Das Testament des Verrückten

Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Das Testament des Verrückten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14–17, S. 193–196, 209-212, 225-228, 237-242
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[193]
Das Testament des Verrückten.
Erzählung von J. D. H. Temme.

Ich war als junger Assessor bei einem Land- und Stadtgerichte angestellt, das also auch einen großen Gerichtsbezirk hatte. Besonders nach einer Seite hin lief dieser wie in einen langen schmalen Aermel aus, dessen äußerstes Ende vom Sitze des Gerichts an fünf Meilen entfernt war. An jenem äußersten Ende lag ein großes Dorf im Gebirge, Tiefendorf geheißen. Der Weg dahin führte auch meilenweit nur durch das Gebirge.

Eines Tages erhielt ich eine schleunige Directorialverfügung, [194] in dem Dorfe Tiefendorf ein gerichtliches Testament aufzunehmen. Ich machte mich mit dem mir als Protokollführer beigegebenen Secretair des Gerichts in einem Wagen sofort auf den Weg. Der Secretair Hommel war ein schon etwas ältliches, kleines, eben so neugieriges, als gern plauderndes Männchen.

Wir hatten kaum die Hochalpen des entsetzlichen Straßenpflasters des kleinen Städtchens, die unseren Wagen und uns in ihm auf- und niederwarfen, daß uns Hören und Sehen verging, hinter uns, als der kleine Secretair eine Unterredung begann, die mich doch bald mehr, als die gewöhnliche Wagenunterhaltung eines neugierigen, plauderhaften Männchens in Anspruch nehmen, die mich sogar spannen sollte.

„Ich bin heute sehr neugierig, Herr Assessor.“

„So, Herr Secretair!“

„Ich bin überhaupt sehr neugierig, wie unser heutiges Geschäft ablaufen wird.“

„Wieso, Herr Secretair?“

„Es wird wohl nicht viel daraus werden. Aber was geht es uns an?“

„Dürfte ich bitten, daß Sie sich deutlicher aussprächen?“

Er rieb sich vergnügt die Hände.

„Ah, ah, Herr Assessor. Ein Verrückter kann kein Testament machen. Aber, wie gesagt, was geht das uns an? Wir reisen hin, bemerken zu Protokoll, daß wir den Testator in keinem dispositionsfähigen Zustande angetroffen hätten, nehmen also ein Testament nicht auf, und haben unsere Diäten und Reisekosten dennoch verdient, und das ist die Hauptsache.“

Es war das so und es ist das auch wohl noch so eine gewöhnliche Subalternenlogik.

„,Wir irren uns doch nicht in der Person, Herr Secretair?“ sagte ich. „Wir sollen das Testament eines Herrn Lohmann in Tiefendorf aufnehmen.“

„Ganz recht, verehrter Herr Assessor. Der Mann war in der französischen Zeit Friedensrichter in Tiefendorf.“

„Und der ist verrückt?“

„Seit Jahren. Das weiß alle Welt.“

„Aber, Herr Secretair, dann kann er kein Testament machen.“

„Ein Verrückter kann kein Testament machen; das Gesetz verbietet es. Ein weises Gesetz, Herr Assessor.“

„Und Sie wissen gewiß, daß der Mann nicht seine Vernunft hat?“

Der kleine Mann sah mich etwas ängstlich an. Er mochte fürchten, ich könne sofort den Wagen umkehren lassen. Dann hätte er doch seine Diäten und Reisekosten nicht verdient.

„Die Leute sagen es wenigstens, Herr Assessor, und dann –“

„Und dann?“

„Ein Verrückter kann ja auch helle Zwischenräume haben. Zumal in der Nähe des Todes ist es eine bekannte Thatsache. Und dann – und dann –“

„Sie haben noch etwas, Herr Secretair?“

Sein Gesicht leuchtete vor Vergnügen.

„Der Herr Assessor werden nur um so mehr Veranlassung haben, durch sorgfältige Fragen festzustellen zu suchen, ob der Testator auch im vollen Besitze seiner Geisteskraft ist.“

„Das Gesetz schreibt das ohnehin vor.“

„Ich meine, durch Fragen so nach allen Seiten hin, nach seinem Leben, seiner Familie, seinem Hauswesen. Ah ha, dann muß er herauskommen, mit manchen Dingen. Sie lächeln, Herr Assessor? Ich versichere Sie, ich sage das nicht aus Neugierde; aber ich bin ein alter Praktikus, der schon seine zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre dient, und der Herr Assessor – nehmen Sie es mir nicht übel – Sie sind zwar ein gelehrter Herr, der seine Sachen gelernt hat, und werden mit der Zeit auch ein tüchtiger Arbeiter werden, aber sie sind noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, und die Erfahrung habe ich also voraus, und da weiß ich, daß man gerade durch solche Fragen nach den Familien-Verhältnissen und Schicksalen der Leute am allerersten und gründlichsten die Ueberzeugung gewinnt, ob ein Mensch seinen vollen Verstand hat oder ob er ihn nicht hat. Und nebenbei erfährt man auch immer etwas. Und bei diesem Friedensrichter Lohmann ist zudem alles so ganz besonders geheimnißvoll, und verrückt ist er nun einmal, ich lasse es mir nicht ausreden – wobei ich indessen nicht gesagt haben will, daß er keine hellen Augenblicke, auch Stunden haben könne, in denen der Mensch sein Testament machen kann. Aber ich frage Sie, geehrter Herr Assessor, warum verbirgt und verschließt der Mann sich und seine Angehörigen und sein Haus so? Und ihren Grund pflegt die Verrücktheit auch zu haben. So ein schweres Verbrechen zum Beispiel, ein Mord oder dergleichen. – Ah, ah, ich bin sehr neugierig. Lassen Sie ihn nur nicht los, Herr Assessor.“

Der kleine, neugierige und plauderhafte Secretair sah mich schon im vollen Inquiriren. Seine Augen leuchteten, als wenn eine ganze Reihe der fürchterlichsten Mordthaten sich vor ihm aufrolle, und seine Diäten und Reisekosten waren ihm auch sicher.

„Ja, ja,“ fuhr er nach einer Pause fort, „ich bin zwar, obwohl ich schon achtzehn Jahre hier bei dem Gericht stehe – ich kam gleich bei seiner Einrichtung hierher, von jenseits der Elbe, ich war Lieutenant in dem kurmärkischen Landwehrregimente gewesen – ja, Herr Assessor sehen Sie mich nur darauf an, Lieutenant und kein zwölf Jahre gedienter Unterofficier, wie man sie jetzt überall herumlaufen sieht. Es war im Jahr 1815, gleich nach den Feldzügen. Und seitdem bin ich immer hier gewesen, und doch bin ich nach dem Tiefendorf in der ganzen Zeit höchstens fünf oder sechs Mal hingekommen. Das hat seinen besonderen Grund, Herr Assessor– der Pater Theodorus – ich erzähle Ihnen nachher von ihm, das heißt, wenn es Sie interessirt. Doch warum sollte es das nicht? Denn Sie sind erst seit wenigen Monaten hier, und es ist Ihnen noch Alles fremd, und ich behaupte immer, ein Beamter, besonders der Richter, muß Land und Leute kennen, wenn er in seinem Amte soll Gutes wirken können. Also von dem Pater Theodorus nachher. Jetzt will ich Ihnen erzählen, wie ich jedes Mal, wenn ich in Tiefendorf war, nicht ohne einen inneren Schauder an dem Hause des vormaligen Friedensrichters Lohmann vorbeikommen konnte, so unheimlich und still lag es da, die Thüren immer fest verschlossen, vor allen Fenstern dicke Läden, im Hause und in der Nähe desselben keine menschliche Figur zu sehen und keine menschliche Stimme zu hören. Und in dem Haus wohnt er nun schon seit beinahe zwanzig Jahren, und kein Mensch hat ihn seitdem gesehen, und gehört hat man nichts von ihm, als daß er verrückt ist. Und mit einer alten Person wohnt er dort, die ein wahrer Teufel, ein wahrer Drache ist, und Gott weiß, mit wem er sonst noch hauset. Denn wie man nie Jemanden aus dem Haus kommen sieht, so hat auch noch nie ein anderer Mensch seinen Fuß hineinsetzen dürfen. – Ah, ah, wir werden heute hineinkommen. Ich bin sehr, sehr neugierig. – Und ich sage noch einmal, die Verrücktheit will ihren Grund haben. Und die Leute sprechen Allerlei. Und in der Franzosenzeit war er da, und auch noch in der Kriegszeit, die darauf folgte. Und eine wilde, gebirgige, von Gott und der Welt abgelegene Gegend ist es. In der Mark hat man keine Ahnung von solchen Bergen. Und dann nehmen Sie folgendes, Herr Assessor:

„Im Jahre 1808 oder 1809 war dieser Lohmann als armer Beamter nach Tiefendorf gekommen, ich glaube, aus dem Elsaß. Er hatte als Friedensrichter an Gehalt und Bureaukosten Alles in Allem des Jahres 1800 Franken, davon kann man keine Reichthümer sammeln; und doch auf einmal, es war im Jahre 1815, kaufte er von der Regierung das ganze Benedictinerkloster in Tiefendorf – die Franzosen hatten es schon ausgehoben – ich erzähle es Ihnen nachher – mit Gebäuden, Aeckern und Waldungen, und er bezahlte alles baar und hatte außerdem noch Geld in Hülle und Fülle. Und nun frage ich Sie, hochgeehrter Herr Assessor, woher hatte der Mann das Geld? Er habe eine große Erbschaft in seiner Heimath gemacht, hieß es; er selbst hatte es unter den Leuten ausgestreut, oder vielmehr sein alter Drache. Aber solche plötzliche große Erbschaften aus der Fremde – man kennt sie. Und ein paar Monate nachher wurde er auf einmal verrückt. Er war wenige Tage vorher in die schöne Priorei eingezogen, die zu dem angekauften Kloster gehört; sie ist wie ein Schloß. Seitdem hat ihn kein Mensch wieder gesehen. Warum muß er sogleich verrückt werden? Und warum mußte er, oder vielmehr der alte Drache Haus und Familie vor aller Welt absperren und in Geheimniß und Dunkel einhüllen? – Sehen Sie, hochgeehrter Herr Assessor, das Alles muß heute noch heraus. Ah, ah, ich bin sehr – Und dann noch Eins, Herr Assessor. Er hat einen Sohn, nur ein Kind. Er ist noch jung, erst vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt. Verrückt ist er zwar noch nicht, aber melancholisch, tiefsinnig, menschenscheu ist er schon und die Anlage dazu hat er immer gehabt. Als er vierzehn Jahre alt war, hatten sie ihn auf ein Gymnasium geschickt; aber sie mußten ihn schon nach wenigen Monaten zurückkommen lassen, und seitdem ist er nicht wieder [195] aus dem Dorfe und aus dem Hause gekommen, und wenn nicht der Pater Theodorus, von dem ich Ihnen nachher erzählen werde, und der ein sehr gelehrter Mann ist, sich seiner angenommen hätte, so wäre er ganz wild und roh aufgewachsen, wie ein Stück Holz im Walde. Und nun frage ich wieder: warum mußte der junge Mensch so tiefsinnig und so menschenscheu werden? Muß nicht auch da etwas Besonderes zu Grunde liegen? – Ah, auch das muß heute Abend heraus. – Und neugierig bin ich auch, was für ein Testament er machen wird. Warum macht er überhaupt ein Testament? Er hat ja nur das einzige Kind, das ohnehin sein gesetzlicher Erbe ist, und der alte Drache ist seine Frau nicht, das steht fest; was sie aber sonst ist, das mag Gott wissen. Seine Frau starb kurz nach seiner Ankunft in Tiefendorf, und erst darauf kam die Alte ihm nach. – Ach, wenn er doch nur lichte Zwischenräume in seiner Verrücktheit haben möchte! Solch' ein Testament gibt tiefe Blicke in die Verhältnisse der Menschen und der Familien. – Ah, ich bin sehr neugierig!“

So plauderte und schwatzte der kleine Mann rastlos und machte sich immer mehr neugierig, aber auch mich mit. Ich leugne es nicht, seine Mittheilungen hatten allerlei Gedanken in mir angeregt und die Begierde in mir geweckt, den Mann, die Familie und das Haus, von denen er sprach, näher kennen zu lernen. Von dem Secretair konnte ich nichts weiter erfahren; er hatte alles, was er wußte, ausgeplaudert. Ich selbst hatte früher den Namen des vormaligen Friedensrichters Lohmann in Tiefendorf niemals, ich hatte kaum den Namen Tiefendorf gehört.

Das Gesuch um Aufnahme des Testamentes war durch einen reitenden Boten, der sofort eilig zurückgekehrt war, an das Gericht gebracht. Es war, was nach dem Gesetze genügte, von dem Sohne des Testators in dessen angeblichem Auftrage geschrieben. Es war nur kurz, aber Handschrift und Styl waren gewandt. Ich mußte, gleich dem Secretair, mit Befriedigung meiner Neugierde auf den Abend warten, der uns nach Tiefendorf und in Haus und Gegenwart des Verrückten bringen sollte.

Wir hatten unsere Fahrt um die Mittagszeit angetreten. Tiefendorf war fünf Meilen entfernt, wie ich schon sagte. Der Weg führte, oft sehr mühsam, durch das Gebirge. Vor sieben Uhr Abends konnten wir nicht eintreffen. Wir hatten Spätherbst, und um sechs Uhr fing es schon an zu dunkeln. Es war gegen halb sechs Uhr des Abends, als wir an einer an der Straße gelegenen Schenke anlangten. Wir hatten von da bis nach Tiefendorf noch eine starke Stunde zu fahren. Der Weg ging jetzt tiefer in das Gebirge; er war nicht mehr die große Landstraße; er wurde beschwerlicher. Die Pferde waren schon ermüdet. Der Kutscher wollte ihnen Brod geben und sie ein halbes Stündchen ausruhen lassen. Wir hielten vor der Schenke an.

Als wir nach Verlauf der halben Stunde im Begriff standen, weiter zu fahren, sollte ein kleines Abenteuer uns Gesellschaft bringen. An der Schenke kreuzten sich mehrere Landstraßen. Auf einer kam der gewöhnliche tägliche Postwagen herangefahren. Er hielt vor der Schenke. Nicht blos, damit der Postillon seinen unvermeidlichen Schnaps erhielt. Die Wagenthür öffnete sich zeitgleich, und ein junges Mädchen stieg aus dem Innern. Es war eine hübsche, beinahe schöne Brünette in voller Jugendfrische und Jugendhaftigkeit. Wie die Farbe, so zeigte auch die Bildung ihres Gesichtes etwas Südliches. Ihr Wesen verrieth zugleich Entschlossenheit und Stolz. Ihre Kleidung war die der mittleren Stände. Man konnte sie für eine Kammerjungfer von einem benachbarten adligen Hofe oder für eine Schneiderin oder Modistin aus einer Stadt der Nachbarschaft halten. Nur wollte doch der Stolz ihrer großen schwarzen Augen dazu nicht recht passen.

Sie sprang leicht aus dem Wagen. Ein Mitreisender reichte ihr ihr Reisegepäck nach. Es bestand aus sehr Wenigem: ein gelbes Taschentuch, in welchem etwas Wäsche und dergleichen eingebunden zu sein schien, das war Alles. Der Conducteur reichte ihr nichts weiter zu. Er bekümmerte sich gar nicht um sie. Sie hatte ihm wohl kein Trinkgeld gegeben. Sie dankte mit einer ernsten und etwas gemessenen Freundlichkeit in den Wagen zurück, dann faßte sie in die Tasche ihres Kleides, trat zu dem Postillon und gab ihm ein Trinkgeld.

„Hier!“

Das mußte damals noch so sein, Es war auch wohl nicht viel, was sie ihm gab. Der Postillon war dennoch dankbar.

„Nach Tiefendorf, Mamsellchen, müssen Sie den Weg hier links nehmen.“

„Ich weiß es.“

„Es ist ein beschwerlicher Weg, Mamsellchen, und es fängt schon an, dunkel zu werden. Aber warten Sie ein Augenblickchen.“

Er hielt nahe bei meinem Wagen, und sah sich meinen Kutscher an.

„Kutscher, komm einmal her.“

Ein Postillon gehört in Preußen zu den Staatsbeamten. Wer ihn in seinem Amte beleidigt, wird wegen Amtsehrenbeleidigung bestraft, eben sowohl, als wenn er einen Minister beleidigt hätte. Auch ein Postillon trägt also obrigkeitliches Element und obrigkeitliches Bewußtsein in sich. Nicht alle Leute wollen das aber zu aller Zeit anerkennen, am wenigsten die Kutscher.

