Schlösser und Burgen des Harzes/Quedlinburg

Textdaten
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Autor: Wilhelmine Heimburg
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Titel: Schlösser und Burgen des Harzes/Quedlinburg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 400–407
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Schlösser und Burgen des Harzes.

I.0 Quedlinburg.
Von W. Heimburg.0 Illustriert von Dora und Annie Seifert.

Die Schimmelequipage ist vorgefahren, die Reise kann losgehen. Jede von uns hat ihr Handwerkszeug bei sich, die beiden Malerinnen ihre Skizzenbücher, ich das Notizbuch, um Daten an Ort und Stelle festzuhalten, die ich eigentlich von Rechts wegen wissen müßte, denn Quedlinburg ist meine Heimat, das schöne alte Quedlinburg!

Meinen beiden Begleiterinnen habe ich die Reize der alten Kaiserstadt so verlockend geschildert, daß sie mir von Dresden her nach meiner Sommerwohnung in Quedlinburgs Nähe gefolgt sind, bereit, das ganze alte Nest mit seinen unzähligen malerischen Motiven zu verschlingen. „Ihr könnt euch auf Wundervolles gefaßt machen, schon die Fahrt dorthin ist entzückend,“ renommiere ich. „Ihr sollt nur sehen, wie es daliegt in der Ebene, dieses Quedlinburg mit seinen vielen Türmen, seinem altertümlichen Schlosse, seinem roten Dächermeer inmitten der bunten Blumenfelder!“

Wir schachteln uns in den Wagen ein, samt Regen- und Malschirmen. Herr N., der Lenker und Besitzer der netten Equipage, fragt vorsichtshalber noch, wo er ausspannen soll drunten. Ich bin für den „Weißen Engel“ am alten Topfthor, weil dort vor langen Jahren meine Großmutter ihr Wägelchen, das „die braune Liese“ zog, einzustellen pflegte, aber Herr N. ist vornehmer, er will in den „Bär“. Schön! Vorläufig interessieren uns die Quedlinburger Wirtshäuser noch nicht, wir wollen eben nur alte Kunst und ewig junge Natur genießen und ehrwürdigen Erinnerungen nachgehen.

Unterwegs – der Sommernebel verhüllt das Bild der Stadt fast ganz – bekomme ich ein wenig moralischen Katzenjammer, ich habe vielleicht mit zu glühenden Farben geschildert; der alten Heimat gegenüber fühlt man sich ja wie ein Mann seiner geliebten Braut gegenüber: er findet alles an ihr zauberhaft, die bescheidensten Reize sind ihm Schönheiten ersten Ranges. Wenn die beiden [401] erwartungsvollen Augenpaare, die den Nebel dort unten zerreißen möchten, sich am Ende enttäuscht abwendeten? Das würde mir doch weh thun, gerade so weh wie dem Sohne, dem die Mutter, nachdem er ihr die Braut präsentiert hat, heimlich und mitleidig gesteht: „Na ja, mein Junge, sie ist ja ganz niedlich, aber nach deiner Beschreibung mußte ich annehmen, eine siegreiche Schönheit als Schwiegertochter umarmen zu können; da sieht man wieder, die Liebe ist blind –.“

Das Portal der Schloßkirche.

Ein bißchen kleinlaut fahren wir dahin. Das Schloß, die Schloßkirche heben sich jetzt deutlicher aus dem Nebel. Wie schön, wie stattlich! denke ich, und das Herz geht mir auf in Erinnerung an die ersten Kirchenbesuche des kleinen Mädchens, dem nie wieder im spätern Leben so feierlich bei einem Gottesdienst zu Sinne war wie da droben im Quedlinburger Dom unter den Klängen der alten Orgel, die der Kantor R. spielte, bei den Worten des schlichten, milden alten Pastors B. – Der Wagen fährt über die Stumpfsburger Brücke. „Bitte, durch das Wasserthor,“ rufe ich dem Rosselenker zu, „und dann durch die Lange Gasse nach dem Schloßplatz!“

Am Wasserthor.

Und wie wir uns dem Wasserthor nähern, da trifft ein doppelter Jubellaut mein Ohr, meine Gefährtinnen sind plötzlich im Wagen aufgesprungen, wie elektrisiert. „Annie, sieh doch! Nein, ist das schön!“ – „Nein, Dora, diese Häuserchen, diese Dächer, diese Farben – diese Farben!“

Jenseit der Bode thront hoch auf steilem Felsen das Schloß, und an dem Abhange des Berges ziehen sich die Straßen des Westendorfs hin, kleine enge Gassen, von lauter winzigen, ärmlichen Häuserchen gebildet; ein Dächergewirr, kraus und mannigfaltig, in allen Nuancen von Rot, vom beschmutzten verwitterten bis zum leuchtenden Braunrot der neuen Ziegel, mit denen man die alten Dächer ausgebessert hat. Und die Häuser selbst, wie die Farben eines Tuschkastens – grün, lila, gelb, himmelblau sind sie angestrichen, wie neu, wie eben fertig geworden zum lieben Pfingstfest; dazwischen die Gärtchen mit üppigem Grün. Und das blüht und prunkt in der strahlenden Sonne zu Füßen des ernsten ragenden Kaiserschlosses, als habe man einem altersgrauen stolzen Recken einen lustigen bunten Teppich zu Füßen gebreitet.

