Textdaten
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Autor: Ida Boy-Ed
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Titel: Nur ein Mensch
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 9-18, S. 261-271, 293-303, 325-332, 357-367, 389-400, 421-427, 453-459, 485-495, 517-528, 550-559
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[261]

Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.


1.

Es kam Achim von Körlegg vor, als könne er die quälende Unthätigkeit, zu welcher er sich schon seit zwei Monaten verurteilt sah, nun nicht einen Tag länger mehr ertragen. Als er die Festungshaft antrat, that er es mit tausend Vorsätzen und einem reichgegliederten Plan. Nicht nur dachte er eine ganze Reihe militärwissenschaftlicher Werke durchzustudieren, sondern seiner allgemeinen Bildung auf allen möglichen Wissenschaftsgebieten aufzuhelfen.

[262] Aber die starkgefüllte Bücherkiste ward nur zum kleinsten Teil ausgepackt. Achim fühlte, daß Studieren um des Studierens willen gar nicht seine Sache war. Er brauchte Gegendruck und Anreiz des praktischen Lebens. Mitten in demselben stehend, konnte er sich Stunden des Schlafes rauben, nur um eine Wissenslücke auszufüllen, die irgend ein Vorkommnis des Tages ihm offenbart. Und dann hatte er völlig die Vertiefung und Sammlung, die ihm hier, im einförmigen Lauf der Stunden, fehlte.

Vielleicht war der Frühling schuld, der ihn quälte.

Draußen im Lande, um Wälle und Gräben der Festung war ein Schimmern und Flimmern von jungem Grün der Wipfel, durch die der Wind strich, vom weißgelben Blühen der Wiesen und vom zitternden Silbergrau der Pappeln, die steilragend in langen Linien die Landstraße einsäumten. Wenn Achim auf dem Walle stand, ging sein Blick hinweg über die Ebene, die in zarten Farben reizvoll dalag, bis zum fernen Horizont, wo die blaßgräuliche Linie der Erde sich kaum noch vor dem blaßblauen Himmel abhob. Die Weite des Blickes und das Werden in der Natur machte es ihm doppelt qualvoll, an die eine enge Stätte gebunden zu sein.

Die Sehnsucht machte ihn beinah’ krank. Aber wonach er sich eigentlich sehnte, konnte er selbst nicht sagen.

Er rechnete sich täglich aus, wann die Begnadigung eintreffen könne. Daß er nicht die anderthalb Jahre hier bleiben werde, zu welchen er verurteilt worden war, unterlag keinem Zweifel. Eigentlich hatte er, wie die Sachen lagen, schon die kaiserliche Begnadigung viel früher erwartet.

Aber man konnte niemals wissen, durch was für kleine Zufälligkeiten und Äußerlichkeiten sie aufgehalten wurde.

Nun lief morgen der zweite Monat ab. Und als Achim von Körlegg von seinem Nachmittagsspaziergang heimkam, in sein mit spartanischer Einfachheit eingerichtetes Zimmerchen, dachte er: Morgen – gewiß morgen!

Er fühlte sich erschöpft und ärgerte sich, daß er einen einstündigen Spaziergang in den Gliedern spürte.

Wie ein nervöses Frauenzimmer, dachte er erbittert.

Auf seinem Tisch lag die Post. Er griff mit Gier nach den Sachen. Außer der Zeitung waren es drei Postkarten von Kameraden, eine Rechnung und ein Brief, der unter seiner Regimentsadresse an ihn abgesandt worden war, aus Amerika kam und ihm hierher nachgeschickt wurde.

Die Kameraden schrieben ihm scherzhafte Grüße und berichteten von einer Verlobung im Regiment.

Er hatte sich während des Winters für die betreffende Dame interessiert gehabt. Sie auch für ihn. Und er wußte: wenn jenes unselige Duell nicht dazwischen gekommen wäre …. wenn er seine Bewerbungen hätte fortsetzen können …. vorbei, vorbei! Es war alles so gleichgültig jetzt! Es lag so fernab in der Tiefe der Zeiten!

Er saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Der Tisch stand unter dem einen der beiden Fenster und that, als ob er ein Schreibtisch wäre, während vier ganz gemeine Holzbeine eine ebenso gewöhnliche Platte trugen. Achim hatte ihn mit Schreibzeug, Büchern und Papieren so beladen, daß er wie die Arbeitsstätte eines Gelehrten aussah.

Achim grübelte darüber nach, wieso ihm eigentlich der Wunsch nach einer ganz neuen Existenz aufgären konnte. Er liebte doch nach wie vor seinen Beruf. Er hätte gar nichts anderes sein mögen als gerade Offizier. Er liebte auch seine Kameraden, er durfte mit Wohlwollen oder mit Dankbarkeit an alle die Menschen denken, die der Zufall seinem Leben dienstlich oder gesellschaftlich beigeordnet hatte.

Er war sich bewußt, mit niemand in geheimer Abneigung oder offener Feindschaft zu leben.

Und dennoch war ihm wie einem, der am liebsten alle Schiffe hinter sich verbrannt hätte.

„Das sind überreizte Stimmungen,“ sagte er sich, „geboren aus der thatenlosen Einförmigkeit des Daseins.“

Und dann kam ihm ein ironischer Gedanke: Freilich, wenn man einen Menschen totgeschossen hat, ist das eine That, von der man sich lange ausruhen muß!

Er nahm den amerikanischen Brief in die Hand.

Von Robert Burry, dachte er. Der gute Junge ahnt von nichts.

Es war ihm mit dem Lesen nicht eilig. Der da geschrieben hatte, war ein Jugendfreund, der mit ihm zusammen Sekunda und Prima durchgemacht hatte. Aber seitdem führte Beruf und Nationalität ihre Wege weit auseinander. Achim von Körlegg trat in ein Garderegiment, und Robert Burry ging nach Washington zurück, sich der staatsmännischen Carriere zu widmen.

Achim war sich nie ganz klar darüber, ob der junge Amerikaner diese Jugendfreundschaft so zähe aufrecht erhielt aus wahrhafter Treue, oder um sich Beziehungen zu bewahren für den Fall einer Rückkehr nach Europa. Ebenso wußte er nicht, weshalb er selbst eigentlich immer antwortete. Vielleicht aus einer Art Pietät gegen frohe Jugendtage? Vielleicht um dann und wann aus einer andern, freieren Welt etwas zu hören, an dem er sich erheitern konnte, nach den landläufigen, harmlosen kleinen Schimpfereien im Kameradenkreis.

Ach diese Schimpfereien! Achim lächelte in sich hinein. Ueber was alles raisonnieren die jungen Lieutenants nicht? Gleichsam bloß zu einer Art Geistesgymnastik. Und was für lächerliche kleine Vorkommnisse so im Garnisons- und Kasinoleben zu Ereignissen aufgebauscht wurden, die man tagelang erregt besprach!

Er hatte nun wirklich was erlebt! Und das war so groß, so ernst, daß ihm jetzt noch däuchte, er könne nie wieder am Kleinkram des Dienstes wichtiges Interesse nehmen.

Wer weiß, dachte er plötzlich, es war vielleicht Schicksalsfügung, daß Robert und ich aneinander festhielten? Wenn ich hinüberginge .... ich könnte mich ein Jahr à la suite stellen lassen – es wäre eine große, einschneidende Abwechselung ....

Beinahe hastig riß er den Briefumschlag ab.

Robert Burry schrieb eine große Handschrift und reihte sie in weit voneinander abstehenden Linien hin. So stand auf zwölf Seiten kaum mehr, als ein hingebender Briefschreiber auf zwei Seiten bringen konnte.

 „Lieber Achim!

Vor acht oder zehn Wochen sandtest Du mir Deine Photographie. Ich danke nicht vor heute, weil ich inzwischen gewesen bin im Auftrage meiner Regierung nach San Francisco. Den langen, etwas mageren und faden Primaner – mit ‚fade‘ meine ich bloß die Farben – ich erkannte kaum wieder. Du siehst entschieden Frithjof Nansen ähnlich – vielleicht eine Kleinigkeit mehr Fülle im Wangenoval. Und, es scheint Dein helles Blond nachgedunkelt. Vielleicht aschgrau?

Also ein schöner Mann alles in allem geworden? Energisch, ein bißchen düster sogar? Oder hat der Photograph nur vergessen zu sagen: bitte, freundlich! Wann werde ich sehen das Original dieses interessanten Bildes wieder? Zwar sind erheblich meine Aussichten, einmal als Gesandtschaftsattaché nach Berlin zu kommen. Mein Vater bohrt dafür. Und wenn James Burry was will, wird es auch. Aber momentan ist keine Vakanz und wenn auch: zwei, drei Jahre es kann für mich noch dauern.

Aber Du? Mußt Du denn ‚drillen‘ ewig Rekruten? Du bist doch pekuniär unabhängig. Für deutsche Begriffe sogar wohlhabend. Also nimm mal einen Urlaub – so sechs Monate oder mehr wird sich die deutsche Armee behelfen ja wohl ohne den Premierlieutenant von Körlegg. Obenein: ich habe da was gelesen. Du weißt, ich halte zwei deutsche Zeitungen. Die Kreuzzeitung und – die Frankfurter Zeitung. Als Diplomat – –

Aber die erste Nachricht muß mir entgangen sein. Ich sah nur die zweite, die zu künden schien den letzten Akt eines Dramas. Du bist verurteilt zu einer langen Festungshaft infolge Duellvergehen? Wenn das einem Offizier passiert, bleiben die Jahre und Monate bei Euch ein papierner Scherz und so wirst auch Du vielleicht längst sein begnadigt. Aber Duelle haben Gründe und die Gründe sind manchmal peinlich. Der Pistolenschuß verknallt und verhallt – die Ursache steht noch da. Besonders wenn es ist ein Weib.

Ich bin nicht neugierig, aber ich sage: sitzest Du in Zuständen oder auch nur in Stimmungen, die Dir erscheinen lassen einen Luftwechsel für einige Zeit angenehm und nervenbekömmlich, so packe ein und komm her! Erst zeige ich Dir Washington und [263] dann New York, später gehen wir an die See. Mein Vater hat eine Villa in Newport. Da wirst Du sehen was ist Leben. Du wirst merken Unterschiede. Wie zwischen einem netten kleinen Ruderboot und einer prachtvollen Dampfjacht. Und Du wirst auch kennenlernen meine Cousine Miß Ethel Burry. Sie hat zehn Millionen Dollars, lieber Achim. Und der alte preußische Adel steht bei uns ebenso hoch im Kurse. So es sich gleicht aus. Aber darüber hinaus: sie ist ein lovely girl. Mich will sie nicht. Mir gönnte ich sie am liebsten. Aber weil da nichts zu machen ist: demnächst Dir.

Ich erwarte Deine Nachricht: mit dem und dem Schiff komme ich – Robert, sei in Hoboken. Und Du findest pünktlich zum Empfang zur Stelle
Deinen alten Robert.“ 

Achim fühlte sich erfrischt und beglückt. Also seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Von dem Jugendfreund kam ihm ein Wink zur Neugestaltung des Lebens. Er wollte über den Ocean gehen, da war Vergessen, da waren Ereignisse!

Und er lechzte nach Ereignissen. Irgend etwas mußte geschehen, ihn aus dem Grau seiner Tage hinaus zu retten in den vollen Sonnenschein.

Er vergaß in diesem Augenblick ganz, daß Robert ihn beinahe in jedem Brief mit ähnlichen Worten einlud und daß er ihm diese Millionen-Cousine und noch einige andere Erbinnen als Lockspeise schon öfters vorgehalten. Früher hatte er diese Hinweise Roberts belächelt und gedacht: „So ein Amerikaner kann sich’s wohl gar nicht anders vorstellea, als daß man nach Geld heiratet.“

Und wenn er den Kameraden diese Hinweise auf reiche, schöne Amerikanerinnen vorlas, hatte sich wohl scherzhaft der eine oder andere erboten, anstatt seiner hinüberzugondeln und die Dollars einzufangen.

Heute lachte er nicht. Er bildete sich abergläubisch ein, daß das ein Zeichen sei, und fühlte sich plötzlich wieder dem Freund so nahe wie in den Primanertagen. Gc hatte Robert lieb. Er machte sich Vorwürfe, diese Liebe so lange vor sich selbst verleugnet zu haben. Und er setzte sich hin, in einem langen, langen Briefe sein Herz zu entlasten.

Er schrieb den ganzen Abend und schrieb am nächsten Vormittag weiter. Ihm wurde wohl und leicht und vieles, was er bis dahin nur dumpf empfunden, klärte sich zu Worten, formte sich zu Erkenntnissen. Es war kein Brief, es war beinahe ein Manuskript. Und es lautete:

 „Mein alter Junge!

Die Photographie, zu welcher Du so schmeichelhafte Randglossen machst, habe ich Dir nicht vor acht oder zehn Wochen, sondern vor rund vier Monaten geschickt. Aber es ist mir lieb gewesen, daß Du mir erst jetzt, gerade jetzt erst, den Empfang anzeigst. Dein Brief konnte in keinem günstigeren Augenblick zu mir kommen. Ich hatte es gerade verzweifelt nötig, daran erinnert zu werden, daß die Welt groß und weit ist und daß ich vielleicht in neuen, fremden Verhältnissen das finde, wonach meine ganze Seele sich sehnt: unbekümmerte Frische, interessanten, zerstreuenden Inhalt für mein Leben. So entschloß ich mich denn, fast noch ehe ich Deinen Brief gelesen hatte, nur auf den Anblick Deiner Handschrift und den der amerikanischen Freimarke hin, eine mehrmonatige Reise nach Amerika zu machen und mich so lange à la suite stellen zu lassen. Denn meine Zukunft kann ich mir schließlich doch nicht anders denken als im Soldatenrock. Ich will nichts aufgeben. Ich will bloß ein Intermezzo. Es kann sein, daß ich sehr bald komme. Am Tage, wo die Begnadigung eintrifft, die stündlich zu erwarten ist, werde ich sogleich mein Gesuch, betreffend die à la suite-Stellung, einreichen. Zugleich werde ich meine Versetzung in ein anderes Regiment beantragen. Was das für einen deutschen Offizier heißt, aus seinem Regiment zu scheiden, wo er seit seinen kindlich wichtigen Avantageurtagen gestanden hat, kannst Du nicht begreifen. Aber das wirst Du begreifen, daß es immer auch nicht leicht ist, Berlin als Garnison aufzugeben, um vielleicht in irgend einem Provinznest weiter zu vegetieren. Warum? Das nachher.

Erst will ich Dir noch sagen, daß ich im Prinzip auch nicht abgeneigt bin, mich drüben zu verheiraten. Deine Cousine Ethel Burry mit ihren zehn Millionen Dollars kommt hierbei natürlich nicht in Betracht. Das ist zu viel für einen einfachen adeligen Infanterieoffizier der Linie – denn mit der Garde ist es wohl vorbei –. Du bist so höflich, zu bemerken, der alte Adel stehe hoch im Kurse drüben. Jawohl: wenn er eine Grafen- oder Herzogskrone bieten kann oder eine große Stellung bei Hof. Mir eine solche mit dem Gelde meiner Frau zu machen, widerstrebt mir total, obschon ja an und für sich bei keinem Lieutenant, auch mir nicht, Geld ein Hindernis für Liebe ist. Bei uns ist ja nun einmal, wenn vom Heiraten die Rede ist, auch fast immer vom Geld die Rede – darum sind thatsächliche Geldheiraten aber doch selten, während es häufig, zu häufig vorkommt, daß ein junger Offizier und ein junges Mädchen mit wehem Herzen aufeinander verzichten müssen, weil’s eben am Gelde fehlt. So haben wir uns denn gewöhnt, da wir ein Weib nicht ernähren können, wenn wir kein Familienvermögen haben, immer gleich von vornherein jedes Mädchen auf ihre mögliche Mitgift zu taxieren.

Ich, der ich eine auskömmliche Rente habe, sah mir die heiratsfähigen jungen Damen ohne diese Nebengedanken an. Aber in Amerika werde auch ich immerhin fragen: wieviel? Was man einer deutschen jungen Dame als treffliche Versorgung bieten kann, möchte den Damen Deiner Kreise vielleicht lächerlich bescheiden vorkommen. Aber reich, in Eurem Sinne reich, darf sie nicht sein. Ich liebe die Gesundheit und das Gleichgewicht in allen Dingen. Es soll ein gewisser pedantischer Zug in mir sein, sagen meine Freunde. Weißt du noch: auf der Schule sagten sie, der Mangel an Ueberschwang in Dir und mir mache, daß wir so gut zusammenpaßten.

Bei Dir war dieser Mangel ein Zeichen klarsten, zielbewußten Verstandes. Bei mir war’s vielleicht die Furcht vor dem Ungewöhnlichen.

Denn es hat sich nun klärlich an mir erwiesen, daß all meine seelischen Organe gerade bloß für das Korrekte ausreichen. Oder schätze ich mich da nicht richtig ein? Ist es das Landläufige, daß jeder, der etwas erlebt, denkt: Ich nehme mir das zu sehr zu Herzen! – Ich leide mehr, als ich andere unter ähnlichen Verhältnissen leiden sah. Man hält sich, in naiver Arroganz, vielleicht immer für tiefer und intensiver an Gefühl als seinen Nebenmann rechts und links.

Trotzdem sehe ich die Sachen nicht sentimental an.

Ich bin Edelmann und Offizier. Die Redereien und Schreibereien über das Duell gehen an meinem Ohr und an meinem Auge vorbei. Solange mir nicht jemand zu sagen vermag, was ich thun und fühlen soll, wenn meine Ehre angegriffen wird, oder die Ehre meiner Mutter, meiner Schwester, meines Weibes, meiner Tochter, oder wenn man heilige Begriffe wie Kaiser und Vaterland vor meinen Ohren roh besudelt, solange werde ich elementar fühlen: d.h. ich werde als Mann zur Waffe greifen.

Und trotzdem, lieber Robert – – ein Menschenleben! Ja, das ist etwas seltsam Großes.

Oder wird es nur so wuchtend, so groß, so bedeutungsvoll durch die Umstände?

Mein alter Onkel Körlegg – Du erinnerst Dich seiner? – sprach oft zu mir vom Kriege. Er hat ihn als Hauptmann mitgemacht. Seine Brust ist voll Orden, sein Leib voll Wunden. Er war ein Held und Mann. Und weißt Du, was er sagt? Er sagt: der Mensch an sich ist eine feige Bestie. Scham vor dem Nebenmann und eiserne Disciplin hindern ihn zu fliehen. Aus Naturtrieb zöge keiner in den Kampf. Die meisten hatten bleiche Wangen, und ein heimliches Zittern war in ihnen allen. Bis der erste Schuß fiel. Bis der erste Kamerad tot hinstürzte! Dann wurden sie Berserker! Voll Wut und Mut stürzten sie auf den Feind. Tod und Wunden waren nichts mehr. Der Anblick des ersten Blutstropfens hatte sie zu Helden gemacht. Ja, zu lachenden Helden, die Rache wollten.

Das war in der Masse. Da war es nicht der Mensch, der den Menschen tötete. Das war ein Volk, das seine Heiligtümer verteidigte.

Nun, ich habe auch ein Heiligtum verteidigt.

Ist das denn gleich so etwas anderes: einer gegen einen?!

Meinen alten Verwandten, denselben, der mit einer objektiven Psychologie die naturgemäße und verborgene Feigheit vor der [264] Schlacht, die auch er selbst fiebrisch in sich gespürt, mir aufdeckte, sah ich mit leuchtenden Augen erzählen, wie er einen französischen Lieutenant niedergeknallt habe, als derselbe eine Schmähung gegen unsern König ausstieß.