„Herr Postillon,“ rief der Kutscher zurück, „von Dir zu mir ist es just so weit, wie von mir zu Dir.“

„Grober Flegel, wohin fährst Du?“

„Nach Tiefendorf, grober Flegel.“

„Hast Du noch Platz im Wagen?“

„Ich nicht, aber mein Herr vielleicht.“

Aergerte den Postillon zugleich der Mangel an Respect von Seiten eines ordinären Kutschers, oder war es bloße Theilnahme für das hübsche Mädchen, die trotz ihres entschlossenen und stolzen Wesens bei den in ihrem Interesse geführten groben Wechselreden etwas verlegen geworden war – genug, er nahm sich die Mühe, vom Pferde zu steigen und zu mir heranzutreten.

Ich hatte mit dem Secretair gerade in den Wagen steigen wollen, nur jenes Gespräch hatte mich aufgehalten. Ich war dann im Begriff, der Fremden, die unzweifelhaft ebenfalls nach Tiefendorf wollte, einen Platz in meinem Wagen anzubieten.

„Die möchte gerne mit uns fahren,“' flüsterte auch der Secretair Hommel mir zu.

„Sähen Sie es nicht gern?“

„Sehr gern, sehr gern, Herr Assessor. Wir können etwas Neues von ihr hören.“

Ich kam der Bitte, die der Postillon an mich richten wollte, zuvor. „Die Mamsell will nach Tiefendorf, Schwager?“'

„Ja, Herr, und der Weg ist nicht der beste, und man sieht unterwegs keine Menschen und keine Häuser, und finster wird es auch bald.“

„Ihr habt in Allem Recht, braver Schwager.“ Ich ging zu dem Mädchen. „Mamsell, wir fahren nach Tiefendorf; es wird mir ein Vergnügen machen, wenn Sie mit uns fahren wollen.“

„Sie sind sehr gütig, mein Herr. Ich würde Sie doch nicht belästigen?“

„Nicht im Geringsten.“

„So nehme ich mit Dank an.“

Sie hatte auch die wenigen Worte mit dem entschlossenen Wesen gesprochen, das ihre Erscheinung zeigte. Sie warf dem Postillon einen dankenden Blick zu, dann stieg sie mit dem Secretair und mir in unsern Wagen. Der Postwagen fuhr auf der Landstraße weiter; wir fuhren in das tiefere Gebirge hinein.

Der Weg war in der That schlecht, uneben, holperig, einsam und langweilig genug; aber der Secretair Hommel gab sich alle Mühe, ihm mindestens die Langeweile zu nehmen, wenigstens für sich und mich. Schon in der ersten Minute begann er mit unserer neuen Reisegefährtin zu plaudern und sie auszufragen. Sie setzte ihm Geduld, aber auch Gemessenheit entgegen.

„Sie wollen nach Tiefendorf, Mamsell?““

„Ja, mein Herr.“

„Ein schlechter Weg dahin.“

„Ja.“

„Sie kennen ihn also?““

„Ich kenne ihn.“

„Sie haben ihn also schon öfters gemacht?“

„Schon mehrere Male.“

„Ah, Sie sind wohl aus Tiefendorf?“

„Ja.“

„Gebürtig?“

Sie antwortete erst nach kurzem Nachsinnen. „Ja.“

„Und wohnen Sie auch dort?“

„Jetzt nicht mehr.“

„Sind Sie schon lange von da fort?“

„Seit ungefähr einem Jahre.“ [196] „Sie wohnen wohl hier in der Nachbarschaft?“

„Nein.“

Sie sprach das Nein kürzer, augenscheinlich zurückhaltender, als die früheren Antworten.

Die Neugierde des Secretairs ließ sich dadurch nicht zurückhalten; sie war im Gegenteile herausgefordert.

„Ah, ah, darf ich fragen, woher sie denn kommen?“ Sie nannte ohne Zögern eine etwa zehn Meilen entfernte Provinzialstadt.“

„Und dort wohnen Sie?“

„Ja.“

„Bei Ihren Eltern?“

„Nein.“

„Ah, Ihre Eltern wohnen wohl in Tiefendorf, und Sie wollen Sie besuchen?“

„Nein.“

„Hm, hm, werden Sie lange in Tiefendorf bleiben?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Antwort wurde geradehin zurückweisend gegeben. Und der arme Secretair hatte noch so viele Fragen auf dem Herzen. Er schwieg einen Augenblick verlegen. Lange schweigen konnte er nicht. Und wissen mußte er Alles, was er wissen wollte, wenn nicht auf geradem Wege, doch auf Umwegen.

„Kennen Sie den Friedensrichter Lohmann in Tiefendorf?“ fragte er.

Es war schon ziemlich dunkel geworden, auch im Wagen. Ich glaubte, dennoch zu bemerken, wie das Mädchen bei der plötzlichen Frage sich verfärbte.

„Gewiß,“ antwortete sie.

Sie suchte das Wort leicht, gleichgültig auszusprechen. Es gelang ihr schlecht. Auch der Secretair gewahrte ihre Verwirrung.

„Ah, ah,“ rief er, sich vergnügt die Hände reibend. Innerlich hörte ich ihn rufen: „Ah, da bin ich sehr neugierig!“ Er war es in hohem Grade.

„Sie wollen wohl zu dem Herrn Lohmann?“ fragte er rasch.

Das Mädchen wurde noch verwirrter. Sie suchte sich augenscheinlich zusammenzunehmen. Diesmal gelang es ihr, wenigstens für den Augenblick.

„Nein, mein Herr, zu ihm nicht,“ antwortete sie kurz und kalt, und nur das Wörtchen „ihm“ betonend.

Der Secretair sah, daß er noch einen anderen Weg einschlagen müsse, wenn er zu seinem Ziel kommen wolle. Er wurde zutraulich. Es lag ja auch in seiner geschwätzigen Natur.

„Sie hätten sonst mit uns bis an das Haus fahren können, liebe Mamsell,“ sagte er.

Auf einmal wurde sie wieder unruhig. Sie warf unwillkürlich einen forschenden Seitenblick auf mich und den Secretair. Das lauernde Auge des Secretairs hatte ihn gesehen.

„Wir haben Geschäfte in dem Hause,“ fuhr er fort, etwas geheimnißvoll.

Sie sah ihn voller an. Es war, als wenn sie eine Frage an ihn hätte. Man bemerkte zum ersten Mal Unentschlossenheit an ihr. Aber sie wandte sich von ihm ab. Daß sie an ihn keine Frage richten wolle, stand bei ihr fest. Ein zweifelhafter Blick suchte mich. Es schien mir zugleich ein besorgter, fast ängstlicher Blick zu sein. Ich hatte Mitleiden mit ihrer Angst. Es war kein Zweifel, daß sie zu dem Lohmann’schen Hause in irgend einer Beziehung stand.

„Der alte Herr Lohmann,“ sagte ich zu ihr, „will sein Testament machen, und wir sind zu diesem Zwecke auf dem Weg zu ihm.“ Sie erschrak.

„Es steht schlimm mit ihm?“ rief sie rasch.

„Ich weiß es nicht, aber ich fürchte es, weil dringend um Eile gebeten wurde.

„Mein Gott!“ sagte sie leise für sich.

Sie war in einer großen Unruhe. Unruhiger als sie war der Secretair. Aber in ihrer Unruhe zeigte sich zugleich Angst, Schmerz und zur Ehre des neugierigen Secretairs muß es gesagt werden, er ehrte den Schmerz.

Um seine brennende Neugierde zu bewältigen, blickte er zum Wagen hinaus. Ich leugne nicht, auch ich war neugierig geworden. Wer war die Fremde? Was wollte sie in Tiefendorf? Ihr stolzes, rasches, entschlossenes Wesen zeigte zugleich eine Sicherheit und sogar Anmuth der Bewegungen, die zu der Kleidung einer Kammerjunger oder Näherin wenig zu passen schienen. Eben so ihre reine, gebildete Aussprache in den allerdings nur wenigen und kurzen Worten, die sie gesprochen hatte. Ferner: in welcher Beziehung stand sie zu der Familie Lohmann? Sie wolle nur nicht gerade zu dem alten Lohmann selbst, hatte ihre Antwort auf die Frage des Secretairs ausgedrückt. Dann ihr auffallendes Erschrecken bei der Nachricht von der schleunigen Aufnahme des Testaments, und ihre noch auffallendere Unruhe seither.

Der Secretair störte mich auf einmal in meinen Gedanken. Er fuhr mit dem Kopf aus dem Wege, in den er hineingeblickt hatte, rasch in den Wagen zurück.

„Herr Assessor, da geht er.“

„Wer?“ fragte ich.

„Ich hatte Ihnen doch von dem Pater Theodorus erzählen wollen.“

„Der geht dort?“

„Er geht vor dem Wagen; wir müssen ihn bald einholen.“

Der Name Pater Theodorus hatte der Fremden neues Erschrecken verursacht. Sie war beinahe von Ihrem Sitze emporgefahren. Auch der Secretair bemerkte es.

„Ah, Mamsell, Sie kennen den Pater Theodorus auch?“

„Ja,“ antwortete sie kurz.

Sie hatte sich wieder gefaßt. Stand sie auch zu dem Pater in einer besonderen Beziehung?

Der Secretair fuhr geschwätzig fort: „So werden Sie mir bestätigen können, was ich dem Herrn Assessor über den Mann erzählen wollte. – In früheren Zeiten war ein großes, reiches Kloster in Tiefendorf; es war ein Benedictinerkloster, nicht wahr. Mamsell?“

„Ja, mein Herr.“

„Dem Kloster gehörte auch das ganze Dorf. In der französischen Zeit wurde das Kloster aufgehoben. Die Mönche zerstreuten sich in alle Welt, nur der Pater Theodorus blieb.“

„Er verwaltete gerade damals die Pfarre im Dorfe,“ fiel die Fremde ein, die sich für die Mittheilungen über den Pater Theodorus zu interessiren schien.

„Ja, ja, so war es, und die Regierung ließ ihn auf der Pfarre, und er ist noch da und, seitdem die andern Klosterherren fort sind, beherrscht er allein die Gemeinde.“

Die Fremde gerieth auch in Eifer für den Pater. „Mein Herr,“ sagte sie lebhaft, „er ist der Vater der Gemeinde, und alle hängen mit Liebe und Vertrauen an ihm.“

„Ja, ja, Herr Assessor, und darum, wie ich Ihnen schon vorhin erzählen wollte, hat das Gericht auch so wenig zu thun in Tiefendorf; der Pater Theodorus weiß alle Händel und Streitigkeiten zwischen den Leuten dort zu schlichten und beizulegen, so daß selbst die Sportelcasse darunter leidet, und wenn nicht hin und wieder ein Testament aufzunehmen wäre, die armen Gerichtsbeamten verdienten an Tiefendorf gar nichts.“

„Dafür segnet ihn Tiefendorf,“ sagte die Fremde.

Der Secretair sagte diesmal nicht sein „ja, ja,“ aber: „hm, hm,“ schüttelte er den Kopf, wie um zu zeigen, daß er den Pater nicht segne, der ihn an den Bauern in Tiefendorf nichts verdienen ließ. Doch fuhr er in seiner Gutmüthigkeit fort:

„Uebrigens soll der Pater Theodorus ein sehr unterrichteter und selbst gelehrter Mann sein, und er ist es, dem der Sohn des alten Lohmann, wie ich Ihnen schon vorhin erzählte, Herr Assessor, es zu verdanken hat, daß er nicht roh und wild, wie ein Stück Holz im Walde, aufgewachsen ist.

Das Mädchen schien, als der Sohn des alten Lohmann genannt wurde, wieder aufmerksam geworden zu sein. Ich hatte indeß nicht Zeit, genauer darauf zu achten.

„Ah, ah,“ sagte der Secretair leise zu mir, „da haben wir gerade den Pater eingeholt. Es ist noch Platz im Wagen. Wollten der Herr Assessor ihn nicht einladen? Wir könnten von ihm manches erfahren, über die Fanmilie Lohmann, auch über das Mädchen hier, die ihn zu kennen scheint, und die also auch er kennen muß.“ Laut setzte er hinzu: „Der brave alte Herr scheint müde zu sein, und wir müssen noch eine halbe Stunde bis zum Dorfe haben.“

„Kennen Sie den Pater?“ fragte ich den Secretair.

„Gewiß, gewiß.“

„So laden Sie ihn ein. Ich werde mich freuen, wenn er uns seine Gesellschaft schenken will. [209] Der Secretair ließ sich das nicht zweimal sagen.

„Halt, Kutscher!“ rief er zum Wagen hinaus.

Der Kutscher hielt. Ich sah eine lange, dunkle Gestalt in einem langen, schwarzen Rocke, wie die katholischen Geistlichen ihn zu tragen pflegen, neben dem Wagen gehen. Der Secretair redete den Mann an. „Guten Abend, Herr Pater.“

„Guten Abend,“ antwortete eine schöne, etwas tiefe männliche Stimme, verwundert, wie es schien, aus einem fremden Reisewagen von einer fremden Stimme angeredet zu werden.

„Sie kennen mich wohl nicht, Herr Pater?“

„Nein,“ antwortete der Pater offen, aber freundlich.

„Ich bin der Secretair Hommel vom Land- und Stadtgerichte, und bin mit dem Herrn Assessor auf dem Wege nach Tiefendorf, um das Testament des alten Lohmann aufzunehmen.“

„Ach so.“

„Sie wissen davon?“ mußte der neugierige kleine Secretair noch fragen.

„Ja.“

„Ah, ah! Und wenn der Herr Pater nun auch nach Tiefendorf wollen –“

„Ich bin auf dem Rückwege dahin.“

„So – wir haben noch Platz im Wagen, so würden Sie uns eine Freude machen, wenn Sie zu uns einstiegen.“

Der Pater besann sich keinen Augenblick. „Das nehme ich ganz gern an,“ sagte er mit derselben Offenheit, mit welcher er vorher dem kleinen Secretair erklärt hatte, daß er ihn nicht kenne.

Ich hatte unterdeß die Gesichtszüge des Mönches betrachtet. Es war nicht so finster, daß ich sie nicht hätte unterscheiden können. Ich sah in ein schön geformtes, kluges, mildes und trotzdem sehr kräftiges Gesicht, auch noch trotz seines Alters. Ich stieg aus dem Wagen und wiederholte die Bitte des Secretairs.

„Ei ja,“ erwiderte er mit offener, zutraulicher Ungenirtheit. „Das Alter und weite Wege im Gebirge machen müde, und da ist ein solch’ freundliches Anerbieten doppelt willkommen. Ich war tief im Gebirge; die Gemeinde ist groß.“

„Aber daß Sie mich nicht mehr kannten, Herr Pater!“ rief der Secretair.

„Ich hatte Sie früher nur flüchtig gesehen, mein lieber Herr Hommel, und flüchtige Eindrücke verwischen sich. Dafür kann der Mensch nicht.“

Er hatte bei seiner Geradheit auch noch einen scharfen Blick, ebenfalls noch trotz seines Alters.

Ich hatte ihm in den Wagen hineingeholfen; er hatte meine Hülfe angenommen, auch meinen Platz im Fond des Wagens, ohne Widerrede, mit dem freundlichen Danke des Mannes von Bildung, der sich der Ehrwürdigkeit seines Alters und seiner Stellung bewußt ist, gegenüber einem jüngeren Manne, der gleichfalls der gebildeten Gesellschaft angehört.

Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. In demselben Augenblicke hatte er, ungeachtet der Dunkelheit, die Fremde schon erkannt, die neben ihm saß. Ich hatte seit dem Gespräche mit dem Geistlichem wenig auf sie geachtet. Dennoch war es mir vorgekommen, als wenn unsere Absicht, ihn einsteigen zu lassen, sie beunruhige. Sie hatte ihren Reisehut tiefer in das Gesicht gezogen. Einmal meinte ich sogar, sie mache eine Bewegung, als wenn sie auf der entgegengesetzten Seite des Wagens aussteigen wolle; dann drückte sie sich tiefer in die Ecke. Sie wünschte offenbar, von dem Geistlichen nicht gesehen zu werden; aber sie konnte zu keinem Entschlusse gelangen. Ich wollte schon mißtrauisch gegen sie werden. Allein, so wie der Pater eingestiegen war, bog sie sich entschlossen aus ihrer Ecke vor und wollte sich ihm wahrscheinlich von selbst zu erkennen geben. Es entsprach ihrem entschlossenen, stolzen, für sich einnehmenden Wesen. Der Pater kam ihr aber zuvor; mit seinem scharfen Auge hatte er sie erkannt, bevor sie ihn anreden konnte.

