Der Friedhof im Walde
An einem der köstlichsten Morgen des vorigen Frühsommers, der durch seine Hitze zu Ausflügen in kühle Bergwälder und schattige Thäler einlud, stiegen zwei Männer in dem thüringischen Bergstädtchen Waltershausen aus dem Waggon der Zweigbahn, welche von der Bahnstation Fröttstedt zwischen Gotha und Eisenach von der thüringischen Bahn ab dem in jeder Hinsicht reizendsten Theile des Thüringer Waldgebirgs, dem nordwestlichen, zuläuft. Der Eine war ein hoher Fünfziger mit grauem Haar und edlen Körper- und Gesichtsformen, und der Ausdruck der letzteren wurde noch durch die Furchen erhöht, welche die tiefeinschneidende Pflugschar des Schmerzes und der bittersten Lebenserfahrung so bemerkbar gerade im Antlitz der besten und liebenswürdigsten Menschen zurücklässt. Der Andere mochte kaum in das vierte Jahrzehnt seines Lebensalters getreten sein, und zeigte ein volles, von Glück und Gesundheit geröthetes Gesicht. Sie bildeten noch einen anderen Gegensatz; der Aeltere hatte ein ruhiges, klares Auge, und seine Art sich zu bewegen und zu reden entsprach demselben; des Jüngeren Auge war groß mit einem unruhigen Ausdruck, der an Schwärmerei erinnerte, und in der That sprach er hastig und abgerissen, und sein Gang, seine Bewegungen waren rasch und oft heftig. Beide Männer waren geborene Thüringer und seit einer Reihe von Jahren persönliche Freunde, obgleich der Jüngere schon längst in einer großen Stadt außerhalb Thüringens seine Existenz gegründet hatte. Nichtsdestoweniger wetteiferte er mit seinem Freunde, der in einer thüringischen Hauptstadt wohnte, in Liebe und Begeisterung für das grüne, schöne Geburtsland, ja der Ausdruck seiner patriotischen Gefühle war seiner Charakter- und Temperamentseigenheit nach lebendiger und streifte nicht selten an’s Excentrische.
Wir nennen den Aelteren Bernhard, den Jüngeren Otto.
Ohne sich aufzuhalten oder sich um die zahlreiche Gesellschaft zu bekümmern, die demselben Ziele zustrebte, Rheinhardsbrunn, Inselberg u. s. w., eilten sie in lebhaftem Gespräch der Gebirgspforte zu, welche offen vor ihnen lag. Als Otto nach einigen Minuten in dieselbe einbiegen wollte, hielt ihn Bernhard mit den Worten zurück:
„Lieber, überlaß Dich heute meiner Führung, und laß uns den kleinen Umweg über Schnepfenthal nicht scheuen; er wird sich belohnen.“
„Du willst mich in die Erziehungsanstalt führen?“ fragte Otto etwas verdrießlich. „Ich habe sie schon dreimal besucht und das letzte Mal erst vorigen Sommer, und kenne ihre äußere und innere Einrichtung und was irgend Merkwürdiges in und an ihr ist, für mich genügend genau. So sehr mich der Geist der Ordnung und Sauberkeit dort anspricht, so herabstimmend wirken geistlose Förmlichkeit und deutscher Pedantismus einer menschlichen Dressiranstalt [213] auf mich ein. Ich kann das an Thieren nicht leiden, geschweige an der hoffnungsvollen männlichen Jugend des Vaterlandes. Schon die Uniformirung der Schnepfenthäler Zöglinge in rothen Jacken ist mir zuwider.“
„Es liegt gar nicht in meiner Absicht, Dich in die Erziehungsanstalt zu führen, obgleich ein köstliches, heimliches Plätzchen, das ich mit Dir aufsuchen will, in sehr naher und enger Beziehung zu ihr steht. Ich darf Dir versprechen, daß jenes Plätzchen voll der von Dir gesuchten Poesie ist. Und das trauliche Plätzchen ist nah, dort im Walde auf der sanften Anhöhe, über die sich die beiden zusammenhängenden Dörfchen Schnepfenthal und Rödchen hinziehen.“
Otto folgte dem Freunde.