Die Bußkapelle in der Schloßkirche.

Wir fahren durch enge winklige Straßen, die ich gut, ach so gut, kenne, denn meine Kinderfüße sind über ihr Pflaster gelaufen; die frohen Spiele sommerabends mit den Nachbarkindern fallen mir ein, die Gänge zur Schule –. Ueber die Mauern wehen die Zweige der alten Obstbäume, an denen die Winteräpfel längst vergangener Tage reiften. Dort wohnt der Bäcker, der die Weihnachtsstollen buk, große flache Kuchen, dick mit Mandeln und Zucker bestreut, die so wundergut schmeckten. Und nun ein kleiner von alten Häusern umgebener Platz – „Finkenherd“ ist an dem ersten Hause zu lesen. Dort ist es, wo der Sage nach zu Anfang des zehnten Jahrhunderts Herzog Eberhardt, des Königs Konrad I Bruder, auf dessen Wunsch, dem Sachsenherzog Heinrich die deutsche Kaiserkrone überbrachte, die dieser mit so hohen Ehren trug bis zu seinem im Jahre 936 in Memleben an der Unstrut erfolgten Tod.

Damals mag auf diesem Fleck wohl Buchen- und Eichenwald gerauscht haben, denn der ritterliche Herr lag, wie bemeldet, just dem Vogelfange ob, als ihn die Gesandten trafen. Und an der Bode, die jetzt zwischen bebauten Ufern dahinfließt, standen damals die Hütten des kleinen Dörfchens Quittlingen. Der neue junge Kaiser mag begreiflicherweise für den Ort, an dem ihm so hohe Ehre widerfuhr, eine große Zuneigung gefaßt haben, so daß er beschloß, auf dem Felskegel, der sich unweit des Finkenherdes erhebt, eine feste Burg zu gründen, was er denn auch bald ausführte. So entstand die Feste Quidelingeburg.

Die Fürstengruft in der Schloßkirche.

Wir halten jetzt auf einem etwas bergansteigenden freien Platz unter alten Linden und Kastanien, die den Aufstieg zum Schloß und Dom beschatten. Dort unten das Haus mit dem säulengetragenen Vorbau ist die Geburtsstätte Klopstocks. Wir haben den Wagen verlassen und wandern unter den Bäumen unserem Ziele entgegen. Recht steil geht es empor, und das Pflaster ist nicht g’rad’ berühmt. Aber ich erinnere mich aus meiner Kinderzeit der Weihnachtsmorgen, an denen der Schnee die holprigen Steine mit einem flaumigen Teppich belegt und jede Kontur des stolzen Baues, jedes Aestchen der Linden mit leuchtendem Weiß nachgezeichnet hatte; Christmorgen, an denen alte fromme Weiblein im langen faltigen Tuchmantel und mit pelzverbrämter Kapuze inmitten erwartungsvoller [402] Kinder hier hinauftrippelten, die Laternchen in der Hand, die gelbe zuckende Lichter über den bläulichen Schnee warfen. Ich mitten unter ihnen, andächtig und glückselig, umwogt von den Glockenklängen, und über uns die Sterne der heiligen Nacht. Und unter diesen Erinnerungen sind wir hinaufgekommen, ich weiß nicht wie, und stehen nun auf dem Schloßhof.

Das Grab Heinrichs I.
in der Schloßkirche.

Die Kanzel in der Schloßkirche.

„Zuerst in die Kirche, Kinder,“ sage ich, und da wartet auch schon der freundliche Küster und seine ebenso freundliche Frau, bereit, uns zu führen. – Durch ein schönes gotisches, aber stark verwittertes Portal, das eine spätere Aebtissin dem frühromanischen Bau einfügen ließ – laut Inschrift war es Jutta von Kranichfeld, etwa im Jahre 1324 – treten wir ein in die uralte Krypta, in der Kaiser Heinrich I schlummert. Er hatte Kirche und Stift gegründet als ein Zeichen seiner Dankbarkeit gegen Gott, nachdem es ihm gelungen war, die Ungarn niederzuwerfen; und hier, an dieser Stätte, hat man ihn begraben. Sie ist ein säulengetragenes frühromanisches Gewölbe, diese Krypta. Die Säulenkapitäle, obgleich von primitiver Technik, zeigen doch große Feinheit und Mannigfaltigkeit. Gegen Osten, unter einem Fenster in Rosettenform, befindet sich ein halbkreisförmiger Raum, zu dem einige Stufen hinaufführen, die Betkapelle Mathildens, der Witwe Kaiser Heinrichs I, von der die Sage berichtet, daß sie nach dem Tode ihres großen Gemahls die kaiserlichen Gewänder für immer abthat und in dieser Kapelle allnächtlich dem geschiedenen Gatten nachweinte in heißer unvergänglicher Witwentrauer, bis man sie an seine Seite bettete (968).