„Marianne, Du hier?“

Er fragte es überrascht, verwundert; ob aber freundlich oder unfreundlich, konnte ich nicht unterscheiden. Sie antwortete ihm:

„Ich bin es, Herr Pater. Ich wollte Sie eben begrüßen und Ihnen sagen, wie ich mich freue, daß Sie noch immer so rüstig sind.“

„Ja, es geht ja noch. Aber woher kommst Du?“

„Aus –“ Sie nannte die Provinzialstadt.“

„Und Du willst zu – zu –?“

Er zögerte, das Wort auszusprechen. Das Mädchen hatte ihn dennoch verstanden.

„Ja, Herr Pater.“

„Jetzt? Heute?“ fragte er, beinahe vorwurfsvoll.

„Ich mußte,“ antwortete sie leise.

„Wir sprechen nachher davon,“ brach er das Gespräch ab.

Auch das Mädchen schwieg. Das Schweigen Beider über diese Angelegenheit benutzte der Secretair Hommel, um seine Fragen anzubringen.

„Ah, ah, Herr Pater, hat hier im Gebirge nicht einmal ein Treffen stattgefunden?“

[210] „Im Herbste des Jahres 1813,“ antwortete der Pater.

„Wir werden an der Stelle vorbeikommen?“

„Nach einiger Zeit, mehr in der Nähe des Dorfes.“

„Es war zwischen Franzosen und Kosaken?“

„Ja. Ein Haufe Franzosen hatte sich auf dem Rückzuge nach der Schlacht bei Leipzig verspätet. Die großen Straßen rund umher waren schon von russischen und deutschen Truppen besetzt. Jene suchten durch die Schluchten des Gebirges hier zu entkommen. Ein überlegener Trupp Kosaken hatte sie aufgespürt und überfiel sie hier. Ich glaube, es sind von den unglücklichen Verfolgten nur wenige mit dem Leben entkommen.“

Der Secretair hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. „Erzählt man nicht,“ fragte er, und er fragte mit einer gewissen lauernden Spannung, „erzählt man nicht noch von besonderen Geschichten, die bei jener Gelegenheit oder zu jener Zeit vorgefallen sein sollen?“

„Ich wüßte nicht,“ erwiderte der Pater.

Er suchte seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.

Ich war dennoch aufmerksamer geworden. Hatte der Secretair mir vorhin doch noch nicht Alles gesagt, was er wußte oder wohl auch nur combinirte? Wollte er hier Näheres erfahren? Wußte der Pater das Nähere? Es schien beinahe so. Aber gewiß schien es mir auch zu sein, daß er keine Lust hatte, dem neugierigen Frager nur das Geringste zu verrathen. Indessen, der Secretair hatte mir vorhin ja nur seine Nachrichten und Combinationen über die Familie Lohmann mitgetheilt, und was berechtigte mich, jenes Kriegsereigniß mit dieser Familie in Verbindung zu bringen? War das nicht eine Combination von meiner Seite, die noch über die seinigen hinausging? – Er fuhr, durch die kalten Antworten des Geistlichen nicht abgeschreckt, in seinen Fragen fort:

„Ich meinte, man hätte von einem räthselhaften jungen Menschen gesprochen?“

„Ich erinnere mich nicht,“ war wiederum die kalte, kurze Antwort des Paters.

„Oder eigentlich soll es kein junger Mann gewesen sein.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Nämlich nur ein verkleideter.“

„Ich weiß in der That nicht, was Sie wollen, mein Herr.“

Der Geistliche sagte das zwar höflich, aber auch mit einer Entschiedenheit, die deutlich genug zeigte, daß ihm das Gespräch unangenehm war. Ich war im Begriffe, dem zudringlichen Frager einen derberen Wink zu geben. Er hatte aber schon rasch eine weitere Frage vorgebracht.

„Aber von einem Kinde müssen Sie wissen, Herr Pater? Sie selbst haben es noch getauft.“

„Ich taufe viele Kinder, mein Herr,“ erwiderte der Geistliche, noch ruhig. Aber unmittelbar darauf setzte er mit Strenge hinzu: „Und nun, mein Herr, bitte ich Sie, mich nicht weiter zu fragen.“

Dann wandte er sich an das Mädchen, das an seiner Seite weinte. Sie hatte während des Gespräches des Geistlichen und des Secretairs sich still verhalten. Der Geistliche, so war es mir vorgekommen, hatte von Zeit zu Zeit desto unruhigere Seitenblicke auf sie geworfen, als wenn das Gespräch, dem er nicht entgehen konnte, sie betreffe, als wenn er gerade um ihretwillen wünsche, es abgebrochen zu sehen. Auf einmal hörten wir sie heftig schluchzen. Um das Weinen zu bekämpfen, hatte sie sich wohl äußerlich still verhalten. Das Gespräch ging sie also in der That an? Berührte sie gar nahe, schmerzlich? Der Geistliche nahm ihre Hand.

„Weine nicht, meine gute Marianne; wir sprechen nachher zusammen.“

Er sagte das, wie ein liebender Vater zu seinem Kinde, und behielt ihre Hand in der seinigen. Ihr Schluchzen hörte auf. Der Secretair schwieg endlich, und im Wagen herrschte jetzt die größte Ruhe. So erreichten wir nach einer Weile das Dorf. Am Eingange des Dorfes bat der Pater, aussteigen zu dürfen.

„Du begleitest mich, Marianne?“ fragte er das Mädchen,

Sie warf plötzlich einen zweifelhaften, fragenden Blick auf mich; dann sagte sie entschlossen: „Ja, Herr Pater!“ Sie stieg mit ihm aus.

Was hatte sie von mir gewollt? Allein ich hatte jetzt meinerseits noch einige Fragen an den Geistlichen. Ich sollte ein Testament von einem Manne aufnehmen, von dem mit Bestimmtheit gesagt wurde, daß er nicht den Gebrauch seiner Vernunft habe. Es war eine Gewissens- und Amtspflicht für mich, über den Zustand dieses Mannes mir jede mögliche Aufklärung zu verschaffen zu suchen. Der Geistliche mußte von ihm wissen und schien ihn näher zu kennen. Sein klares, besonnenes, selbst würdiges Benehmen hatte mir andererseits Vertrauen zu ihm einflößen müssen. Ich stieg deshalb gleichfalls mit ihm aus.

„Herr Pater, erlauben Sie, daß ich Sie wenige Schritte begleite?“

„Es wird mir recht angenehm sein.“

„Auch daß ich einige Fragen an Sie richte? Nicht aus Neugierde.“

„Ich bin überzeugt davon. Fragen Sie.“

„Der alte Herr Lohmann will sein Testament machen; ich höre aber Zweifel hinsichtlich seines geistigen Zustandes.“

Er sann einen Augenblick nach; dann antwortete er, aber, wie es mir schien, nicht ganz mit seinem offenen und ungezwungenen Wesen: „Darüber kann ich Ihnen in der That keine Auskunft geben, denn ich habe den Mann seit langer Zeit nicht gesehen; die Welt nennt ihn freilich schon lange einen Verrückten.“

„Mit Recht oder mit Unrecht nach Ihrer Meinung?“ fragte ich ihn weiter.

„Auch darüber habe ich kein Urtheil. – Indeß –“

Er sah auf das Mädchen, die neben ihm ging, als wenn er sie fragen wolle oder ich sie fragen solle.

„Doch nein,“ fuhr er dann fort. „Aber Sie werden ja vorsichtig sein, Herr Assessor, wie Amt und Gewissen es von Ihnen fordern, und wozu noch ganz eigenthümliche Umstände, die auch Ihnen nicht entgehen werden, Sie noch besonders auffordern möchten. Ich sage Ihnen nicht mehr, um nicht Vorurtheile in Ihnen zu wecken, die der Wahrheit nachtheilig sein könnten. Wenn ich mir dann noch erlaube, Sie zur besonderen Vorsicht zu ermahnen, so werden Sie mir altem Manne das ja nicht übel nehmen.“

„Ich bin Ihnen vielmehr dankbar.“

„Und hoffentlich – Doch nein,“ unterbrach er sich wieder. Er hatte jedenfalls noch etwas auf dem Herzen; aber er schwieg. Ich hatte ihn nichts mehr zu fragen und verabschiedete mich von ihm. Etwas mußte er mir doch noch sagen. Er nahm meine Hand.

„Herr Assessor, ich hatte hier im Dorfe schon von Ihnen gehört; mein Blick bestätigt mir, was ich gehört hatte. Sie werden heute noch Manches erfahren. Was es auch sei, behalten Sie ein gerechtes, aber auch ein mildes Urtheil. – Leben Sie wohl. Es ist möglich, daß ich Sie bald wiedersehe, heute noch. – Komm, meine gute Marianne.“

Ich glaubte, das Mädchen wieder leise weinen zu hören. Er nahm ihre Hand und entfernte sich mit ihr. Er hatte in Räthseln gesprochen. Räthseln ging ich entgegen. Was sollte ich im Hause des Verrückten finden? Wie stand das Mädchen damit in Verbindung, das an der Seite des Geistlichen weinte? Wie stand sie wieder in Verbindung zu einer geheimnißvollen Geschichte jenes Treffens aus dem Jahre 1813? Wie also wieder die Geschichte mit dem, was ich in dem Lohmann’schen Hause finden sollte?

Mit diesen und ähnlichen Fragen machte ich mich auf den Weg nach dem Hause des Testators.

Der Secretair fragte mich nicht mehr. Er war auch, seit jener Zurechtweisung des Geistlichen, schweigsamer geworden. Auch in dem Wirthshause des Dorfes, in dem ich zunächst eingekehrt war, hatte ich mich nicht näher erkundigen mögen. Die Ankunft einer Gerichtsdeputation zur Aufnahme des Testaments des alten Herrn Lohmann war in dem Dorfe natürlich schon den ganzen Tag besprochen. Der Wirth, der den Secretair kannte, hatte mit diesem sofort ein Gespräch darüber angeknüpft. Beide hatten große geistige und gemüthliche Verwandtschaft mit einander.

„Sie wollen von dem Verrückten ein Testament aufnehmen, Herr Secretair? Na, da bin ich neugierig.“

„Ich auch, ich auch, Herr Wirth. Also, Sie halten ihn wirklich für verrückt?“

„Wer kann daran zweifeln?“

„Aber seit achtzehn Jahren soll ihn ja kein Mensch gesehen haben?“

„Seit achtzehn Jahren hat ihn kein Mensch gesehen, und auch kein Mensch einen Fuß in sein Haus setzen dürfen. Die Herren vom Gerichte werden heute die ersten sein. Aber folgt daraus, daß er nicht verrückt ist? Ich denke gerade im Gegentheil.“

Auch das war eine Logik.

[211] „Aber was für Leute wohnen denn in dem Hause?“ fragte der Secretair noch.

„Zuerst seine Alte.“

„Seine Alte? Wer ist die?“

„Na, Sie werden sie schon kennen lernen. Sie commandirt Haus.“

„Dann?“

„Dann eine Jüngere.“

„Und wer ist die?“

„Man spricht Allerlei davon, und darum sage ich lieber nichts. Ein Wirth muß sich in Acht nehmen.“

„Hat der Alte nicht einen Sohn?“

„Ja, der arme Mensch ist auch noch im Hause. Und das werden sie wohl Alle sein. Denn die Domestiken müssen in einem Nebenhause wohnen, und kommen in das Haupthaus nur, wenn die Alte sie ruft, und die läßt sie dann nicht aus den Augen. Es mag freilich mitunter in dem Hause curios genug hergehen, und Manches vorfallen, was nicht Jedermann hören und sehen darf. So zum Beispiel – Aber ein Wirth muß schweigen können.“

„So zum Beispiel, Herr Wirth?“

„Ich habe nichts gesagt, Herr Secretair.“ Er sagte in der That nichts mehr.

Ich brach mit dem Secretair nach dem Hause des Herrn Lohmann auf. Es war nach sieben Uhr Abends. Der Abend war völlig dunkel. Ein Knecht des Wirths mit einer Laterne führte uns hin. Als wir die letzten Häuser des Dorfes hinter uns hatten, kamen wir zuerst an einen weiten Platz, der nach mehreren Seiten von Gebäuden eingefaßt schien. In der Dunkelheit konnte man es nicht näher unterscheiden.

„Der alte Klosterplatz,“ sagte der Knecht.

Wir betraten ihn. Ein schmaler Fußpfad führte uns zwischen Steingeröll, halb verdorrtem Grase, Disteln und ähnlichem Unkraut weiter. Man konnte jetzt jene Einfassung des Platzes genauer unterscheiden. Die Umrisse langer, hoher Gebäude zeichneten sich an dem dunklen Himmel ab. Sie selbst lagen völlig finster da. Auch auf dem ganzen weiten Platze herrschte tiefe Finsterniß. Kein Licht, keine Spur irgend eines Lebens war bemerkbar.

„Wo ist die Lohmann’sche Wohnung?“ fragte ich den Knecht.

„Sogleich, Herr!“

Er führte uns weiter. Der Pfad bog sich aus der Mitte des Platzes heraus, nach rechts. Wir kamen einem der langen, hohen Gebäude näher. Die Laterne warf ihr ungewisses Licht darauf. Wir gingen an einer kahlen, grauen, mitunter verfallenen Mauer. Hin und wieder waren Fensteröffnungen da, aber es waren keine Fenster, nicht einmal Fensterkreuze mehr darin.

„Das alte Kloster.“ sagte der Knecht.

Seine Worte hallten durch die Oeffnungen der Mauer, wie in einen weiten, leeren, wüsten Raum hinein.

Wir kamen an dem alten Kloster vorüber. Eine niedrige Mauer zog sich vor uns her. Der Knecht führte uns gerade auf sie zu. Sie hatte eine Oeffnung. Ehemals war eine Pforte hier gewesen. Sie mußte schon längst verschwunden sein. Nur noch der eine Pfosten stand da. Wo der zweite gestanden hatte, war sogar die Mauer eingefallen. Wir durchschritten die Oeffnung, und gelangten auf einen kleinen Platz. Der Schein der Laterne zeigte höheres, wilderes, üppigeres Unkraut; es stand in gewissen regelmäßigen Gruppen. Das waren alte Gartenbeete. Wir befanden uns nicht in einem alten, aber in einem ehemaligen, längst verwüsteten Garten. An seinem Ende, uns gegenüber, lag wieder ein Gebäude. Es war ungleich kleiner, als jenes alte Kloster, aber noch immer größer, als ein gewöhnliches bürgerliches Wohnhaus. Seine Umrisse schienen mir in der Dunkelheit ein herrschaftliches Landhaus im Style des siebzehnten Jahrhunderts anzuzeigen. Als wir näher kamen, zeigte das Licht der Laterne denselben grauen Mauerstein, mit dem das Kloster ausgeführt war, und auch hier waren die Mauern vielfach verfallen und beschädigt. Das Haus lag so dunkel und so still da, wie vorher das alte Kloster. Seine Fensteröffnungen waren von außen mit schweren Läden verschlossen, so dicht, daß keine Ritze die Spur eines Lichtes zeigte, wenn inwendig ein Licht brannte.

„Das Haus des Herrn Lohmann,“ sagte der Knecht.

„Die ehemalige Priorei des Klosters,“ setzte der Secretair hinzu.

Wir stiegen eine steinerne Treppe von fünf oder sechs Stufen hinauf. Sie war alt, die Steine waren schadhaft, lagen lose, ein Geländer war vielleicht einmal da gewesen. Wir standen vor einer Thür von schwerem, dunklem Eichenholz. In ihrer Mitte war ein verrosteter Klopfer.

„Klopfen Sie da nur an,“ sagte der Knecht, und er kehrte eilig mit seiner Laterne zurück, als wenn es anfange, ihm zu grauen.

Wir standen an dem Hause des Verrückten. Unser erstes Gefühl, wenn wir einem Menschen begegnen, dessen Geist ewige Nacht umfängt, ist Mitleiden; wir können uns aber auch eines gewissen Grauens nicht erwehren, vielleicht noch von den Kinderjahren her. Ich sollte in das Haus des Verrückten eintreten. Seit achtzehn Jahren hatte kein fremdes Auge den Mann gesehen; seit eben so langer Zeit hatte kein fremder Fuß das Haus betreten. Es lag so dunkel, so unheimlich vor mir, in der Abgeschiedenheit alter, verfallener, wüster Klostermauern, selbst alt, verfallen, wüst. Hier hausete der Unglückliche, in der Nacht des Geistes, in jener sonderbaren Umgebung, in der Nähe eines schweren, blutigen Verbrechens. War nicht auch von Verbrechen die Rede gewesen?