„Diese Gegend des thüringer Landes,“ fuhr Bernhard im Weitergehen auf der schmucken Chaussee, die am Fuße des Geizenberges hinläuft, fort, „ist vor allen Ländern Deutschlands reich an Culturstätten; ich pflege sie mit einem dem Pflanzenreiche entnommenen Worte Knotenpunkte der Geistesentwickelung zu nennen. Es sind dies die gesegneten Localitäten, wo der heilige Geist der Menschheit oder, wenn Du lieber willst, des Deutschthums, sich offenbarte, um ringend und strebend, wie es seine Art ist, sich weiter zu entwickeln, zu wachsen in die Tiefe und Höhe und sich räumlich auszubreiten.
„Nur kurz sei an die nahe Wartburg als wichtige Culturstätte des Mittelalters erinnert. Luther’s Stamm- und Zeugungsort Möhra, wo sein ehernes Standbild jetzt leuchtet, finden wir am südlichen Abhang des Gebirgs, nur wenige Stunden von hier; seine ersten Bildungsstätten, Eisenach und Erfurt, liegen uns westlich und östlich nur in geringer Entfernung. Dazwischen Gotha, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein glänzender Knotenpunkt des Geistes, und jenseits Erfurt, das einst eine der trefflichsten Hochschulen besaß, steht Weimars erhabenes Gestirn am deutschen Geisteshimmel. Eine Stunde nördlich von hier findest Du das ehemalige Lustschloß Friedrichswerth, den Lieblingssitz der herrlichen Herzogin Louise Dorothea von Gotha, wo alle Geistesblüthen der französischen Literatur dufteten, und dicht dabei liegt das alte Dorf Sonneborn, und in seiner Mitte das stattliche Gutshaus, in welchem der Dichter Thümmel zu Ende des vorigen und zu Anfang unseres Jahrhunders seinen berühmten Roman „Reise in die mittägigen Provinzen von Frankreich“ schrieb. Und so war auch die Erziehungsanstalt Schnepfenthal ein Pflanzgarten der Geistescultur und Humanität, was Du auch mit Andern gegen die eigenthümliche Gestaltung ihrer Formen einwenden magst, und die treuen, strebsamen und wahrhaftigen Sonnenpriester, die edlen Männer, die da eng verbunden zusammenstanden und als Lehrer, Erzieher und Schriftsteller an der Anstalt wirkten, haben jeder auf seine Weise redlich und unermüdlich das Gute, Wahre und Schöne nach Kräften gefördert und des Segens genug verbreitet, so daß es uns zukommt, ihrem Andenken eine dankbare Verehrung zu weihen, wenn auch der Geistesstrahl der Idee, welche die Anstalt in’s Leben rief, nicht mit der vollen Reinheit, Frische und Wärme, die wir wünschen möchten, zur Erscheinung kam. Aber, mein Freund, ist es nicht das Schicksal jeder großen Idee, daß sie nicht in ihrer reinen Vollkommenheit sich verkörpern kann? Enthält doch die Idee selbst das Göttliche und Ewige, aus dem sie hervorquillt, [214] niemals rein und vollkommen, wie viel weniger erst ihre Erscheinung in der Welt der Gestalten! Nichts auf Erden, das Reinste und Schönste nicht, kommt zu einem auch nur annähernd vollkommenen Dasein; darum ist auch nichts Irdisches unsterblich. Wenn die Idee als Erscheinung ihre Tragweite erreicht hat, wenn die der körperlichen Gestalt innewohnende Kraft verbraucht ist, sprossen aus dem nützlich gewesenem Bau, der nun allmählich verfällt, junge Geistesgebilde von neuer und höherer Kraft, von weitergreifendem, höher strebendem Inhalt. die das alte Mauerwerk vollends zersprengen und eine tiefe schöne Geistesschöpfung begründen. Diese allgemeine Wahrheit mag Dich mit den in ihrer ersten Anlage schon sichtbaren Unvollkommenheiten Schnepfenthals versöhnen.“