Ich habe dasselbe gethan mit einem deutschen Mann, aber meine Augen, glaube ich, leuchten nicht.

Der Mann war nicht mein Freund, ich kannte ihn kaum, was ich von ihm gesehen, war unsympathisch – und dennoch: ich möchte, er lebte! Ich möchte, meine Kugel hätte ihm einen Denkzettel geschrieben, aber keinen Totenschein. Ich schoß auch nicht, um zu töten. Aber mein ‚Ziel‘ bewegte sich, und anstatt in den Arm ging meine Kugel ins Herz.

Hiernach, lieber Robert, siehst Du, daß ein Weib nicht ins Spiel kam und daß ich nicht in romantisch verworrenen oder gar schuldvollen Verhältnissen stecke. Die Leidenschaften aller Art sind mir immer noch fern geblieben. Vielleicht bin ich nicht disponiert dafür. Wenn ich andere in Flammen sehe, bin ich voll Staunen und Mitleid. Voll Staunen, wenn das Feuer schnell erlischt und immer neu sich erzeugt, voll Mitleid, wenn es vernichtet. Möchte mich nie etwas ergreifen, mich nie etwas treffen, das mich aus meiner ruhigen Bahn reißt.

Also keine Romane! Aber eine klare, schöne, gute Ehe. Die Gelegenheit dazu finde ich hoffentlich drüben. Denn es hat viel Reiz für mich, mir eine Frau aus Verhältnissen zu holen, die von den unseren ganz verschieden sind. Ich denke mir, daß so eine Frau den Mann ganz besonders beschäftigen muß. Beschäftigt sein, ist schon beinahe Glück. Wenigstens erscheint mir das jetzt so, im Stillleben meiner Festungshaft.

Und wenn es Dir recht ist, wollen wir kein Wort sprechen über mein letztes Erlebnis! Es soll für mich begraben sein, vom Augenblick ab, wo ich Europa verlasse. Damit Dir aber in demselben nichts verborgen bleibe und damit Dir auch mein Seelenzustand ganz ohne Rückstand aufgehellt werde, will ich Dir alles ganz genau berichten.

In unser Regiment ist seit etwa einem halben Jahr ein Herr von Zeuthern eingetreten. Er ist ein tüchtiger junger Mensch, mit einer Neigung, leicht heftig, ja ausfallend zu werden, deren er sich wohl bewußt war, die er als Familienanlage bezeichnete und stets so wacker zu bekämpfen strebte, daß wir, wenn es ihn doch einmal hinriß, Nachsicht übten und seine Worte nicht wogen. In unserm Regiment herrscht ein wahrhaft brüderlicher Geist, ich schrieb Dir schon oft davon. Jedes neu eintretende Element wird zunächst als Störung empfunden, aber das Bestreben ist allgemein, es zu assimilieren. Bald hatte Zeuthern sich denn auch eingelebt, vielmehr er war eingelebt worden! Er hatte einen Bruder in Berlin, einen verheirateten Bruder mit zwei kleinen Kindern und einer Frau, die sehr schön sein soll. Dieser Bruder war Regierungsassessor gewesen. Aber er war nicht mehr im Dienst. Es hieß, er sei ein mißvergnügter Nobile, zu rechthaberisch, um sich seinen Vorgesetzten zu fügen, erbittert und gekränkt, weil der Staat seine Dienste entbehren wollte. Zeuthern führte niemand von den Kameraden dort ein. Wir waren zu diskret, nachzuforschen. Man brauchte auch noch nicht gerade Ungastlichkeit und Militärfeindlichkeit anzunehmen. Die Gründe schienen doch auf der Hand zu liegen: jemand, dessen einziger Lebensinhalt es ist, auf die Regierung zu schimpfen, lädt sich dazu nicht gerade Offiziere als Zeugen ein.

Doch hatten einige von uns den älteren Zeuthern flüchtig kennengelernt. Es kam wohl vor, daß er seinen in der Kaserne wohnenden Bruder besuchte und mit ihm abends einige Augenblicke im Kasino erschien. Alle Kameraden waren darin einig, daß der Regierungsassessor keine besonders gewinnende Persönlichkeit sei. Trotzdem kam ein Tag, wo wir ihn als Gast an unserer Tafel im Kasino hatten.

Der junge Zeuthern hatte seinen Geburtstag, der nach Regimentssitte hoch gefeiert wurde, zumal es der erste Geburtstag war, den er in unserm Kreise beging.

Das Geburtstagskind pflegt an solchem Tag bei Tisch neben dem anwesenden Rangältesten zu sitzen, also neben unserm noch immer unverheirateten Hauptmann von Steineck.

Das ist sonst, als ältestem Premier, mein Platz. Weil nun die beiden Zeutherns eingeschoben wurden, saß ich Ellbogen an Ellbogen mit dem Assessor.

Wir tranken scharf. Mein Gott, das ist nun einmal so. Der Deutsche kann nicht anders, scheint’s. Zur Festlichkeit gehört eben immer ein bedeutender Konsum von alkoholischer Flüssigkeit. Zumal bei Soldaten. Wir wurden etwas zwanglos. Doch nicht so, daß von Trunkenheit oder Sinnlosigkeit die Rede sein konnte. Ich hatte mit einem gewissen Vorsatz meine Unterhaltung mit Zeuthern in sehr wohltemperierter Art belassen, über alle Dinge nur so hinspielend, ganz konventionell und doch sehr beflissen, keine Pause eintreten zu lassen. Wir nennen das jemand ‚ansohlen‘. Zeuthern schien denselben Vorsatz zu haben, an der Oberfläche zu bleiben. Aber seine Vorsätze ertranken allmählich in Heidsieck. Er wurde aggressiv. Die natürlich einseitig gefärbte Darstellung seiner Verabschiedung hörte ich mit schicklicher Teilnahme an, ohne dies und jenes Wort gegen den Landesherrn, das ich anderswo schon nicht hätte dulden dürfen, scheinbar zu beachten. Zeuthern war unser Gast. Wollte er darauf keine Rücksicht nehmen, mußten wir es, so lange es ging. Aber der Augenblick kam, wo es nicht mehr ging.

Zeuthern wurde laut. Die Umsitzenden, allen voran der vor Schreck schon völlig ernüchterte und erblaßte Bruder, wurden aufmerksam. Steineck flüsterte dem Lieutenant zu, lieber den Bruder auf schickliche Weise hinauszuführen.

Der Assessor stieß die leise mahnende Hand des Bruders zurück.

Nie werde ich das Bild vergessen:

Der ganze Raum, lang und schmal wie er ist, war von blauem Dunst erfüllt, in wagerechten Lagen ruhte darin der dicke, weißliche Cigarrendampf. Die Flammen der beiden Gaskronen schienen trübe zu brennen, wie fünf rötliche Monde hingen die Glaskuppeln über der Tafel, oben und unten. Auf dem weißen Tischtuch herrschte eine wüste Unordnung, zerknüllte Servietten lagen zwischen Gläsergruppen, Aschbecher standen daneben. Herr von Löhner hatte die Fruchtschale an sich herangezogen, hinter den drei Etagen derselben sah man immer Teile seines Gesichts in lächerlichen Abschnitten. Er suchte sich Mandeln zwischen den Apfelsinen heraus und knackte sie auf. Und all die andern Gesichter waren uns zugewandt, mit aufmerksamem, unbehaglichem Ausdruck auf den roten, erhitzten Zügen. Steineck spielte mit nervösen Fingern Klavier auf der Tischkante; der junge Zeuthern zerrte seinen Bruder am Arm.

Und das häßliche, von Triumph und Schadenfreude vollends entstellte Gesicht des keifenden Mannes sah ich dicht vor mir.

‚Sie sind Offizier, Herr‘ schrie er mich an, ‚das heißt, Sie sind von Berufs wegen ein mundtoter Mann. Sie haben keine Meinung, kein Urteil – nicht mal Gedanken. Still haben sie zu sein. Immer bloß stille! Was wollen Sie mir sagen: ich ginge zu weit? Sie? Haben Sie Ansichten? Haben Sie Kritik? Sie können mir leid thun! Wenn der Kaiser sagt, dies Tischtuch ist schwarz, ist es für Sie schwarz, und wenn er sagt, es ist blau, na da ist es eben für Sie blau?‘

Der junge Zeuthern sprang auf.

‚Hören Sie ihn nicht! Ich flehe Sie an. Komm, komm – du hast zu viel getrunken,‘ rief er außer sich.

‚Nein,‘ sagte ich so laut ich konnte und auch so ruhig ich konnte, ‚ich höre ihn nicht. Sonst müßte ich ihm sagen, daß der Kaiser sein Heer nicht von Marionetten, sondern von denkenden Männern ausbilden läßt. Sie haben recht, lieber Zeuthern, Ihr Bruder hat vielleicht etwas zu viel getrunken, es ist besser, Sie veranlassen ihn, sich zurückzuziehen.‘

Der unselige Mensch riß sich mit Gewalt aus seines Bruders ihn thürwärts zwingenden Armen. Er trat dicht an mich heran, so dicht, daß ich seinen Atem voll Weindunst widrig spürte.

‚Betrunken soll ich sein,‘ schrie er, ‚weil ich nicht auf den Knieen rutsche vor Euren Götzenbildern? Weil ich in meiner Sache meine Meinung habe? Elende Byzantiner seid ihr alle, wie es ja auch nicht anders sein kann ...‘ Und nun folgte eine Beleidigung des ehrwürdigen greisen Fürsten, der uns das Reich gegründet, die ich auch jetzt nicht wiederholen mag.

Ein ungeheurer Lärm entstand. ‚Und Sie sind ein dummer Junge,‘ fuhr der Rasende fort, sie alle überschreiend, ‚der nichts versteht, als seine Soldaten mißhandeln.‘

Ich stieß ihn zurück, mit harter Faust, blind vor Zorn.

[266] Alle waren aufgesprungen und umringten uns. Zehn, zwölf klammernde Hände hielten Zeutherns beide Arme.

Der junge Zeuthern stand mit gefalteten Händen vor Steineck wie ein jammerndes Kind.

Man brachte den Forttobenden und Weiterschimpfenden hinaus und ließ ihn unter Aufsicht seines Bruders in eine Droschke setzen.

Am andern Morgen trat sofort der Ehrenrat zusammen. Aus kameradschaftlichem Mitgefühl für den jungen Zeuthern zeigte man sich bereit, auf seiten des Beleidigers Trunkenheit als Milderungsgrund anzunehmen. Ich ließ ihn für den mir applizierten ‚dummen Jungen‘ gelten; aber nicht für die Schmähung des Andenkens Kaiser Wilhelms I. Nur wenn Assessor von Zeuthern hätte ehrenwörtlich die Erklärung abgeben können, er wisse von nichts mehr, durfte man doch sinnlose Trunkenheit annehmen. Dieser aber erklärte, absolut nüchtern gewesen zu sein und nichts zurücknehmen zu wollen. Der junge Bruder meldete sich sofort beim Oberst, und es wurde vereinbart, daß der Lieutenant gleich eine achttägige Urlaubsreise anzutreten habe. Er wollte und konnte seines Bruders Sekundant hierbei nicht sein, für ihn gab es nur einen Ausweg: nicht einmal als Zeuge an der Sache beteiligt zu sein.

Dies, mein lieber Robert, war die Vorgeschichte des Duells. Ich habe die Beleidigung selbst nicht aus meiner Feder gebracht. Das verstehst Du.

Indem ich Dir alles so ruhig erzähle, drängt sich mir klarer als jemals die Erkenntnis auf, daß ich in einer ähnlichen Lage immer wieder so handeln müßte und würde handeln wollen. Es konnte von einer Freiheit der Entschließung gar nicht die Rede sein; die äußerlichen Umstände banden den Willen ebensosehr wie das eigene angeborene und anerzogene Empfinden.

Also kann ich von Reue nicht sprechen, und ich bereue auch nichts.

Ich habe einen Menschen erschossen, der mir voll böser Absicht selbst in die Schußlinie gelaufen ist. Das ist alles. Ich bin nicht dafür verantwortlich.

Und dennoch, lieber Robert, dennoch ist seitdem irgend ein kranker Punkt in mir. Ich kann beinahe sagen: ich bin monoman geworden, ich denke nur immer an den Toten, sein Weib, seine Kinder.

Meine Gedanken kreisen um diese Familie, die ich nicht kenne und vermutlich niemals kennen werde.

Das, was ich so an äußerlichen Daten erfragen konnte, habe ich erfragt von den Kameraden, mit denen der junge Zeuthern naturgemäß nach diesem Vorfall etwas offener über seinen Bruder und dessen Verhältnisse sprach als vordem. Ich weiß, daß der Erschossene sein erhebliches Vermögen und auch das seines Bruders an der Börse verspekulierte und daß auch weitere Zeuthernsche Familienmitglieder stark geschädigt sein sollen.

Und mir kommen Gedanken: wenn mein Schuß fehlgegangen wäre! Wenn der Mann noch lebte! Vielleicht konnte er dann seine Spekulationen ruhig abwickeln, er konnte sie zu einem glücklichen und gewinnbringenden Ende führen! Durch mich im Grunde, durch mich sind diese Leute verarmt.

Der Bruder bekommt von einem alten Onkel mütterlicherseits nun eine auskömmliche Zulage; auch der Witwe und den Kindern giebt dieser gute alte Mann eine kleine Rente.

Mir ist, als bezahlte da ein Fremder meine Schulden. Und doch möchte ich mich verspotten wegen solcher Gedanken.

Die Frau ist die Tochter eines sehr wohlhabenden Gutsbesitzers; sie würde wohl in ihr Elternhaus zurückkehren, heißt es.

Das ist nie leicht. Da geht jemand in die Abhängigkeit zurück, der schon selbständig war. Und das ist die Folge meiner That.

Aber das sind nur die äußerlichen Folgen.

Ich zermartere mein Hirn mit viel schwereren Fragen.

Habe ich da ein seliges Eheglück zerstört? Hat die Frau diesen Mann sehr geliebt? Wenn man ihn sah und so erkannte, wie wir ihn erkennen mußten, erschien es unmöglich, daß ein Weib sich ihm anders als im Jugendirrtum gegeben haben sollte. Wenn man seinen Blick und seine Züge sich vergegenwärtigt, muß man glauben, daß er als kleinlicher Tyrann eher ein Weib gequält, denn beglückt habe.

Dennoch – dennoch! Frauenherzen haben ihre wunderlichen Neigungen. Dieses Weib, das ich nicht kenne und deshalb nicht beurteilen kann, hat diesen Mann, der uns Männern so widerwärtig schien, doch vielleicht geliebt.

Dann hab’ ich Eine einsam gemacht, die vorher mit dem Gefährten im Glücke stand. Dann lebt in der Seele einer mir fremden Frau ein Haß gegen mich. Dann verfolgen mich harte Gedanken, und ein stiller Rachewunsch geht mir unsichtbar überall nach. Und ich kann nicht einmal hingehen und ihr sagen: Verzeihe mir!

Er hatte auch Kinder! Zwei kleine reizende Kinder. Steineck hat ihr Bild in Zeutherns Zimmer gesehen. Es sollen ein paar süße Dinger sein, mit großen dunklen Augen und dunklem Haar, das ihre Wangen umrahmt.

Kinder! Haben wir, die wir noch nichts von der Ehe wissen und noch nichts vom Vaterglück, haben wir jungen Männer es nicht rings in unsern Kreisen hundertmal beobachten können, daß auch ein tyrannischer, unliebenswürdiger Ehemann als Vater noch seinen Charme und seine Milde haben kann? Vielleicht war dieser verbitterte, gehässige, heftige und heimtückische Mann seinen Kindern ein rührender, hingebender Vater?

Vielleicht liebte er sie so leidenschaftlich, daß es ihn nur ihretwegen so empörte, aus seiner Carriere gestoßen zu sein, vielleicht ließ er sich nur, um ihnen ein Vermögen zusammenzuraffen, zu blinden Spekulationen hinreißen?

Was für einen Erzieher, was für einen Versorger habe ich ihnen dann genommen! Wieviel Treue, wieviel Wachsamkeit ihrer Kindheit und Jugend geraubt!

Wie wird sich die Entwicklung und das Leben der Vaterlosen gestalten?!

Wird der erste männlichere Gedanke des kleinen Jungen nicht ein Zornesgedanke sein gegen mich, der ihm den Vater erschoß?

Wird das kleine Mädchen, wenn es heranwächst, sich nicht mit ihrer Mutter vereinen im Haß gegen mich?

Und ich, der ich ihnen den Ernährer, den Erzieher, den Beschützer genommen habe, ich kann ihnen den Verlorenen nicht einmal ersetzen. Ich müßte diesen Kindern sorgsam aus dem Wege gehen, wo immer ich sie träfe.

So, mein lieber Robert, streiten sich mein Verstand und meine Empfindungen in mir herum.

Vielleicht ist dies ganz natürlich, und nur ein in Roheit verhärteter Mann würde frei von diesem Gedankenballast sein.

Daß es Ballast ist, den ich nicht dauernd mit mir herumschleppen darf, wenn ich wieder ein frischer, leistungsfähiger Offizier werden soll, das ist gewiß. Ich darf auch wohl annehmen, daß mein derzeitiges thatenloses Leben alles mir schwerer und unüberwindlicher erscheinen läßt, als es ist. Und ich darf auch wohl hoffen, daß so gänzlich neue Eindrücke, wie eine mehrmonatige Reise nach Amerika sie mir natürlicherweise bringen muß, mein Blut wieder leichtflüssiger machen. Ein lustig hüpfender Quell ist es ja von Hause aus nie gewesen.

Mein Gedächtnis und meine Phantasie sind mir üble Gefährten gewesen in dieser Zeit. Sie waren allzuthätig. Und sind doch unsere besten Freunde und – unsere intimsten Feinde.

Wie danke ich Dir, Robert, daß Du mir die Gelegenheit gabst, mich auszusprechcn. Mir scheint beinahe, als ob mir schon fröhlicher ums Herz sei.

Das Bild, welches mir der Blick aus dem Fenster über meinem Schreibtisch zeigt, erscheint mir nicht mehr so kerkerhaft. Auf der Mauer drüben, die zur Wohnung des Kommandanten gehört, prallt der Sonnenschein. Er läßt diese Mauer gradezu impertinent rot und neu und poesielos erscheinen – aber es ist doch immer Sonnenschein. Anstatt auf einer Mauer, die zum Gebäudekomplex einer Festungskommandantur gehört, werde ich die Sonne sehen auf blauen, blitzenden, rastlosen Wogen.

[267] Und wenn ich heimkomme, wird mich nichts mehr an dieses trübe Ereignis mahnen: ich kehre nicht in mein Regiment zurück. So sehr der junge Zeuthern auch seinen Bruder verdammt, er ist eben doch immer der Bruder! Und es ist taktvoller, daß wir beide nicht Tag für Tag aus derselben Schüssel unsere Suppe geschöpft bekommen. Wie ich schon sagte: ich lasse mich versetzen.

Dieser Brief hat Dir gezeigt, wer ich zur Zeit bin: ein Reueloser, ein Unschuldiger, der einige von den Lasten eines Reuigen und Schuldigen aufgebürdet bekam.

Bei Dir hoffe ich sie abzuwerfen. Die nächste oder übernächste Post bringt Dir die kurze Kunde, wann und mit welchem Schiff ich eintreffe. Deinem Vater empfiehl mich voll Verehrung.
 Von Herzen
Dein Achim.“ 


2.