Was sollte ich in dem Hause finden? Aber was wußte ich denn von einem Verbrechen? War der alte Mann nur verrückt, geistesschwach? Dennoch, was sollte ich finden? –

Ich erhob den verrosteten Thürklopfer und klopfte. Der Schlag hallte dumpf wieder, wie durch das ganze Haus. Aber es regte sich nichts drinnen.

„Herr Assessor,“ sagte der Secretair neben mir.

„Sie sind neugierig, Herr Secretair!“

„Ach, ich weiß nicht – ich – Es kann Einem fast schauerlich hier werden.“

In dem Hause regte sich etwas. Es schienen leise und doch schwerfällige, langsame Schritte zu sein. Ein niedriges Fenster über der Thür wurde von einem matten Lichtstrahl erhellt. Die Schritte naheten sich. In dem Schlosse der Thür wurde ein Schlüssel gedreht. Dann wurde ein Riegel zurückgeschoben; darauf wurde an der Thür gezogen, um sie vollends zu öffnen. Alles geschah langsam, leise, wie um so wenig wie möglich Geräusch zu machen, aber auch, wie ich meinte, mit einer gewissen Unlust, Bequemlichkeit, Trägheit.

Wer mag da öffnen? Welche Figur mag gleich vor uns stehen?

Selbst der Secretair sagte wieder: „Da bin ich doch neugierig.“

Die Thür ging auf. Ein Frauenzimmer, mit einer Laterne in der Hand, stand unmittelbar an der geöffneten Thür vor uns. Sie trug bürgerliche Kleidung, etwas nachlässig. Sie war noch jung; sie konnte vier- bis fünfundzwanzig Jahre zählen; ihre Gestalt war schlank. Ihre Gesichtszüge waren nicht häßlich; sie zeigten sogar eine gewisse Regelmäßigkeit, aber sie waren von einer gelblichen Leichenfarbe bedeckt, und der Farbe entsprach der Ausdruck des Gesichts. Man konnte meinen, eine Todtenmaske zu sehen. In dem ganzen Gesichte bewegte sich nichts, es war todt und starr. Die Augen waren wie von grauem Glase. Von Geist war in dem Allem keine Spur zu sehen. So stand sie vor uns. Daß die Figur Leben hatte, zeigte eine Bewegung ihres Armes, womit sie die Laterne höher hielt, um uns besser sehen zu können, und ein Blick stumpfer geistloser Neugierde, mit dem sie uns betrachtete. Sie machte einen unheimlichen Eindruck. Aber ein anderer, widerwärtigerer Eindruck verdrängte ihn.

Wir befanden uns an einer kleinen Halle. Im Hintergründe derselben, uns gerade gegenüber, stand eine zweite weibliche Figur, mit einer Lampe in der Hand. Die Lampe beleuchtete ihr Gesicht, man konnte es voll sehen. Man glaubte kein häßlicheres Gesicht eines alten, bösen Weibes sehen zu können. Eine alte, schwarze Haube aus dem vorigen Jahrhundert umgab dieses häßliche, boshafte Gesicht. Ein weites Kleid von großgeblumtem Kattun umhüllte eine alte, magere Figur. Daß Haube und Kleid nicht eben sehr rein waren, ich konnte es in der Entfernung nicht sehen, aber ich hätte darauf geschworen, daß sie es nicht waren.

„Herrscht in diesem Hause der Blödsinn oder der Satan?“ mußte ich mich unwillkürlich fragen.

Den Secretair sah ich sich unwillkürlich schütteln.

Die Alte hatte nur sehen wollen, wer Einlaß in das Haus begehre. Sie warf noch einen flüchtigen Blick auf uns, dann verschwand sie durch eine Seitenthür. Wir waren mit der Jüngeren allein.

„Wir sind zur Aufnahme eines Testamentes hierher gekommen,“ sagte ich zu ihr.

Sie nickte mit dem Kopfe. „Ich weiß es, kommen Sie nur herein.“ Es war eine träge, schläfrige, geistlose Stimme, mit der sie das sprach.

Wir traten in die Halle. Aber sie führte uns nicht weiter. [212] Sie setzte ihre Laterne auf die Erde, trat näher an die Thür, faßte mit der einen Hand diese und mit der anderen den im Schlosse steckenden Schlüssel, und wollte so die Thür wieder zudrücken und abschließen. Sie that Alles langsam, schwerfällig, schläfrig. Darum kam sie auch nicht damit zu Stande.

Eine andere weibliche Gestalt, ein behendes, entschlossenes Wesen, kam ihr zuvor. Aus der Maueröffnung, durch die auch wir vorhin gekommen waren, kam sie schnell herangeflogen, mit wenigen Sprüngen war sie oben auf der steinernen Treppe. Als die Andere die Thür zudrücken wollte, stand sie mitten in dieser. Ehe die Andere sich besinnen konnte, war sie neben uns in der Halle. Es war unsere Reisegefährtin, die der Pater Theodorus seine gute Marianne genannt hatte.

„Guten Abend,“ sagte Marianne mit ihrem raschen, entschlossenen Wesen.

Auf einmal kam jene Andere zur Besinnung. Die Todtenmaske belebte sich; die geistlosen Züge bekamen Geist. Aber welch ein Leben war das, welch ein Geist! Tas Gesicht blieb bleich, die Züge veränderten sich nicht; nur die Augen bewegten sich, sie sprühten ein wildes Feuer.

„Was willst Du hier?“ rief sie der Fremden zu. Sie rief es in einem sonderbaren Tone, wie ein eigensinniges, verzogenes, schreiendes Kind von sechs oder sieben Jahren.

Wie ein solches Kind kam sie mir auf einmal überhaupt vor. Ihr Körper hatte die Ausbildung des Alters von fünfundzwanzig Jahren; vielleicht war sie noch älter. Ihr Geist war in der Entwickelung ihres siebenten Jahres stehen geblieben. Die Fremde, Marianne, stand ihr mit Ruhe, aber auch mit einem fest entschlossenen Muthe gegenüber. Welcher Gegensatz, jenes gelblich bleiche, wuthsprühende, kindisch schreiende, in diesem Augenblicke von dem Schreien verzerrte und so doppelt häßliche Gesicht, und dieses klare, ruhige, muthvolle, seine, von der Reise und der augenblicklichen Erregung etwas geröthete und jetzt wirklich schöne Gesicht, mit den dunklen, glanzvollen Augen!

„Was willst Du hier?“ hatte jene dem Mädchen zugeschrieen. „Ich will in dieses Haus,“ antwortete Marianne ruhig. „Zu wem, zu wem?“ „Zu meinem Pflegevater.“ „Du lügst, Du lügst. Du willst nicht zu ihm. Du sollst zu keinem Menschen. Du sollst aus dem Hause. Hinaus, hinaus!“

Sie rief immer in dem weinerlichen, schreienden Tone eines verzogenen, trotzigen, heftigen Kindes, das seinen Willen nicht bekommt. Das Geschrei hallte durch das ganze Haus.

Im Hintergrunde der Halle, dort, wo das häßliche alte Weib verschwunden war, öffnete sich eine Thür. Die Alte erschien darin. Sie blickte rasch umher. Das Geschrei der Tochter schien sie erschreckt zu haben. Auf einmal sah sie die Fremde, Marianne. Das häßliche Gesicht verzerrte sich in entsetzlicher Bosheit. Sie stürzte wie eine Furie näher. Aber mitten in der Halle schien sie sich auf etwas zu besinnen, und hielt ihren Schritt an. Sie sah zweifelhaft auf die Fremde, dann auf mich und den Secretair.

Marianne hatte sich auf unsere Seite gestellt; es konnte aussehen, als wenn sie unter unserem, der Gerichtsbeamten, Schutze stehe, als wenn sie gar mit uns gekommen sei. Die Alte stutzte sichtlich. Die Andere sah es nicht. Sie blieb das schreiende Kind von sieben Jahren. Sie hatte die Alte gesehen, und lief auf sie zu.

„Die Marianne ist hier, Mutter; sie will nicht wieder fort; sie will nicht aus dem Hause. Hilf mir. Sie soll fort, sie soll fort; sie soll nicht zu ihm.“

Sie war also die Tochter der Alten.

Die alte Frau stand zweifelhaft, in sichtbarer Unruhe. Marianne trat auf sie zu, ruhig, muthig, wie sie bisher war.

„Madame Langlet, mein Pflegevater liegt am Sterben. Sie werden mir doch erlauben, daß ich ihn noch einmal sehe.“

Aus den Augen der alten Madame Langlet schoß ein furchtbar wüthender Blick. Aber ein unruhiger Seitenblick auf uns, die Gerichtsbeamten, folgte ihm. Die Frau mäßigte sich.

„Wer hat Dir gesagt, daß er am Sterben liegt?“ fragte sie die Fremde.

„Ich habe es gehört.“

„Und warum bist du hergekommen?“

Das Mädchen besann sich.

„Jetzt, ja,“ antwortete sie dann, aber, wie es mir schien, nicht ohne einen Vorbehalt gegen sich selbst.

Auch die Frau besann sich.

„Du kannst bleiben.“

„Sie soll fort, sie soll fort!“ schrie die Tochter.

Aber die Alte brauchte ihr nur einen einzigen drohenden Blick zuzuwerfen. Sie schwieg, wie das an den strengsten Gehorsam gewöhnte Kind.

„Komm,“ sagte die Alte dann zu der Fremden. „Führe die Herren, Adrienne,“ befahl sie ihrer Tochter.

Marianne folgte ihr ohne Zögern durch die Thür, durch welche jene eingetreten war. Die Tochter der Alten, Adrienne Langlet, führte uns durch eine gegenüberliegende Thür in ein Zimmer; sie selbst trat nicht mit hinein. Es war ein hohes, geräumiges Zimmer; Decke und Gesimse zeigten kunstvolle und noch wohlerhaltene Stuckaturarbeiten. Das Kloster war reich gewesen. Auch die Möbel, die umherstanden, ließen dies erkennen; sie waren so alt und altmodisch, daß sie wohl noch aus den Zeiten der Prioren herstammten, die in diesem Hause wie kleine Fürsten gelebt hatten. Alles war gediegen, von braunem Eichenholze, fest gepolstert, mit schweren Goldleisten und Goldrahmen verziert. Auf einem Tische in der Mitte des Zimmers brannten zwei Wachskerzen. [225] Wir waren allein in dem Gemache. Nichts um uns her war unheimlich; aber in uns war es uns desto unheimlicher.

„Ah, Herr Assessor, das war eine sonderbare Entree; da kann einem graulich werden.“

„Ich bin neugierig auf das Weitere, Herr Secretair.“

„Spotten Sie nicht. Ich versichere Sie –“

„Ich sprach im Ernst.“

„Ah, nein, ich bin es nicht. Ist jene junge Person schon eine Verrückte –“

„Eine Verrückte, Herr Secretair?“

„Eine Blödsinnige denn, das können Sie nicht leugnen. Und von ihr hatte man nicht einmal etwas gehört. Wie mag da erst der Alte sein! Ein Glück nur, daß er im Sterben liegt, wie die Andere, die Marianne, sagte.“

„Ein Glück, Herr Secretair?“

„Herr Assessor, wenn der Mensch auch noch die Kräfte eines Rasenden hätte, hier, in dieser Einsamkeit, zwischen den alten Klostermauern, und dazu die andere Verrückte und der alte Satan, und wer weiß, was sonst noch in diesem Hause des Wahnsinnes hauset; und ein Verbrechen soll der Alte ohnehin schon auf dem Gewissen haben – und das alte Weib sah aus, wie ein Verbrechen – ah, Herr Assessor, da könnte einem wahrhaftig ängstlich zu Muthe werden.“

„Ihnen, Herr Secretair?“ mußte ich doch halb scherzend fragen. „Und Sie waren Officier und haben die Feldzüge mitgemacht?“

Aber er antwortete sehr ernsthaft: „Ja, ja, Herr Assessor, und kein Mensch hat mir jemals Furchtsamkeit vorwerfen können. Damals! Aber sehen Sie, das verdammte Sitzen hinter den Acten, nun schon über achtzehn Jahre lang, Jahr ein, Jahr aus, Tag für Tag, vom frühen Morgen bis in den späten Abend, ah, das kann einen ganz anderen Menschen aus einem machen, das ruinirt zuletzt den Besten. O, diese Acten!“

Hatte der gute Mann nicht Recht? O, diese Acten!

Aber er wurde doch nach und nach wieder neugierig; am Plaudern war er schon. „Mich wundert nur,“ fuhr er fort, „wie das junge Mädchen, unsere Reisegefährtin, so allein mit dem alten Drachen gehen konnte. – Ja, ja, die Leute hatten wohl Recht, dieses alte Weib einen Drachen zu nennen! ich möchte nicht allein mit ihr sein. Aber das Mädchen schien nichts weniger als Furcht vor ihr zu haben. Da müssen sonderbare Verhältnisse vorliegen. Und zu wem wollte sie eigentlich und sollte sie doch nicht? Zu dem Alten nicht, sagte die Blödsinnige. Zu wem dann? Und warum wurde die Person so wüthend dabei? Ah, Herr Assessor, ich bin doch – ja, ich bin doch neugierig.“

„Gott sei Dank!“ sagte ich.

Er ging in dem Zimmer umher, um sich Alles anzusehen, nebenbei auch wohl etwas zu horchen. Dabei konnte er das Schwätzen nicht lassen.

„Verzweifelt feste Thüren, Herr Assessor. Das alte Eichenholz ist hart wie Eisen geworden, und so dick.“

„Die geistlichen Herren liebten das so, Herr Secretair.“

„Ja, ja, aber man kann auch noch jetzt einen Menschen hinter diesen Thüren verschließen –“

„Einen, Herr Secretair, aber nicht zwei.“

„Auch zwei, auch zwei. Warum läßt man uns hier so lange warten? Und dann – sehen sich der Herr Assessor einmal diese Fensterladen an. Ah, sie sind in unseren Gerichtsgefängnissen nicht fester und dichter verschlossen.“

„Herr Secretair, die Acten, die Acten!“

„Und wie still ist es um uns her! Kein Laut in dem ganzen Hause. Und es sind doch Menschen darin. Auch von unserer Reisegefährtin hört man nichts mehr, und sie war doch wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen. – Ah, Herr Assessor!“

„Nun?“

„Diese Todtenstille ist wirklich unheimlich. Wenn die beiden Weibsleute das arme Mädchen –! Die Alte war ein echter Drache, und die Junge war blödsinnig, und boshaft war sie dazu. Und boshafte Blödsinnige, Herr Assessor, Sie wissen es gewiß auch, sind die gefährlichsten Menschen, schrecken vor keinem Verbrechen zurück. Und den blödsinnigen Alten, der gar ein wirklicher Verrückter ist, kennen wir noch nicht einmal. Und Thüren und Fenster des Hauses sind wie mit Eisen verschlossen, und das Haus liegt so allein, von aller menschlichen Gesellschaft entfernt, so recht zu Verbrechen geeignet, und es wäre gewiß nicht das erste –“ Er hielt plötzlich inne. „Herr Gott, was war das?“ rief er dann leise.

Er horchte gespannt. Ich hatte nichts gehört.

„Was haben Sie?“ fragte ich ihn.

„Hörten Sie nichts?“

„Nein.“

„Es war mir, als wenn ich Stimmen hörte; eine tiefe Baßstimme war darunter.“

„Hat Ihre Einbildungskraft nicht vielleicht mehr gehört, als Ihr Ohr?“ [226] Er wollte mir antworten, als auf einmal rasch, aber leise eine Thür geöffnet wurde. Er fuhr erschrocken zurück.

Das Zimmer hatte drei Thüren; die eine führte in die Halle, durch welche wir eingetreten waren; die beiden anderen befanden sich einander gegenüber in den beiden Seitenmauern, und eine von ihnen, die links, öffnete sich. Eine äußere Ursache zum Erschrecken hatte der Secretair wohl nicht gehabt.

