.

Eine Jubiläumsskizze von H. Schwerdt.

Es war am 7. März 1784. Schon neigte sich der trübe Tag dem Abend zu. Da schwankte eine schwerfällige Kutsche durch Rödichen, ein thüringisches Dorf zwischen Waltershausen und Friedrichsroda, und bog in die Höhlung ein, die sich zum nahen Landgut Schnepfenthal hinabzog. Aus den großen Wagen spähten zwischen hochaufgethürmten Kisten und Schachteln elf Köpfe hervor, welche die neue Heimath mit ungeduldigen Blicken begrüßten.

Auf dem Bocke saß neben dem Kutscher ein Mann, der etwa vierzig Jahre zählen mochte. Seine ganze Haltung verrieth etwas Schulmeisterliches, aber im besten Sinne des Wortes. Mit der steifen Mode seiner Zeit schien er und mit ihm seine ganze Reisegesellschaft gebrochen zu haben, Statt einer Perrücke trug er das schlichte, schwarze Haar gescheitelt, der Zopf war schon seit Jahren abgeschnitten worden. Ein unverkennbares Wohlwollen, und doch auch wieder ein sinniger Ernst war den märkirten Zügen seines bräunlichen Gesichtes aufgeprägt. Unter der hohen Stirn schien eine Welt von Gedanken zu arbeiten und aus den freundlichen Augen leuchtete eine kindliche Gutmüthigkeit, während die stark hervortretende Nase und die raschen Bewegungen der Hände von Entschlossenheit und Thätigkeit zeugten.

Dieser Mann war Christian Gotthilf Salzmann, welcher seit drei Jahren an der von Basedow gegründeten Erziehungsanstalt zu Dessau, dem vielgepriesenen Philanthropin, als Religionslehrer und Liturg thätig gewesen. Weil ihm jedoch in dieser Stellung keine Zeit blieb, seine eigenen Kinder nach dem Ideale zu erziehen, welches er sich selbst gebildet hatte, und weil er sich je länger desto mehr nach einer selbstständigen pädagogischen Wirksamkeit sehnte, so hatte er sich schon seit geraumer Zeit Mit dem Gedanken getragen, eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen, und zwar - wenn es sein konnte – im Herzogthum Gotha, wo er freundschaftliche Verbindungen angeknüpft hatte und zuversichtlich hoffen durfte, daß sein Unternehmen von dem hochherzigen Fürsten dieses Landes, Herzog Ernst II., begünstigt und gefördert werden würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. Der Herzog, der bereits von Salzmann’s schriftstellerischer Thätigkeit wohlwollende Kenntniß genommen hatte und insbesondere sein jüngst erschienenes Buch: „Carl von Carlsberg, oder über das menschliche Elend“, sehr hochschätzte, erbot sich nicht blos, ihm zur Verwirklichung seines Planes ein herzogliches Lustschloß zu überlassen, sondern zog auch dann seine Hand nicht von ihm ab, als Salzmann, um in keinerlei Weise abhängig und durch keinerlei Rücksichten beengt zu sein, dies edle Erbieten freimüthig zurückwies, sondern sicherte ihm ein unverzinsliches Darlehn von 4000 Thalern zu, um sein Vorhaben in’s Werk setzen zu können.

Salzmann, der kein eigenes Vermögen hatte, sondern vorläufig nur vom Ertrag seiner Schriftstellerei lebte, nahm diese Spende dankbar an, und beauftragte nun einen seiner Freunde, den Obergärtner Wehmeyer in Gotha, ein kleines Landgut für ihn zu kaufen, welches sich durch seine schöne und gesunde Lage zu einem Erziehungsinstitute eigne, und dieser kaufte ihm eine ländliche Besitzung, die früher dem Kloster Reinhardtsbrunn zugehört hatte, das Oekonomiegut Schnepfenthal, das aus einem geräumigen Wohnhaus mit den dazu gehörigen Wirtschaftsgebäuden, einer Mahl- und Oelmühle, einem großen Garten mit Fischteich, einigen Wiesen und Aeckern und einem bewaldeten Bergrücken, „die Hardt“, bestand.