Den schlichten Holzsarg, der des großen Kaisers Ueberreste birgt, sieht man durch das in dem Fußboden befestigte Gitter schimmern. Seit einem Jahrtausend ruht er hier, von ganz Deutschland aufrichtig und tief betrauert, er, dessen Name nie verklingen wird. Bilder giebt es nicht von ihm, aber noch heute lebt Kaiser Heinrich in Liedern und Erzählungen des deutschen Volkes als ein schöner, stolzer und kluger Herr, dessen leidenschaftliches, leicht aufbrausendes Temperament gar mildiglich gezügelt wurde durch seine sanfte Gemahlin.

Sein Sohn war es, der die Burg zu dem bestimmte, was sie später Jahrhunderte hindurch war in aufsteigender und absteigender Linie, zu einem freien weltlichen Reichsstift, dessen erste Besetzung aus Nonnen bestand. Die erste Aebtissin soll eine Tochter Heinrichs gewesen sein, was sich aber urkundlich nicht beweisen läßt. Die Geschichte nennt vielmehr Ottos I Tochter Mathilde als erste Aebtissin, und ihr folgen noch einhundertundfünfunddreißig. Viele von ihnen waren vornehmste fürstliche Damen, unter denen das Stift glänzende Tage höfischen Lebens gesehen hat. Diese Äbtissinnen hatten später fürstliche Rechte, Sitz und Stimme in den Reichstagen, und zwar saßen sie bei solchen Gelegenheiten auf der rheinischen Prälatenbank.

Der Taufstein in der Schloßkirche.

Eingang zum Schloß.

Wir steigen hinunter in die Fürstengruft, rechts sehen wir die Bußkapelle, einen niedrigen Raum, in dem man nur knieend oder sitzend verweilen kann. Die rasch angezündeten Kerzen erfüllen das Gelaß mit Rembrandtschen Lichteffekten und zeigen uns deutlich die schönen kleinen Säulen der Eingangsseite. In dieser finsteren Kapelle saß einst Bischof Bernhard von Halberstadt, weil er Kaiser Ottos I Verlangen, in Magdeburg ein Erzbistum zu stiften, nicht gefügig war. Die Chronisten berichten: „Otto lud den Bischof einst nach Quedlinburg, bewirtete ihn aufs beste und verlangte, als jener heiter gestimmt war, von ihm, der beabsichtigten Stiftung zuzustimmen. Der Bischof weigerte sich mit den Worten: ‚Ich bin nicht Bischof, die Diöcese zu mindern, sondern zu mehren!‘ worauf ihn der Kaiser ins Gefängnis unter der Treppe der Schloßkirche setzen ließ. Am Gründonnerstag – fast ein Jahr saß er schon – ließ der Bischof dem Kaiser sagen, es thue wahrlich nicht gut, wenn Kaiser und Bischof am Osterfeste in Zank und Hader beharren würden; er wolle die Hand bieten, und der Kaiser möge seine Anerbietungen selbst anhören. Der Kaiser kam in das Münster, und mit Ring und Stab trat ihm der Bischof entgegen, sprach den Bann über ihn aus und zwang ihn dadurch, ihn seiner Haft zu entlassen. Beide feierten versöhnt dann das Osterfest in Halberstadt. Aber der Kaiser verzichtete, solange Bernhard lebte, in Magdeburg ein Erzbistum zu errichten.“

Von der Bußkapelle steigen wir noch tiefer hinab, vorüber an der schaurigen Folterkammer zur Fürstengruft. Stolze wappengeschmückte Särge erblickt unser Auge im Dämmerlicht des Gewölbes; der prunkvollste ist derjenige der Anna von Stolberg, welche die Reformation einführte; und hier schläft auch friedlich neben ihren beiden erbitterten [403] Todfeindinnen im Leben, der Eleonore Sophie und Maria Magdalena, Gräfinnen von Schwarzburg, die vielgenannte Marie Aurora von Königsmark, die Geliebte Augusts II, Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen, Mutter des Marschalls Moritz von Sachsen.

Zu meiner Jugendzeit wurde der unverwest erhaltene Körper dieser einst so schönen gefeierten Frau noch gezeigt. Die damalige Kastellanin, eine alte dicke Madame, pflegte bitterlich zu weinen, sobald sie den Sargdeckel hob, indem sie die Tote lobte und pries.

Gräfin Aurora von Königsmark.

Durchreisende Fremde wallfahrteten zu jener Zeit nach dieser Sehenswürdigkeit Quedlinburgs, und so einst auch mein Vater als flotter Student. Im Gasthofe fragte er dann die Kellnerin, die ihm ein Frühstück auftrug, ob sie die Königsmark schon einmal gesehen habe. „Nä!“ war die Antwort der hübschen Quedlinburger Dirne, „wahnt de all lange hier?“

Anna Gräfin zu Stolberg II.

Einen schönen Anblick bot Aurora im Sarge eben nicht. Ich erinnere mich nur, daß sie in veilchenfarbenen Sammet und vergilbten weißen Atlas gekleidet war, daß dunkles Haar unter dem Häubchen hervorsah und daß sie auffallend lange Augenwimpern und kinderkleine schmale Hände hatte. – Gottlob, heute wird sie nicht mehr gezeigt.