Die alte Frau Langlet trat durch die Thür ein, und sie sah nicht im Geringsten schrecklich oder furchtbar, vielmehr sogar manierlich und freundlich aus. Sie hatte sich umgekleidet; darum hatten wir wohl warten müssen. Sie hatte eine weiße Haube aufgesetzt, die ziemlich reinlich war, und ein anderes, ebenfalls altmodisch großgeblümtes Kleid angezogen. Ihr Gesicht hatte ein Lächeln, das zugleich leidend und gewinnend sein sollte. Sie sah nicht mehr boshaft aus, aber gemein, und das böse Weib glaubte man ihr nun erst recht anzusehen. Sie hatte die Thür hinter sich zugemacht.

„Wenn es den Herren jetzt gefällig wäre,“ sagte sie.

Wir wollten ihr folgen. Sie bewegte sich aber nicht.

„Ich hätte noch eine Bitte an die Herren.“

„Lassen Sie hören.“

„Der Herr Friedensrichter – er ist mein Vetter – ist sehr krank; er wird es wohl nicht lange mehr machen. Wenn Sie nicht zuviel mit ihm sprechen wollten.“

„Ich werde nicht mehr mit ihm sprechen,“ erwiderte ich ihr, „als das Gesetz und das Geschäft erfordern.“

Sie schritt zu der Thür zurück, aus der sie gekommen war. Wir folgten ihr.

„Ich darf doch zugegen bleiben?“ fragte sie noch im Gehen.

„Wenigstens vorläufig,“ antwortete ich.

Es hatte mir nicht entgehen können, wie sie während des kurzen Gesprächs sowohl den Secretair, als mich, besonders aber mich, mit heimlichen Seitenblicken mißtrauisch, mit einer gewissen Besorgniß sogar, betrachtete. Ich mußte um so mehr auf meiner Hut sein.

Sie öffnete die Thür. Wir traten mit ihr in ein Zimmer, das dem, aus dem wir kamen, fast völlig gleich war, auch in seinem Ameublement; nur war ein Schreibtisch darin, auf dem mehrere Bücher standen, und in einer Ecke ein Bett mit Vorhängen. Das Bett war aber leer. Dagegen lag auf einem Sopha in der Mitte der Stube Jemand auf und unter Bettkissen. Es war wohl der Testator, der vormalige Friedensrichter Lohmann, und wir befanden uns in seiner Arbeitsstube, die jetzt zugleich das Wohn- und Schlafzimmer des alten, kranken Mannes war. Die Frau führte uns zu dem Sopha.

„Herr Vetter Lohmann, die Gerichtsherren!“

Es war also der Testator. Er nickte mit dem Kopfe und zeigte mit der Hand nach Stühlen, die in der Nähe des Sopha’s standen. Für unser Geschäft waren schon Vorbereitungen getroffen. Am Fußende des Sopha’s stand ein Tisch mit zwei Wachskerzen darauf; ein Stuhl stand davor, für den, der an dem Tische schreiben sollte. Ein zweiter Stuhl befand sich an dem Kopfende des Sopha’s; er war für mich bestimmt, und ich nahm ihn ein. Der Secretair setzte sich an den Tisch. Die alte Frau, Madame Langlet, trat zurück, nach dem Bette hin, an dessen Seite, hinter den Sitz des Secretairs. Sie konnte so den Kranken sowohl, als mich beobachten, während sie in dem Schatten des Secretairs stand und wenigstens ihre Gesichtszüge nur ungenau von mir beobachtet werden konnten. Sie hatte sich, wie in Bescheidenheit, so zurückgezogen. Ich glaubte, eine andere Absicht darin finden zu dürfen.

Ich betrachtete zunächst den Kranken. Das Gesicht zeigte einen sehr alten und sehr entkräfteten Mann. Es war lang, mager und blaß; die Züge waren erschlafft; die Augen matt und glanzlos; es war gerade kein häßliches, aber, wenigstens in diesem Augenblicke, ein völlig ausdrucksloses Gesicht. Die Augen waren halb geschlossen. Der Kranke lag wie in einer Apathie; er schien für nichts mehr Gefühl zu haben, auch für das Leben nicht. Seine Krankheit bestand wohl nur in großer Altersschwäche. Aber das Gesicht zeigte auch keine Spur von Blödsinn oder anderer Geistesschwäche, Geisteszerrüttung, Seelenkrankheit; in den Zügen weder Stumpfheit, noch Verzerrung; in den Augen weder Geistlosigkeit, noch ein flackerndes oder auch nur glimmendes Feuer.

Der Secretair legte seine Schreibmaterialien zum Schreiben zurecht. Ich begann ein Gespräch mit dem Testator, um vorläufig – das allgemeine Landrecht schrieb es ausdrücklich so vor – seine Identität und den Zustand seiner Geisteskräfte festzustellen.

„Sie sind der Herr Lohmann?“ fragte ich ihn.

„Ich heiße Louis François Lohmann,“ antwortete er.

Er antwortete mit einer schwachen, aber klaren, nicht unangenehmen Stimme. Die tiefe Baßstimme, die der Secretair vorhin gehört hatte, war es nicht. Freilich, hatte er überhaupt eine Stimme gehört?

„In welchem Alter sind Sie?“ fuhr ich fort.

„Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt.“

„Sie sind nicht von hier gebürtig?“

„Das Elsaß ist meine Heimath.“

„Sie waren hier früher Friedensrichter?“

„Tiefendorf war zum Hauptorte eines Cantons von gleichem Namen gemacht. Ich war Friedensrichter des Cantons.“

Er gab alle Antworten zwar mit seiner schwachen Stimme, aber ohne körperliche Beschwerde oder Mühe; noch weniger waren sie seinem Geiste beschwerlich. Er antwortete, wenn auch nicht rasch, doch jedes Mal sofort, ohne daß er sich zu sammeln oder zu besinnen brauchte. Sein Geist schien völlig klar zu sein. Er war es wenigstens bis jetzt noch. Auch der Secretair – ich sah es ihm an – verwunderte sich darüber.

„Sie wollen Ihren letzten Willen erklären?“ fragte ich ihn weiter.

„Ja.“

„Sie haben Jemandem den Auftrag gegeben, zu dem Zwecke einen Gerichtsdeputirten hierher zu erbitten.“

„Meinem Sohne.“

„Sie kennen die Handschrift Ihres Sohnes?“

„Gewiß.“

„Hat er dieses geschrieben?“

Ich hielt ihm die Eingabe des Sohnes vor das Gesicht; er sah sie genau an.

„Ja.“

„Haben Sie vielleicht selber schriftlich Ihr Testament aufgesetzt?“

„Nein. Das Schreiben war mir schon seit Jahren zu schwer.“

„Sie wollen es also mündlich zum gerichtlichen Protokoll erklären?“

„Das ist meine Absicht.“

Noch immer war der Kranke eben so klar, wie ruhig. Dem Secretair schien es desto unklarer und unruhiger, beinahe unheimlicher zu werden. Die alte Frau stand unbeweglich, wie eine Statue, an das Bette gelehnt. Ich fuhr fort:

„Bevor wir zu der Aufnahme des Testamentes schreiten, habe ich noch eine Förmlichkeit zu entledigen. Ich kenne Sie nicht; der Herr Secretair kennt Sie ebenfalls nicht. Gleichwohl verlangt das Gesetz ausdrücklich, daß Ihre Person festgestellt werde.“

Der Kranke besann sich, aber nur einen Augenblick.

„Sie kennen auch Niemanden von meinen Hausgenossen?“

Die Frage zeigte wiederholt, wie klar und richtig seine Gedanken waren.

„Nein,“ erwiderte ich.

Er richtete seine Augen fragend auf die Frau Langlet. Die Frau sann nach.

„Es bedarf,“ bemerkte ich, „nur der Anerkennung Seitens einer einzigen Person, die auch entweder mir oder dem Herrn Secretair bekannt ist. – Der Pater Theodorus zum Beispiel,“ setzte ich hinzu. „Ich selbst kenne außer ihm Niemanden im Dorfe.“

Der Name des Geistlichen brachte eine sonderbare Wirkung hervor. Die alte Frau schoß an dem Bette plötzlich in die Höhe. Dem Kranken sank der halb aufgerichtete Kopf in das Bettkissen zurück; dann traf mich ein scheuer Blick seiner Augen. Aber fast in demselben Moment sah ich von dem Bette her, aus und trotz dem Schatten, in dem die Frau Langlet stand, einen zuckenden Blitz zweier drohender, befehlender Augen nach ihm hinleuchten. Der Kranke sah den Blitz. Er erschrak, nahm sich aber zusammen. Sein Auge schloß sich darauf wieder halb und in seinem Gesichte war keine Spur von Unruhe mehr zu entdecken.

Stand er so in der Gewalt der Frau? Und hatte sie zugleich darum, um diese zu jeder Zeit über ihn ausüben zu können, sich an das Bette gestellt, wo sein erster Blick gerade auf sie fallen mußte?

Ich konnte sie entfernen, und mußte es nach den Gesetzen, [227] sobald ich bemerkte, daß ihre Gegenwart irgend einen zwingenden Einfluß auf seine freien Entschließungen ausüben wollte. Hiervon konnte aber erst bei der wirklichen Aufnahme des letzten Willens die Rede sein. Zudem war es mir, als wenn die fernere Anwesenheit der Frau dazu beitragen müsse, Licht in ein Dunkel zu bringen, das ich auf einmal mit größerem Rechte, als bisher, glaubte ahnen zu dürfen.

„Der Pater Theodorus,“ hatte ich gesagt. Ich hatte keine Antwort erhalten. „Sie schienen einverstanden zu sein,“ sagte ich absichtlich.

Die alte Frau hatte rasch einen Entschluß gefaßt.

„Ich werde nach ihm schicken.“

Sie verließ das Zimmer durch eine Thür, die auch aus diesem in die Vorhalle des Hauses führte. Nach einer halben Minute war sie wieder da und auf ihrem Platze. Sie mußte sich sehr beeilt haben. Ich hatte unterdeß fortgefahren.

„Wir können mittlerweile weiter verhandeln.“

Der Kranke nickte mit dem Kopfe.

„Sie haben über den Inhalt Ihres Testamentes schon einen Entschluß gefaßt?“

„Ja.“

„In welcher Weise wollen Sie testiren?“

„Mein einziger Erbe soll mein Sohn sein.“

„Sein Name?“

„Er heißt Louis François, wie ich.“

„Er ist Ihr einziges Kind?“

„Er ist mein einziges Kind.“

„Sie sind auch nicht mehr verheirathet?“

„Ich bin Wittwer.“

„Sie haben keine Nebenbestimmungen?“

„Ich will noch ein Vermächtniß aussetzen. Madame Langlet, meine Anverwandte, soll, so lange sie lebt, freie Wohnung und Bewirthschaftung und Benutzung dieses Hauses und der dazu gehörigen Gebäude, Gärten und anderen Räume behalten; außerdem soll mein Sohn ihr eine lebenslängliche Rente von dreihundert Thalern auszahlen.“

„Weitere Bestimmungen hätten Sie nicht?“

Der Kranke lag still und schien nachzusinnen. Die alte Frau am Bette machte eine unruhige Bewegung; es kam mir vor, als wenn sie dem Kranken ihre Anwesenheit bemerklich machen wolle; der alte Mann achtete jedoch nicht darauf. Sie räusperte sich geräuschvoll. Er schien leise zusammenzufahren. Noch einen Augenblick sann er unschlüssig nach. Dann sagte er:

„Ich setze meinen Sohn nur unter einer Bedingung zum Erben ein.“

Er hielt inne. Er hatte langsamer gesprochen, als vorher, aber nicht minder mit vollem Bewußtsein; schon seine Unentschlossenheit, bevor er sprach, mußte dies bestätigen. Ob er nicht unter einem moralischen Zwange der anwesenden Frau sprach, war eine andere Frage; nach seinen ferneren Worten war es beinahe anzunehmen.

„Nennen Sie die Bedingung,“ forderte ich ihn auf.

„Mein Sohn soll die Tochter der Frau Langlet heirathen.“

„Das ist Ihre Bedingung?“

„Ja.“

„Der Name der Dame, die Ihr Sohn heirathen soll.“

„Adrienne Langlet.“

Die Blödsinnige sollte der junge Mann heirathen! Dem Secretair flog das Papier aus der Hand, das er gerade falten wollte, um das Protokoll darauf zu schreiben.

Mir fiel unwillkürlich unsere hübsche, muthige, entschlossene Reisegefährtin Marianne ein, der von der Blödsinnigen der Eingang in das Haus verwehrt war, die, wie die Blödsinnige meinte, zu einem Andern als dem Kranken gewollt hatte. Zu wem hatte sie gewollt? Zu wem hatte Jene sie nicht lassen wollen? Das Gesicht der alten Frau glaubte ich, trotz der Dunkelheit, in der sie stand, zufrieden lächeln zu sehen.

Der Kranke hatte völlig klar, ruhig und bestimmt gesprochen. Ich hatte noch ein paar Fragen über den Gegenstand an ihn zu richten.

„Wenn Ihr Sohn die Bedingung nicht erfüllen will – haben Sie besondere Bestimmungen für den Fall zu treffen?“

„Er soll alsdann auf den Pflichttheil eingesetzt werden.“

„Und wie soll es mit Ihrem übrigen Nachlasse werden?“

„Die Frau Langlet wird dann Erbin meines gesammten übrigen Nachlasses.“

Auch das sprach er bestimmt, fest. Aber ich glaubte doch, eine leise Unruhe an ihm wahrzunehmen, als er es gesagt hatte. Das Gesicht der Alten glänzte triumphirend. Sie war so häßlich, und sah jetzt wieder so boshaft aus.

„Noch ist der Tag nicht zu Ende,“ mußte ich bei mir denken, auch nicht – ich will es nicht leugnen – ohne einige Bosheit.– Ich war mit meinen Fragen zu Ende.

Nach dem gewöhnlichen formellen Gange konnte ich den Inhalt der Bestimmungen des Testators nicht zu Protokoll nehmen, bevor die Anerkennung seiner Person erfolgt war. Ich durfte aber auch ausnahmsweise diese nachfolgen lassen. Es war mir indeß um so mehr an Beobachtung jener gewöhnlichen Form gelegen, als mir so eben die Unruhe des Kranken aufgefallen war, und als das allgemeine Gerücht seiner Geistesstörung mir noch immer die Pflicht auferlegte, auch in anderer Weise seinen geistigen Zustand noch festzustellen zu suchen. Dies that ich jetzt. Die Frau Langlet ließ ich vor der Hand noch absichtlich da, um zugleich mich zu überzeugen, in welchem Grade er wirklich, auch hinsichtlich seiner letztwilligen Entschließungen, unter dem Einflüsse der Frau stehe. Ich konnte dann später mit um so mehr Hoffnung auf Erfolg seinen wahren freien Willen ermitteln.

Ich knüpfte an allgemeine Beziehungen und Lebensverhältnisse des Kranken an, ohne weitere Nebenabsicht. Wie bald sollte das, was ich erfuhr, mich in furchtbarer Weise die Absicht meines Fragens völlig vergessen lassen!

„In welchem Jahre sind Sie hierher gekommen?“ fragte ich ihn.

„Im Jahre 1809,“ antwortete er, „gleich, als die französische Gerichtsverfassung hier eingeführt wurde.“

„Und Sie verwalteten das Amt eines Friedensrichters bis zur preußischen Zeit?“

„Bis die preußische Gerichtsverfassung eingeführt wurde.“

„Sie bekommen Pension?“

„Nein, ich habe darauf verzichtet.“

„Ein seltener Fall; Sie waren freilich schon damals in glücklicher Vermögenslage.“

„Ich war es.“

„War nicht im Jahre 1813 ein Gefecht in dieser Gegend?“

Ich hatte auch diese Frage ohne alle Nebenabsicht gethan. Gleichwohl war es, als ob auf einmal ein leichtes Zittern das Gesicht des Kranken durchzuckte. Ich war noch so arglos, daß mir auch das nicht einmal auffiel.

„Ja,“ antwortete der Kranke.

„Bald nach der Schlacht von Leipzig?“

„Bald nachher.“

„Zwischen Franzosen und Kosaken?“

„Ja.“

„Es sollen nur wenige Franzosen mit dem Leben davon gekommen sein?“

„So hieß es.“

„Wie war deren Schicksal? Anderswo ist leider manchmal das Volk über sie hergefallen, selbst verrätherisch, räuberisch.“

Die ungeheure Veränderung, die auf einmal, in kaum einer halben Minute, mit dem alten Manne vorgegangen war, mußte mir um so mehr auffallen, je weniger ich bei meinen nach dieser Seite arglosen Fragen darauf vorbereitet war. In sein blasses Gesicht war eine fliegende Röthe getreten; der Mund stand ihm offen, die Augen starrten mich mit unruhig leuchtendem Lichte an. Ich mußte unwillkürlich einen Blick auf die Frau Langlet werfen. Ihre Gesichtszüge konnte ich nicht unterscheiden; sie hatte sich tiefer in den Schatten des Secretairs gestellt. Aber sie hatte den Kopf vorgebeugt, den Fuß aufgehoben, als wenn sie in großer, nicht mehr zurückhaltender Unruhe vortreten, den Kranken in Schutz nehmen, sich ihm, der nicht nach ihr hinsah, mindestens bemerklich machen müsse.