„Gewiß“ rief Otto feurig. „Dein vermittelnder, überall das Gute aussuchender und anerkennender Geist behauptet auch hier seine Eigentümlichkeit, und ich danke Dir für sein Bestreben, mich keine Ungerechtigkeit gegen verdienstvolle, ehrenwerthe Männer begehen zu lassen. Aber weder Deine sanfte Gemüthsart und Deine Bieneneigenschaft, aus jeder Blume Honig zu holen, noch die Wahrheit, daß alles Irdische unvollkommen sei, können der Kritik ihr Recht nehmen, abgelebte und noch bestehende Institute unter die Loupe zu nehmen.“
„Unbestritten, wenn sie die Mängel der Dinge nicht vergrößert, wie es doch der Loupe Natur mit sich bringt.“
„Das thut die meinige gewiß nicht, am wenigsten bei geachteten Namen unseres thüringischen Vaterlandes. Du wirst aber doch zugeben müssen, daß Christian Gotthilf Salzmann, der Gründer dieser Erziehungsanstalt, und seine Gehülfen und respective Schwiegersöhne – ich weiß ihre Namen nicht mehr –“
„Sechs der ersten Lehrer, die drei Brüder Ausfeld, Lenz, Weißenborn und Märker, wurden Salzmanns Schwiegersöhne, und die Lehrerschaft an der Anstalt bildete bald eine einzige einmüthige Familie, welcher eigentümliche Umstand zu ihrem Gedeihen nicht wenig beitrug.“
„In Bezug auf das materielle Gedeihen magst Du Recht haben, nicht so hinsichllich des ideellen, das doch bei einer Erziehungsanstalt von solcher Bedeutung vorzüglich in’s Auge zu fasse ist. Gerade dieses enge Verwandtschaftsband legte dem weiterlebenden Geiste Zaum und Zügel an, und die notwendige Folge davon war, daß er in einer gewissen ängstlichen und beängstigenden Förmlichkeit erstarrte. Was aber kann einer Erziehungsanstalt Schlimmeres begegnen? Genug, ich wollte nur sagen, daß jene Herrn Schwäger mit dem Schwiegervater doch nur sehr schwache Träger eine' großen Idee waren. Dies erhellt klar genug aus Salzmann’s zwar gut gemeinten, aber doch wahrlich schwachen Schriften. Wenn man daran denkt, daß zu derselben Zeit Weimars Sternenhimmel seine Strahlen ausgoß, daß Jean Paul’s prächtiger Komet seinen lichtsprühenden Schweif über des deutschen Geisteshorizont ausstreckte, kurz, daß Salzmann’s und seiner Schwiegersöhne schriftstellerische Wirksamkeit in die große Periode des Aufringens des deutschen Geistes zur vollsten Mündigkeit fällt, so –“
„Sprich kein bitteres Wort und bedenke, daß Salzmann ein Volksschriftsteller war und zwar gerade für seine Zeit, wo der Begriff Volk noch ein weit engerer war, als heut zu Tage. Von einer geistigen Mündigkeit dieses Volkes konnte um so weniger die Rede sein, da wir heute, 70 Jahre später, noch nicht davon zu sprechen wagen dürfen. Nur die höchsten Kreise der Gesellschaft waren für Herder, Goethe, Schiller, Wieland zugänglich, nur die feinsten Geister empfänglich für Jean Paul’s fesselloses Briliantenfeuer. Die großen Massen verlangten nach der ihnen angemessenen Kindernahrung, nach geistiger Milch, und diese gab ihnen Salzmann mit der wohlwollenden Gesinnung eines treuen Freundes, oder vielmehr eines besorgten Vaters, und mit dieser Milch hat er großen Segen gestiftet.“
„Wem sie nur weniger wässerig gewesen, nur mehr Zuckerstoff, d. h. Poesie enthalten hätte! Wenn ich Jean Jacques Rousseau’s Emile lese, der den ersten großen reformatorischen Wurf im unglückseligen, ganz trostlosen Erziehungswesen that, der das Zauberwort fand und aussprach, das die in todter Förmlichkeit eingeschlafene europäische Menschheit allmählich wieder zum Leben wach rief, wie da die praktische Erziehungsweisheit mit dem erfrischenden, verklärenden, erhebenden und stärkenden Hauche der Poesie überkleidet ist, so meine ich immer, der Salzmann’schen hausbacknen Verständigkeit hätte etwas Poesie doch auch Vorschub geleistet.“