Dort ließ nun Salzmann auf einem nahegelegenen Hügel einen Neubau ausführen, der allen pädagogischen Ansprüchen der damaligen [403] Zeit genügen sollte. Ein Gönner, dessen Name heute verschollen ist, bot ihm hierzu hülfreiche Hand, und schon am 18. Juni 1784, also gerade vor hundert Jahren, konnte der Grundstein zum ersten Institutsgebäude und damit zur Erziehungsanstalt Schnepfenthal gelegt werden. Salzmann hatte zu dieser Feierlichkeit die Glieder seiner Familie im Wohnzimmer des Gütchens versammelt und las ihnen tief ergriffen die Urkunde vor, die er in den Grundstein legen wollte. Dann verschloß er sie in eine Blechkapsel und ging mit den Seinigen auf den Bauplatz, wo alle Arbeiter und viele Bewohner der Umgegend einen Kreis geschlossen hatten. Nach einer schlichten Rede legte er jene Kapsel in den ausgehöhlten Eckstein, warf mit einer Kelle gelöschten Kalk darauf und ließ von jedem Gliede seiner Familie dasselbe thun. Unerwartet stimmte ein Musikcorps, welches der Maurermeister Sahlender heimlich bestellt hatte, die Choralmelodie an: „Auf Gott und nicht auf meinen Rath will ich mein Glücke bauen.“ Es war ein unvergeßlicher Moment, der vielen Augen Thränen entlockte.

Unter den ersten Lehrern, die Salzmann für seine neue Erziehungsanstalt gewann, befand sich der berühmte Turnlehrer Chr. Gutsmuths, und einer der ersten Schüler war Karl Ritter, der spätere Begründer der wissenschaftlichen Geographie. Im Spätherbste 1785 wurde die Anstalt feierlich eröffnet.

Dennoch waren anfangs der Lehrer fast ebenso viele wie der Schüler, und erst im Jahre 1788 erreichte die Zahl der letzteren das Ziel von zwölf Zöglingen, welches sich Salzmann ursprünglich gesteckt hatte. Seit 1789 jedoch, nachdem der kleine Erbgraf Georg, nachmaliger Fürst von Schaumburg-Lippe, in Schnepfenthal eingetreten war, steigerte sich diese Zahl zusehends und war im Jahre 1803 bis zu einundsechszig Zöglingen angewachsen. Im Jahre 1791 mußte bereits ein zweites Haus gebaut werden und als auch dieses nicht lange ausreichte, wurde die rasch emporblühende Anstalt durch den Ankauf von zwei neuen Gebäuden abermals erweitert.

Christian Gotthilf Salzmann.
Nach einem alten Stich auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Gotthilf Salzmann, in seinem höheren Alter wie ein Patriarch verehrt, starb am 31. October 1811, im achtundsechszigsten Jahre seines verdienstvollen Lebens und im achtundzwanzigsten seiner segensreichen Wirksamkeit in Schnepfenthal. Seine entseelte Hülle ruht im Eichwäldchen der Hardt[1], unweit des Turnplatzes. Auf seinem Grabe prangt kein Denkmal – er wollte es nicht! Nur einen Hollunderstrauch haben die Seinen darauf gepflanzt, wie er es angeordnet hatte, weil die getrockneten Blüthen dieses Strauches ihre heilkräftige Wirkung oft an ihm bewährt hatten.

Nach Salzmann’s Tode wurde die Erziehungsanstalt von seinem Sohne Karl im Geiste des Verstorbenen fortgeführt, ihm folgte im Jahre 1848 der Enkel des Gründers W. Ausfeld und heute leitet sie thatkräftig Dr. Wilhelm Ausfeld, der Sohn des Letztgenannten. In der Pfingstwoche haben sich in Schnepfenthal die früheren Schüler und Freunde der Anstalt zu frohem Jubelfeste vereinigt, und sie konnten sich überzeugen, daß trotz der im Laufe der Zeit nöthig gewordenen Aenderungen die Grundsätze der Erziehung dieselben geblieben sind.