Was war das?

Der Secretair hatte unterwegs – wie er sagte, nach einem Gerüchte – auf ein Verbrechen hingedeutet, das in jener Franzosenzeit verübt sein, und durch welches der alte Lohmann seinen plötzlichen Reichthum erlangt haben solle. Ich hatte an seine glückliche Vermögenslage absichtslos erinnert, aber plötzlich eine Frage nach jener kriegerischen Zeit angeknüpft. Auf einmal diese Unruhe, diese Verwirrung, des Kranken sowohl, wie der alten Frau. Ja, schien in dem [228] flackernden Augenleuchten des alten Mannes sich nicht das plötzliche, durch die Erinnerung an das Verbrechen veranlaßte Wiedererwachen eines Wahnsinns anzukündigen, der vielleicht seit kürzerer, vielleicht seit längerer Zeit ruhig geschlummert hatte?

Ich dachte zugleich wieder an das auffallende Benehmen des Pater Theodorus, als der Secretair ihn nach jenem Kriegsereignisse gefragt hatte. Ich glaubte auf einmal einen Faden in ein tiefes, dunkles Labyrinth gefunden zu haben. Ich mußte ihn weiter verfolgen; freilich konnte ich es nur an der Hand der wenigen Gerüchte, die ich von dem Secretair und aus dessen Gespräch mit dem Pater entnommen hatte. Der Kranke hatte mir auf meine Frage nicht geantwortet.

„In manchen Gegenden Deutschlands,“ fuhr ich fort, „fielen in jener Zeit ähnliche kleine Gefechte zwischen den Franzosen und den verfolgenden Feinden vor. Sie haben gewiß davon gehört?“

„Ja, ja,“ sagte er, lebhafter, als bisher.

„Die armen Franzosen waren immer verloren. Entgingen sie dem Tode im Gefechte, so fiel das Volk über sie her.“

Er nickte mit dem Kopfe.

„Entgingen sie auch der Grausamkeit des Volkes, wurden sie selbst hülfreich, mitleidig aufgenommen – wie oft wurden sie hinterher das Opfer habsüchtigen, räuberischen, raubmörderischen Verraths!“ Ich hatte ihm fest, scharf in das Auge geblickt, während ich diese Worte sprach.

Anfangs war es, als wenn er noch einen Versuch gemacht hätte, meinem Blicke auszuweichen, die Augen niederzuschlagen. Auf einmal sah er mit den leuchtenden Augen mich starr an. Der Wahnsinn kehrte wohl mehr und mehr in ihn zurück. Der mißlungene Versuch war wohl die letzte Anstrengung des noch klaren Geistes gewesen. Er antwortete mir nicht.

„Erzählt man,“ fragte ich weiter, „nicht auch in dieser Gegend von ähnlichen Beispielen?“

„Gewiß weiß man davon,“ rief er wieder lebhaft.

„Und Sie kennen sie?“

„Wie werde ich –?“

Hatte er sagen wollen: „Wie werde ich nicht?“

Die Frau Langlet war, einer Furie ähnlich, aber einer Furie, die in der Todesangst ist, von dem Bette her vorgesprungen. Ein wüthender Blitz ihrer funkelnden Augen traf den Kranken. Das Wort, das er aussprechen wollte, starb ihm auf den Lippen. Sein Blick wurde ängstlich. Sein Kopf fiel in das Kissen zurück.

Das Weib mußte eine ungeheure Gewalt über den Mann haben; ihr drohender Blick hatte ihm sogar das entflohene Bewußtsein zurückgeben können. Es war jetzt Zeit, sie zu entfernen.

„Madame,“ sagte ich zu ihr, „hätten Sie die Güte, uns zu verlassen?“

Sie schien vorbereitet auf die Aufforderung zu sein. Sie hatte keine Lust, ihr Folge zu geben.

„Mein Platz ist hier,“ sagte sie, „bei dem Kranken. Er bedarf meiner Hülfe.“ Sie sprach schnell, mit der Stimme der unterdrückten Wuth. Sie wendete sich zugleich rasch an den Kranken:

„Nicht wahr, Vetter, ich soll hier bleiben? Sie wollen es?!“

„Ja, ja, ich will es.“

Ich stand auf. „Madame, hätten Sie die Güte, sich mit mir auf ein paar Augenblicke in ein Nebenzimmer zu begeben?“

Ich schritt auf die Thür des Zimmers zu, aus dem wir in das Krankenzimmer getreten waren. Ich öffnete sie. Mein ruhiges, entschiedenes Benehmen imponirte ihr. Sie ging mit mir in das Zimmer. Wie die Wuth noch immer in ihr kochte und selbst eine trotzdem sichtbare Angst nicht in ihr aufkommen ließ, sah man dem häßlichen, boshaften Gesichte deutlich genug an.

„Was wollen Sie von mir?“ begann sie von selbst.

„Ihnen mit wenigen Worten erklären, Madame, wozu ich das Recht und den festen Willen habe.“

„Nun?“

„Sie kehren nicht in das Krankenzimmer zurück.“

„Der Kranke bedarf meiner Hülfe.“

„Wenn er Ihrer bedarf, werde ich Sie früh genug rufen.“

„Ich weiche nicht von ihm; ich will nicht.“

„So werden Sie mich zwingen –“

„In Gegenwart des Sterbenden gegen eine schwache Frau Gewalt zu gebrauchen?“

„Das nicht; aber ich werde zum Protokoll vermerken, wie Sie einen drohenden Einfluß auf den Testator ausgeübt hätten, der seine freie Willensbestimmung hinderte, wie Sie ungeachtet meiner wiederholten Aufforderung ihn nicht hätten verlassen wollen, wie daher das so entstandene Testament nicht als ein freies, sondern nach meiner innersten Ueberzeugung nur als ein erzwungenes, gesetzlich nichtiges zu betrachten sei. Sie haben jetzt die Wahl, Madame.“

Sie ging heftig im Zimmer auf und ab. Sie sann nach.

„Ich kann hier in diesem Zimmer bleiben?“ blieb sie vor mir stehen.

„Nein, auch das nicht.“

„Warum nicht?“ stampfte sie wüthend mit dem Fuße.

„Sie würden hier horchen und jeden Augenblick die Verhandlung wieder stören können. Sie entfernen sich ganz aus der Nähe des Krankenzimmers.“

„Aber ich werde ja wie eine Diebin, wie eine Räuberin behandelt. Hier, gleichsam in meinem eigenen Hause.“

„Madame, darf ich bitten, sich kurz und rasch zu entschließen?“

„Gut, ich gehe.“

„Noch ein Wort, Madame. Jeden Versuch, in das Krankenzimmer wieder einzudringen, würde ich als einen Zwang gegen den freien Willen des Kranken zum Protokoll verzeichnen.“

Sie verließ wüthend das Zimmer.

Ich kehrte zu dem Kranken zurück. Er war noch unter dem Einflusse der Frau und erhob den Kopf, als ich eintrat. Er war unruhig, als er mich allein zurückkommen sah. Dann aber kam es mir doch vor, als wenn er sich auf einmal leichter fühle; sein Blick schien lebhafter zu werden, ohne das unruhige Flackern und Leuchten zu zeigen. Wenn ich zurückdachte, wie er, nach meiner Meinung nur unter dem Zwange der Frau, sich dazu verstanden hatte, jene Bedingung für seinen Sohn auszusprechen, so erschien sein erleichterter Zustand mir erklärlich genug. Indeß lag mir für den Augenblick nur daran, der neuen Spur in ein tiefes Dunkel, die ich zuletzt aufgefunden zu haben glaubte, weiter nachzuforschen. Ich mußte vorsichtig verfahren. Er hatte dem Anschein nach sein volles Bewußtsein zurückerhalten.

[237] Ich setzte mich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber, unbefangen, als wenn nichts vorgefallen sei.

„Ich bedaure,“ sagte ich, „daß ich nicht sofort mit der Aufnahme des Testaments fortfahren kann. Wir müssen eine Pause machen.“

„Warum das?“ fragte er.

„Sie wissen selbst, es muß die Feststellung Ihrer Identität vorhergehen.“

„Freilich.“

„Indeß wird hoffentlich der Pater Theodorus bald eintreffen.“

„Der Pater Theodorus?“ fragte er, wie sich verwundernd.

Verstellte er sich oder hatte er vergessen, daß wir vorher über den Pater gesprochen hatten?

„Er soll Sie recognosciren,“ sagte ich.

„Ah so!“

Er besann sich; er hatte sich also nicht verstellt; aber er wurde wieder unruhig. Warum schon zum zweiten Male bei dem Namen? Ein sonderbarer Gedanke schoß mir auf einmal in die Seele.

„Sie sind mit dem Pater bekannt?“ fragte ich den Kranken.

„Er ist seit meinem Hiersein Pfarrer des Dorfes.“

„Sehen Sie ihn oft?“

„Es ist lange her, daß ich ihn nicht sah.“

„Er scheint ein sehr würdiger Mann zu sein?“

Der Kranke wurde unruhiger. – „Sie kennen ihn?“ fragte er mich.

„Ich bin mit ihm hierher gereist.“

In seinem hageren Gesichte zuckte es, in seinen Augen flackerte es plötzlich wieder; der Irrsinn schien in ihm zurückzukehren. War ich mit meinem Gedanken auf dem richtigen Wege?

„Ich war,“ fuhr ich fort, „mit dem Pater in jener Gegend, in welcher im Jahre 1813 die Franzosen von den Kosaken überfallen wurden.“ Er starrte mich mit den unruhig brennenden Augen an, ohne zu antworten. „Der Pater erzählte von dem Gefechte.“

„Er erzählte?“

„Auch, daß die meisten Franzosen hier niedergemacht worden seien.“’

„Ja, ja.“

„Aber nicht Alle.“

„Nein, nicht Alle.“

Seine Augen brannten unruhiger; auch die helle Röthe flog wieder durch sein Gesicht. Er war wieder in dem Zustande jenes Augenblickes, da die Frau Langlet durch ihr plötzliches Vorspringen meine Unterredung mit ihm unterbrochen hatte. Ich knüpfte unmittelbar und wörtlich an ihn an.

„Die den Kosaken entgingen,“ sprach ich weiter, „fanden nachher wohl ein noch traurigeres Loos?“

„So?“ rief er, lauter und mit einem Blicke, als wenn er mich durchbohren wolle.

„Man spricht davon.“

„Wer spricht davon?“

„Sie sind katholisch?“ fragte ich plötzlich.

„Ja,“ antwortete er rasch.

„Und der Pater Theodorus ist Ihr Beichtvater?“

„Was wollen Sie von mir?“ rief er mit einer furchtbaren Anstrengung seiner Brust.

Meine Gedanken waren auf dem richtigen Wege.

„Nichts,“ erwiderte ich ruhig. „Beantworten Sie mir meine Fragen. Namentlich soll es einem jungen Menschen schlecht ergangen sein.“

„Nein, nein, das ist nicht wahr.“

„Wäre es ein Frauenzimmer gewesen?“’

Mir war plötzlich jene Frage des Secretairs an den Pater eingefallen. Der Kranke flog bei dieser Frage auf dem Sopha in die Höhe und wollte ganz von seinem Lager aufspringen, fiel aber kraftlos zurück. Ein paar Augenblicke lag er wie leblos da; das Gesicht bedeckte Todesblässe, die Augen waren geschlossen. Dann durchfuhr seinen Körper auf einmal eine heftige Zuckung; das Sopha, auf dem er lag, bebte. In sein Gesicht trat die fliegende Röthe zurück. Seine Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern. Er öffnete sie noch nicht wieder. Der Secretair Hommel war so bleich geworden, wie der Kranke. Neugierig war er in diesem Augenblicke nicht, aber entsetzt.

„Herr Assessor, er stirbt,“ flüsterte er mir zu.

„Noch nicht.“

„Aber ein Testament können wir hier nicht mehr machen.“

„Wer weiß?“

Der Kranke schlug die Augen wieder auf; sie waren stier. Er richtete sie auf mich und auf den Secretair, erkannte uns aber nicht.

„Das ist völlige Verrücktheit,“ flüsterte der Secretair wieder. „Ich sagte es ja, hier machen wir kein Testament mehr.“

„Dann haben wir eine andere Aufgabe.“

„Wie?“

„Zu inquiriren.“

[238] „Gegen den Sterbenden?“

Der brave Mann fragte es mit Entsetzen, aber auch mit Mitleiden.

„Es erscheint hart gegenüber dem Sterbenden,“ erwiderte ich ihm; „aber die Gerechtigkeit fordert es für die Lebenden.“

Ich dachte an die alte Frau, an andere Personen. Das Auge des Kranken hatte unterdeß fast alle Gegenstände in dem Zimmer angestiert, die es, ohne daß er seine Lage veränderte, erreichen konnte. Aber der Blick war nicht mehr wild. Der Kranke lag in einem stillen Irrsinne da. Es war hart, was ich jetzt that, aber die Gerechtigkeit forderte es von mir.

„Auch ein Frauenzimmer war in jenem Gefechte gewesen?“ fragte ich den Kranken.

Er horchte auf bei der Frage. Er dachte nach; es war das Nachdenken des Irrsinnes. „In welchem Gefechte?“ fragte er.

„Das im Jahre 1813 in der Nähe des Dorfes stattfand.“

„Ah, ja.“

„Zwischen den Franzosen und Kosaken.“

„Ah ja. Es war eine Französin.“

„Erzählen Sie mir doch von ihr.“

Er lächelte eine Weile mit den irren Augen vor sich hin; dann sagte er: „Es war ein hübsches Ding und noch so jung; es war Schade um sie.“ Er schwieg, still weiter lächelnd.

„Was war Schade?“ fragte ich.

„Ah bah!“

„Sie antworten mir nicht.“

„Fragten Sie mich etwas?“

„Nach der jungen Französin.“

„Ah so!“

„Sie sagten, es sei Schade um sie gewesen?“

„Gewiß, das war es.“

„Was war Schade?“

„Sprach ich davon?“

„Freilich.“

„Ja, ja, dann muß es wohl so sein.“

„Aber was muß so sein?“

„Nun, was ich gesagt habe.“

„Was haben Sie denn gesagt?“

„Nun, Sie wissen es ja.“

Auf diesem Wege war er zu dem, was er hatte sagen wollen, nicht zurückzubringen; ich mußte anders fragen.

„Die junge Französin war dem Kampfplätze entronnen?“

„Das war sie.“

„Ein Frauenzimmer?“

„Eine Dame!“

„Eine Dame?“

„Eine feine Dame!“

„Wie war sie in den Kampf gerathen?“

„Ei, sie hatte ja nicht von seiner Seite weichen wollen.“

„Von wessen Seite?“

„Nun, von der des französischen Commandanten, der in dem Gefechte blieb. Sie war ja seine Geliebte.“

„Wie?“

„Ja, ja, seine Geliebte, nicht seine Frau; die Leute lügen, wenn sie das sagen. Warum hätte sie dann Knabenkleidung getragen?“ Er gerieth beinahe in Eifer, während er dies sprach.

„Sie trug Knabenkleidung?“ fuhr ich mit meinen Fragen fort.

„Gewiß, und sie ließen ihr recht hübsch. Aber –“ Er schwieg wieder, vor sich hin lächelnd.

„Aber?“ fragte ich.

„Aber ich sah gleich, daß sie kein Knabe war.“

„Sie sahen sie also?“

„Gewiß. Sie kam ja zu mir in mein Haus.“

„Sie kam zu Ihnen?“

„Wie ich Ihnen sage.“

„Und was führte sie zu Ihnen?“

„Was sie zu mir führte? Sie genas in meinem Hause von einem Töchterchen.“

„Marianne?“ mußte ich unwillkürlich rufen.