Wir atmen auf, als wir oben in der Kirche stehen, die, über der Krypta erbaut, im Jahre 1021 von der Aebtissin Mathilde vollendet und von Kaiser Heinrich II geweiht wurde, dann, im Jahre 1070 durch Brand schwer geschädigt, erst im Jahre 1129 durch den Bischof von Minden und Hildesheim in Gegenwart Kaiser Lothars II mit großer Pracht abermals eingeweiht worden ist.

Im Laufe der Jahrhunderte ist die ursprüngliche Schönheit der frühromanischen Kirche durch allerhand dem augenblicklichen praktischen Bedürfnis dienende Zuthaten arg geschädigt worden. Man hatte Betstübchen zwischen die herrlichen Säulen gebaut und einen Riesenaltar im Barockstil auf den hohen Chor gesetzt, an und für sich gewiß eine recht kunstreiche Leistung, aber in dies einfache vornehme Gotteshaus nicht passend. Festliche, glänzende Gottesdienste mögen hier stattgefunden haben, z. B. bei Gelegenheit der Einführung einer neuen Aebtissin, deren manche aus königlichem Geblüt stammte.

Hier nahte sich auch, der Sage nach, am heiligen Weihnachtsmorgen dem Kaiser Otto I sein aufrührerischer Bruder Heinrich, der, obwohl jünger als Otto, sich dennoch, beeinflußt durch seine Mutter, deren Lieblingssohn er war und die lieber ihn auf dem Thron sehen wollte als ihren Erstgeborenen, dreimal gegen ihn auflehnte und dreimal in blutiger Fehde von Otto besiegt wurde. Zuerst noch zürnend und den Reuigen abweisend, reichte doch der großmütige Kaiser dem Bruder die Hand auf Mahnung des Bischofs, der die Bibelworte citierte:

„Und Petrus sprach zum Herrn: ‚Nicht so? Genügt ich hab’,
Wenn ich dem sünd’gen Bruder schon siebenmal vergab?‘
Doch Jesus ihm antwortet: ‚Nicht siebenmal vergieb,
Nein siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb.‘

Da schmilzt des Kaisers Strenge in Thränen unbewußt,
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust;
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht,
Nie schöner ward begangen die heil’ge Weihnachtsnacht.“

Prinzessin Amalia von Preußen.

Die Ballade, deren Schlußstrophen so lauten, und die beginnt: „Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang,“ lernten wir Quedlinburger Kinder in der Schule aufsagen, und nie habe ich das alte Gotteshaus betreten, ohne der kaiserlichen Brüder zu gedenken, deren Herzen sich hier wiedergefunden haben sollen. Die „Gartenlaube“ brachte ein Bild dieses Vorganges im Jahrgang 1897 zur Weihnachtszeit (S. 877).

Die Kaiserin Friedrich, die als Kronprinzessin mit ihrem Gemahl in den sechziger Jahren das Schloß besuchte, regte die Renovierung der herrlichen Kirche an, und nach ihrem Wunsche erstand, ausgeführt durch den hochverdienten Herrn von Quast, das alte Gotteshaus in ursprünglicher Schönheit. Die Kanzel ist nach einem Entwürfe der Kaiserin aus Sandstein gehauen im romanischen Stil; wundervoll sind auch hier die Säulenkapitäle sowie der hohe Chor mit dem [404] Hochaltar, den wiederum Jutta von Kranichfeld erbaute. – Hinter der Sakristei befindet sich die sogenannte Zitter, ein Raum, der eine Menge wertvoller Antiquitäten birgt, alte, von den Frauen des Stiftes verfertigte Gobelins, prächtige Reliquienkasten und Reliquien, den Bartkamm Heinrichs I, aus Elfenbein geschnitzt und mit Edelsteinen besetzt; ein Gefäß aus durchscheinendem Travertin, das als ein Krug von der Hochzeit zu Kana bezeichnet wird. Die Kaiserin Theophania, Ottos I Gemahlin, soll ihn aus Griechenland mitgebracht und ihrer in Quedlinburg lebenden Schwiegermutter Adelheid geschenkt haben.

Ewald von Kleist.

Herrliche alte Manuskripte sind hier vorhanden, darunter mehrere Evangelistarien, in Goldblech gebunden, mit Edelsteinen verziert und mit großer Knust geschrieben oder gemalt. Auch zwei Exemplare des Sachsenspiegels werden aufbewahrt: der eine kleinere aus dem Ende des 13. Jahrhunderts; der zweite, in großer, schöner Schrift, dadurch merkwürdig, daß er einst im Besitze des berühmten Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke gewesen ist. Außer diesen und vielen andern Schätzen, reich mit Edelsteinen und Schnitzwerk geschmückten Reliquienkästen und Behältern, giebt es hier auch wertvolle Schriftstücke, darunter zwei Briefe von Luther und einen von Melanchthon.