„Wer weiß! Salzmann war kein Rousseau. Dieser ein anregendes Weltgenie, jener ein praktisch ausführendes Haustalent, wenn dieses Wort im Gegensatze zu jenem erlaubt ist, d. h. er verstand es vortrefflich und war dazu geboren, eine weltbefruchtende Idee in weiser Beschränkung im kleinen Kreise von und Hof bis in die kleinsten Details, die eben das wirklich häusliche Leben erfordert, auszuführen. Das hätte der wunderliche Gefühlsmensch Jean Jaques, wie er sich selbst schildert, nie vermocht. Der fürchtete sich ja vor der Erziehung seiner eigenen Kinder und schickte sie deshalb in’s Findelhaus. Ob nur je ein solcher Gedanke in unseres Salzmann’s Seele hätte aufsteigen können! Als dieser unser wackerer Landsmann – es war 1744 in Sömmerda bei Erfurt geboren und, wie Lessing und Jean Paul, der Sohn eins Pfarrers – schon eine Reihe von Jahren Prediger und Seelsorger mehrerer Gemeinden gewesen war, wurde er, der sich als praktischer Volksschriftsteller auszeichnet, schon als reifer Mann von Basedow zum Lehrer an dessen neuerrichtete Erziehungsanstalt nach Dessau berufen; aber er blieb nur wenige Jahre dort. Es ging ihm zu rousseauisch genial zu; es drängte ihn, die Sache nach seinen eigenen Einsichten und auf eigene Faust einzurichten. Er legte dem an Geist und Herz gleich hochgebildeten Herzog Ernst II. von Gotha seinen Plan vor, in welchem wohl die rousseauischen Principien beibehalten waren, weil diese ewige, aus der Natur des Geistes selbst entsprungene Wahrheiten sind; die Gestaltung der Idee aber war sein Werk. Und der Herzog, der doch ein großer. Verehrer Rousseau’s war und auf dessen Leben sogar dieser geniale Denker entschiedenen Einfluß ausgeübt, erkannte mit seinem Scharfblick den praktisch tüchtigen Mann und unterstützte ihn mit einer namhaften Geldsumme. Und so ist diese durch und durch zweckmäßige Schöpfung entstanden. Das Rousseau-Basedow’sche Institut ist längst wieder eingegangen, die Salzmann’sche Erziehungsanstalt besteht heute noch, ja, sie ist fast überall besetzt. Das ist der thatsächliche Beweis für Salzmann’s praktische Tüchtigkeit.“
„Das Alles ist sehr anerkennenswerth,“ versetzte Otto nach einer Pause, „und dich hat von vornherein der frei fluthende, stets in Wandlung und höherer Entwicklung begriffene Geist gefehlt, der nirgends nöthiger thut, als im Erziehungswesen. Das Salzmann’sche Institut hat am entgegengesetzten Fehler gelitten, wie das Basedow’sche, es ist zu praktisch, zu prosaisch steif und förmlich gewesen. Nichts hat mich an der ganzen Einrichtung mehr verletzt, als die Nachäfferei des Soldatenthums, die die Zöglinge sogar in rothe Uniformen steckt, wie die englische Armee.“
„Und Du billigst es doch, daß unsere Turner in Uniform gehen, wenn auch nur von grauer Leinwand!“
„Dem Turnwesen liegt auch die große Idee zu Grunde, daß es die Jünglinge zu Vaterlandsvertheidigern ausbildet. Turner sind künftige Krieger in der Vorschule.“
„Das sind ja aber eigentlich alle Knaben und die Schnepfenthäler Zöglinge in’s Besondere. Sie waren von Anbeginn der Anstalt Turner und war die Ersten in Deutschland. Jahn’s Turnerei stammt ja aus Schnepfenthal.“
Otto sah den Freund mit ungläubig verwundertem Blicke an. Sie waren während des Gesprächs an der auf der Bergterasse hochgelegenen Erziehungsanstalt zur Rechten vorübergegangen, ebenso im Thale am Salzmann’schen Gutsgebäude und den ersten Häusern des schmucken Dorfes und hatten auf traulichem Fußpfade bald den Wald der sanften Anhöhe auf der rechten Thalseite erreicht. Nach wenigen Minuten auf einer kleinen grünen Ebene dicht am Walde angelangt, sahen sie die hintere Seite des stattlichen Gasthofes in kleiner Entfernung vor sich. Hier war, von prächtigen Bäumen überschattet, ein Turnplatz wie die Einrichtung zeigte.