„Ah, Sie kennen sie?“

„Marianne ist die Tochter jener Dame?“

„Wir ließen sie Marianne taufen.“

„Wer ließ sie so taufen?“

„Ich selbst.“

Eine fürchterliche Ahnung ergriff mich. „Und was wurde aus jener Unglücklichen?“

„Aus welcher Unglücklichen?“

„Der Französin, der Mutter Mariannens?“

„Ich sagte es Ihnen ja.“

„Sie haben mir nichts gesagt.“

„Sie haben mir ja vorhin selbst gesagt, es sei Schade um sie gewesen.“

„Ich Ihnen?“

„Besinnen Sie sich nur.“

„Was war denn eigentlich Schade um sie?“

„Nun, daß sie sterben mußte.“

„Sie mußte sterben?“

„Nun ja.“

Es überlief mich kalt. Dem Secretair standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Der Irre lächelte vergnügt vor sich hin.

Die junge Dame, eine verlassene, unglückliche Fremde, die in der schwersten Stunde ihres Lebens Schutz und Hülfe gesucht hatte, die Mutter jener Marianne, hatte in dem Hause, in dem sie Schutz und Hülfe suchte, sterben müssen! Und der Mann, bei dem sie gestorben war, war seitdem aus einem armen Manne ein reicher Mann geworden! Und er war seit jener Zeit dem Wahnsinne verfallen! Und jenes böse Weib, das seitdem den Wahnsinnigen von aller Welt fern hielt, das auch mich nicht mit ihm hatte allein lassen wollen, war schon damals bei ihm gewesen, allein bei ihm mit der Unglücklichen! Sie hatte mich zu ihm lassen müssen, weil sie ohne sein Testament einen neuen verbrecherischen Zweck nicht erreichen konnte, vielleicht denselben Zweck, der sie schon zu jener Zeit zum Verbrechen geleitet hatte! Ja, mußte ich nicht in einen Abgrund blicken, in dem ein schweres, entsetzliches Verbrechen lag? Und der Irre lag so freundlich lächelnd vor mir. Ich mußte weiter gehen.

„Die fremde Dame war in Ihr Haus gekommen?“ fragte ich.

„Gewiß, in mein Haus.“

„Wer hatte sie zu Ihnen gebracht?“

„Ein Bursche aus dem Dorfe.“

„Sprach sie deutsch?“

„Etwas.“

„Was wollte sie bei Ihnen?“

„Ich sagte es Ihnen ja schon.“

„Was hatte sie dem Burschen gesagt?“

„Sie hatte ihn nach dem Friedensrichter des Ortes gefragt.“

„Und was sagte sie zu Ihnen?“

Er lachte laut auf, als wenn er sich an etwas recht Lustiges erinnere. „Was sagte sie zu Ihnen?“ wiederholte ich.

„Sie wollte auch ihr Testament machen.“

„Ihr Testament?“

„Ich war ja Friedensrichter, und ein Notar war nicht im Dorfe.“

„Machte sie ihr Testament?“

„Ah bah!“

„Sie machte es nicht?“

„Sie hatte keine Zeit dazu.“

„Warum nicht?“

„Nun, sie starb vorher,“ lächelte er zufrieden.

„Wie starb die Arme?“ fragte ich entsetzt.

„Sehr gefaßt,“ antwortete er mit seinem vergnügten Lächeln.

Ein neuer Schauder überlief mich.

„Sie erkannte ihren Tod?“

„Und ergab sich mit wahrhaft christlicher Gesinnung in ihr hartes Schicksal.“

„Sie selbst nennen es ein hartes?“

„Ja, sie war doch noch so jung.“

„Aber warum mußte sie sterben?“

„Warum stirbt der Mensch? Ich muß ja auch sterben. Sterben müssen wir Alle.“

„Ich meine, was die Ursache ihres Todes war?“

„Ich sage Ihnen ja, sie mußte, sterben.“

„Starb sie eines natürlichen Todes?“

„Ah, der Tod ist immer natürlich. Er ist ein Gesetz der Natur.“

„Aber er hat natürliche oder widernatürliche, gewaltsame Ursachen.“

„Auch das ist nicht richtig. Es ist freilich ein sehr gewöhnlicher Irrthum.“ Er lächelte nicht mehr; aber er sah mich mit einem wichtigen Ernste an.

[239] Waren das Phrasen, die er vor seinem Irrsinn sich gebildet und eingeredet hatte, um sein Gewissen zu betäuben, und die er jetzt mechanisch wiederholte?

Ich bekam keine andere Antwort mehr von ihm. Der Irrsinn war vollständig in ihm ausgebildet oder vielmehr vollständig, alle bewußte geistige Thätigkeit lähmend, aufhebend in ihn zurückgekehrt. Ich mußte darauf verzichten, noch etwas von ihm zu erfahren, gerade in dem Augenblicke, als ich das Rechte von ihm erfahren sollte, unmittelbar an der Schwelle des eigentlichen Geheimnisses selbst. War hier wirklich ein Verbrechen begangen? Und welches? Ein Mord? Welches andere? –

Ein Testament hatten wir nicht mehr aufzunehmen. Der Zustand des völligen Irrsinns des Kranken war nicht zu verkennen. An eine vollständige Rückkehr klaren, geistigen Bewußtseins war nicht zu denken. Ein Irrsinniger konnte kein Testament machen. So dachte ich. Das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte, war, die bisherigen Vorgänge kurz dem Secrctair zu Protokoll zu dictiren. Was dann weiter zu veranlassen war, ob namentlich Schritte zur Ermittelung eines stattgehabten Verbrechens, und in welcher Weise und gegen wen sie zu richten waren – ich war noch nicht mit mir darüber einig, es fand sich ja später wohl.

Ich dictirte dem Secretair das Protokoll, wie wir den Kranken zuerst in anscheinend gesundem geistigen Zustande angetroffen; wie und welche Bestimmungen über seinen Nachlaß er in diesem Zustande, freilich auch unter jener Einwirkung seiner angeblichen Verwandten, der Frau Langlet, getroffen; wie er dann aber plötzlich Spuren eines Irreseins gezeigt, welches nach und nach, namentlich seit der Entfernung der Frau Langlet aus dem Krankenzimmer, zu einem Zustande unverkennbaren vollkommenen Irrsinns sich ausgebildet habe, so daß von dem Acte der Aufnahme eines Testamentes unbedingt Abstand genommen werden mußte.

Das Protokoll war fertig. Ich hatte es laut dictirt, absichtlich; der Kranke konnte und sollte jedes Wort hören; ich wollte mich überzeugen, welchen Eindruck es auf ihn machen werde. Er hatte nicht einmal zugehört. Sein Ohr hatte kein einziges Wort zu seinem Geiste hingetragen. Er lag mit seinem ausdruckslosen Gesichte, seinem stieren Blicke unbeweglich da. Zuletzt war er, wie aus Schwäche, eingeschlafen.

Was nun weiter? Sollte ich die Spuren eines Verbrechens ferner verfolgen? Ich beschloß: nein. Mein amtlicher Auftrag ging nicht dahin. Zudem lag bis jetzt die Existenz eines Verbrechens nur in meiner individuellen Meinung, allenfalls auch noch in der des Secretairs Hommel. Tatsächlich lag eigentlich noch nichts dafür vor. Endlich, war wirklich ein Verbrechen verübt, es war nicht anzunehmen, daß Spuren desselben, die man seit achtzehn Jahren noch nicht verwischt hatte, über Nacht plötzlich hätten beseitigt werden sollen, und morgen konnte das Gericht Entscheidung treffen.

Ich hatte nur noch Eins zu thun: den Angehörigen des Kranken davon, daß und warum ich ein Testament nicht aufnehmen könne, Mittheilung zu machen. Nächster Angehöriger war der Sohn des Kranken. Doch konnte ich auch die Frau Langlet nicht übergehen, da sie auf alle Fälle in dem Testamente hatte bedacht werden sollen.

Um den Kranken nicht zu stören, wollte ich das Weitere in einem andern Zimmer verhandeln. Ich begab mich mit dem Secretair in das Zimmer nebenan, in das man uns zuerst eingeführt hatte.

Ich zog dort eine Klingelschnur. Augenblicklich erschien die Frau Langlet. Sie mußte sich in nächster Nähe aufgehalten haben. Gehorcht hatte sie indes nicht. Sie sah mich mit mißtrauischer Neugierde an.

„Ist der junge Herr Lohmann zu Hause?“ fragte ich sie.

„Ja.“

„Haben Sie die Güte, ihn zu mir zu bitten und selbst mit ihm zurückzukehren!“

„Sind Sie mit dem Testamente schon fertig?“

„Sie werden es erfahren.“

Sie ging. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Ein junger Mann in der Mitte der zwanziger Jahre folgte. Es war ein hübscher Mann mit einem feinen Gesichte. Aber das Gesicht war sehr blaß, und es lag unverkennbar eine tiefe Trauer darin, und sie mußte schon sehr lange darin gelegen haben, alle Züge hatten sich nach ihr geformt und gebildet.

„Sie sind der Sohn des Herrn Lohmann?“ redete ich ihn an.

„Der Kranke ist mein Vater.“

„Er wollte sein Testament errichten. Sie hatten die Eingabe an das Gericht geschrieben?“

„Im Auftrage meines Vaters.“

„Ihr Vater hatte den vollen Gebrauch seiner Vernunft, als er Ihnen den Auftrag gab?“

„Er war vollkommen vernünftig.“

„Aber er litt früher an Geistesabwesenheit?“

„Leider.“

„Mit lichten Augenblicken?“

„Es trat oft ein Wechsel ein.“

„Er ist gegenwärtig ohne alles Bewußtsein; ich habe daher von der Aufnahme seines letzten Willens Abstand nehmen müssen.“

Die Frau Langtet hatte sich mit Anstrengung ruhig gehalten; sie konnte es nicht mehr.

„Sie haben sein Testament nicht aufgenommen?“ rief sie.

„Nein, Madame.“

„Aber er hat Ihnen seinen letzten Willen erklärt, deutlich, bei vollem Verstände; sie müssen ihn zu Protokoll nehmen.“

„Madame, über meine Pflicht habe ich nicht mit Ihnen zu rechten.“

Sie wandte sich an den jungen Mann. „François, auch Du mußt darauf bestehen. Dich hatte Dein Vater zum Erben eingesetzt, zu seinem Universalerben.“

Der junge Mann stand verlegen, unentschlossen da. Ich erkannte in dem Augenblicke sein Verhältniß zu der Frau, überhaupt seine Stellung in dem Hause. Ich mußte unwillkürlich weiter schließen. Er war bescheiden, zurückhaltend, beinahe schüchtern eingetreten. Auch in seinen Antworten, die er mir geben mußte, war er zurückhaltend. Die Gegenwart der Frau, die auch über seinen Vater jene Gewalt ausübte, schien ihn zurückzuhalten. Seine Verlegenheit und Unentschlossenheit der heftigen Aufforderung der Frau gegenüber bestätigten es mir. Dabei merkte man ihm den Widerwillen an, den das gemeine Weib ihm einflößte, dem jungen Menschen mit dem feinen und wahrlich nicht geistlosen Gesichte einflößen mußte. Er mochte sie kaum ansehen. Dazu seine tiefe Trauer, dazu ferner jenes Verlangen der Frau Langlet, daß er ihre blödsinnige Tochter heirathen solle; dazu endlich meine Vermuthung, daß die hübsche Marianne zu ihm gewollt hatte. Mußte das Alles mich nicht wiederholt auf ein Verbrechen hinführen, das dem Weibe, obwohl sie vielleicht selbst Theil daran hatte, diese Gewalt über das ganze Haus gab, von dem auch der Sohn Kenntniß oder doch Ahnung hatte? Die Frau Langlet war wüthend geworden, als der junge Lohmann ihr nicht sogleich gehorchte.

„Sie müssen noch bleiben!“ rief sie mir zu. Dann stürzte sie in das Krankenzimmer.

Im ersten Moment wollte der junge Mann ihr nacheilen; aber er besann sich, er blieb und trat rasch auf mich zu.

„Mein Herr, mein Vater hat Ihnen in der That seinen letzten Willen erklärt?“

„Ja, mein Herr.“

„Vollständig?“

„Vollständig.“

„Und er war völlig bei Vernunft?“

„Damals noch. Ich hatte wenigstens keine Veranlassung, daran zu zweifeln.“

„Sie hatten auch seine Anordnungen zu Protokoll genommen?“

„Ich mußte es.“

Als die Frau Langlet sich entfernte, hatte er sich sichtlich erleichtert gefühlt. Aber ein neuer Druck lastete auf ihm, der einer peinlichen Ungewißheit. Er mußte Gewißheit haben.

„Mein Herr, dürfen Sie mir die Bestimmungen meines Vaters mittheilen?“

„Ich bedauere.“

„Ah, ich kenne sie. Ich soll die Tochter jener Frau heirathen. Ist es nicht so?“

Ich zuckte die Achseln, zum Zeichen, daß ich ihm nichts sagen dürfe. Aber er war seiner Sache gewiß.

„Ist die Bedingung bindend für mich?“

„Mein Herr, ich darf mich auch darüber nicht gegen Sie aussprechen.“

Er wurde beinahe heftig. „Sie kann nicht bindend für mich sein. Sie ist auch nicht sein wahrer, freier Wille. Ich werde mich ihm nie unterwerfen. Ich habe lange genug hier in Abhängigkeit, als Sclave gelebt. Jetzt nicht mehr.“

[240] Er rief es entschlossen. Aber das langjährige Abhängigkeitsverhältniß hatte doch einen festen Charakter in dem jungen Mann nicht aufkommen lassen. Er sah mich wieder ängstlich an.

„Dürfen Sie mir in der That nichts sagen?“

„Nein, mein Herr.“

„O, wenn Sie es dürfen – Sie haben jene Tochter der Frau gesehen, die ich heirathen soll, Sie haben auch – ja, ich muß es Ihnen sagen – Sie haben auch Mariannen kennen gelernt. Ich hatte ihr geschrieben, zu kommen, sich mit mir dem Vater zu Füßen zu werfen; sie ist mit Ihnen gereist; sie hat es mir erzählt, als ich einen Augenblick mit ihr sprechen konnte. O, mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir, mit uns. Bin ich an jenen Willen, an den erzwungenen Willen meines Vaters gebunden? Ich frage nicht um meinetwillen, nicht für den elenden Erbtheil – nein, nein – ich will ihn nicht, ich will nichts davon –“

Er stockte plötzlich, erschrocken, als wenn er zuviel gesagt habe. Aber er sah mich fragend, bittend an. Ich überlegte, ob ich ihm antworten dürfe. Ich war im Begriff, ihm eine, wenn auch nicht bestimmte, doch möglich beruhigende Antwort zu ertheilen, als plötzlich die Thür des Krankenzimmers geöffnet wurde. Die Frau Langlet erschien auf der Schwelle; mit triumphirendem Gesichte kam sie zu mir:

„Sie werden doch das Testament aufnehmen, Herr Assessor? Er ist wieder ganz vernünftig.“

„Es ist nicht möglich,“ wollte ich rufen. Ein so plötzlicher, schneller Wechsel von Vernunft und Unvernunft erschien mir in der That unmöglich. Aber der junge Mann neben mir war erblaßt. Er zweifelte nicht an der Wahrheit der Mittheilung, und er mußte seinen Vater und die Frau kennen.

„Stehen dem Weibe Künste der Hölle zu Gebote?“ fragte ich mich. „Was hat sie gemacht?“

Sie fuhr triumphirend, beinahe höhnend fort: „Darf ich bitten, sich wieder in das Krankenzimmer zu bemühen? Ich werde zurückbleiben, ich werde Sie nicht wieder belästigen.“

Sie mußte ihrer Sache sehr gewiß sein. Ich war in hohem Grade gespannt. Der Secretair Hommel konnte auch jetzt nicht wieder neugierig werden. Die Nachricht der Frau schien ihm ein neues Entsetzen eingejagt zu haben. Ich begab mich zu der Thür des Krankenzimmers. Ich mußte zu dem Testator zurückkehren.

„Darf ich Sie begleiten?“ fragte mich der Sohn des Testators.

Er war beinahe leichenblaß geworden; in seinem Gesichte zeigte sich die höchste Angst. Er fragte, er bat mich dringend. Ich konnte es ihm nicht bewilligen; ich durfte nicht zweierlei Recht haben.

„Aber bleiben Sie hier, Sie Beide,“ sagte ich.

Ich ging mit dem Secretair in die Krankenstube. Der Kranke lag ruhig auf dem Sopha, ganz in der Lage, wie ich ihn bei unserem ersten Eintreffen gefunden hatte. Ungefähr wie damals war auch sein Gesicht, völlig blaß, vollkommen ruhig, das halb geöffnete Auge ohne Glanz, aber still; von Geistesverwirrung, von Irr- oder Wahnsinn keine Spur mehr; er war nur vielleicht noch mehr erschöpft, als vorher. Er winkte dem Secretair und mir zu, unsere Plätze wieder einzunehmen.