Wir lassen uns alles eingehend von dem verständnisvollen und bereitwilligen Führer erklären und verlassen endlich das Gotteshaus, ganz erfüllt von den Schauern stolzer deutscher Vergangenheit.

Unser freundlicher Erklärer hat uns noch eine Ueberraschung vorbehalten; er führt uns noch einmal durch die dämmernde Krypta, in der wir uns im Vorüberschreiten an einem prächtigen alten Taufstein erfreuen, er öffnet hier eine Thür nach Süden, durch welche uns eine Fülle goldenen Lichtes entgegenflutet, und wie wir das schmale rasenbewachsene, von niedriger Mauer eingefriedete Gärtchen betreten, da erfassen unsere Blicke ein wundervolles Bild – unter uns die roten Dächer des Westendorfes, aber jenseit derselben, fortschweifend über die stolzen Bäume des Lustwäldchens Brühl, über lachende Felder und traute Dörfer – die Berge des Harzes, in blauen Duft gehüllt; dort Victorshöhe, dort Tanzplatz und Roßtrappe, seitwärts der alte sagenumwobene Brocken, und rechts eine Reihe eigentümlich geformter kleiner Hügel, auf deren einem der berühmte Regensteiner sein Raubschloß erbaute, der bekannte Graf Albert von Regenstein, der in heftiger Fehde am 7. Juli 1336 von den Quedlinburgern gefangengenommen und in einem hölzernen Kasten zwanzig Monate lang eingesperrt saß, bis er sich den Forderungen der Städter unterwarf. Der ungefüge Käfig ist noch heute im Rathause zu sehen. Die Chronik besagt, daß der Raubgraf, bereits zum Tode verurteilt und auf den Richtplatz geführt, dennoch begnadigt wurde, erzählt aber nicht, unter welchen Bedingungen; nur weist die Chronik nach, daß er die Mauern der westlichen Seite der Stadt habe ausbessern und mit sieben neuen Türmen versehen müssen. Julius Wolff, der berühmte Quedlinburger, hat diese Episode der Geschichte seiner Vaterstadt und des Stiftes besonders reizvoll geschildert in seinem „Raubgrafen“.

Nur ungern reißen wir unsere Blicke los von der herrlichen Rundsicht und stehen bald wieder auf dem Schloßhof. In den uralten Linden spielt der Sommerwind und auf der Bank unter ihnen sitzt das hübsche Töchterlein des Kastellans und sieht fragend zu uns herüber. Auf unsere Erkundigung, ob wir das Schloß besehen können, verschwindet das nette Mädel, um ihre Mutter zu benachrichtigen, und wir sehen uns inzwischen die alten Gebäude an, thun einen Blick in den Schloßhof und bewundern die herrlichen Rosen im Gärtchen des Kastellans, wirklich eine seltene Pracht! Man sieht, die mit Blüten fast überdeckten Sträucher lohnen dem gütigen Pfleger durch immer neue Knospen.

Die Frau Kastellanin erscheint mit einem Schlüsselbund in der Hand, und wir treten unsere Wanderung an. Eine breite, hohe, überdachte Treppe führt empor in die Prunkgemächer des Freien deutschen Reichsstiftes Quedlinburg. Zunächst empfängt uns ein gegipster kahler Vorraum, über dessen mächtiger Thür das holzgeschnitzte Stiftswappen den einzigen Schmuck bildet, zwei ins Andreaskreuz gesetzte silberne goldschalige Tafelmesser im roten Felde.

Beim Raritätenschrank.

Die Führerin heißt uns nun in ein Gemach treten, das den Altar der Schloßkirche beherbergt, den man, als nicht stilgerecht, bei der Restauration entfernte. Gewiß sind sie von feiner Arbeit, diese durchbrochenen Säulen, dies geschnitzte, reich vergoldete Laubwerk, diese schwebenden Engelsgestalten. Der großen Figuren zu Füßen des Gekreuzigten erinnere ich mich noch aus meiner Kinderzeit; es ist mir, als müßten auch sie mich wiedererkennen, die Jünger des Herrn mit den endlos kirchenfensterlangen Gesichtern. Aber sie schauen stumm und fremd ins Leere hinaus wie damals schon. Ich kenne alte Leute in Quedlinburg, die noch heute um diesen reichen Schmuck ihrer Schloßkirche trauern, und ich kann mir wohl vorstellen, daß sie ihn vermissen. Sie haben vielleicht ihre Konfirmationsgelübde vor ihm abgelegt, das Ja! ihrer jungen Ehe vor ihnen gesprochen, ihre Kinder taufen lassen, und jetzt schauen sie den edlen nackten Sandstein dafür und fein gemalte hohe Fenster und können es nicht verstehen, daß der Zeuge ihrer schönsten und heiligsten Stunden fehlt. Aber wahr ist’s doch, passen thut er nicht mehr, [405] der bunte Altar, in die Einfachheit des herrlichen Gotteshauses.

Schloß und Kirche von Quedlinburg.