Durch den tobenden, rastlosen Lärm der Prenzlauer Straße fuhr der Straßenbahnwagen in schneller Fahrt dahin. Achim saß schon im Reisecivil in der vorderen rechten Ecke und sah gedankenlos zum Fenster hinaus. Draußen zogen, bunten, verworrenen Flecken gleich, die Häuser vorüber mit ihren prahlerischen Firmeninschriften auf weißem Grund, ihren Ladenfenstern, hinter denen die Waren aufgebaut waren. Das Auge konnte kein Bild genau festhalten, Linien und Farben wechselten zu schnell. Und wenn man die lange Straße hinauf und hinunter sah, schien sie von einem graugelben, silbrig schimmernden Dunst erfüllt. Auf dem Fahrdamm und Bürgersteig wimmelte es von Fuhrwerken und Menschen.

Das war Leben. Das Leben, von dem Achim so lange getrennt gewesen war. Aber es that seinem Auge und seinem Ohre weh. Er wünschte, alles möchte mal einen Augenblick stille stehen und stille sein. Die Stadt erschien ihm wie ein ungeheures Wesen, das nie recht tief Atem schöpft, sondern immer nur daran denkt, schnell weiterzuhetzen, sich und andere. Wozu? Warum?

Es ging ihm fast wie einem Kranken, der nach langen Wochen, in denen er nur sich gelebt, alle Vorgänge in der Welt sehr unwichtig, sehr unbedeutend findet und dem es vorkommt, als sei die frühere Anteilnahme an Menschen und Dingen nur ein eingebildetes Interesse gewesen, das man ganz gut entbehren könne.

Er hatte geglaubt, wenn er nur Berlin wiedersähe, würde ihm das frische, quellende Leben eine große Wohlthat sein. Aber nun machte ihn die Riesenstadt nervös und die trockene Mailuft, die in den Tagesstunden mit Staub und allen Dünsten der Großstadt sich langsam und ganz füllte, schien ihm unerträglich.

Er ordnete so rasch, als es irgend angängig war, seine kleinen Geschäfte. Seinen Abschied vom Regiment hatte er gestern gefeiert. Der junge Zeuthern war fern geblieben. Alle Kameraden zeigten ein besonders herzliches Bestreben, heiter und brüderlich dem Scheidenden die Stunden angenehm zu machen. Aber er selbst vermochte nicht in Stimmung zu kommen. Er sagte sich, daß es Unsinn sei, sich bedrückt zu fühlen, und fühlte sich doch so.

Auch that der Abschied weh, verzweifelt weh. Sechzehn Jahre lang hatte man in Freud’ und Leid sich Eins mit dem Regiment gefühlt, sechzehn Jahre lang mit den älteren Kameraden zusammen treu Dienst und Geselligkeit geteilt, hatte den jüngeren Nachwuchs erziehen helfen und war so fest, so fest verwachsen, daß es beinahe unfaßlich schien, sich trennen zu müssen.

Ja, wenn es eine Kommandierung gewesen wäre, die ihn zugleich mit seiner Beförderung zum Hauptmann in ein anderes Regiment versetzte! Aber so! So unfreiwillig-freiwillig! Es war ihm hart angekommen. Auch den Kameraden. Sie waren alle tief bewegt gewesen bei den letzten Umarmungen und seinen Schwüren, das Regiment nie zu vergessen und es oft besuchen zu wollen. Der Fähnrich hatte sogar geweint. Der durfte noch weinen. Er war „das Kind“.

Achim aber biß noch die Zähne zusammen in diesem Augenblicke, als er dahinfuhr, unter fremden Menschen, die neben ihm stumpfsinnig oder ungeduldig auf den blanken Bänken saßen, fortgezogen von automatenhaft trottenden Pferden durch den rohen Lärm der Straße.

Er hatte ein besonderes Ziel. Ein Gefühl, das zu übermächtig war, als daß er nur den Versuch gemacht hätte, ihm zu widerstehen, zwang ihn, das Grab seines Toten zu besuchen, bevor er noch mit dem Nachmittagszug nach Bremen abreiste.

Er fürchtete wohl, er würde, wenn ihn morgen das Schiff auf die See hinaustrug, das Bild dieses Grabes mit sich hinwegnehmen. Es würde vielleicht sein Gedächtnis empfindlich beschweren; er würde sich noch mehr belasten. Aber er mußte sehen, wo sein Toter lag.

In seinen Gedanken nannte er ihn so: „mein Toter“.

Er hatte sich genau die Stelle von Steineck beschreiben lassen. Auf dem Begräbnisplatz der Marien-Gemeinde, dicht vor dem Prenzlauer Thor, hatten Zeutherns ein Familiengrab. Seit zwei oder drei Generationen waren sie in Berlin ansässig gewesen, ärmlich stille aber vornehme Leute, die erst durch die Heirat desjenigen Zeuthern, welcher der Vater des Assessors und des Leutnants gewesen, wieder zu Geld kamen. Und dieser Zeuthern hatte ein stattliches Grab mit schönem Denkmal gestiftet, in welches er dann auch noch die Gebeine seiner Eltern und Großeltern bringen ließ.

„Man kann es gar nicht verfehlen,“ sagte Steineck, „ein hohes schwarzes Marmorkreuz steht zu Häupten; auf der großen schwarzen Marmorplatte sind die Namen sämtlicher Zeuthern beiderlei Geschlechtes in Gold eingegraben. Eine ganze Zeuthern-Genealogie.“

An der Haltestelle verließ Achim den Wagen.

Langsam ging er unter der die Straße einsäumenden Mauer des Friedhofes hin.

Die Spitzen schlank beschnittener Taxusbäume sahen über die Mauer und die gleichsam niedergequetschten Kronen von Trauereschen. Denkmäler, die sich drinnen vor der Mauer befanden, kehrten der Straße den oberen Teil ihrer Rückseite zu.

Achim dachte plötzlich, daß er doch lieber nicht hineingehen wolle. Er fand seinen Einfall, das Grab des Duellgegners zu besuchen, sentimental.

Er stand zögernd.

Der Straßenlärm grollte weiter, dicht an ihm vorbei und von fern noch sandte er seine Tonwellen. Von allen Seiten schien er zu kommen.

Und hinter jener Mauer war die Ruhe des Todes.

Es schien, als wehe Blumenduft herüber.

Dicht neben dem großen, weitgeöffneten Gitterthor stand eine kastenartige Bude. Das Schutzdach sprang weit vor und gab so viel Schatten, daß die Händlerin hinter ihrer Auslage von Kränzen und Blumentöpfen wie ein kühles, dunkles Bild wirkte.

Achim trat heran und kaufte einen Kranz, einen grünen blanken Blätterkranz mit einem großen weißen Gewinde köstlicher Blumen daran.

Er handelte wie ein Mensch, der unter einer Zwangsvorstellung steht.

Als er, noch sein Portemonnaie einsteckend, von der Bude zurücktrat, den Kranz über dem linken Arm, sich dem Kirchhofsthor zuwandte, trat eine schöne, hohe Dame, von langen Kreppschleiern umwallt, mit einer Witwenschneppe tief auf die Stirn herab, gerade heraus.

Achim erschrak. Wenn das Frau von Zeuthern wäre?

Sie ging an ihm vorbei. Nein – es war eine ältere Dame – nicht alt, aber doch jedenfalls höher in Jahren, als des Toten Gattin sein konnte.

Wenn ich vor jedem schwarzen Kleid erschrecken will, sollte ich lieber draußen bleiben, dachte Achim und machte sich klar, daß man auf Kirchhöfen naturgemäß trauernden Frauengestalten begegnet.

Er ging hinein.

Obschon der Straßenlärm nach wie vor durch die Luft ging, hatte Achim doch augenblicklich die wohlthätige Illusion der Stille ringsumher.

[268] Zwischen den Epheumatten, aus denen graue, weiße und dunkle Tafeln und Kreuze ragten, gingen auf hellen Wegen wenige stille Menschen mit ernsten Mienen. Zwischen dem Schwarzgrün des Epheus leuchteten bunte Blumen wie lustige Farbenflecken auf. Die Trauereschen und -weiden hatten an hängenden, dünnen Zweigen Grün. Still und hoch, cypressenähnlich, standen die verschiedenen Arten Taxusbäume.

In lachendem Blau prahlte droben der Himmel.

Achim hatte jetzt mehr eine ernste, gehobene Frühlingsstimmung in sich als Schauer vor dem Grauen des Todes. Ihm war mit einemmal freier, ja gesünder zu Mut geworden.

Wie so ein bißchen Natur einem gleich thut, dachte er dankbar, selbst in diesem frisierten Zustand – aber Grün bleibt Grün und Blumen Blumen. Und der Himmel da oben, das ist auch morgen mein Himmel auf dem ewigen Meere!

Das gesuchte Grab fand er gleich. Auf dem Weg dahin begegneten ihm noch zweimal schwarz gekleidete Damen. Aber der erste, thörichte Schreck hatte ihn wohl gefeit. Er beachtete sie nicht.

Steineck hatte recht gehabt: das war eine ganze Zeuthern-Genealogie auf der großen schwarzen Platte, die, in blanken Lichtreflexen schimmernd, wuchtig in einem dicken Kranz von rankendem Epheu lag.

Achim überflog die Namen. Leopold von Zeuthern und Marie von Zeuthern, geborene Osterroth – das mußten die Eltern sein. Darunter folgte: Leopold von Zeuthern, Regierungsassessor a. D.

Also Leopold hieß er, dachte Achim. Dann fiel ihm ein, daß er das ja schon in der Todesanzeige gelesen hatte und daß der junge Zeuthern den Bruder „Leo“ gerufen habe.

Seltsamer Einfall! – den Regierungsassessor a. D. auf den Grabstein einmeißeln zu lassen, dachte er weiter. Vielleicht hatte er das so bestimmt, um sein Querulantentum noch zu verewigen.

Ihm wurde immer leichter und besser, sein Sinn wurde frei. Alle Grübeleien der letzten Wochen schienen wie fortgeweht.

Mein Gott, dachte er, das ist ja ein ganz fremder Mensch, an dessen Grab ich hier stehe! Er und ich, wir gingen uns nichts an. Da war nichts Persönliches zwischen ihm und mir, kein Haß und keine Liebe. Ein Sachliches, ein Unterschied des Denkens und Fühlens rief mich zu seinem Richter auf. Zufällig mich! Es ist doch dasselbe, wie wenn man im Kriege einen Feind tötet. Ich darf dies Grab ehren – aber daß dieser Mann darin ruht, darf mich nicht beschweren.

Er neigte sich, um seinen Kranz niederzulegen. In allem Ernst andachtsvoller Stimmung war er fast glücklich. Ihm schien, als sei er nun allen „Gedankenballast“ los geworden.

Von der andern Seite kam eine schwarz gekleidete Dame und schritt zwischen den Gräbern, so daß ihr Kleidersaum vor den Epheuwällen nicht sichtbar ward. Achim achtete nicht auf sie, es war die vierte oder fünfte derartige Erscheinung, die seit den letzten fünf Minuten an ihm vorbeigegangen war.

Diese ging aber nicht vorbei; sie kam so geradeswegs auf Achim zu, daß er ihr entgegensah.

Die auffallende Schönheit der Frau machte ihn geradezu betroffen. Die Farben des Gesichtes erschienen durch den schwarzen Schleier, der, vom Hut zurückfallend, einen breiten dunklen Hintergrund gab, schimmernd weiß. Das dunkle Haar lag frei und lockig vor dem diademartigen Hütchen. Die Gestalt der Frau war über Mittelgröße und sehr schlank.

Sie blieb an dem Nachbargrab stehen. Dies trug überreichen und ganz frischen Schmuck, Kranz lastete da auf Kranz; vielleicht hatte man da erst gestern jemand zur Ruhe gebracht.

Aber wenn die schöne Frau gekommen war, dieses Grab zu besuchen, so erschien es doch seltsam, daß sie ihre Blicke nicht andachtsvoll darauf niedersenkte.

Sie stand vielmehr und sah erstaunt, ja mit unverhohlener Neugier zu Achim hinüber.

Der Raum zwischen ihnen, von zwei Ruhestätten ausgefüllt, war doch so gering, daß jeder ganz genau das Angesicht des andern erkennen konnte.

In atemlosem seligen Staunen starrte Achim in diese großen, dunklen Augen.

Sein Herz schlug schwer. Sekunden verrannen. Da machte die Frau eine Bewegung. Achim erschrak.

Die mächtige Angewohnheit zwang ihn zu einer ganz leeren Höflichkeit. Er lüftete den Hut, und ihm schien, als neigte die Dame leise das Haupt.

Er wandte sich um und ging. Er fühlte, daß er gehen müsse. Das war vielleicht eine trauernde Tochter, die das Grab von Vater oder Mutter zu besuchen gekommen war. Er durfte nicht die Taktlosigkeit begehen, fremden Gram zu belauschen.

Aber er verließ nicht den Kirchhof. Er schritt planlos um zwei, drei Vierecke der Anlagen, las da gedankenlos eine Inschrift, starrte dort, ohne wirklich zu sehen, ein Denkmal an.

Er wollte wissen, wer sie war. Dazu gab es ein so einfaches Mittel. Wenn sie gegangen war, wollte er an das reichgeschmückte Grab zurückkehren und sehen, ob es einen Namen trug. Wer da auch begraben war – sie mußte ihm eine allernächste Leidtragende sein, denn ihr Schleier, der hinter ihrem Haupte herabfloß, war von Krepp, ihr Kleid bis zu den Knieen mit Krepp besetzt.

Ganz flüchtig durchzuckte ihn der Gedanke, es könnte Frau von Zeuthern gewesen sein, die gezögert habe, sich dem Grab ihres Gatten vollends zu nähern, weil sie einen fremden Mann dort stehen sah.

Sie ist es unter keinen Umständen gewesen, bewies er sich. Sie trug keine Witwenschneppe und ihr unverhülltes Angesicht sah wohl ernst aus, aber nicht vergrämt!

Ihre Erscheinung paßte nicht zu dem Bild, das man sich von einer jungen Witwe am noch frischen Grabe ihres Gatten macht!

Als einige Minuten verstrichen waren, näherte er sich der Stelle, wo er sie gesehen hatte. Gerade sah er sie langsam fortgehen.

Eine sonderbare Aufregung ergriff ihn. Vielleicht konnte es ihm glücken, ihr zu folgen, in denselben Pferdebahnwagen zu steigen oder bis zum nächsten Droschkenstand hinter ihr her zu gehen. Er mußte erfahren, wer sie war, um jeden Preis. Er hatte noch niemals ein Frauenantlitz gesehen, das ihn so übermächtig angezogen hatte.

So hastig, als es der Ort irgend erlaubte, ging er an das Grab. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, auch diese Stätte trug, wie die Zeuthernsche, zu Häupten der Gruftplatte ein ragendes Denkzeichen. Hier war es eine abgebrochene Säule, auf deren Sockel deutlich zu lesen stand:
Ruhestätte der Familie Th. F. Müller.

Er war enttäuscht. Das war nichts. Daran konnte man sich nicht halten. Ich werde nachher den Kirchhofsaufseher suchen und fragen. Der Mann muß ja wissen, wo die Familie zu finden ist, der das Grab gehört, dachte er und eilte dem Ausgang zu.

Eine große Erregung ergriff ihn – dort vor der Pforte stand noch die schwarze Frauengestalt.

Wartete sie vielleicht auf ihn? Er gestand sich, daß auch sie ihn angesehen, wie man sonst einen fremden Mann nicht ansieht: durchdringend, forschend, lange.

Sie sah nach rechts, sie sah nach links. Eine bemerkbare Unruhe war in ihrer Haltung.

Dann schritt sie an die Blumenbude und fragte die Verkäuferin nach etwas.

„Mein Gott, wie fatal!“ hörte Achim sie rufen.

Er hatte hinter dem großen Thorpfeiler gestanden und glaubte, den Augenblick erfassen zu dürfen.

Den Hut lüftend, in ehrerbietiger Haltung, trat er näher und sprach: „Befinden Gnädigste sich in irgend einer Verlegenheit? Darf ich meine Dienste anbieten?“

Sie neigte dankend das Haupt, ohne jede Verlegenheit, durch die Anrede des fremden Mannes weder verwundert noch beleidigt. „In Verlegenheit allerdings, mein Herr,“ sagte sie, „allein helfen werden Sie mir nicht können. Eine junge Dame und zwei Kinder, die mit mir gekommen waren und mich hier zurückerwarten wollten, sind verschwunden. Auch die Blumenhändlerin hat drei solche Personen, wie ich sie ihr beschrieb, nicht beachtet [270] und kann mir nicht sagen, nach welcher Richtung sie sich entfernt haben.“

„Wenn Gnädigste mir jene Personen beschreiben wollten ....“

„Sie sind sehr gütig. Aber es wäre thöricht, zu suchen. Während man die Straße hinauf sucht, kommt die kleine Gesellschaft vielleicht die Straße herab. Ich werde warten müssen. Meine Cousine – die junge Dame – ist ganz fremd hier in der Gegend ....“

Sie schwieg. Achims Ohr hatte sich an ihrem Organ entzückt. Es war so viel Klang darin. Auch hatte sie eine besondere und sichere Art zu sprechen.

„Darf ich mit Ihnen warten?“ fragte er und sah sie eindringlich an.

„Aber bitte …. Sie derangieren sich meinetwegen,“ sagte sie zögernd. „Man steht hier mitten im Straßenverkehr,“ setzte sie hinzu und trat unwillkürlich vom Bürgersteig zurück, ein wenig hinein in die Kirchhofspforte.

„Ich bin glücklich, wenn Sie mir gestatten, mit zu warten,“ sprach er, neben ihr bleibend.

Sie errötete langsam, schien sich zu besinnen, mit sich zu kämpfen und sagte endlich, ihn frei und mit bezwingender Liebenswürdigkeit ansehend:

„Sie verzeihen mein offenes Geständnis: ich habe wirklich und wahrhaftig Ihren Namen vergessen. Ich kann Sie absolut nicht unterbringen. Und doch haben wir uns natürlich schon gesehen. Ihr Gesicht kenne ich genau. Nur der Name! Ich will es nur gestehen. Nicht wahr – das kommt vor? Man wird einander vorgestellt, hört ein Gemurmel und weiß nachher doch nicht, wer der andere ist. Schon vorhin, am Grabe, zerbrach ich mir den Kopf, wer Sie seien.“

„Meinen Namen vergessen …“ wiederholte Achim zögernd.

Kein Zweifel, sie glaubte, man habe sich schon irgendwo gesehen, sei irgendwann einmal einander vorgestellt worden. Deshalb nahm sie seine Anrede so einfach hin!

Wenn er ihr nun sagte, daß sie sich täusche, daß sie einander noch nie gesehen hätten, daß er ein Angesicht wie das ihre, ein paar Augen wie die ihren nie vergessen haben würde, daß er sich an sie geheftet haben würde wie ein eifriger Verfolger, nur um das Glück anzustreben, sie oft zu sehen. Nein, wenn er sagte: Sie täuschen sich, sah sie ohne Zweifel in seiner Anrede nur noch eine kühne Zudringlichkeit.

„Das,“ sprach sie lebhaft, „das nehmen Sie übel? Oh, ich sehe Ihnen es an!“

„Aber ganz gewiß nicht, meine Gnädige! Wie sollte Sie auch mein Name interessieren. Er ist unbedeutend genug,“ brachte er heraus.

„Und dennoch müssen Sie dem Toten sehr freundschaftlich nahegestanden haben, weil Sie einen Kranz auf sein Grab legten. Ich sah es wohl, als ich herankam.“

Er erbleichte. Ihm war, als begönnen seine Knie zu beben.

„Herrn von Zeuthern – – freundschaftlich – –“ stammelte er.