„Entschuldigen Sie mich, ich war unwohl geworden,“ sagte er dann.

Seine Sprache war sehr schwach und leise, ich mußte mich fast über ihn beugen, um ihn zu verstehen; aber auch sie zeigte volles Bewußtsein an.

„Sie haben sich wieder erholt?“ fragte ich ihn.

„Es geht besser.“

„Und wir könnten in unserem Geschäft fortfahren?“

„Ich bitte darum“

Jedes seiner Worte zeigte Vernunft, Bewußtsein, Er war wieder vernünftig. Welche ungeheuere Kraft stand diesem Manne, oder welche ungeheuere Gewalt über ihn stand jenem Weibe zu Gebote, daß er so schnell und so völlig wieder genesen war? Welches Wunder hatte die Natur gewirkt oder welche Zauberkunst hatte das Weib angewandt? Es wollte mich beinahe ein Entsetzen ergreifen, wie den Secretair. Ich mußte fortfahren, indem ich freilich immer, mehr zweifelnd, als glaubend, auf meiner Hut blieb.

„Darf ich bitten,“ sagte ich, „mir Ihre Bestimmungen anzugeben?“

„Es bleibt völlig bei dem, was ich Ihnen vorhin schon gesagt hatte.“

„Ich muß um eine freie, selbstständige Wiederholung bitten.“

„Mein Sohn wird mein einziger Erbe.“

„Der Name Ihres Sohnes?“

„Louis François Lohmann.“

„Weiter, wenn ich bitten darf.“

„Aber er wird mein alleiniger Erbe nur unter der Bedingung, daß er die Tochter meiner Anverwandtin, der Frau Langlet, heirathet.“

„Der Name dieser Tochter?“

„Adrienne Langlet.“

„Ich bitte, fortzufahren.“

„Unterwirft mein Sohn sich dieser Bedingung nicht, so wird er auf den Pflichttheil eingesetzt und meinen gesammten übrigen Nachlaß erhält die Frau Louise Charlotte Langlet.“

„Wollen Sie Ihrem Sohne eine Frist zur Erfüllung jener Bedingung bestimmen?“

„Seine Trauung mit Adrienne Langlet muß binnen einem halben Jahre nach meinem Tode vollzogen sein.“

„Haben Sie noch sonstige Anordnungen zu treffen?“

„Wird mein Sohn mein alleiniger Erbe, so erhält die Frau Langlet jedenfalls eine jährliche Rente von dreihundert Thalern und den lebenslänglichen Nießbrauch dieses Hauses nebst dessen Zubehör. – Weiter habe ich nichts zu verordnen.“

Genau so waren in allen Stücken vorhin seine Verfügungen gewesen. Er hatte Wort für Wort klar, bestimmt, mit vollem Bewußtsein gesprochen; ich konnte nicht den geringsten Zweifel dagegen aufbringen. Ich wollte mir selbst zürnen, daß ich es nicht konnte. Auch dem Gedanken an einen moralischen Zwang, an die Nachwirkung eines Zwanges von Seite der Frau Langlet auf ihn, konnte ich mit voller Ueberzeugung, geschweige mit rechtlichem Nachhalt, keinen Raum geben. Sollte denn die Bosheit, die Tücke, das Verbrechen siegen?

Ja, auch das Verbrechen! Durch ein Verbrechen – ich konnte nicht daran zweifeln – war einer fremden Waise das Vermögen entrissen, über das jetzt verfügt wurde. Die fremde Waise war Marianne. Der junge Mann, der Sohn des Kranken – kennend oder ahnend das Verbrechen seines Vaters – hatte ihr das Geraubte wieder zuwenden wollen; ihre Herzen hatten sich vielleicht schon lange gefunden. Sein edler Zweck sollte vereitelt, die arme Waise sollte noch einmal beraubt werden. Und ich sollte zu diesem Raube die Hand bieten, ihm den Stempel des Gesetzes, des Rechtes aufdrücken! Das Alles, wenn mir auch noch Einzelnheiten fehlten, lag klar vor mir. Klar, aber dennoch wie ein Labyrinth, aus dem ich keinen Ausweg sah.

Der Testator hatte seinen Willen vollständig, mit vollem Bewußtsein, ohne einen äußeren Zwang, also durchaus vollgültig abgegeben; ich mußte ihn zu Protokoll nehmen. Zwar hatte der Kranke noch kurz vorher in einem Zustande unzweifelhaften Irrsinnes sich befunden. Aber eben so unzweifelhaft war er in diesem Augenblicke seines Verstandes mächtig, und nur darauf kam es nach ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzes an. Gelang es mir auch, in anderer Weise, etwa durch ein plötzliches Zurückspringen auf jenes Ereigniß des Jahres 1813, seinen Geist wieder zu verwirren, auf die Gültigkeit des Testamentes konnte das keinen Einfluß haben, für ihn wäre es eine nutzlose Grausamkeit gewesen. Zudem gestattete das Gesetz es mir nicht einmal. Nur noch ein Mittel blieb mir übrig, nämlich auf das Herz des alten Mannes einzuwirken, der am Rande des Grabes lag, auf das Gewissen, das noch vor wenigen Augenblicken so schwer von einen schweren Verbrechen belastet sich gezeigt hatte. Ich hatte schon vorher daran gedacht; zu diesem Zwecke hatte ich auch den jungen Menschen in dem Zimmer nebenan gelassen. Aber bei näherem Nachdenken mußte ich auch dieses Mittel fallen lassen. Den Sohn, gar mit jener beraubten Waise, an das Lager des Kranken führen, es war eine Scene, die einerseits ungerecht gegen die Frau Langtet war, zumal da ich für ein Verbrechen nicht die geringste thatsächliche Gewißheit hatte, und die andererseits geradezu in das Gegentheil von dem, was ich wollte, umschlagen konnte. Störte die Scene das Bewußtsein des Testators wieder, so blieben seine einmal getroffenen Bestimmungen nichtsdestoweniger gültig, und ich hatte jede Hoffnung zu ihrer Abänderung verloren. Hatte ich dies aber nicht auch zu befürchten, wenn ich, ohne eine solche Scene, auf sein Herz und Gewissen einwirken wollte? War mir am Ende auch nur dies gesetzlich erlaubt? Dann hatte ich aber auch gar kein Mittel mehr für den Sohn, für die Waise, für die nur geringste Wiedergutmachung eines Verbrechens, dessen Vorhandensein, trotz alles Mangels an Thatsachen, ich mir einmal [241] nicht aus dem Sinne schlagen konnte. Ich sah die beiden unglücklichen jungen Leute vor mir, ich sah jene kindisch eigensinnige, blödsinnige Adrienne, ich sah den höhnischen, satanischen Triumph des boshaften alten Weibes; und ich sah kein Mittel mehr.

Nur ich kurzsichtiger Mensch sah keins mehr!

Ich dictirte das Testament zum Protokoll, vollständig, nach den Anordnungen des Testators, mit allen Förmlichkeiten des Gesetzes. Ich dictirte es laut; er konnte jedes Wort vernehmen. Er blieb ruhig liegen, ohne eine Miene zu verändern. Ich ließ ihm das Protokoll vorlesen. Er hörte aufmerksam zu. Ich fragte ihn, ob das, was ihm vorgelesen sei, seinen ernstlichen, wohlüberlegten, letzten Willen enthalte.

„Ja!“ antwortete er mit seiner schwachen Stimme, aber fest, sicher.

Ich forderte ihn auf, das Protokoll zu unterschreiben. Er war bereit dazu und vermochte es auch, indem der Secretair und ich ihn aufrichteten und stützten.

Das Testament war in aller Form Rechtens fertig. Der Sohn des Testators war gezwungen, entweder jene Blödsinnige zu heirathen, oder den größten Theil, nach dem Gesetze zwei Drittheile, des Nachlasses seines Vaters der Frau Langlet herauszugeben. Es fehlte zwar an der vollen Rechtsbeständigkeit des Testaments noch ein Umstand, mit dem ich nach dem gewöhnlichen Verfahren hätte beginnen sollen, den ich aber ebensowohl jeden Augenblick nachholen konnte, nämlich die Anerkennung der Person des Testators. Aber an seiner Identität war in keiner Weise zu zweifeln; es handelte sich also nur noch um eine leere, mit der leichtesten Mühe zu erledigende Förmlichkeit.

Ich wollte in das Nebenzimmer gehen, um mich zu erkundigen, ob der Pater Theodorus, der die Anerkennung bewirken solle, bald eintreffen werde. In dem nämlichen Augenblicke hörte ich, wie draußen an die Hausthür geklopft wurde. Der Schlag hallte dumpf durch das Haus, wie jener Schlag, mit dem ich unsere Ankunft angekündigt hatte. Ich blieb erwartend in dem Krankenzimmer. Die Hausthür wurde geöffnet. Gleich darauf trat Jemand in das Zimmer nebenan.

„Guten Abend,“ sagte eine tiefe, aber klare und wohltönende männliche Stimme, Es war die Stimme des Paters Theodorus, Es wurde ihm gedankt. Aber dann hörte ich ihn gleich traurig und bewegt sprechen.

„Armer Franz! Ich lese Alles in Deinem Gesichte. Du erleidest heute einen doppelten Verlust.“

Ich hörte den jungen Mann nur weinen. Gesprochen wurde nicht mehr. Die Frau Langlet ließ Keinem Zeit dazu. Sie öffnete schnell die Thür des Krankenzimmers.

„Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Pater.“

Der Pater Theodorus trat in das Krankenzimmer. Die Frau machte keinen Versuch, ihm zu folgen. Auch der Sohn des Kranken nicht.

Ich hatte den Pater früher nur in der Dunkelheit gesehen, und betrachtete ihn in dem Lichte der Wachskerzen genauer. Er war schon ein sehr alter Mann; aber man konnte kaum einen schöneren Greis sehen. Er hielt seine hohe Gestalt aufrecht, nicht stolz, aber mit der bewußtlosesten, ungezwungensten Würde. Sein Gesicht, edel geformt, wie das Gesicht eines Patriarchen, sprach Milde, Frieden und Offenheit aus; es verkündete die wahre christliche Liebe, es zog zu unwiderstehlichem Vertrauen an. Auch mich. Und mit dem Vertrauen, das in mir dem Manne entgegen schlug, erwachte auf einmal ein anderes, ein höheres Vertrauen in mir. Anfangs unruhig, daß mir das Herz klopfte, dann still, ruhig, wie immer das höhere Vertrauen. Die Erscheinung des würdigen Dieners Gottes weckte das Vertrauen zu den Rathschlüssen Gottes, zu der höheren, ewigen, göttlichen Gerechtigkeit in mir.

Der Pater begrüßte den Secretair und mich schweigend. Dann trat er an das Lager des Kranken. Er sprach auch zu ihm nichts. Er sah ihn nur an. Er sah ihn an mit seinen klaren, blauen Augen voll Milde und Frieden, aber auch voll Ernstes.

Der Kranke hatte bei dem Eintreten des Geistlichen aufgezuckt, nur mit einem fast unmerklichen Bewegen der Augenlider, nur mit dem leisesten Schimmer, der bemerkbar durch das Auge ziehen konnte. Ich hatte dennoch genug gesehen, um eine Ahnung, die schon lange in mir aufgetaucht war, zur Gewißheit erheben zu dürfen. Was ich ferner sah, sollte mir vollends keinen Zweifel lassen. Der Kranke hatte dem Blicke des Geistlichen zu begegnen vermocht, aber nur mit einem gewissen Trotze, wie es schien. Der Blick des Mönchs wurde ernster. Der Kranke konnte ihm nicht mehr begegnen. Er schloß die Augen.

So konnte nur der Beichtvater blicken, der in die tiefste Tiefe der Seele, und in dieser Tiefe ein Verbrechen sah. So konnte diesem Blicke sich nur das Gewissen verschließen, das des schweren Verbrechens sich bewußt war, das einst in furchtbarer Angst dem Beichtvater dieses Verbrechen hatte bekennen müssen, das dann aber und auch noch heute, noch in diesem Augenblick wußte, daß das Geheimniß der Beichte unverletzlich ist, wie das Geheimniß des Grabes. Und so hatte dieses Gewissen sich verschlossen. Der Blick des Geistlichen wurde traurig. Er schüttelte schmerzlich das greise Haupt, Er sprach noch immer nichts. So stand er, unverwandt den Kranken anschauend.

In dem Zimmer herrschte eine tiefe, aber peinliche Stille, eine Todtenstille. Da bog der Mönch seine Kniee; seine hohe Gestalt ließ sich demüthig auf sie nieder. Er faltete die Hände. In die gefalteten Hände stützte er das schmerzlich bewegte Gesicht. So betete er. Er betete still; man hörte keinen Laut seiner Lippen, nicht seinen Athemzug. Die Stille des Zimmers wurde eine feierliche. Er betete lange. Seine Gestalt blieb unbeweglich. Endlich erhob er sein Gesicht. Es war nicht mehr schmerzlich bewegt; aber es war verklärt von dem edelsten, erhabensten, heiligsten Ausdrucke des Vertrauens, des Friedens, der Vergebung, Das verklärte Gesicht hob er zum Himmel empor. Dann kam das erste Wort über seine Lippen.

„Amen,“ sagte er. Das Wort erklang wunderbar ergreifend durch die tiefe, feierliche Stille.

Der Kranke zuckte auf. Er öffnete die Augen, er mußte sie öffnen. Sein Blick fiel in das verklärte, betende Gesicht des Paters. Er schrie laut auf.

„Gott, Gott!“

Dann sah er sich heftig um. Er suchte mich. Er sah mich. Er sah in meiner Hand das Papier, das seinen letzten Willen enthielt.

„Mein Testament!“ rief er. „Geben Sie mir mein Testament.“

Ich reichte es ihm hin. Er zerriß es. Er warf die Stücke von sich.

[242] „Gott!“ rief er dann noch einmal; aber er schrie es nicht, er sprach das Wort aus freier, auf einmal leicht gewordener Brust. Und auch sein Blick war frei und klar, und sein ganzes Wesen war es. Dann richtete er sich auf seinem Lager auf, und indem er sich aufrichtete, sagte er mit fester, klarer Stimme:

„Wie ich jene Schrift zerrissen habe, so widerrufe ich ihren ganzen Inhalt. Ich nehme Sie Alle zu Zeugen. Eines neuen Testaments bedarf es nach dem Gesetze nicht. Aber meinen Sohn wünsche ich noch zu sprechen, ihn und Marianne.“

Der Geistliche ging aus dem Zimmer, und kehrte nach einer halben Minute zurück. An der Hand führte er den Sohn des Kranken und Mariannen. Aber die Beiden kamen zu spät, um den Segen noch zu empfangen, der ihnen hatte ertheilt werden sollen. Die körperlichen und geistigen Anstrengungen der letzten Stunden waren für den Kranken zu erschütternd und ergreifend gewesen. Seine schwachen Kräfte waren erschöpft. In dem Augenblicke, als der Pater mit den jungen Leuten eintrat, sank er verscheidend auf sein Lager zurück. Der Sohn und das Mädchen konnten nur weinend an einem Todtenlager knieen. Zu ihnen ließ sich der Geistliche nieder. „Die Gnade des Himmels ist eine unendliche,“ sprach er. „Herr, Deine Liebe wird sie auch ihm zu Theil werden lassen!“




Die Frau Langlet und ihre Tochter bekamen wir nicht wieder zu Gesichte, als wir das Sterbezimmer und das Haus verließen. Aber nach sechs Monaten hatte ich die Freude, anstatt eines neuen „Testaments des Verrückten“ seinen wahren letzten Willen doch noch zum gerichtlichen Protokoll feststellen zu können, indem ich den Ehevertrag zwischen Herrn Louis François Lohmann und Mamsell Marianne – ihren französischen Namen habe ich vergessen – gerichtlich aufnahm.

Und was im Jahre 1813 geschehen war? Ich weiß es nicht. Ich kann es auch meinen Lesern nicht sagen, wenn ich wahr bleiben will.

Die Frau Langlet habe ich nie wieder gesehen; sie war mit ihrer Tochter nach dem Elsaß zurückgekehrt.

François Lohmann, wenn er etwas wußte – ehrte das Andenken seines Vaters. Der Pater Theodorus war Beichtvater.