Nun treten wir in einen weiten Raum, den sogenannten Blauen Saal, den größten des Stiftes. Ein riesiges Gemach mit fein gearbeiteter Stuckdecke. Einige Stühle aus alter Zeit mit zerfetztem Lederbezug, der noch Spuren starker Goldpressung zeigt, stehen da, sonst kein Möbel, der weite Raum ist ganz leer. Aber von den Wänden schauen die Porträts der letzten zwölf Aebtissinnen herab, die einstens hier das Scepter schwangen, und zwar sind es die evangelischen Aebtissinnen von Anna von Stolberg an bis zur Sophie Albertine, Prinzessin von Schweden. Und während wir an ihnen vorüberschreiten und uns von der Frau Kastellanin die Namen nennen lassen, durchwandern wir ein großes Stück Weltgeschichte. Uns interessieren von ihnen besonders die Aebtissin Anna von Stolberg II, ferner die Pröpstin Maria Aurora von Königsmark und die schöne Anna Amalia, königliche Prinzessin von Preußen, Friedrichs des Großen Schwester. Anna von Stolberg, die 25. Aebtissin des Stiftes, kam dreizehnjährig zur Regierung; sie war es, die im Jahre 1534 aus eigner Machtvollkommenheit und im ernsten Glauben an die neue reine Lehre zum lutherischen Bekenntnis übertrat. Sie schaffte den katholischen Gottesdienst ab und führte den einfachen evangelischen Ritus dafür ein, die Geistlichen wurden auf die Augsburgische Konfession verpflichtet. Ganz ohne Unruhe ging solch gewaltiges Ereignis natürlich nicht ab, wie denn auch Anna von Stolberg es gespürt haben mag. Jedenfalls war sie eines Tages genötigt, sechsunddreißig Ratspersonen ihrer getreuen Stadt Quedlinburg ins Gefängnis zu setzen, die sich an den Schutzherrn des Stiftes gewandt hatten, um Annas Befehle und Verordnungen, die sie infolge der neuen kirchlichen Einrichtung erlassen mußte, zu umgehen. Dieser Schutzherr, Moritz von Sachsen, scheint gegen Anna gewirkt zu haben, denn die Sache wurde schließlich vor den Kaiser gebracht und der Herzog Moritz erhielt ein scharfes Mandat; gleichwohl währten die Streitigkeiten durch die Dauer ihrer Regierung fort.

Anna gründete auch, auf Luthers und Melanchthons Rat, das jetzt noch bestehende Gymnasium zu Quedlinburg, vereinigte die altstädter und neustädter Schulen in demselben und überwies dem Magistrat das nunmehr verlassene Franziskanerkloster in der Breitestraße, woselbst das Gymnasium bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts verblieb.

Im Jahre 1574 starb Anna und wurde in der Schloßkirche beigesetzt. Ihre Regierung war eine sehr bewegte und bedeutungsvolle, achtundfünfzig Jahre herrschte sie, und in der Geschichte des Freien Stiftes Quedlinburg wird Anna von Stolberg stets einen ersten Platz einnehmen.

Vor dem Bilde der Aurora von Königsmark, einer üppigen dunkelhaarigen Schönheit, verweilen wir wiederum längere Zeit. Sie kam von dem lebenslustigen Hofe Augusts des Starken, dessen Geliebte sie gewesen war, im Jahre 1698 nach Quedlinburg, [406] um, zunächst als Pröpstin, in das Stift zu treten, und gedachte, dermaleinst ihre Laufbahn als Aebtissin desselben zu beschließen. Aber dieses Ziel zu erreichen, war ihr versagt; vierzehn Jahre kämpfte sie gegen Intriguen aller Art, und während dieser vierzehn Jahre blieb das Stift ohne Aebtissin. Zwei ältere Gräfinnen von Schwarzburg, welche die schöne, kluge, in allen höfischen Künsten, ja selbst in der Staatsweisheit nicht unerfahrene Dame förmlich haßten, strebten mit ihr nach dieser Würde.

Aurora und jene beiden Gräfinnen bildeten seit dem Ableben der Aebtissin Anna Dorothea von Sachsen-Weimar das Kapitel, dem die Regierung bis zur Bestätigung einer Nachfolgerin oblag, kein Wunder, daß sie einander haßten und sich nie einigen konnten. Aurora besaß unstreitig die größte Aussicht, Aebtissin zu werden, ja ein offenbares Recht zur Nachfolge, denn auf Augusts des Starken Empfehlung hatte Anna Dorothea sie zur Koadjutorin in der Abtei erklärt, und daher ist es zu verwundern, daß Aurora ihr Recht nicht nachdrücklicher verfolgt hat.

Fenstersitz in den Gemächern der
Aurora von Königsmark.

Die Frau Kastellanin meinte freilich im Vertrauen, das Vorhandensein des spätern Marschalls von Sachsen sei ihren Plänen hinderlich gewesen, und vom Standpunkt sittenstrenger Stiftsfrauen läßt sich das begreifen, so tolerant auch die damalige Zeit gegen die Gunstdamen großer Herren verfuhr. Jedenfalls wurde Aurora nicht Aebtissin; die beiden Schwarzburgischen Gräfinnen freilich auch nicht.