„Nun ja. Und deshalb müßte ich Sie doch kennen. Er war so vereinsamt. Nur zwei oder drei alte Studienfreunde sprachen manchmal noch vor. Ich komme mir ganz pietätlos vor, daß ich jemand nicht wiedererkenne, der doch dem Toten nahegestanden haben muß. Schon vorhin kämpfte ich mit mir, ob ich Sie anreden und Ihnen danken sollte. Also sein Andenken wird doch noch in einem Freundesherzen treu gepflegt, sagte ich mir. Im Namen seiner Kinder danke ich Ihnen!“

Sie streckte ihm die Hand hin. Ihre Stimme hatte nicht gebebt und in ihren Augen waren keine Thränen. Sie sprach herzlich und liebenswürdig, aber nicht ergriffen.

„Sie sind?!“ rief Achim.

„Sabine von Zeuthern. Ich dachte, Sie kennen mich,“ sprach sie erstaunt.

Er trat zurück. Sein Gesicht war fahl. Warum hatte er es noch hören wollen! Seit zwei Minuten wußte er’s ja schon!

„Ich – ich – darf diesen Dank nicht nehmen – diese Hand nicht fassen,“ sagte er mit kaum hörbarer Stimme.

Auch Sabine von Zeuthern erbleichte. Sie hatte begriffen: solche Worte konnte nur ein einziger Mann auf der ganzen Welt zu ihr sprechen.

Aber mit großen, festen Blicken sah sie unverwandt in sein Angesicht.

Der Ausdruck dieser dunklen, lodernden Augen erschien ihm unergründlich.

Haß stand nicht darin, das fühlte er wohl. Prüfend sah sie ihn an – staunend – so durchdringend, als wollte sie sich seine Züge für immer einprägen.

Es war, als sagten diese Augen: Also du bist es – du?! Du, der mir den Gatten erschoß – du, in dem sich mein Schicksal verkörpert!

Und ihr stolzer, üppiger Mund, dessen Lippen im weißen Gesicht so auffallend rot erschienen, blieb fest verschlossen.

„Gnädige Frau,“ sprach er, mühsam nach Worten suchend, die ihr wohlzuthun vermöchten, und doch fast unfähig, irgend etwas Zusammenhängendes zu denken, „gnädige Frau – seit jener unseligen Stunde, wo Ihr Gatte – … wo ich …. ja seitdem habe ich nur den einen Wunsch gehabt, einmal vor Ihnen stehen zu dürfen, um zu bitten: Vergeben Sie einem, der sehr durch das Ereignis gelitten hat! Mehr als er hier sagen kann. Nun hat der Zufall mir gewährt, was ich absichtsvoll nie herbeizuführen gewagt hätte! Ich bitte Sie, wenn Sie das Uebermenschliche vermögen: denken Sie meiner ohne Haß!“

Sie schwieg noch und sah ihn immer nur an. Er wartete. Ihm schienen Minuten zu verrinnen. Und doch war es nur ein paar Herzschläge lang. Er ertrug es nicht.

„Ich erwarte mein Urteil,“ sprach er.

Sie seufzte, aus langen, schweren Gedanken sich losreißend.

„Wenn Sie denn meiner Vergebung zu bedürfen meinen: ich zürne nicht – ich hasse nicht,“ sagte sie. „Mein Schwager hat mir genau die Vorgeschichte des Duells erzählt. Ich weiß, daß nicht Sie es waren, der es provozierte. Und wenn der Ausgang Ihr Gemüt beschwert, so beklage ich Sie! Vielleicht thut es Ihnen wohl, daß ich Ihnen das sage. Vielleicht habe ich sogar die Pflicht, zu sagen: vergeben Sie dem Toten.“

Unter diesen Worten änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes und ihrer Stimme. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Augen flammten. Die Lippen verzogen sich in Bitterkeit, und ihre Stimme klang verschleiert.

Er aber sah plötzlich, wie in einer Vision, neben dieser schönen, kraftvollen und leidenden Frau das Keifergesicht des gehässigen Mannes, den er erschossen hatte. Ihm war, als habe ihm jemand laut und deutlich gesagt: der Mann hat dieses Weib sehr elend gemacht und du hast sie nicht beraubt, sondern befreit.

„Nein, nein,“ dachte er ängstlich. „Dergleichen darf ich nicht glauben – das ist ein feiger Wunsch von mir – um mich leichter fühlen zu können …“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ sprach er voll Haltung. „Wenn etwas von meiner Zukunft die düsteren Schatten nehmen kann, so sind es Ihre Worte. Leichter und freier ist mir nun ums Herz und ich kann als ein Entlasteter über das Meer ziehen.“

Er stand mit dem Hut in der Hand, um sich zu verabschieden.

„Sie gehen fort? Nach Amerika? In die Kolonien? Deshalb?“ fragte sie hastig und ungläubig.

„Ja und nein, gnädige Frau,“ antwortete er, „ich gehe für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten; ich habe einen Jugendfreund drüben. Aber ich komme zurück. Nicht in mein altes Regiment; ich lasse mich versetzen. Meine Freunde finden mich etwas schwerblütig, weil ich mich mit dem Ereignis so abplage. Aber ich glaube, sie sagen es nur. Ich glaube nicht, daß einer unter ihnen ist, der es in der That leicht nähme, einen Mann erschossen zu haben, wenn auch auf dem für uns undiskutierbaren und ehrenrechtlich notwendigen Felde des Zweikampfes. Ein Menschenleben ist eine große Sache. Und obenein das Leben eines Mannes, der Weib und Kinder hatte! O, gnädige Frau – der Gedanke an diese Kinder … der hat mich verfolgt! – Aber immerhin ist es ja möglich, daß ein Mann von anderm Stoff sich etwas schneller innerlich wieder zurechtgefunden [271] hätte. Jeder muß sich nach seiner Ärt ausleben. Ich beschloß die Reise, um zu gesunden – wenn es krank ist, was ich empfinde. Aber seinem König den Dienst aufsagen – nein, das thut ein Körlegg nicht, solange er sich der Ehre wert fühlt, zu dienen.“

Er verneigte sich. „Leben Sie wohl, gnädige Frau,“ sprach er, „Gott gebe Ihrer Zukunft Licht und Glück!“

Sie neigte stumm das Haupt.

„Sie gestatten mir, in Sehweite zu bleiben, bis ich die Beruhigung habe, daß Sie Ihre Begleiter wiederfanden?“

Zum zweiten Male neigte sie das Haupt und schwieg.

Er trat zurück, ging einige Schritte seitwärts und lehnte sich gegen den Thorpfeiler.

Sie blieb mitten auf dem Platz innerhalb der Einfahrt stehen, in stolzer ruhiger Haltung.

Sie fühlten es beide: niemand durfte sie hier im Gespräch zusammen finden. Jeder Zeuge und jeder Mitwisser ihrer Begegnung hätte dieser die ernste Weihe geraubt.

An dem Rand eines Grabes – und welch eines für sie beide bedeutungsvollen Grabes – waren sie sich begegnet. Das war eine Schicksalsfügung gewesen. Ein wunderbarer, inhaltsreicher Augenblick ihres Lebens.

Ihn festzuhalten, durften sie nicht die Hand ausstrecken.

Achim fühlte, daß es schicklicher gewesen wäre, sich weiter zurückzuziehen. Aber er vermochte nicht, sich zu besiegen. Mit klopfendem Herzen stand er und sah zu dem schönen Weib hinüber.

Solches Weib hatte der Tote besessen! Und war doch ein unfriedlicher, kleinlicher Mensch geblieben oder geworden? Anstatt in unaussprechlichem Glück über alle Fatalitäten seines Berufslebens einfach zu lachen.

Diese wundervollen Augen hatten ihm geleuchtet. Ihm vielleicht diese Leidenschaft geflammt, die das ganze Wesen des Weibes umwitterte, wie süßer, schwerer Duft eine blühende Rose. Und er war dennoch ein Unzufriedener und Verbitterter gewesen?! Armseliger Mann! –

Sabine von Zeuthern fühlte, daß seine Blicke unausgesetzt an ihr hingen. Sie atmete schneller. Ihr Herz klopfte.

Die sonderbare Lage, in der sie sich befanden, diese stumme Nähe, dies stete Anschauen – alles machte sie erregt. Und gegen ihren Vorsatz, einem innern Zwang folgend, wandte sie langsam das Haupt und sah nach Achim hinüber.

Ihre Blicke trafen sich.

Er errötete. Er glaubte sich gestraft und wollte sich etwas mehr entfernen. Aber er blieb – in neuer Erregung. –

Zwei Kinder liefen an den Händen eines jungen Mädchens heran und hielten sogleich erschreckt inne, als sie ihrer Mutter ansichtig wurden, die ihnen zuwinkte, still zu sein.

„St – –,“ machte Sabine, „hier darf man nicht laut sein! Aber um Gotteswillen, Susanne, wo seid ihr gewesen?“

„Es kamen zwei Männer mit einem Bären und einem Affen quer über die Straße,“ sagte das junge Mädchen, „Leo und Milly wollten sie durchaus nahebei sehen. Da sind wir ein Stückchen die Friedensstraße mitgezogen. Leo wollte auch wissen, wohin die Männer mit den Tieren gingen.“

„Nach Weißensee, Mammi,“ rief der kleine Junge, „als er sammelte, gab Susanne ihm Geld, und da sagte er es. Laß uns auch nach Weißensee fahren!“

„Milly auch mit Eißensee,“ plapperte das kleine Mädchen.

„Nein, nein, wir nehmen einen Wagen und fahren heim,“ sagte Sabine. „Aber Milly, dein Hut ist ja ganz schief!“

Zärtlich kniete sie nieder, um der Kleinen den Hut frisch aufzusetzen. Es war reizend anzusehen, wie die vielen weißen Stofffalten rund um das dunkellockige Köpfchen standen, wie unter dem festen kleinen Kinn eine große, wohlzurechtgezupfte Schleife zustande kam.

Achim hatte ein seltsames Gefühl: er bildete sich ein, sie zögerte hier auf dem Platze vor seinen Augen, damit ihre Kinder von ihm genau betrachtet werden könnten, damit er ihr Mutterglück sähe. Als wolle sie zeigen, schien es ihm, wie reich sie noch sei, wie viel ihr das Schicksal noch gelassen habe.

Er hätte zu ihr hinstürzen mögen, um ihr dafür in heißer Dankbarkeit den Kleidersaum zu küssen.

Ja, das war ein stolzes Mutterglück: zwei solche Kinder zu haben! Der Knabe konnte fünf oder sechs Jahre alt sein, sein Gesicht war trotzig und dunkel. Sein Wesen rasch und selbstbewußt; das kleine Mädchen zählte höchstens drei und sah aus großen, mächtigen Augen zaghaft und neugierig um sich.

Für das junge Mädchen hatte Achim keinen Blick. Sabine erhob sich.

„Nun kommt,“ sagte sie und nahm die Kleine an der Hand.

„Ach, laß uns erst noch nach Papa gehen,“ flehte der Junge, „vielleicht steht er wieder auf.“

„Papa schläft für immer,“ sprach Sabine sanft, und es schien Achim, als sähe sie zu ihm hinüber.

„Aber Frau Schulze sagt, die Toten stehen wieder auf,“ behauptete der Knabe und versuchte seine Mutter an der Hand fortzuziehen.

„Einst …. am Jüngsten Tag,“ antwortete statt der Mutter das junge Mädchen.

„Wann ist das?“

„Das lernst du alles später.“

„Ich will zu Haus gleich nachsehen, Frau Schulze hat noch einen alten Kalender von vorigem Jahr, darin kann man alle Tage finden. Mammis Geburtstag und meinen und Weihnacht und alles,“ erzählte der Knabe.

An der Hand des jungen Mädchens schritt er plaudernd voran.

Gerade kam eine trauernde Familie, mehrere Personen, Kränze tragend, mit verschleierten und verweinten Gesichtern.

Sabine sah sich genötigt, mit ihrem Töchterchen etwas seitwärts zu treten, um den Trauernden ehrfurchtsvoll Platz zu machen. So stand sie noch einmal Aug’ in Auge mit Achim. Sie sah ihn fest an.

Er war sehr bleich. Sein Blick senkte sich tief und gramvoll in den ihren.

Sie versuchte ein gütiges Lächeln zu erzwingen. Aber es ging nur ein schmerzliches Zucken um ihren Mund.

Dann war auch das vorüber.

Achim stand im Treiben der Straße, umwirrt vom Gewühl aller Töne, und sah fern ein überschlankes, schwarzgekleidetes Weib mit wallendem Schleier entschwinden. Von den beiden Kindern sah er nichts mehr.

Ihre Figürchen waren versteckt hinter der veränderlichen, beweglichen Wand, welche die straßauf- und straßabwärts Gehenden bildeten.

Nun war all sein dämonisches Begehren gestillt. Er hatte das Grab des Toten besucht und dort innere Freiheit gefunden. Er hatte das Weib des Toten gesehen und Vergebung erflehen können. Er hatte auch die Kinder gesehen und das thöricht tiefe Geplauder des Kleinen vernommen, um es nie, nie wieder zu vergessen.

Er stand da als ein freier Mann, der in Frieden seine Straße ziehen konnte, denn kein Haß folgte ihm, und er hatte mit dem Vergangenen abgerechnet. Morgen schon legte sich der Ocean zwischen ihn und die Vergangenheit.

Er seufzte auf. Ihm war, als habe er diese ganze Reise nur beschlossen und vorbereitet, um vor dieser wunderschönen Frau zu fliehen.

Er floh vor ihr wie vor einem Schicksal.

Er fühlte wohl, er würde nicht, wie er gefürchtet hatte, das Bild eines Toten und eines Grabes mit hinwegnehmen, sondern das einer Lebenden.

Der Inhalt seiner Tage würde sein, über das nachzugrübeln, was ihre dunklen, rätselhaften Augen ihm gesagt hatten.

Ihr Blick beschwerte sein Herz.

Und er schritt in die sonnendurchbrütete, staubige, laute Stadt zurück, mitten im Strom und Gegenstrom der Menschen ein stillträumender Mann.

Sein Ausdruck war herbe, seine Gedanken resigniert. So schritt er dahin, nicht wie einer, der frohen Mutes einen neuen Lebensabschnitt beginnt, sondern wie einer, der alles verloren hat, auch das Beste, was der Mensch besitzt: die Hoffnung und die Neugier auf die Zukunft.

Er glaubte in dieser Stunde, daß er nicht mehr die Lust habe, mit dem Leben zu kämpfen, sondern daß er sich vom Leben treiben lassen werde, wohin es wolle.

[293]
3.

Sabine saß am Fenster und sah auf die Straße. Auf den runden Kopfsteinen, mit denen der Fahrdamm gepflastert war, rasselte eben mit klirrendem Geräusch ein leerer Ackerwagen entlang, der Knecht, der die Pferde trieb, stand aufrecht zwischen den grauen Wagenplanken. Drüben in der Hausthür lehnte der Inhaber der Kolonialwarenhandlung mit gekreuzten Armen am Pfosten und sprach leutselig zu einem kleinen Jungen, der in Holzpantoffeln vor ihm stand, mit einem alten Korb, aus dem die Rippen emporstachen, in der herabhängenden Rechten. Das Ladenfenster daneben war von sauber weißbemaltem Holzrahmen eingefaßt und blinkte.

Sabine zählte die Citronenreihe unmittelbar hinter dem Glase und sah, wie kunstvoll in eine glatte Fläche von Reis ein geschwungener Schnörkel von Rosinen als Mosaik eingelegt war. Hinter dieser flachbildnerischen Arbeit, welche quer die ganze Auslage einnahm und schräg sachte anstieg, erhob sich am inneren Ende als Krönung eine Reihe Blechdosen, auf denen ihr Inhalt mit goldenen Buchstaben auf olivgrünem Grund zu lesen stand. Der flache Deckel der mittelsten, gerade über dem Worte „Peccothee“, trug einen kleinen Pyramidenbau von Sardellen- und Anchovisgläschen.

Ueber Laden und Hausthür zog sich das erste und einzige Stockwerk hin. Da saß hinter sauber geputzten Fenstern und schneeweißen, mit Filetspitze zackig eingesäumten Gardinen, den Kopf emsig über eine Näharbeit geneigt, Frau Küps, die Frau des Kolonialwarenhändlers und Sabinens tägliches Gegenüber, das nie versäumte, mehrfach artig herüberzugrüßen.

Rechts von diesem Hause dehnte sich ein breites Gebäude [294] mit Thoreinfahrt. Das gehörte dem Ackerbürger Crolpa. Die Hühner liefen oft von seinem Hofe in die Einfahrt und bis auf die Straße hinaus. Eben kam der Bursche des Hauptmanns von Hallendorf und führte das Pferd seines Herrn heraus, so daß zwei Hennen kreischend und mit gesenkten, auseinander gespreizten Flügeln davonstoben.

Oben hinter dem ersten Fenster gähnte der Hauptmann gerade hinter dem Kreisblatt. Sabine konnte es noch sehen, dies Fenster war noch in ihrem Sehfeld.

An der andern Seite vom Krämer folgte ein modernes, nettes Haus mit zwei Stockwerken und je einem Erdgeschoßfenster rechts und links von der Hausthür. Unten links wohnte das alte taube Fräulein von Zimmermann; sie hatte nur 1200 Mark Rente und hielt sich bloß eine Morgenfrau. Rechts von der Hausthür wohnte die Modistin Fräulein Rodust; zwischen den Blumentöpfen auf ihrer Fensterbank sah man immer Tüll, Bänder und künstliche Blumen liegen. Das Fräulein galt für etwas unordentlich und man sagte, daß die Offiziere der Garnison sie mehr interessierten als ihre Hüte und Hauben. Im ersten Stock hauste der Rechtsanwalt Cohen mit seiner Frau und vier Kindern. Zwei hatten die Masern, aber Herr Küps sagte, es gehe sehr gut, denn sie bekämen schon Taubensuppe heute, Cohens Köchin habe bei Crolpa zwei Tauben geholt, zu dem unerhörten Preis von achtzig Pfennig pro Stück, woran man wieder mal sehe, was Crolpa für einen Charakter habe. Im zweiten Stock lebten Rechnungsrats, denen das Haus gehörte, selbst. Bei Frau Rechnungsrat war heute Kaffeegesellschaft, zwei Kuchen und eine Torte hatte der Bäckerjunge schon gebracht; Frau Kaufmann That hatte abgesagt, weil noch immer Masern im Hause seien, während Frau Apotheker Müller als aufgeklärte Frau eine solche Angst für albern erklärte.

Jetzt löste sich Herr Küps drüben aus seiner leutselig nachlässigen Haltung, denn der Bursche des Herrn Leutnant Bläser kam, um zum Abendbrot für seinen Herrn Einkäufe zu machen.

Zwei Minuten ging niemand vorbei. Zwischen den Kopfsteinen auf der Straße standen noch Spuren von Regen. Der Himmel sah grau, aber wolkenlos herab, er war ganz und gar gleichmäßig überzogen.

Sabine seufzte schwer. Sie stützte den Ellbogen auf das Fensterbrett, wo er zwischen bunten Porzellanblumentöpfen, in denen aber keine Gewächse standen, Platz fand. Sie legte ihr dunkles Haupt in die zur Schale geformte Hand und starrte vor sich hin.

Drüben dachte Hauptmann von Hallendorf: Wie die schöne Frau mit ihrer blassen Hand kokettiert. Er legte sein Kreisblatt weg und that, als unterhielte er sich damit, die Vorübergehenden zu beobachten, während er darauf hoffte, mit Sabine einen Blick wechseln zu können.

Einmal mußte sie doch wieder herblicken. Es war doch eine Rechnung, so sicher, wie zweimalzwei ist vier, daß die tödliche Langeweile diese wunderschöne Frau endlich zwingen mußte, sich eine Zerstreuung zu suchen.