„Sieh Dir diesen eherwüdigen Raum an“ sprach Bernhard; „er ist der erste Turnplatz in Deutschland, von Salzmann gegründet und vom trefflichen Guts Muths eingerichtet, der Jahn’s bedeutender Vorläufer und Vorarbeiter war. In der Vorrede zu seinem „Turnbuch für die Söhne des Vaterlandes“ erzählt Guths Muths (und er zog auch dieses Buch hervor und las): Im Jahre 1785 betrat ich als Jüngling Schnepfenthal, da führte mich Salzmann auf einen hübschen Platz mit den Worten; hier ist unsere Gymnastik. Auf diesem Plätzchen, am Rande des Eichenwäldchens, entwickelte sich nach und nach die deutsche Gymnastik; ein erzdeutscher Mann – das war Salzmann – gewährte ihr da Schutz, und nur wenige Schritte davon ruht der irdische Theil des Vortrefflichen. Hier belustigen wir uns täglich mit fünf Uebungen in ihren ersten ungeregelten Anfängen. Diese stammen von Dessau, wo Salzmann zuvor gewesen. Ob dort Basedow oder sonst Jemand den Gedanken gefaßt hatte, die Körpererziehung der [215] Griechen ein wenig in Anwendung zu bringen, ist mir unbekannt. Salzmann übertrug mir bald die Leitung dieses ersten Anfanges der Uebungen. Ihre Bedeutung kannte ich. Was ich aus dem uralten Schutte, aus den geschichtlichen Resten des früheren oder späteren Alterthumes herausgrub, war das Nachsinnen und bisweilen der Zufall an die Hand gaben, wurde hier nach und nach zu Tage gefördert zum heiteren Versuche. So mehrten sich die Hauptübungen, spalteten sich bald so, bald so in neue Gestaltungen und Aufgaben, und traten unter die oft nicht leicht auszumittelnden Regeln. So entstand nach sieben Jahren in der ersten Ausgabe meiner Gymnastik die erste neue Bearbeitung eines sehr vergessenen, nur noch in geschichtlichen Andeutungen vorhandenen Gegenstandes.“
„Das ist herrlich!“ rief Otto mit leuchtenden Augen, „und um so mehr, da es mir neu und im Allgemeinen gewiß wenig bekannt ist. O, sei gesegnet, stiller Platz am Rande des Eichenwäldchens, wo die Sonne neuen deutschen Lebens und frischer Kraft zuerst aufgegangen ist! Was ist doch Alles Großes, Gutes und Schönes von diesem Thüringen, dem Herzen Deutschlands, ausgegangen! Einst werden Deutschlands frei kräftige Söhne zu dieser Stelle in langen Zügen wallfahrten, singend im brausenden Chor, hier werden sie Salzmann und Guts Muths ein würdiges Denkmal errichten, hier werden sie ihre Festspiele feiern, wie die Griechen auf der Landenge von Korinth.“
„Damit wird’s freilich noch lange Zeit haben,“ sagte Bernhard, schmerzlich lächelnd, „und noch Viele werden für ihr ehrliches, der großen Zukunft Deutschlands zugewendetes Streben Noth und Pein, Kummer und Jammer erdulden müssen, wie Du und ich. Um Dich aber geistig und seelisch zu erheben und Dich zu überzeugen, daß auch in Schnepfenthal nicht jede Erhabenheit poetischer Anschauung des Erziehungswesens fehlte, so lies des verdienstvollen würdigen Guts Muths „Gymnastik für die Jugend“ in der zweiten 1804 erschienenen Auflage. Darin wirst Du so viel Treffliches, echt Deutsches in idealer Auffassung finden, daß Du, davon entzückt, mit mir den Wunsch hegen wirst, dieses Buch möchte in einer neuen wohlfeilen Ausgabe dem jetzigen deutschen Volke zugänglich gemacht werden.“