Nachdem das Stift lange Zeit verwaist gewesen, nachdem Preußen und Sachsen sich in die Angelegenheit gemischt hatten und lange Verhandlungen gepflogen waren – die Gräfin Eleonore Sophie starb darüber hin – wurde endlich eine Aebtissin, Maria Elisabeth, Herzogin von Holstein, gewählt und bestätigt.

Maria Aurora von Königsmark blieb Pröpstin, doch hat sie den Akten nach als solche wenig Einfluß geübt, da sich kaum einige Unterschriften von ihr vorfinden. Sie starb in ihrem fünfzigsten Jahre; sie verwundete sich mit einer Nadel, erkrankte an Blutvergiftung und endete in der Nacht vom 15. zum 16. Februar 1728 ihr Leben, das, in fürstlichem Glanz und Aufwand begonnen, in Sorge und Not seinen Abschluß fand. Der Hof zu Sachsen hatte ihr zuletzt die Einkünfte entzogen, die es ihr bisher ermöglichten, ein sorgloses, den Künsten und Wissenschaften gewidmetes Leben zu führen. Wie die Frau Kastellanin berichtet und die Chronik erzählt, hinterließ Aurora nur fünfundzwanzig Thaler, zehn Groschen, acht Pfennig, und viele, viele Schulden. Ihre Ausstattungstruhe, deren Beschläge dick vergoldet waren, steht in einem Winkel der einst von ihr bewohnten Gemächer und zeigt ihr Wappen. In der fürstlichen Gruft der Schloßkirche schlummert sie, wie ich vorhin schon erzählt habe, aber der Ruf ihrer Schönheit lebt noch fort im Munde der Quedlinburger, und der Fremde, der die Gruft betritt, fragt zuerst nach dem Sarge der schönen Aurora, dieser ungewöhnlichsten aller Stiftsdamen.

Die lieblichste unter den hohen Frauen, deren Porträts in diesem Saale hängen, dünkt uns die Prinzessin Amalia von Preußen, deren große blaue strahlende Augen an die ihres Bruders, des Großen Friedrich, erinnern. Zweiunddreißig Jahre hindurch war sie Aebtissin des Stiftes. Am 12. April 1756 huldigten ihr Rat und Magistrat, sowie die gesamte Bürgerschaft auf dem Markte, und unter ihrer Regierung erfuhren Stadt und Stift die Drangsale des Siebenjährigen Krieges. Die Frau Aebtissin residierte übrigens nicht in Quedlinburg, sie schenkte dem Stift nur dann und wann einen gnädigen Besuch; war sie aber zugegen, so sah das Schloß glänzende Tage, Gastmähler und Bälle.

Zum letztenmal kam sie im Jahre 1785, um eine neue Kanonissin und eine neue Pröpstin einzuführen. Ihre Gesundheit war erschüttert, sie hatte ja viel, sehr viel Schmerzliches erlebt, und der Tod Friedrichs des Großen brach ihre letzte Kraft. Am 30. März schloß sie die blauen bewunderten Augen für immer. Ihre Nachfolgerin, die letzte Aebtissin, war Sophie Albertine, königliche Prinzessin von Schweden, Schwester Gustavs III.

Mit dem Frieden von Luneville erlosch der Glanz des Stiftes, es verlor nun seine Reichsstandschaft und die Aebtissin ihre Landeshoheit, denn bis dahin war die Aebtissin ein eigner Reichsstand und die vornehmste unter den Reichsfürstinnen. Sie hatte Sitz und Stimme auf den Reichstagen und saß, wie schon im Beginn dieses Artikels bemerkt, auf der rheinischen Prälatenbank. Das Stift wurde jetzt als Fürstentum Quedlinburg dem preußischen Staat einverleibt, jedoch behielten die Frau Aebtissin und die vorhandenen Kapitularinnen ihre Einnahmen unbeschränkt und ebenso ihre Rechte und Freiheiten bis an ihr Ende.

Der Münzenberg.

Im September 1803 reiste Sophie Albertine nach Schweden, nicht ahnend, daß sie nie zurückkehren sollte; der Eroberungszug Napoleons bereitete ihrer Herrschaft das Ende. Der Friede von Tilsit raubte das Fürstentum Quedlinburg der Krone Preußen und teilte es dem Königreich Westfalen zu; es gehörte fürderhin dem lustigen Jérôme. Am 24. Januar 1808 wurde ihm öffentlich gehuldigt.

Im Jahre 1812 war es, als das Stift seinen Todesstoß empfing, seine sämtlichen Liegenschaften, Propsteien, Domänen, Vorwerke, Mühlen, Gärten und Aecker wurden verkauft, ebenso die Güter der Schloß- und Stiftskirche, die Kapitalien wurden eingezogen, die Hofgemeinde aufgehoben und der Gottesdienst eingestellt. Selbst die Altarleuchter und Kelche nahm man in Beschlag; ein Wunder, sagt [407] die Chronik, daß man der so beraubten Kirche die Glocken ließ. Das Mobiliar des Schlosses wurde gleichfalls, auf Befehl von Kassel aus, verkauft.