Aber Sabine merkte nicht, daß der Hauptmann drüben Stellung genommen hatte. Sie starrte in das Zimmer hinein.

Draußen wußte sie alles auswendig. So wie Gesicht und Inhalt ihrer drei Gegenüberhäuser kannte sie fast die ganze kleine Stadt.

Aber auch hier drinnen, im Wohnzimmer ihrer Eltern, wußte sie alles auswendig. Es war ein großer Raum und dafür sehr niedrig. An der Hauptwand, vor der gelbgrauen Tapete, stand das mächtige Sofa. Drüber, in einer Gruppe geordnet, Photographien aller Deubens und Osterroths, die nach Erfindung der Photographie geboren waren und zu Herrn Oberamtmann Deuben und Frau geborenen Osterroth in einem Zärtlichkeits- oder Respektsverhältnis gestanden hatten. Die Rahmen dazu waren ohne Ausnahme oval und schwarz und gleich groß. Nur in der Mitte prangte ein großes, viereckiges Bild, auch eine Photographie, eingerahmt von einem grauen, mit Goldpressung versehenen Passepartout und brauner Leiste. Es stellte Sabine und Leopold von Zeuthern als Brautpaar dar.

Sabine konnte den Anblick dieses Bildes kaum ertragen. Ihre Bitten, es fortzunehmen, wurden mit Erstaunen von ihren Eltern gehört.

„Ih, das hat da immer gehangen!“ sagte der Oberamtmann. Das war eine Ablehnung.

Und so sah Sabine jeden Tag ihre siebzehn Jahre vor sich.

Wie schön sie damals gewesen war! Sie sah es selbst. Jetzt kam sie sich alt und verblüht vor, mit ihren Sechsundzwanzig zwar nicht, aber mit dem, was sie alles erlebt und erlitten hatte. Jeden Tag sagte ihr dies unselige Bild mit vernichtender Klarheit und Schonungslosigkeit: du hast nur geheiratet, weil es deinen siebzehn Jahren schmeichelte, schon Frau zu heißen, weil es dich reizte, so bald hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen, weil es so hübsch war, einen altadeligen Namen zu bekommen, weil ein heißer Drang nach Ereignissen, nach Wechsel, nach Bewegung dich hinweglockte von dem stillen väterlichen Gut, und endlich, weil du dich geliebt glaubtest, während er vielleicht nur deine Schönheit, Jugend und Unschuld mit in Kauf nahm als reizvolle Zugabe zu den zweimalhundertfünfzigtausend Mark, die Tante Sabine Osterroth dir hinterlassen hat.

Ob es wohl von hundert Frauen nicht achtzig ebenso trifft, daß sie ihr ganzes Leben verantwortlich tragen müssen, was sie in ihrer unverantwortlichen, blind zutappenden Jugend auf sich nahmen?

Sabine fragte sich das immer und beantwortete sich das immer mit einem resignierten „Gewiß“.

Aber wenn ein Unglück allgemein ist, trifft es darum den einzelnen geringer?

Ich werde dies Bild einmal heimlich fortnehmen, dachte Sabine. Ich lasse die Kinder photographieren und ersetze damit alles. Passepartout und Rahmenleiste können bleiben. So sage ich dann zu den Eltern, ich habe sie überraschen wollen.

Dieser Vorsatz belebte Sabine ein wenig.

Sie horchte, ob die Eltern noch nicht zum Kaffee kämen. Alles stand fertig auf dem Sofatisch.

Nichts rührte sich. Dann war es auch noch nicht halb Vier. Denn die Eltern waren pünktlich wie eine Uhr.

Wie lang die Tage schienen.

Ob die Bewohner von Mühlau es nicht empfänden? Ob sie nicht verzweifelten in der kleinlichen Monotonie ihres Daseins? Aber freilich, die Mühlauer kannten nichts anderes als ihr Städtchen und die kleinen Wichtigkeiten ihres Philistertums. Und wenn sie doch etwas anderes kannten – denn auch in Mühlau gab es schließlich Leute, welche reisten oder zeitweise in andern Städten oder Gegenden gelebt hatten, dann litten sie doch nicht so wie Sabine. Sie besaßen ein Glück oder eine Arbeit, worin sie so reich waren, daß sie nichts entbehrten, oder vielleicht ein Unglück oder eine Sorge, die ihre Tage und Nächte erfüllte.

Wie Sabine sich nach dem Leben zurücksehnte! Verzehrend! Die Vergnügungen in der Gesellschaft, das Gefeiertwerden in der großen Welt, Tanz, schöne Kleider, viel Gastlichkeit im eigenen Haus – das alles lernte sie eigentlich nur in den ersten vier Jahren ihrer Ehe kennen. Seit Zeuthern aus dem Staatsdienst geschieden war, schied er sich auch von der Gesellschaft. Doch hatte Sabine sich nach dem bunten Treiben nicht sehr zurückgesehnt. Das vielfach Einengende in solchem Verkehr, wo es doch immer Höhergestellte giebt, vor denen man sich ein wenig zu bücken hat, ward von ihr deutlich empfunden. Sich und ihren Sympathien Zwang anzuthun, war nie ihre Sache gewesen.

Aber die Weltstadt hatte sie genossen. Mit allen Organen nahm sie das auf, was Berlin ihr bot. Das Selbständige, das von allen Rücksichten Losgelöste, sie empfand es wie eine königliche Freiheit. Auf der Straße wandern und von tausend Tönen fremden Lebens sich umflutet fühlen, vor den Läden stehen und tausend schöne Dinge sehen, die Phantasie und Geschmack anregten, das liebte sie! Fremde Menschen, fremde Gesichter auf den Gassen, im Theater. Ueberall selbst ein fremder Mensch und ein fremdes Gesicht für die andern. Kein Nachbar, der beobachtet und im Beobachten zugleich richtet! Kein Gesetz, warum man zu dieser Stunde nicht jenes darf! Und bei jedem Umzug in eine andere Wohnung neue Räume, die Wechsel der intimen Umgebung brachten, ein neues Straßenbild.

Veränderung und Freiheit! –

Auf dem Tisch gab es ein kleines Geräusch. Der Deckel des Theekessels hob und senkte sich, von der Gewalt des Dampfes bewegt. Sabine trat hinzu und goß noch einmal auf. Herr und Frau Oberamtmann Deuben tranken nur getrichterten Kaffee, zu welchem die Oberamtmännin immer selbst die Beutel strickte, die vierundzwanzig Stunden vor dem ersten Gebrauch in dünnen [295] Kaffee gelegt werden mußten, sonst schmeckte der Kaffee nach dem Beutel.

Langsam ließ Sabine das kochende Wasser auf den mit Bläschen sich bedeckenden Kaffee tropfen. Das ist ein förmliches Stillleben, dachte sie dabei, wie der gestrickte Beutelrand, mit dem Aufhängsel daran, sich aus dem Blechtrichter erhebt.

Die ganze Stube war ein Stillleben, aber kein malerisches. Dazu standen alle Möbel zu gerade vor den Wänden aufmarschiert und dazu waren sie nicht alt genug. Sie waren bloß erst unmodern. Rechts und links vom Sofa noch ein Klavier und ein Sekretär, ersteres nach dem Fenster, letzterer nach dem Ofen zu. Drüben ein Cylinderbureau und Stühle, die Thüren mit braunen Damastportieren verziert, denen man ansah, daß sie nie aus ihren dicken Haltern von Posamentierarbeit gelöst wurden.

Gerade so hatten alle Sachen einst draußen auf Heinsdorf gestanden und gehangen.

Sabine hörte hinter sich Geräusch und wandte sich um.

Ihre Eltern kamen aus der nebenan gelegenen Schlafstube, wo Herr Oberamtmann im Ohrenlehnstuhl am Fenster und Frau Oberamtmann auf einer Chaiselongue eine Stunde zu schlummern pflegten. Sabinens Vater war ein großer, breiter Mann mit einem wohlwollenden Gesicht und hellen, klugen Augen. Sein graues, schon sehr spärliches Haar hatte er vom Nacken her über den kahlen Schädel gekämmt, den es so strähnig deckte, daß man doch die Kahlheit durchsah. Er trug immer ein schwarzes Halstuch um einen Vatermörderkragen und hatte einen unveränderlichen Geschmack für Gehröcke von braunem Tuch; aber er ließ sich nur alle drei Jahre einen neuen machen und trug die alten, fleckigen in der Familie auf.

Jetzt sah er verschlafen aus, und rot zeichnete sich auf seiner rechten Wange das Muster der gestickten Schlummerrolle, gegen die er sein Haupt gelegt hatte.

Frau Oberamtmann Deuben sah beinahe elegant aus. Ihr Gesicht mochte einst dem Sabinens geglichen haben. Ein Leberleiden hatte ihre Farben sehr gelblich gemacht. Das Haar fing an zu ergrauen, doch trug Frau Oberamtmann kein Häubchen, und es sah immer aus, als ob sie nicht fertig hergerichtet wäre, da das dürftige Flechtengesteck am Hinterkopf durchaus irgend einer Ergänzung bedürftig schien. Sie trug ein seidenes Kleid. Es war schwarz und hatte ein gelbes Treffasmuster.

Seit ihrer Hochzeit kannte Sabine dies Kleid. Es war dick und schwer wie Leder und wurde lange Jahre nur bei großen Gelegenheiten angezogen. Jetzt wollte ihre Mutter „es auftragen“. Aber das dauerte nun auch schon sehr lange, weil diese Absicht einigemal durch Familientrauer unterbrochen worden war.

Ihre Tochter sehr überrascht betrachtend, blieb Frau Deuben mitten im Zimmer stehen, indes der Alte mit etwas schweren, noch schlafmüden Schritten sich zu seiner Sofaecke begab.

„Du legst schon Trauer ab?“ fragte sie mißbilligend.

„Ich?“ fragte Sabine entgegen. Sie hatte zu ihrem schwarzen, überaus einfachen Blusenkleid einen weißen Klappkragen umgethan und trug eine Modekrawatte dazu, schwarz mit weißen Punkten.

„Als Witwe trauert man zwei Jahre ganz schwarz,“ sprach die Mutter.

„Ich werde in der kommenden Woche schon ein graues Kleid anziehen,“ sagte Sabine und goß ihrem Vater Kaffee ein.

„Nun, du bist dein eigener Herr und kannst machen, was du willst. Aber ich gebe dir zu bedenken, daß die Leute darüber sprechen werden,“ antwortete Frau Deuben und ließ sich neben ihrem Gatten nieder.

„Ich handle nach meiner Empfindung und will nicht länger einen Gram heucheln, den ich eben nicht empfinde.“

„Ah –“ machte der Alte, behaglich ausatmend, nachdem er laut die ersten Schlucke geschlürft, „man wird doch immer erst wieder Mensch, wenn man seinen Kaffee im Magen hat.“

„Das sagst du jeden Tag,“ bemerkte seine Frau und wiegte den Kopf, wie jemand, der mühsam unterdrückte Ungeduld markiert.

„Weil’s eben ’ne Wahrheit ist, die man alle Tage an sich merkt,“ schmunzelte der Mann und fragte: „Und die Kleinen? Wo bleiben die?“

„Lisbeth ist noch nicht mit ihnen zurück,“ sagte Sabine.

„Die bleibt alle Tage länger weg, wenn sie mit den Kleinen spazieren geht.“

„Küps hat sie schon mehrfach abends mit einem Unteroffizier drüben in der Crolpaschen Einfahrt stehen sehen,“ bemerkte Frau Deuben.

Sabine seufzte. Lisbeth war das Kindermädchen und erfreute sich der Ungunst und strengen Beobachtung der Frau Oberamtmann.

„Ich habe ihr schon oft genug Pünktlichkeit eingeschärft,“ sagte Sabine.

„Du mußt es ihr mal gründlich sagen. Denn so bei meinem Kaffee, da will ich die kleinen Deubels bei mir haben,“ sprach der Oberamtmann, der seine Enkel sehr liebte.

Man trank einige Minuten schweigend. Sabine strich vier Scheibchen für ihre Kinder und legte sie zierlich zurecht.

Es klopfte sehr hart, es war eigentlich nur ein Schlag gegen die Thür, und unmittelbar danach öffnete man schon. So befolgte und umging die Köchin Guste den Befehl, nie einzutreten, ohne vorher geklopft zu haben.

„Die Post“, sagte sie und blieb fast auf der Schwelle stehen. Denn sie war noch mitten beim Aufwaschen und trug eine graue, nasse Schürze.

Sabine sprang auf und nahm das Bündel von Zeitungen und Briefen der ihre Ungeduld sehr deutlich zeigenden Guste ab.

Es war ein Brief aus Heinsdorf vom Sohn und Bruder, dann ein Preiscourant, an Frau Oberamtmann Deuben adressiert, und Sabinens Zeitung nebst zwei Briefen an sie. Die Eltern fanden es thöricht und luxuriös, daß Sabine sich eine Berliner Zeitung hielt, noch dazu eine, die nicht agrarisch gesinnt war. Allein sie sagten nichts dazu, sie waren von sich überzeugt, der armen Tochter alles zu gönnen, und lebten des Glaubens, ihr ungemeine Freiheiten zu lassen.

„Was schreibt denn Reinald?“ fragte die Mutter.

Deuben nahm erst seinen Kneifer aus der Westentasche und setzte ihn sehr vorn auf seine fleischige Nase.

Schweigend, mit kritischer Miene, las er den Brief, bald beifällig in seine Lektüre hinein nickend, bald den Kopf wiegend. Er verfehlte nicht, auch laute Bemerkungen zu machen, und er sagte nacheinander: „Ja so“ – „na nu“ – „ach daher“ – „kann ich mir denken“ – „woll’n wir hoffen“.

Diese Manier ihres Gatten, Briefe zu lesen, die Frau Oberamtmann nun doch schon fünfunddreißig Jahre kannte, machte sie immer noch nervös und steigerte ihre Neugier bis zur Unerträglichkeit. „Wird man erfahren dürfen ...“ sagte sie ungeduldig.

„Lauter Wirtschaftsgeschichten,“ erklärte der Alte und gab seiner Frau den Brief. „Lies selbst. Zum Vorlesen ist es nicht. Sabine interessiert sich nicht für die Heinsdorfer Geschichten.“

„Aber das interessiert mich,“ sprach Sabine unbewußt ein wenig gereizt, „ob Reinald sich nach deinen Erwartungen und Wünschen einlebt.“

„Großartig!“ rief der Vater. „Er ist ein glänzender Landwirt. Heinsdorf wird unter ihm mindestens so prosperieren wie unter mir, wenn nicht besser – denn im ganzen ist man ja ’n gut Teil weiter als zu den Zeiten, wo ich lernte. Er hat ’ne andere Schule durchgemacht.“

„Ich denke immer, ihr hättet mich zu Reinald ziehen lassen sollen,“ meinte Sabine.

„Nein, nein, Tochter – das war nur so ’ne überspannte Idee von mir. Erstmal hast du keinen Dunst davon, was es heißt, Gutsherrin spielen und überall die Direktion geben können, ob’s nun Hühnerhof, Milchkammer oder Küche ist. Und zweitens: es wäre ja doch keine Sache von Dauer gewesen. Denn Reinald muß bald heiraten. Unverheirateter Landwirt – das geht nicht. Aber vorsichtig muß er sein, sehr vorsichtig. Es muß ein Mädchen sein mit Neigung und Befähigung für Landwirtschaft und mit den nötigen Batzen Geld dazu. Beinahe scheint es ja – er hat was in Sicht.“

„O schon? Wie schade,“ rief Sabine erschreckt. Sie liebte ihren Bruder sehr. Er war sechs Jahre älter als sie; als sie ein Kind war, brachte er seine Bildungsjahre fern vom Elternheim zu, dann heiratete sie jung. So kam man nur in Ferienwochen und auf Besuchstage zusammen und kannte sich im Grunde wenig. Aber allen schönen, guten Glauben, den eine Schwester von einem Bruder haben kann, hatte Sabine von dem ihren, [298] und alle tiefen, warmen Gefühle, die zu empfinden und zu verschenken sie das heißeste Bedürfnis hatte, weihte sie dem Bruder.

Und sie hatte gehofft, ihn eines Tages mit ihrer Freundin und Cousine Susanna Osterroth vermählt zu sehen. Sie dachte, ihre Eltern zu bestimmen, Susanna im Sommer einzuladen, obschon ihre Eltern diese gar nicht kannten. Die Osterroths, von denen Frau Deuben abstammte, waren mit den Osterroths, die den Zeuthern verwandt geworden, nur durch eine gemeinsame Urgroßmutter verknüpft. Die Erblasserin und Patin Sabinens, das Fräulein Sabine Osterroth, war die Mittelsperson zwischen beiden Familien gewesen und wurde von beiden Zweigen als nächste Verwandte gefeiert. Sie hatte auch einst den Referendar von Zeuthern mit einem Gruß nach Heinsdorf geschickt, als der junge Jurist dem Mühlauer Landratsamte zugeteilt gewesen war.

Wenn Reinald schon eine Liebe hatte oder eine Wahl getroffen, dann fiel freilich Sabinens Hoffnung ins Wasser.

„Lies das mal, Alte,“ befahl der Oberamtmann. Er selbst hörte es wohlgefällig gern noch einmal.

Und die Mutter las, daß auf Wendessen, dem Nachbargut von Heinsdorf, bei den Voigtstedts, die älteste Tochter heimgekommen sei, nachdem sie ein Jahr auf einem ostpreußischen Gut gewesen war, die Wirtschaft zu lernen, und daß Reinald nur sagen müsse: jeder Mann könne sich gratulieren, der das frische, gesunde, tüchtige Mädchen mal erringe.

„Er soll selbst drauf los gehen. Schreib’ ihm gleich morgen, Alte!“ meinte der Vater.

Er sprach noch lange hin und her über die Voigtstedts.

„Na und da war ja noch mehr,“ sagte er dann, zu Sabinens Briefen hinüberschielend. Er mochte zu gern alles wissen und konnte nicht begreifen, daß es in seinem Hause Menschen gab, die ihre Briefe für sich behielten.

„Von meinem Schwager und von meiner Freundin,“ sprach Sabine und nahm ihre Briefe, um sie in die Tasche zu stecken.

Zugleich stand sie auf, um für einige Minuten in ihre eigenen Zimmer zu gehen. Es war ihr unmöglich, in Gegenwart der Eltern Briefe zu lesen. Ihr Vater hätte sagen können: „Na gieb mal her, wenn da keine Geheimnisse drin stehen.“ Das wollte sie vermeiden, obschon sie wirklich keine Geheimnisse hatte.

Man reißt doch auch nicht die Thüren fremder Wohnungen auf und sieht hinein. Gerade solch Beginnen erschien es ihr, wenn man Briefe an Personen herumzeigte, an die sie nicht gerichtet waren –

Sabine bewohnte in dem flügelartigen Anbau zwei Zimmer des ersten Stockes. Sowohl das Wohngemach als die dahinter folgende Schlafstube hatten je zwei Fenster nach dem Hofe. Hier war Sabinens Asyl, hier hatte sie soviel als möglich von ihren künstlerisch schönen, kostbaren Möbeln und Stoffen untergebracht, um sich ein trautes Nestchen zu schaffen. Aber die zwei engen Räume, von Sachen überfüllt, machten es ihr schwer, immer die zierliche Ordnung festzuhalten, die sie liebte. Die beiden lebhaften Kinder durften nicht immer vorn bei den Großeltern sein und konnten nicht immer auf dem großen Flur spielen, oft genug waren sie auf diese beiden Stuben angewiesen.