„Ich werde es in den nächsten Tagen lesen. Aber was sagt Guts Muths, Salzmann’s irdisches Theil ruhe nur wenige Schritte von diesem Plätzchen?“
„So komm denn, mein Freund, diese wenigen Schritte in den stillen, schönen, schattigen Wald herein zu der heiligen Ruhestätte dieser treuen Arbeiter im Weinberge des Herrn und siehe zu, ob die Poesie, die Du an ihrem praktischen Wirken und in ihren Schriften vermissest, nicht in ernster und stiller Majestät über ihren Gräbern schwebe. Ja, frage Dich, ob diesen Priestern des deutschen Geistes, die sich so begraben ließen, wirklich der heilige Hauch der Poesie abgehen konnte.“
Und sie wandelten Arm in Arm eine kleine Strecke am lieblichen Waldrande hin, links die alten hohen Bäume mit ihren weit gewölbten prächtigen Kronen, die, ineinandergreifend, ein grünes Dach bildeten, rechts der kleine grüne Platz und weiter ein paar Giebel von Dorfhäusern. Plötzlich zog Bernhard den Freund in den Wald hinein. Ein paar Schritte, und sie standen mitten unter einfachen, am Boden über den Wurzeln der Bäume liegenden Grabsteinen, auf welchen Otto überrascht die bekannten werthen Namen Salzmann, Ausfeld, Lenz, Guts Muths las.
„Wir stehen auf der Ruhestätte der trefflichen Männer,“ sagte Bernhard, nicht ohne sichtbare innere Bewegung. „Wie sie das helle Haus drüben an der entgegengesetzten Thalwand in treuem Wirken und Schaffen an der Geistesarbeit unseres Jahrhunderts und im engen Verwandtschaftsbande vereinte, so hier wieder der stille Wald ihre Asche. Da liegen sie, ausruhend von der Tagesarbeit, unter den Bäumen und keine Mauer, kein Zaun schließt diesen in seiner Art einzigen Friedhof ein. Im freien offenen grünen Walde schlafen die nach Geistesfreiheit strebenden, Geistes- und Körperbildung fördernden Männer mit ihren keuschen, tugendhaften Hausfrauen, und diese schlichten Steine nennen nur ihre Namen, ihre Geburts- und Sterbetage, keine wohlfeile Lobpreisung, keine sentimentale Phrase. Wohnt unter diesen Stämmen, auf diesen Gräbern nicht die erhabene Schwermuth der Poesie, wie sie der hier modernden Menschenreste würdig ist und die unseren gewöhnlichen, mit kostbaren Denkmälern voll pomphafter Inschriften überladenen Gottesäckern so gänzlich fehlt?“
„Wahrlich!“ rief Otto tief ergriffen, während es feucht in seinen Augen schimmerte, „die wahre Lebenspoesie, die da sittlich erhebt und stärkt, hat ihren vollen Glanz über diesen heiligen Todten hain gegossen und die Grabsteine dieser ehrenwerthen Familie bekränzt. Mochte der poetische Aufschwung ihres Lebens und Wirkens nicht ganz meinen Wünschen entsprechen, die Poesie ihrer Gräber übertrifft sie. Durch die Wipfel dieser Bäume streut ein Abendroth sein Gold auf diese Hügel herab, das selbst das Wirken ihrer Insassen noch rückwärts verklärt. Nie sah ich einen Friedhof, der mich seelisch mehr befriedigt hätte. Ja, hier wohnt Gottes wahrer Frieden.“