Als Quedlinburg, nach Napoleons Sturz und Internierung auf Elba, wiederum an Preußen kam, entsagte die Frau Aebtissin ihrer Regierung und nahm vom König von Preußen eine Entschädigung an; die Stiftsbedienten behielten bis zu ihrem Tode die Gehälter.

Dann sind die Jahre gekommen und haben die großen Gemächer verödet.

Nur der Fremde geht nachdenklich ob des Wechsels alles Irdischen über das kunstvolle Parkett des Krönungssaales und durch die Zimmer, die Friedrich Wilhelm IV bewohnte, wenn er hier der Jagd oblag, betrachtet die Bilder, darunter eines, welches den Dichter des Frühlings, Ewald von Kleist, darstellt, die ziemlich unkünstlerische Kopie eines trefflichen Originals, welches sich im Besitz meines Vaters befindet, und läßt sich von der Frau Kastellanin verschiedene Raritäten zeigen, die in einem Wandschrank aufbewahrt werden, unter anderem herrliches altes Zinngerät mit dem Stiftswappen, eine Theekanne des Großen Friedrich und – angeblich – einige Knochen aus dem Grabe Heinrichs I.

Dann bewundert man eines der reizvollsten Städtebilder, die es giebt.

Blick vom Schloß auf die Stadt.

Am eigenartigsten ist es von den Gemächern aus zu sehen, die Aurora bewohnt haben soll. Da steht ein alter Lehnsessel in der Fensternische, und wer dort sitzt, der erblickt den „Münzenberg“, einen Hügel, auf dem ehemals das dem Stifte gehörige Marienkloster stand, und der jetzt ein Dörfchen trägt, dessen Bewohner zu meiner Kinderzeit sich noch eines eigenartigen Rufes erfreuten; sie waren dazumal nicht g’rad’ beliebt in der Stadt. Die Männer zogen meistens als sogenannte Bettelmusikanten in der Welt umher, die Frauen blieben daheim mit ihren Scharen von ungezogenen Kindern, sofern nicht die eine oder andere, behufs Absingung von gruseligen Mordgeschichten, sich ihrem Eheherrn anschloß. Das Dorf besitzt übrigens noch heute seinen eignen Bürgermeister, und seine Einwohner sind mit der Zeit, wie unsre Begleiterin uns mitteilt, kreuzbrave Leute geworden.

Vom Nordfenster aus sieht man wunderbare Dachmotive. Meine kunstverständigen Begleiterinnen versichern es; und in der That, dies Gewirr von roten Dächern und spitzen Giebeln, diese altersgrauen zum Himmel aufsteigenden Türme, diese stolzen Kirchen, St. Nicolai, St. Blasii, St. Aegidii und wie sie alle heißen, sind einzig stimmungsvoll.

Man denkt sich hinein in die Seele einer jener fürstlichen Frauen, wie sie im Abendscheine hier am Fenster gestanden haben mag, sich freuend über die treue gute Stadt, die so friedlich zu ihren Füßen lag und unter einer segensreichen Regierung sich wohl fühlte. Ob nicht auch manche Blicke ihrer schönen Augen über die Stadt hinaus in weite Fernen geschweift sind, in denen sie ein Glück gelassen hatte, um dieser Würde teilhaftig zu werden? Wer kann es wissen!

Eins aber weiß ich! Wehmütiger mag ihr auch nicht zu Mute gewesen sein als mir, da ich dort stand und hinabschaute auf das Meer der roten Dächer, auf die engen Gassen, und nun mein Auge hängen blieb an einem langgestreckten Hause, in dem vor vielen Jahren meine Eltern wohnten mit uns Kindern.

Was hat man nicht erträumt und erhofft von der Zukunft unter diesem Dache, wie hat sich das Kinderherz hinausgesehnt in das weite unbekannte Leben, welche glühenden Hoffnungen knüpfte man nicht an die Zukunft! Und nun ist der größte Teil des Lebens vorübergezogen, zuweilen so ereignislos, als stehe es still, zuweilen wie die Wogen eines erregten Meeres, die uns verschlingen wollten. Dann wieder strahlender Sonnenschein und oft trübes Wetter und Regenflut, aber alles so anders, so ganz anders, als man erhoffte. Und nun steht man da mit grauen Haaren, und die Thränen verschleiern das Bild des alten Hauses da unten. – Meine Gefährtinnen reißen mich aus meiner Versunkenheit, zum Aufbruch mahnend. Sie haben mit der Frau Kastellanin verabredet, daß sie morgen wiederkommen werden mit ihren Skizzenbüchern.

Als wir, von ihr geleitet, wieder hinaustreten ins Freie, da liegt noch der vollste Sonnenschein über dem Schloßhof, und die Rosen des Gärtchens senden uns ihren Duft entgegen.

Die Luft ist erfüllt von Glockengeläute, in der Schloßkirche findet eine Trauung statt.

Frisches, neues Leben überall; die Vergangenheit schläft, schläft wie Kaiser Heinrich, wie die stolzen Aebtissinnen und die schöne Aurora von Königsmark, wir aber wachen noch und leben. Und Deutschland hat wiederum einen Kaiser!

Gott schütze Kaiser und Reich!