Ja, Salzmann’s frischer, freier, fröhlicher und humaner Geist hat sich in seiner Stiftung bis zum heutigen Tage lebendig erhalten. Es ist der Geist der Humanität und geläuterter Religiosität, wie er sich aus der Sturm- und Drangperiode des vorigen Jahrhunderts emporgerungen und vornehmlich in der Schule der Philanthropie zur Geltung gekommen. Salzmann aber, wenn auch kein pädagogischer Reformator, so doch ein scharfdenkender Erzieher von Gottes Gnaden, war kein sclavischer Anhänger dieser Schule, sondern hatte sich ein eigenes System gebildet, das er kraft seines organisatorischen Talentes in Schnepfenthal zur Ausführung brachte, indem er Rousseau’s und Basedow’s Excentricitäten zu vermeiden wußte und Pestalozzi’s bahnbrechende Ideen in seinen Erziehungsplan aufnahm. Die harmonische Entwickelung und Uebung der körperlichen und geistigen Anlagen und Kräfte, und vornehmlich die Heranbildung der Jugend für’s praktische Leben, war das Ziel, dem er mit methodischem Geschicke zustrebte. Und so legte er auf körperliche Abhärtung und Gewandtheit, aber auch auf entschiedene Charakterbildung ein großes Gewicht.

Der Geist der Anstalt offenbart sich schon in dem traulichen Familienleben, das in derselben herrscht. „Vater Salzmann“ wurde der Gründer genannt, „Du und Du“ – das ist die Sprache, in welcher noch heute die Schüler mit dem Director und seiner Gattin verkehren. Die Zöglinge aber sind unter einander gleichberechtigte Brüder, wie verschieden auch die Stellung ihrer Eltern ist. Dazu trägt schon die gleichmäßige einfache Kleidung bei, welche die Anstalt liefert: scharlachrothe Jacken mit kurzen frackähnlichen Schößen, und in früheren Zeiten gelbe Westen und gelbe Hosen. Diese charakteristische Uniform wird jedoch seit Jahren nur noch Sonntags und bei festlichen Gelegenheiten getragen. Salzmann aber legte so hohen Werth darauf, daß er Prinzen und Grafen zurückwies, weil deren Eltern für ihre Söhne eine standesgemäße Kleidung beanspruchten.

Auch die körperliche Abhärtung wird nicht mehr so streng gehandhabt wie sonst, wo man sich in frühester Morgenstunde, gleichviel ob Sommer oder Winter, am offenen Hofbrunnen wusch, wo man sich Entsagungen durch Fasten und Nachtwachen auferlegen mußte, wo man sich mit bloßen Füßen im Schnee herumtummelte, wo man auf dem einen Teiche Schlittschuh lief, im andern aber badete, nachdem das Eis mit Stangen eingestoßen worden u. dergl. m.

Unter allen Leibesübungen aber stand und steht das Turnen obenan, wogegen Reiten und Tanzen wenig mehr geübt wird. Ist doch Schnepfenthal die Pflanzstätte der systematischen Turnkunst, wie sie, Gutsmuths ausgebildet, sodaß Jean Paul empfiehlt, „um jedes Haus herum ein kleines gymnastisches Schnepfenthal zu bauen“. Dadurch und durch die vielfachen Spiele und Feste, die hier abgehalten wurden, wußte Salzmann schon früher das zu erreichen, was jetzt in der Jugenderziehung allgemein erstrebt wird. Auch der Handfertigkeitsunterricht, der heute als eine neue pädagogische Errungenschaft gepriesen wird, in Schnepfenthal aber von jeher an der Tagesordnung war, wird noch gegenwärtig vorzugsweise in den Wintermonaten betrieben.

Und ebenso wird nach wie vor eine strenge Disciplin gehandhabt, wenn auch, nach Luther’s Mahnung, neben der Ruthe stets der Apfel liegt. Wie wäre sonst das junge Blut im Zaume zu halten?

Den wechselnden Ansichten und Verhältnissen entsprechend, ist im inneren und äußeren Leben der Anstalt allmählich Vieles anders geworden, als es der ehrwürdige Stifter geplant. Aber der Geist, der sie von Anfang an belebte, ist bis zum heutigen Tage derselbe geblieben und durch nunmehr 1352 Zöglinge befruchtend in die verschiedensten Kreise des Lebens getragen worden. Aehnliche Anstalten sind in den verflossenen hundert Jahren mehrere entstanden, den meisten aber ist nur eine kurze Lebensdauer beschieden gewesen, während Schnepfenthal unter der Direction des Urenkels des Begründers, Dr. Wilhelm Ausfeld, noch in voller Thätigkeit steht. Und so mögen denn günstige Sterne Schnepfenthal in’s zweite Säculum hinüberleuchten!



  1. „Gartenlaube“ 1859, S. 212.