„Und keinen gibt es wohl,“ setzte Bernhard hinzu, „der geeigneter wäre, uns aufzurufen zu männlicher That und Arbeit zu des Vaterlandes geistiger und leiblicher Weiterförderung. Die hier ruhenden Männer sollen uns Muster sein, nicht, daß wir in ihre Fußtapfen treten, sondern auf ihre Schultern. Das Salzmann’sche Erziehungsinstitut hatte und hat den Fehler, daß es nur für die Söhne reicher und vornehmer Eltern bestimmt ist. Der talentvolle Sohn des Volkes, für den Niemand bezahlt, ist davon ausgeschlossen. So lange die höheren Stände für Jean Jacques und Jean Paul schwärmten, mochte man diesen Mangel übersehen. Heutiges Tages tritt er grell hervor. Auch den seltsamen Widerspruch in Salzmann’s Wirken bemerken wir heute, daß das Publicum, welches er erzog und bildete, von dem Publicum, für welches er schrieb, wesentlich verschieden war; jenes war das Publicum unserer Classiker, die dieses nie in die Hand nahm. Friedrich Fröbel, auch unser thüringischer Landsmann, auch ein ebenso ehrenwerth strebender Lehrer und Kinderfreund, that schon einen tieferen Griff in der Schöpfung der Kindergärten, die er eigentlich für alles Volk bestimmt hatte. Aber auch er war, gleich Salzmann, nur ein schwacher Träger einer großen Idee. Der Messias der deutschen Volkserziehung muß noch kommen, und er wird kommen. Rousseau, Pestalozzi, Salzmann, Guts Muths, Fröbel, Diesterweg waren nur seine Propheten und Vorläufer.“
„So ist’s!“ rief Otto begeistert. „Wir stehen auf heiligen Prophetengräbern, die geistig weit in die Zukunft hineinragen. O, mein Thüringen, möchtest Du auch den Messias gebären!“
„Laß uns von diesem Orte noch eine schöne Ermuthigung mit hinwegnehmen!“ sagte Bernhard. „Dieser Hain führt den alten deutschen Namen die Hard, auch Hart und richtiger Harth geschrieben, der in Deutschland an manchen Wäldern und Waldgebirgen hängen geblieben ist, wie am Harz (Harths) und am Spessart (Specktsharth). Es ist das alte Wort für Wald. Sei also unser Streben echt deutsch, wie der Name der Ruhestätte dieser, „erzdeutschen“ Männer, und erwarten wir nichts von Franzosen und Russen, von Engländern und Amerikanern. Sodann lehre uns der an diesen Friedhof grenzende Turnplatz, daß die Erziehung und Bildung des deutschen Volkes nicht allein eine geistige, sondern auch eine körperliche sei. Nur im gesunden kraftgewandten Körper entwickelt sich ein gesunder, kräftiger, gewandter Geist, eine edle schöne Seele. Dem körperlichen Aufschwunge entspricht der geistige. Wir müssen ein starkes Volk werden, vor dessen Waffenkraft die übrigen Völker des Erdbodens eben solche Ehrfurcht haben, wie vor unserer hohen Geistesbildung.“
„Amen!“ rief Otto. „Der erste Wurf in die große Zukunft hinein ist hier geschehen. Alea jacta es! Ich danke Dir für diese schöne Stunde!“
- ↑ Die berühmte Erziehungsanstalt feierte vor einigen Wochen ihr 75jähriges Jubiläum, wozu von allen Seiten Freunde und ehemalige Zöglinge derselben herbeigeeilt waren. Wie wir hören, erfreut sich das Institut seit 1848, in welchem Jahre der jüngere Ausfeld dasselbe übernahm, eines bedeutenden Aufschwunges. D. Redact.