Am Fenster war mit Hilfe eines Wandschirmes, dessen obere Teile von fahler, faltig gezogener Seide gebildet wurden, ein reizendes Eckchen hergerichtet. Da stand ein englischer Lehnstuhl von bizarrer Form und davor ein leichtfüßiges Tischchen, in dessen blanker dunkler Platte sich das hohe Zierglas wiederspiegelte, in dem drei rotgelbe Tulpen blühten.

Sabine setzte sich in den Stuhl und nahm ihre Briefe aus der Tasche. Erst den von Susanna lesen, dachte sie, denn ihr Schwager hatte ihr eigentlich nie etwas zu schreiben. Pflicht und Anhänglichkeit trieben ihn ab und an, einen Brief zu verfassen, der dann doch immer den Charakter des Herausgequälten trug.

Susanna Osterroth schrieb:

„Meine geliebte Sabine! Immer wenn ich Dir schreibe, habe ich den Wunsch, Dir ein bißchen Sonnenschein in die Mühlauer Verbannung senden zu können. Allein diesmal wird mein Brief wohl zu ernst werden, um Dich zu erheitern; die Geschichte mit dem Gelde ist nämlich endlich, endlich abgewickelt. Es stellt sich heraus, daß uns soviel Kapital bleibt, um fünfzehnhundert Mark Zinsen zu erzielen – in preußischen Consols angelegt nämlich! Vor anderthalb Jahren wußte ich gar nicht, was das für Dinger sind. Aber nun weiß ich es; nachdem Dein Mann, mein Vetter, unser aller Geld in „Goldminen“ und „Philippinen“ verspekuliert hat, flößt uns jedes Papier Angst ein, außer den obenbenannten Consols. Solange unser guter Onkel Fritz lebt und Mama und mir fünftausend Mark dazu giebt, haben wir also recht auskömmlich zu leben. Stirbt er, wird es freilich anders. Wir wissen es ja, Onkel Fritz’ Vermögen geht mal in zweiundzwanzig Teile. Davon kommt ein Zweiundzwanzigstel auf Dich, meine arme Sabine, ein Zweiundzwanzigstel auf Deinen Schwager und eines dito auf mich. Er hat es mir genau vorgerechnet: das macht für jeden von uns 40000 Mark.

Onkel Fritz sagt, wenn er auch zu seinen Lebzeiten uns 5000, Dir 2500 und Deinem Schwager 2500 Mark, zukommen läßt und uns damit vor allen seinen Verwandten bevorzugt, so will er doch nach seinem Tod sein Vermögen gerecht und gleichmäßig verteilt wissen. Dagegen kann kein Mensch was sagen, und ich bin Onkel Fritz so dankbar, daß er mir gar keine Illusionen gelassen hat.

Mein Weg ist nun klar vorgezeichnet. Onkel Fritz kann noch zwanzig Jahre leben, er kann aber auch morgen sterben. Auf das Leben und das Geld eines anderen Menschen will ich nicht zählen, sondern allein auf meine eigene Kraft. Ich fange sofort an, mein Französisch und Englisch gründlich aufzubessern, lerne Italienisch und Russisch und Buchhalten dazu. Perfekt, Sabine – alles so wie geschmiert! Dumm bin ich ja Wohl gerade nicht, und so denke ich, bereits im Winter in einem großen Handelshaus eine Stellung erlangen zu können. Was ich dann verdiene, kann ich, solange eben Onkel Fritz lebt, alles zurücklegen. Onkel Fritz gab mir einen Kuß und besteht darauf, allen Unterricht extra zu bezahlen, und hofft, ein Jubelgreis zu werden. Zu niedlich ist er immer, der gute Alte.

Wenn Du wüßtest, wie mir so ist! Eigentlich riesig wohl! ‚Wenn der Mut in der Brust die Spannkraft übt.‘ – – Ja es ist wohl etwas Schönes, sich erproben zu dürfen. Hoffentlich bestehe ich die Probe.

Wie gern sähe ich Dich einmal wieder, meine Herzenssabine. Du willst nicht nach Berlin kommen, schreibst Du, Du fürchtest, es bräche Dir vollends das Herz? Ja, das verstehe ich nicht ganz. Ich meine, so ein rechter, stolzer Charakter läßt sich Sonnenschein und Regen, wie es gerade kommt, ins Gesicht weh’n und hält immer die Stirn hoch. Wenn Du schon so zerbrochen und so – mutlos bist, daß Du fürchtest, eine einfache Abwechselung und geistige Erfrischung, wie eine Reise nach Berlin wäre, mache Dir nachher Deine Mühlauer Existenz vollends unerträglich, dann ist Deine Seele krank.

Oder vielleicht verstehe ich’s bloß noch nicht. Dann vergieb meine Altklugheit. Ich kleines Hühnchen, sechs Jahre jünger als Du, will Dir Vernunft predigen! Unerhört!

Aber zu Dir kommen möchte ich. Und Dich riesig verziehen und erheitern! Im Augenblick natürlich kann ich nicht. Denn ich stürze mich in den Unterricht. Aber nach einigen Monaten, da kann ich mal bei den Lehrern pausieren. Es soll sehr gut sein, mal so vier Wochen sich alles im Gehirn setzen zu lassen. Dann melde ich mich mit der Botschaft: ‚Bitte mich gefälligst einzuladen.‘

Empfiehl mich Deinen verehrten Eltern und gieb Leo und Milly einen lauten Kuß. Es umarmt Dich
 Deine Susanna.“

Sabinens Augen standen in Thränen. Heimweh nach der Freundin, Heimweh nach der Welt, Sehnsucht nach Thaten, nach Erlebnissen überwältigte sie.

Ja, Susanna war glücklich, denn sie war ihr eigener Herr und konnte arbeiten, um voll Stolz zu fühlen, daß sie ein freier, unabhängiger Mensch sei. Aber sie selbst, Sabine, sie konnte nichts als stillhalten. Und gerade das war für ihr Temperament das fürchterlichste.

Nachdem der Nachlaß ihres Gatten geordnet worden war, fühlte sie sich als eine vollkommen verarmte Frau.

Der almosenartige Zuschuß, den der Onkel gab, reichte in ihren Augen wohl, sich und die Kinder zu kleiden, den Lohn des Kindermädchens zu bezahlen. Auch hatte Sabine die Absicht, einige hundert [299] Mark jährlich davon zu erübrigen, um für spätere Unterrichts- und Studienzwecke ihrer Kinder etwas Geld frei zur Verfügung zu besitzen. Obdach und Nahrung fanden sie und ihre Kleinen bei ihren Eltern. Ihre flehentliche Bitte, bei dem Bruder auf Heinsdorf wohnen und sich nützlich machen zu dürfen, war abgewiesen worden, ebenso hatte man ihren Wunsch als thöricht erklärt, sich in Berlin auf irgend eine Weise selbständig zu machen, durch Aufnahme und Erziehung von Schulkindern, durch Gründung eines Damenpensionates oder dergleichen.

„Was würden die Leute davon denken, wenn der Oberamtmann Deuben seine Tochter für Geld arbeiten ließe,“ fragte ihr Vater entrüstet.

Ja, stillhalten – immer stillhalten – –

Sabine lächelte bitter, als sie nochmals die Stelle las, wo Susanna ihren späteren Besuch ankündigte. Als ob Sabine in der Lage sei, sich so ohne weiteres ihre liebste, einzige Freundin, noch dazu eine Verwandte, einzuladen! Die Mutter würde einwenden, daß man kein anderes Zimmer zur Verfügung habe als oben im Giebel, unterm spitzen Dach, die Schrankstube, wo allerdings ein Fremdenbett stand für den noch nie dagewesenen Fall, daß Reinald nachts in Mühlau bleiben wolle, anstatt wieder nach Heinsdorf hinauszufahren oder zu reiten. Und der Vater würde fürchten, in seiner Bequemlichkeit beeinträchtigt zu werden. Der alte Mann hatte ja auch ganz recht: war es nicht schon Unbequemlichkeit genug für ihn, die Tochter samt Enkelkindern wieder im Hause zu haben?

Liebe, tapfere Susanna, dachte Sabine, du würdest mit deinen Vorwürfen zurückhalten, wenn du wüßtest, wieviel leichter kämpfen als dulden ist!

Mechanisch, noch mit all ihren Gedanken bei Susannas Plänen, griff sie nach dem Brief des Leutnants von Zeuthern. Sie hatte immer so ein bißchen Mitleid mit seinen rührend gemeinten und treuen Zuschriften. Sie las:

„Liebe Sabine! Erwarte seit vier Wochen mal eine Zeile von Dir. Immer umsonst. Hoffentlich sind Leo und Milly wohl. Ich las was von Masern, die grassieren. Kann aber auch anderswo als in Mühlau gewesen sein. Mir geht es ja gottlob soweit gut. Ueber das fatale Gefühl, Onkel Fritz für die Zulage danken zu müssen, während ich früher das Doppelte aus Eigenem hatte, bin ich immer noch nicht weg. Das muß ich aber sagen: kolossal taktvoller alter Mann, Onkel Fritz. Gott verzeihe Leopold, was er an uns allen verbrochen. Uebrigens kolossal peinliche Empfindung, an den eigenen Bruder so mit höchst gemischten Gefühlen denken zu müssen! – Du fragtest mal nach Körlegg. So was begreife ich – man interessiert sich unwillkürlich – kann ich Dir nachfühlen. Eigentlich schreibe ich bloß seinetwegen. Bereite Dich vor, was Sonderbares zu hören! Er war zehn Monate drüben. Daß er sich versetzen lassen würde, schrieb ich wohl mal schon? Ich hatte immer so eine Art Schuldgefühl – als wenn ich den Kameraden einen liebsten Kameraden raube. Denn Körlegg war kolossal beliebt. Ich erbot mich, meinerseits um Versetzung einzukommen. Aber der Oberst meinte, Körlegg wolle und brauche eine totale Aenderung und ich sei eben erst ’reingekommen ins Regiment. Na, er ist versetzt. Und von seinem neuen Regiment steht ein Bataillon in Mühlau. Nun ist es heraus.

Bei Deinen Eltern, schriebst Du mal, verkehrt keiner der Herren. Dein Vater sah auf Heinsdorf Offiziere bei sich, jetzt aber nicht mehr. Er überläßt den Verkehr Deinem Bruder. Da wird ja jedes Zusammentreffen sich vermeiden lassen. Und da Du ihn nie gesehen, wirst Du an ihm auch harmlos auf der Straße vorbeigehen.

Aber ich dachte mir doch so: besser ich schreibe es Dir, als daß Du es von anderer Seite hörst. Er natürlich hat keine blasse Ahnung, daß Du in Mühlau wohnst. Woher sollte er?! Ich hab’ auch im Kasino fein stillgeschwiegen, als die Versetzung Körleggs besprochen ward.

Leicht hätte es ihm sonst einer der Kameraden mitteilen können; er hätte getrachtet, andere Kommandierung zu erlangen. Und man darf den Mann doch nicht ruhelos machen und schädigen. Vielleicht erfährt er nie, daß Du in demselben Ort mit ihm wohnst.

Schreibe bald Deinem
 treuen Schwager Benno v. Z.“

Mit farblosen zitternden Lippen saß Sabine und sah vor sich hin.

Unverblaßt lebte in ihrem Gedächtnis jene Stunde, wo sie auf dem Kirchhofe den hohen, blonden Mann gesehen hatte.

Wie ernst hatte er gesprochen damals – welche schwere, gewissenhafte Lebensauffassung offenbart, ihr, deren Schicksal sich so hart gewendet infolge der egoistischen und frivolen Lebensauffassung eines anderen Mannes!

Ein verworrenes Geräusch riß Sabine aus den Träumen, in welche sie der Brief ihres Schwagers versetzt hatte.

Schrie oder jammerte – oder schalt da nicht jemand?

Sie fuhr auf und war mit drei Schritten auf dem Flur. Richtig, vorn aus dem Wohnzimmer drang ein heftiges Durcheinander von Stimmen. Im nächsten Augenblick war sie an der Thür und riß sie auf.

Drinnen stand die kleine Milly und schluchzte, ihr Köpfchen auf Großpapas Knie gelegt, der tröstend zu ihr niedersprach. Mitten im Zimmer, einander gegenüber, befanden sich die Oberamtmännin und Lisbeth, das Kindermädchen, aufeinander lossprechend, mit allen Zeichen höchsten Zornes. Daneben heulte Leo, beide Fäuste vor den Augen.

Sogleich wandte sich Lisbeth hilfeheischend an ihre Herrin: „Frau Oberamtmann hat mir jesagt, ik soll stantepeh das Haus verlassen. Keen Mensch hat hier det Recht, mir den Dienst ufzukündigen als meine Jnädige! Von Ihnen bin ik engaschiert und weer ik saläriert!“

„Ich muß dir bemerken, Sabine, daß die Person sich sehr aufsässig betragen hat, weil ich ihr verwies, mit den Kindern nochmals den Unteroffizier in dessen Wohnung zu besuchen,“ rief die Oberamtmännin.

„Haben Sie das gethan, Lisbeth?“ fragte Sabine erschreckt.

„Nu ja. Dat is keen Schande nich, wenn ik mal an ’n helllichten Tage ’n Momang bei meinen erklärten Bräut’jam vorspreche,“ trotzte Lisbeth.

„Aber die Kinder hat sie mitgenommen – Leo kam damit heraus – er habe einen großen Soldaten mit einem großen Schnurrbart besucht und das Gewehr in der Hand gehabt – und Milly hat der Kerl geküßt,“ erzählte die Mutter.

„Der Kerl?“ schrie Lisbeth, „’n königlich preußischer Unteroffizier mit Aussicht auf Civilversorgung ’n Kerl? Nee, so wat.“

Leo heulte stärker.

„Du wirst die freche Person auf der Stelle entlassen,“ rief die Oberamtmännin, „das bist du mir schuldig.“

„Gewiß, liebe Mutter,“ sprach Sabine fast tonlos. Sie sah sehr bleich und leidend aus.

Sie wußte ja: dieser Ausbruch war nur das Resultat monatelanger Hetzereien der Köchin Guste. Sie selbst war mit Lisbeth zufrieden. Das Mädchen zeigte sich stets reinlich, ehrlich, kinderlieb und ihr persönlich anhänglich. Für den Besuch beim Unteroffizier würde sie sie wahrscheinlich streng vermahnt, im Wiederholungsfalle ihr auch gekündigt haben. Aber eine Entlassung mit Skandal in Gegenwart der Kleinen mitten im Monat, ohne Aussicht auf Ersatz – das war weder Sabinens Neigung noch Nutzen.

Indessen da Lisbeth offenbar unziemlich geworden war – da ihre Mutter es verlangte – – –

„Gehen Sie, Lisbeth! Ich komme gleich nach hinten und gebe Ihnen Ihren Lohn,“ sprach sie.

„Aber Kostgeld bis zum ersten Mai steht mir außerdem zu,“ trotzte Lisbeth.

„Sie sollen es haben.“

Lisbeth ging. Eine schwüle Stille trat ein, denn die Kinder hörten plötzlich vor Schreck auf zu weinen. Sie hingen an Lisbeth und ihnen war, als habe sich da etwas ereignet, infolgedessen sie Lisbeth nicht wieder sehen würden.

Sabine fing an, den Kindern die Mäntel auszuziehen.

„Wir müssen es ins Kreisblatt setzen lassen,“ bemerkte der Oberamtmann.

„Vielleicht hat Frau Weder eine,“ meinte die Mutter.

„Nein, nein – was von der Gesindevermieterin kommt, taugt nicht viel. Es wird nicht ganz leicht sein, jetzt mitten in der Zeit einen Ersatz für Lisbeth zu finden. Im Notfall muß Sabine [300] bis zum ersten Mai eine Aufwartefrau für die Morgenstunden nehmen und tagsüber die Kleinen selbst besorgen.“

Die Geister der Eltern waren durch den Vorfall noch zu erregt, sie konnten jetzt nicht an Rücksichten und an Sabinens „Selbständigkeit“ denken. Es entfuhr der Mutter: „Das schadet auch nichts, wenn Sabine ein bißchen mehr zu thun bekommt als bisher.“

Sabine wurde dunkelrot. Sie richtete sich höher auf. Ihr Blick, düster und tief, ging an allen Anwesenden vorbei. Sie sah durchs Fenster, in den grauen Himmel, ins Grenzenlose, ins Ungewisse – – – Und ein schwerer Seufzer zitterte von ihren Lippen.

Der Oberamtmann gab seiner Frau einen mahnenden kleinen Puff. Er billigte diese Aeußerung nicht, wenngleich er deren Richtigkeit innerlich durchaus beistimmte. Aber was sollte die arme Sabine machen? Man konnte doch nicht die treue Guste abschaffen, damit Sabine sich mehr um die Küche zu bekümmern vermöge. Die Pflicht, das Küchendepartement unter sich zu haben, hatte für die Vorstellung des Oberamtmanns etwas Befriedigendes, Lebenausfüllendes. Auch der Mutter that es sehr leid, Sabine gekränkt zu haben. Doch gehörte sie zu jenen Naturen, die immer glauben, sich eine Blöße zu geben, wenn sie einen begangenen Fehler eingestehen.

Sich künstlich zum Weitergrollen zwingend, sagte sie halblaut: „Na ja, es ist doch wahr. Es liegt in den Verhältnissen. Ich betone es auch nur, ein Vorwurf soll es nicht sein.“

Das wußte Sabine auch. Aber es that doch weh, sehr weh.

Die Anforderungen der Kinder und all die kleinen unbequemen Folgen des Auftritts rissen Sabine aus ihren Grübeleien.

Die Kinder wollten endlich trinken. Dann sollte die schluchzende Lisbeth abgelohnt werden. Es galt, das triumphierende Gesicht der Köchin Guste zu übersehen. Leo und Milly wollten bis zum Zubettgehen beschäftigt sein, und nachher mußte Sabine sie in großer Hast auskleiden und waschen.

Heute hatte die Mutter ihren Trioabend. Da wurde schon um sieben Uhr gegessen, weil um Acht der Organist Kolvater und der Musikdirektor Turibius kamen. In der üblichen Spielpause hatte Sabine dann belegte Brötchen und Wein herumzureichen; diese Dinge wollten auch erst vorbereitet sein. Es stellte sich in diesen ersten Stunden nach Lisbeths Abgang schon heraus, wieviel Arbeit das flinke Mädchen der Köchin Guste abgenommen hatte, und sowohl Guste als ihre Herrin wurden allmählich doch etwas bedrückt.

Leider konnte aber die Oberamtmännin ihre Hilfe nicht anbieten; sie mußte noch notwendig ihren Klavierpart zu dem Brahms’schen H-dur-Trio üben, der viel zu schwer für ihr Können war. Laut drang durch die kleine Wohnung das seltsam anzuhörende Spiel der einen Stimme. Es war ein Gestammel. Das Fehlen der Cello- und der Violinstimme erzeugte den Eindruck einer peinigenden Unfertigkeit, die auch, abgesehen von dem mangelhaften Spiel, an und für sich den Zuhörer nervös machen konnte. Bald setzte ein melodisches Thema ein und schien plötzlich abzubrechen, dann folgten viele Takte mit unverständlichen Begleitfiguren. Dazu zählte die Spielerin laut und immer lauter.

Der Oberamtmann hörte nie hin. Er war an das Geräusch gewöhnt und las seelenruhig sein Kreisblatt dabei. Aber Sabine glaubte jedesmal, daß sie davon verrückt werden würde.

Die Mutter beklagte sich oft, daß die Tochter gar nicht musikalisch sei. Sabine widersprach nicht. Sie gönnte der Mutter von Herzen diese eifrige Freude am Triospiel und erinnerte sich, daß früher, auf Heinsdorf, die Mutter stets gejammert habe, keine andere Gelegenheit zum Musizieren zu finden, als das vierhändige Spiel mit dem Dorfschullehrer Küps, des Mühlauer Kolonialwarenhändlers Küps Bruder. Jetzt hatte Frau Oberamtmann die Gelegenheit und nutzte sie wöchentlich aus. Sabine mochte nicht erzählen, wie viele herrliche Konzerte sie in Berlin gehört hatte; sie vermied es sorgsam, Künstlernamen zu nennen, die bei ihr Erinnerungen an köstliche musikalische Offenbarungen hervorriefen. Alles würde wie eine abfällige Kritik des Organisten Kolvater und des Musikdirektors Turibius aufgefaßt worden sein.

Und daß Kolvater ebensogut wie Joachim Geige spiele und daß Turibius einer der hervorragendsten Pianisten und Musiker der Gegenwart war, stand für Frau Oberamtmann Deuben wie für ganz Mühlau fest. Beide Männer waren nur durch Familienverhältnisse und Chicane in Mühlau hängen geblieben, während sie in Berlin einen ersten Rang hätten einnehmen können!

Nach dem hastigen Abendbrot war Sabine noch beschäftigt, kleine belegte Brötchen in der Küche zu bereiten, als schon die beiden Herren vorn in das bereits erleuchtete Wohnzimmer traten.

Frau Oberamtmann entschuldigte sich gleich, daß sie keine rechte Zeit gehabt habe, ihren Part ordentlich durchzuüben. Kolvater und Turibius waren in derselben Lage gewesen. Uebrigens tauschten sie diese Entschuldigungen jedesmal aus.

Bevor man sich zum Spiel setzte, pflegte man auch noch die Neuigkeiten der letzten Woche flüchtig zu besprechen, woran Deuben selbst interessierten Anteil nahm.

Im Lichtkreis der Lampe saß man um den Tisch, die Lichter am Klavier und den Notenpulten zündete die Oberamtmännin erst im Augenblicke des Spielbeginnes an.

So im Dämmerschein, im weit zurückgeschobenen Lehnsessel hatte Musikdirektor Turibius wirklich das Aeußere eines Künstlers. Er ließ sich, ohne zu ahnen, daß er damit zwanzig Jahre hinter der Mode für Musiker zurückblieb, das Haar lang wachsen; es fiel in lockiger Biegung hinten bis über den Stehkragen, um den er natürlich einen flatternden Lavallièreschlips geschlungen hatte.

Sein Gesicht war bartlos, da es aber von vielen Fältchen durchfurcht war, so hatte dieser lockige Kopf etwas von verkümmerter, karikierter Jünglingshaftigkeit. Auf der Straße trug Turibius stets einen Kragenmantel. Alle Mühlauer Damen fanden seit 25 Jahren, daß er genial aussähe. Kolvater hatte weniger Pose und wirkte anspruchsloser. Ein gebücktes, bärtiges Männchen, sah er überarbeitet und bescheiden aus, besonders wenn er, der seine acht Kinder mit Orgelspiel, Violinstunden, Schreib- und Leseunterricht an der Elementarschule durchbringen mußte, bei den „reichen“ Deubens zu Gast war.

Sowohl Turibius als auch Kolvater schienen etwas befangen. Das Gespräch floß spärlich. Deuben und seine Frau mußten heute alles abfragen: ob der alte Meinert noch wieder werde; ob bei Landrats heute abend Zeichen besonderer Unruhe im Hause bemerkbar für den Nachbar Turibius gewesen, denn endlich müsse der erwartete Erbprinz sich doch einstellen; ob Frau Organist Kolvater auf dem Damenkaffee bei Frau Rechnungsrat Müller etwas Neues gehört; ob der Leutnant von Pfordt gestern wirklich im Hotel zum Kronprinzen mit Herrn Schrötter-Melanienhof eine tolle Wette um zwanzig Flaschen Sekt eingegangen sei. Kolvater und Turibius waren karg in ihren Antworten und wechselten oft bedeutungsvolle Blicke. Endlich mußte Deuben bemerken, daß sie etwas Besonderes hatten, womit sie zögerten, herauszurücken. Er fragte gradezu nach, in seiner derb humoristischen Art, von welcher er glaubte, daß er sich mit ihr alles herausnehmen dürfe.

„Na ja denn,“ sprach Turibius, einen letzten Blick des Verständnisses mit seinem Freunde Kolvater wechselnd, „es muß gesagt sein. Kolvaters Frau hat es bei Rechnungsrats auf dem Kaffee für ganz gewiß gehört, daß der Leutnant von Körlegg, der Ihren Schwiegersohn im Duell erschoß, nach Mühlau versetzt ist und nächster Tage eintrifft. Lehben ist Hauptmann geworden und kommt nach Metz.“

Deuben und seine Frau saßen wie versteinert. Die beiden Musiker wagten kein weiteres Wort. Endlich rief die Oberamtmännin: „Eine solche unerhörte Taktlosigkeit!“

„Die is unfreiwillig, Alte!“ beschwichtigte der Oberamtmann, „das kannst du dir doch an deinen fünf Fingern abzählen.“

„Gewiß – Gott – ja,“ gab sie zu. „Aber es ist doch ein schrecklicher Gedanke, daß unsere Tochter dem Manne begegnen könnte.“

„Was wollt’ es nicht! Aber sieh mal, Alte – wie oft haben wir uns nicht geärgert, daß Sabine sich um gar nichts kümmerte, was in Mühlau vorging. Sie guckt nich mal raus, wenn die Soldaten mit Musik vorbeikommen, wenn sie nicht gerad’ Milly und Leo ans Fenster heben muß. Ich glaube, sie weiß nicht mal, daß es Hauptmann von Hallendorf ist, der drüben bei Crolpa wohnt, und kennt überhaupt keinen der Herren mit Namen. Das [302] Kreisblatt, wenn es drin steht, können wir ihr auch leicht verstecken. Sie liest es so wie so fast nie. Na, nun sieht man doch, daß es auch seine guten Seiten hatte, daß Sabine sich um nichts in Mühlau kümmert. Sie wird gar nicht erfahren, daß der Körlegg hier ist. Und sagen wird’s ihr auch keiner. Hab’ ich recht?“

Die beiden Herren sagten einstimmig: „Durchaus.“

Auch Frau Deuben war beruhigt, soweit es ging, und konnte wieder eine heimliche Bewunderung für den klaren und allezeit gefaßten Geist ihres Mannes nicht unterdrücken. Sie hielt es aber für verkehrt, ihren Mann durch Zustimmung und Anerkennung zu verwöhnen, und sprach zögernd:

„Ja, du – du nimmst alles leicht.“

Seufzend und sich vertraulich zu den Freunden wendend, fügte sie hinzu: „Es war doch ein schweres Geschick. Mit Schicksalen geht es oft so wie mit Sachen, da hat man das Sprichwort: die Länge trägt die Last.“

„Sehr wahr!“ sprach Kolvater.

„Wahr, wahr!“ bestätigte der Musikdirektor.

Deuben hatte noch mehr beruhigende Punkte im Auge und fuhr fort: „Und dann Herr von Körlegg. So klein Mühlau ist – wer wird ihm gerade davon sprechen mögen, daß Sabine, daß wir hier wohnen? So taktlos wird ja niemand sein. Und da ist es immer möglich, daß sie nichts voneinander erfahren. Ganz Mühlau wird es wie ein öffentliches Geheimnis gerade den beiden gegenüber bewahren. Und schließlich: so etwas kommt doch vor! Wie oft treffen sich wohl sogar Leute, die sich gegenseitig an den Nord- und Südpol wünschen, in einer Gesellschaft!“

„Ach gewiß!“ rief Turibius.

„Hoffen wir das Beste,“ sagte Frau Deuben und stand auf, um die Lichter anzuzünden, wobei ihr keiner von den Herren half. „Aber ich kann nur noch mal sagen: leicht ist es nicht. Wenn man so als Mutter denkt, man hat seine Kinder treu und gut erzogen und selbständig gemacht! Und soll dann so beinahe wie von vorn anfangen! Wo man gedacht hatte, still und ruhig endlich seinen Neigungen leben zu dürfen!“

Alle seufzten beipflichtend, und man setzte sich zum Spiel.

Bald nachher trat Sabine ein und nahm mit einer Handarbeit am Tische Platz. Sie wäre lieber in ihrem Zimmer geblieben, aber der Obcramtmann hatte einmal eine Bemerkung darüber gemacht, daß es eine Verschwendung sei, allabendlich stundenlang zwei Lampen brennen zu lassen.

Von hundert Hindernissen in seinem Gange aufgehalten, stolperte das Trio einher. Die Oberamtmännin zählte halblaut, Kolvater mit stumm sich bewegenden Lippen, Turibius markierte jeden neuen Taktteil mit einer Kopfbewegung. Trotzdem blieben die Spieler nie lange zusammen; sobald eine Unordnung festgestellt war, brach man ab, zählte fünf, zehn, zwölf Takte laut zurück, setzte falsch ein, fing wieder an, bis endlich alle drei Instrumente ein Weilchen im Einklang blieben. Das schöne Hauptthema des ersten Satzes gelang am besten und fiel in Sabinens Ohr so bekannt, daß sie sich entsann, wann und von wem sie es einmal im Saal der „Singakademie“ in Berlin gehört hatte. Bei dem mittleren Teil des ersten Satzes ward die Verwirrung scheinbar heillos, aber die Spieler arbeiteten sich durch, indem jeder unwillkürlich so laut spielte, als er konnte. Ganz befriedigt, schon mit heißen Gesichtern, gingen sie zum Scherzo über, bei welchem Turibius mit dem Oberkörper gleichsam hin und her wogte. Endlich, nachdem das für Sabine ganz unkenntlich gewordene Adagio überstanden war, geriet der freudige Friede der Spieler in Gefahr. An dem leidenschaftlich feurigen Finale scheiterten alle drei, aber jeder schob mit ungeduldigen Worten den Mitspielenden die Schuld zu. Streitend sprach man gegeneinander an.

Sabine trug Wein und Brötchen auf und begeistert sagte die Oberamtmännin: „Ach, es macht doch zu viel Spaß!“

„Es ist das beste und bildendste Vergnügen, das man haben kann,“ bekräftigte Turibius.

„Wir werden es auch noch klein kriegen, dies verzwickte Trio,“ rief Kolvater.

„Natürlich werden wir das!“

Deuben klopfte seiner Frau wohlgefällig die heiße Wange und sagte:

„Na, Alte, du bist ja wieder mal ganz in Rage!“

Und Sabine hörte und hörte, wie sie schwatzten und wieder spielten und wieder stritten und wieder lachend sprachen. Und hörte alles zuletzt wie von fern.

Ihre Seele lechzte danach, ungestörte Sammlung zu haben. Wenn es denn kein Glück auf der Welt gab, mußte es doch irgendwo Ruhe und Einsamkeit geben, nur damit man denken konnte.

An all das Große, das Schmerzliche, das Ungeheure wollte sie denken, das schon in ihr Leben gegriffen. Das waren doch Ereignisse gewesen, das war doch Leben gewesen. Was war hier?

Und an das Unbegreifliche wollte sie denken, daß der Mann, der ihr den Gatten getötet, der Mann, dem sie einmal in das ernste, bleiche, stolze Angesicht geschaut hatte, daß gerade dieser eine Mann fortan mit ihr in dieser engen Welt leben sollte.

Aber der Kleinkram des Daseins, der sie umgab, gönnte ihr nicht einmal das Denken, nicht einmal das bange Staunen.

„Sabine, schenk’ mal Herrn Musikdirektor ein!“ – „Sabine, hörte man es sehr, daß wir nicht zusammen waren?“

Und dann, wenn sie herausgerissen war aus ihren Gedanken, hörte sie zunächst immer wieder das brutale Musizieren so erbarmungslos deutlich. Langsam, langsam stumpfte sich ihr Ohr ab, vergaß sie das Hören, verträumten und verschwammen die Töne, bis ein neuer Anruf sie zu ihrer Umgebung zurückrief. – Als Sabine sich an diesem Abend zu Bett legte, bohrte sie die Stirn fest ins Kissen, damit die Kleinen, die friedlich schliefen, die Mama nicht weinen hören sollten.

Wilder als sonst weinte sie, und sie sprach es mit lauter Stimme verzweifelt in ihr Kissen hinein: „Könnte ich doch nur Geduld lernen – Geduld – Geduld …“


4.

Einige Zeit lang drehten sich die Gedanken Sabinens hauptsächlich um zwei Fragen. Die eine war: Wissen die Eltern es? die andere: Ist er schon hier?

Daß ihre Eltern von der Versetzung des Herrn von Körlegg in das Mühlauer Bataillon wußten, ward ihr ziemlich bald klar.

In der Bewahrung von Geheimnissen waren sowohl der Oberamtmann als auch seine Frau von einer rührenden Unbeholfenheit. Sie waren eben nicht gewohnt, Geheimnisse zu haben. Wenn jetzt ein Besuch zufällig von der Beförderung und Versetzung des Herrn von Lehben sprach, der bisher in Mühlau einer der „interessantesten Männer“ gewesen war, mit denen sich das Gespräch gern beschäftigte, gaben sie Zeichen, zu schweigen, und sahen in ängstlicher Verlegenheit drein. Sabine fühlte: die Verlegenheit galt dem Namen desjenigen, der an Lehbens Stelle ins Bataillon trat. In auffallender Weise riß der Oberamtmann morgens das Kreisblatt an sich. Sabine, die es doch nie las, merkte, daß jetzt etwas drin stehen könnte, was man ihr verbergen wollte.

Wie wäre es auch denkbar gewesen, daß sich in Mühlau eine Personalveränderung vollzogen hätte, ohne daß der Oberamtmann davon erfuhr. Seine Tagesbeschäftigung war ja geradezu, Mühlau zu bewachen.

Warum sprach man nicht offen mit ihr davon? Aber das begriff sie im Grunde. Kleinstädtische Menschen haben häufig nicht die innere Freiheit, ungewöhnlichen Dingen unbefangen ins Auge zu sehen, sondern im Gegenteil die Neigung, sie durch Zudecken und Vertuschen peinlicher zu machen.

Warum aber sprach sie selbst nicht harmlos davon, daß ihr Schwager ihr Körleggs Versetzung gemeldet hatte? Diese Frage vermochte sie sich nicht zu beantworten. Sie konnte sich zehnmal vorrechnen, daß hier kein Grund zum Verschweigen sei; es gab in dem Drama keinen Schuldigen, oder vielmehr Körlegg war dieser Schuldige nicht. Eher der Mitleidende, ein Mann, von dem man mit Verständnis, mit Schonung, mit Achtung sprechen durfte. Von dem gerade sie so hätte sprechen müssen, um darzuthun, daß in ihrer Seele kein Groll gegen ihn war!

Und allen Verstandesgründen zum Trotz beschwieg sie diesen Mann, und wenn sie seiner dachte, klopfte ihr Herz beängstigend.

War er schon in Mühlau angekommen? Sabine konnte an niemand diese Frage richten. Das frühere Kindermädchen, die gute Lisbeth, die mit einem Unteroffizier in Lehbens Kompagnie [303] verlobt war, die hätte man ganz obenhin fragen können, ob der neue Premier schon eingetreten sei. Aber Lisbeth war entlassen und mit der Neuengagierten, die auch wieder Lisbeth genannt wurde, weil der Oberamtmann für alle Dienerschaft von jeher bestimmte Vornamen in Gebrauch behielt, war es nicht ratsam, eine Silbe über das Notwendige zu wechseln. Die neue Lisbeth hatte ein ungemeines Mundwerk, und Guste sah ihre Intriguen gegen die frühere Lisbeth hart gestraft.

Eine verzehrende Neugier beunruhigte Sabine. Nur wissen hätte sie es mögen. Weiter gar nichts. Wenn ich erst weiß, er ist hier, wird mir wieder ruhiger werden, bildete sie sich ein.

Und eines Nachmittags konnte sie es denn mit eigenen Augen sehen: er war da!

Sie saß, wie alltäglich um diese Tageszeit, am Fenster, auf die Eltern wartend, während ihre Kleinen mit Lisheth spazieren gingen. Drüben am Fenster stand Hauptmann von Hallendorf und kokettierte herüber. Er war hierin neuerdings etwas deutlicher geworden, denn ihm schien es, als ob Sabine von Zeuthern ihn nicht mehr übersähe. Und darin hatte er recht – nur daß Sabine oft zu ihm hinsah mit den Gedanken: ob er schon den neuen Premier in seiner Kompagnie hat? – Ob er sich gut mit Körlegg steht, stehen wird? – Dieser Fant, dieser Mensch mit dem sonderbaren Gemisch von Philiströsität und Forschheit, der wird nun „sein“ unmittelbarer Vorgesetzter!

Unten auf der Straße ging alle paar Minuten einmal ein Mensch vorbei. Es war zwar die Hauptstraße, aber Mühlau schlummerte von Eins bis Drei. Träumerisch stand Herr Küps in seiner Thür, die Hände auf dem Rücken gefaltet, zum blauen Maihimmel emporsehend.

Da ging jemand mit raschen, klingenden Schritten vorbei. Ein hoher, schlanker, blonder Mann, im Ueberrock des Regimentes, die Mütze auf dem Kopf. Er ging mitten auf dem Fahrdamm.

Und drüben riß der Hauptmann sein Fenster auf und rief einige Worte hinab. Der unten stand still und antwortete hinauf.

Sabine sah nur ein Wangenprofil, sah seine Gestalt und seine Art sich zu halten und zu bewegen und kannte ihn gleich.

Ihre Knie zitterten, ihre Lippen wurden trocken.

Sie hielt sich mit klammernden Händen an dem Tischchen fest, das vor ihr stand, und saß doch sicher im Stuhl.

Als dann die Eltern kamen, fragte die Mutter liebevoll besorgt: „Fehlt dir was, Sabine?“

„Mir? – mir nichts. Ich bin ganz wohl,“ brachte sie heraus. Aber der Spiegel, in den sie unwillkürlich blickte, zeigte ihr ein fahles, verzerrtes Gesicht.

„Ich hab’ ein wenig Kopfweh,“ sagte sie, „das macht mich immer gleich so blaß.“

Nun wußte sie: er ist da. Aber das Wissen gab ihr keineswegs die vermutete Ruhe. Viele neue Fragen tauchten auf.

Wußte er, daß sie hier lebe? Was würde geschehen, wenn sie sich zufällig träfen, gar träfen, wenn Sabine in Begleitung ihrer Mutter sich auf der Straße befände? Würde er, würde sie selbst nicht verraten, daß man sich schon einmal im Leben begegnet war? Würde er grüßen? Sie überhaupt erkennen?

Die Neugier auf all dies war noch brennender als die vorige. Sabine fühlte sich außerstande, sie zu ertragen.

In langen Briefen sprach sie sich zu ihrer Freundin Susanna darüber aus, von der so viel Jüngeren Rat verlangend. Susanna schrieb, daß sie fände, ein Gebot der Menschlichkeit und Rücksicht gegen Körlegg erheische es, ihn von Sabinens Anwesenheit in zarter Form zu benachrichtigen. Nur so könnten aufregende Scenen, wie eine unerwartete Begegnung in Gegenwart taktloser, verständnisloser Menschen, vermieden werden.

Diesen Rat hatte Sabine hören wollen. Aber die „taktvolle Mittelsperson“, die Susanna für die Benachrichtigung an Körlegg zu wählen riet, fehlte. Ihren Bruder Reinald konnte Sabine nicht damit beauftragen, sie sprach ihn überdies nie allein.

Sie spielte mit dem Gedanken, Körlegg zu schreiben, schreckte aber vor der Ausführung doch zurück, obschon sie im Geist bereits zehn verschiedene Briefe entworfen hatte.

Mühlau ist so klein, er muß mir doch endlich einmal begegnen. Wo es auch sei, wenn ich allein bin und wenn er allein ist, wir werden uns aussprechen. Er wird fühlen, wie ich es fühle, daß es unmöglich ist, in einer Stadt zu leben, ohne eine letzte Aussprache, dachte sie entschlossen.

Von da an fing sie an, viel spazieren zu gehen. Sie machte auch kleine Besorgungen selbst, die bis dahin Lisbeth hatte ausführen müssen, und zeigte sich freundlicher gegen Hinz und Kunz in der Stadt. Befriedigt beobachtete Frau Oberamtmann Deuben einmal vom Fenster aus, daß Sabine auf der Straße mit Frau Doktor Sebold einige Schritte zusammen ging, dann noch mit Frau Küps und Frau Rechnungsrat Müller drüben vor Küps’ Laden plaudernd stand.

„Gottlob, so nach und nach findet sie sich in die Verhältnisse,“ sagte die Mutter, und der Oberamtmann meinte: „Zeit wurde es.“

Ja, Mühlau war sehr klein. In einem Städtchen von achttausend Einwohnern muß man sich eines Tages begegnen.

Auf dem großen ovalen Marktplatz stand ein Brunnen. Aus einem spitzgekrönten, vielfach durchbrochenen, verrosteten, eisernen Aufbau fielen in vorsichtigen Bogen vier dünne Wassersträhne in ein achteckiges Bassin. Die blanke Wasserfläche war in einer ewigen Bewegung, Kreise zerstießen sich aneinander, Blasen schäumten, wo der Strahl sich in die Fläche bohrte. Die Mühlauer waren sehr stolz auf ihren Marktbrunnen. Das heißt, früher hatten sie auf das „alte Monstrum“ geschimpft und würden längst einen andern Brunnen dahingesetzt haben, wenn der Stadtsäckel es nur hätte erlauben wollen. Aber seit es Mode geworden war, märkische Geschichte zu treiben und alte Stücke aus den Zeiten der ersten Hohenzollern hochzuhalten, war der Mühlauer Brunnen ein Werk „guter gotischer Schmiedeeisenarbeit“, das vermutlich von Albrecht Achilles gestiftet worden war, worüber der Bürgermeister schon seit Jahren Erhebungen anstellte. Um diesen Brunnen breiteten sich jeden Sonnabend und Mittwoch die Marktfrauen mit ihren Warentischen und Körben aus. Es war dann beinahe ein Gewühl auf dem Markt.

Für Leo und Milly war es ein Hauptvergnügen, dazwischen umhergeführt zu werden.

Und da gerade, im Gedränge der Menschen, hinter sich den plätschernden, raunenden Brunnen, in einer Lücke zwischen zwei aufgespannten Marktschirmen, sah Sabine zum erstenmal Achim von Körlegg. Er ging mit Hallendorf und dem Bürgermeister Dorsten. Sie gingen nah’ vorüber. Nur der Gemüsestand einer Bauernfrau, die Sabine und dem Brunnen den Rücken kehrte, war zwischen ihnen.

Hallendorf und der Bürgermeister standen mit der Oberamtmannsfamilie auf dem Grüßfuß. Sie grüßten Sabine, Körlegg grüßte natürlich mit.

Sie neigte das Haupt. Sie sah nur ihn, nur seinen Gruß.

Sie vermochte lange nicht von der Stelle zu gehen.

Diese Begegnung machte ihr Bedürfnis, einmal, ein einziges Mal nur noch mit ihm zu sprechen, zu einem fieberhaften.

Ihre Blicke hatten sich getroffen. Was kann nicht alles in einem Blick liegen! Immer sah sie den seinen vor sich, und er schien sie zu fragen: Hassest du mich? Habe ich dich nicht doch beraubt? Kannst du mir vergeben?

Dieser flüchtige Wechsel von mehr erschreckten als inhaltsvollen Blicken erweiterte sich in Sabinens Phantasie zu einem ganzen Erlebnis.

„Man wird ihm hier meine Ehe und mein Leben in einem falschen Licht darstellen,“ dachte Sabine gequält, „er wird hören, daß ich eine sehr glückliche Frau war, und das wird ihn belasten.“

Die Mühlauer glaubten in der That, daß Sabine von Zeuthern in einer sehr befriedigenden Ehe gelebt habe.

Sie klagte gegen niemand. Nicht einmal gegen ihre Eltern. Sie war von dem Gedanken ausgegangen, daß eine Frau, die in glücklicher Ehe lebt, gern einmal über ihren Mann schelten und über die Schwierigkeiten der Ehe sprechen darf – das Glück in ihren Augen korrigiert die augenblicklichen Mißstimmungen, von denen der Mund spricht. Für eine unglückliche Frau giebt es nur Schweigen und Diskretion.

So wußte es kein Mensch, wie sie gedarbt, und wie sie gelitten hatte. Er aber, er sollte wenigstens die Wahrheit ahnen, damit sein Herz nicht beschwert bleibe.

[325] Jeden Tag ging Sabine nun nach dem Kaffee allein vor den Thoren von Mühlau spazieren.

Südlich aus dem Oderthore führte eine mit Obstbäumen bestandene Chaussee durch grünende Felder schier endlos gegen einen Horizont, den das langsam steigende Gelände bildete. – Da war kein Reiz als die Weite und keine Schönheit als der große Himmel im Glanz seiner Bläue oder im geheimnisvollen Leben ziehender Wolken.

Aber westlich, aus dem Berliner Thor, zogen zwei Landwege, rechts und links von der Chaussee, ihre ausgefahrenen Spuren durch eine mannigfaltige Landschaft. Die Chaussee durchschnitt bald einen Kiefernwald und führte nach Heinsdorf. Der Landweg rechts ging über ein sandiges Heidegebiet zu trockenen Hügeln, die von jungen Kiefern bestanden waren. Der Weg links führte zum Mühlauer Kirchhof, und vom Thore bis dahin hatten wohlhabende Bürger, angeregt vom Bürgermeister Dorsten, auf dem Sande einen Park angelegt. Mühsam kämpften Gebüsche und Platanen um ihr Leben. Der ganze Park mit seinen Wegen und seinem Mittelplatz war durchsichtig und dürftig zum Erbarmen. Wenn ihn nicht gerade einmal ein Leichenzug durchquerte, oder einer von den spärlichen Kirchhofsbesuchern, lag er verlassen. Hier streifte Sabine umher und saß auch wohl lange auf einer der drei Bänke, die der „Verschönerungsverein“ auf dem Rundplatz aufgestellt hatte.

Die karg begrünten Fliederbüsche blühten nicht mehr, kräftiger strebten die Akazien auf dem Sandboden empor, zwischen ihren langen Federblättern hingen die weißen Blütentrauben.

Von Düften war die Luft gesättigt. Leuchtend stand ein blauer Himmel über der Erde.

Durch das ruhevolle Schweigen der Frühlingsschönheit drang manchmal das feine Gezwitscher steigender Lerchen.

Die Sehnsucht zersprengte fast Sabinens Herz. Die unnennbare, unbestimmte, [326] grenzenlose Sehnsucht, die nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie will.

Mit geschlossenen Augen gab Sabine sich ihrer schmerzlich schönen Empfindung hin, horchte auf die fernen Lerchenstimmen und fühlte den wehenden Blütenduft auf ihrem Angesicht.

Da nahte ein Schritt. Dumpf nur klang er vom weichen Sandboden, dennoch hörte ihn Sabine. Sie riß die Augen auf. Was sie seit Tagen angestrebt hatte, was sich ihr naturgemäß deshalb erfüllen mußte, begab sich nun: Achim von Körlegg kam heran.

Und dennoch, obgleich sie sich immer gesagt hatte, daß sie ihn notwendig so eines Tages treffen müsse, obgleich ja dies ihr einziger Zweck gewesen, dennoch erschrak sie wie vor einer nie geahnten Zufälligkeit. Ein schamhaftes Empfinden trieb ihr alles Blut ins Gesicht. Wenn er ahnte, daß ich eigentlich getrachtet habe, ihm in den Weg zu kommen! dachte sie zitternd.

Er hatte sie erkannt, auch er errötete stark.

Daß er mit einem höflichen Gruß vorübergehen könne, fiel ihr gar nicht ein. Auch ihm schien das gar nicht einzufallen.

Grüßend trat er heran. „Darf ich fragen, gnädige Frau, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht? Darf ich es?“ fragte er mit etwas heiserer Stimme.

„Ich habe getrachtet, gehofft, Ihnen einmal zu begegnen,“ sprach Sabine, unfähig sich zu bezwingen, ihre Gedanken zu verbergen. Sie deutete mit der Hand auf den Platz, den die lange Bank reichlich für mehr als noch eine Person neben Sabine ließ.

Er verbeugte sich ernst und setzte sich. Dann schwiegen sie.

Die Sonne brütete über der dürftigen Anpflanzung. Die Düfte stiegen. Alles war still. Weit und breit kein Mensch.

„Er sieht wohl aus,“ dachte Sabine, „frischer als damals. Die Reise hat ihm gut gethan.“

„Demnach,“ begann Achim endlich das Gespräch, an ihre Worte anknüpfend, „haben gnädige Frau mir irgend etwas zu sagen? Oder kann ich Ihnen einen Dienst leisten? Es giebt keinen, für den ich nicht mit Gut und Leben zur Verfügung stände!“

Sabine war von dem brennenden Verlangen beherrscht, zu wissen, alles zu wissen, was er denke und empfinde.

Sie sah ihn begierig an. „Hatten Sie schon erfahren, daß ich hier lebe? Sie schienen gar nicht überrascht – neulich, als wir uns auf dem Markt begegneten.“

„Ja!“

„Wann? Wie?“ fragte sie drängend.

Sie hatte den linken Arm, er den rechten auf die Banklehne gestützt. So saßen sie, einander zugewandt, von weitem anzusehen wie zwei gute Freunde, die miteinander plaudern.

„Gleich am dritten Tag, durch Kameraden,“ erzählte er. „Ich that die übliche Frage nach den Familien, bei denen man verkehren kann, nach den Besuchen, die ratsam sind zu machen. Man zählte neben den Mühlauer Honoratioren auch die Gutsbesitzer der Gegend auf, darunter Herrn Reinald Deuben auf Heinsdorf. Noch ehe mein Gedächtnis mir klargestellt, wo ich den Namen schon einmal gehört habe – denn Ihr Familienname, meine gnädige Frau, hatte mich nicht besonders beschäftigt, doch las ich ihn einmal, ich glaube bei der Todesanzeige in den Blättern – ehe ich noch recht nachdenken konnte, stritten schon die Kameraden, ob ein Verkehr zwischen mir und Deuben möglich sei, über den militärisch unumgänglichen hinaus, der daraus resultiert, daß Ihr Herr Bruder Reserveoffizier unseres Regiments ist. Aus diesem Streit erfuhr ich, daß Sie hier leben.“

Mit gesenkten Lidern hatte sie zugehört. Nun schlug sie plötzlich die Augen auf. Eine sonderbare Empfindung durchzuckte ihn; ihm war, als erschrecke er vor diesen brennenden Blicken.

Und während der langen Zeit, die er in der großen, freien Welt gelebt, hatte er geglaubt, mit diesen Augen innerlich ganz fertig geworden zu sein.

„Und da war Ihnen Ihr neues Kommando und Mühlau und alles vergällt?“ fragte sie.

Sie wollte hören, daß er litt. Sie wollte eine Mission an ihm haben, die, ihm seine Ruhe wiederzugeben, seine Gedanken zu erheitern.

„Nein,“ sprach er und sah sie frei und fest an. „Schließen Sie aus diesem Nein nicht, daß ich leichter über alles Vergangene denke als vor einem Jahr, wo wir uns am Grabe Ihres Gatten begegneten. Aber ich habe zehn Monate lang in Amerika gelebt. Das will was heißen. Zumal will es heißen, daß es keinen Menschen giebt, der so starr, so glatt, so unzugänglich ist, daß die Ansichten und Einflüsse seiner Umgebung nicht an ihm abfärbten. Ich bin frischer und unbefangener geworden. Oder ich komme mir wenigstens so vor. Ich bilde mir ein, den Ueberschuß von Schwere und Gefühl, an dem wir alle leiden, doch ein bißchen beschnitten zu haben. Ja, es ist und bleibt so: ich habe einen Mann, der Gatte und Vater war, im Duell erschossen. Aber ebenso ist und bleibt es wahr, daß ich hierfür nicht der Verantwortliche bin. Weder im allgemeinen noch im speziellen. Mit Ernst, mit Trauer darf ich an das Geschehene denken. Nicht aber mit grüblerischen Empfindungen, die meine Kraft zerstören müßten. Ich bin ein Mann und ein Soldat. Die Zähne zusammen! Weiter! Und nicht zurückgesehen. Das ist mein Vorsatz!“

„Und mit solchem brauchte es Sie allerdings nicht weiter aufzuregen, daß Sie mich hier finden, daß mein Bruder Ihr Kamerad ist“, rief sie bitter. Er sah sie in schmerzlichem Staunen an.

„So wünschten Sie, daß ich in Erinnerung an das Ereignis für immer ein bedrückter Mann und innerlich unfrei bliebe?“ fragte er leise.

Sie erglühte. Sie wußte nicht klar, was sie wollte und wünschte. Nur beschäftigen sollte er sich in seinen Gedanken mit ihr und ihrem Geschick! Und wenn er unglücklich, gequält des Geschehenen gedachte, so war das doch immer eine Beschäftigung mit ihr – – Aber dennoch sprach sie reuevoll: „Vergeben Sie mir.“

„Die Lage,“ fuhr er fort, „ist immerhin seltsam, wenn sie mich auch nicht aufregt und nicht unsicher machen darf. Ihre Eltern, gnädige Frau, höre ich, leben ziemlich zurückgezogen, ebenso Sie selbst. Ihr Bruder und ich werden keine Intimität miteinander suchen, bei den unvermeidlichen Begegnungen wird ihm und mir der Takt nicht fehlen – dieser alles vermittelnde, alles ausgleichende, alles zudeckende Takt, der in uns Offizieren sozusagen schon mechanisch funktioniert. Und sollten Sie, meine gnädige Frau, im Winter, wie ich herzlich hoffe, wieder in der Gesellschaft erscheinen, so dürfen Sie sicher sein, daß ich immer einen Grund finden werde, abzusagen und Ihnen eine Begegnung mit mir zu ersparen.“

Sie hörte aus seiner Rede vor allen Dingen dies eine heraus, daß er nicht daran dachte, sich versetzen zu lassen. Sie atmete befriedigt und erleichtert auf. Als sie sinnend schwieg, fragte er, der ihre ersten Worte nicht vergessen hatte: „Sie hatten danach getrachtet, gnädige Frau, mich einmal zu treffen. Darf ich nun erfahren, was Sie von mir wünschen?“

Eine plötzliche Verlegenheit überfiel sie. Mit einem Male begriff sie, daß ihr Vorsatz, diesem Manne so schlankweg gestehen zu wollen, ihre Ehe sei unglücklich gewesen, ein Unsinn, eine unweibliche Thorheit war. Wie hatte sie überhaupt nur eine Sekunde lang dergleichen denken können!

Nach einer kurzen Pause sagte sie hastig: „Alles, was Sie eben zu mir sprachen, – das war’s, was ich zu wissen, zu besprechen wünschte. Ich war sehr beunruhigt, in dem fortwährenden Gedanken, daß Ihnen die Situation lästig sei. Ich glaubte, sie werde klarer, ruhiger, wenn wir …. wenn wir einmal ….“

„Sie haben recht gehabt, meine gnädige Frau,“ gab er herzlich zu. „Es ist mir in der That eine Beruhigung gewesen, Ihnen mitteilen zu dürfen, wie ich denke und daß ich meinen hiesigen Aufenthalt nicht als ein so tragisches Mißgeschick ansehe, das mir jede Minute des Daseins vergällt. Ich hatte in der That gefürchtet, daß Sie mit dieser Vorstellung an mich denken könnten.“

„Sie haben nachgedacht, was ich ….“ rief Sabine und verstummte erschreckt. Etwas ganz Unbedachtes, sehr Impulsives hatte von ihren Lippen gewollt.

Auch er erschrak. Sie vermieden es, sich anzusehen. Sie begriffen, daß sie sich eigentlich gestanden hatten, wie ihre Gedanken unausgesetzt miteinander beschäftigt gewesen.

Mit veränderter Stimme, hörbar tief bewegt, auf den sandigen Weg niederschauend, in den er mit seiner Säbelscheidenspitze Striche grub, fragte Achim: „Und darf ich wissen, wie sich Ihr Leben gestaltet hat?“

Sie schwieg, mit sich kämpfend. Antworten hieß hier gleich: zu viel sagen!

„Halten Sie mich nicht für zudringlich,“ fuhr er fort, „aber [327] ich meine, Ihr Leben geht mich doch sehr viel an. Ein verhängnisvolles Geschick entfernt uns ganz und gar voneinander. Und eben dieses Geschick verbindet uns in seltsamer Weise. Gleichgültig kann mir Ihr Leben, das Ihrer Kinder nicht sein, niemals!“

Sie nickte vor sich hin und murmelte: „Nein, nein – Gleichgültigkeit – – das ist unmöglich.“

„Sie leben bei Ihren Eltern,“ sprach er, „wenn es denn sein mußte, daß Sie Ihre Selbständigkeit aufzugeben gezwungen waren, so war die Rückkehr in das Elternhaus gewiß die beste, die glücklichste Form.“

„Glauben Sie?“ rief sie bitter. „Ich meine, selbständige, redliche Arbeit, eine Existenz, darin ich Herrin meines Willens blieb – das wäre die beste, die glücklichste Form gewesen.“

„Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern ist kein gutes?“ fragte er entsetzt.

„O ja – das beste,“ sprach sie mit steigender Leidenschaft, „mißverstehen Sie mich nicht! Mein Vater ist die Güte und Treue in Person, meine Mutter quält sich, wenn sie denkt, ich sei nicht zufrieden, beide beten meine Kinder an. Ich habe nur den einen Wunsch, das friedliche Alter meines Vaters, meiner Mutter nicht zu trüben.“

Es riß sie fort zu sprechen. Endlich, endlich konnte all das verschwiegene Leid herausgeschrieen werden. Was sie keinem Menschen auf der Welt sagen durfte, was ihr Stolz gegen jedermann geleugnet haben würde, diesem einen Mann, der ihr so wunderlich nahe und so unerreichbar fern stand, diesem konnte sie sich offenbaren. Wie von selbst lag es wie tiefes Geheimnis über allem, was sich zwischen ihnen begab.

„Sie hören es, wir lieben uns innig, meine Eltern und ich. Und dennoch! Ich lebe ihr Leben – nicht mein eigenes! Und ich bin ein Mensch, der nur in aufbäumender Qual erträgt, was seiner Individualität widerstrebt. Ich beneide die Weiber, die sich duldend fügen und schmiegen können. Ich kann es nicht. Lebe ich hier denn überhaupt? Alles giebt es nur in meiner Erinnerung oder in meiner Phantasie: Glück, Ereignisse, Leben. Und wie mich diese kleine, enge Stille rund um mich her drückt! Da kommt man auf verrückte Ideen. Man träumt in Unwahrscheinlichkeiten, anstatt mutig die Wirklichkeit anzusehen. Meine Eltern – ja die sitzen still am Winterherd – da kann man Seelenfrieden haben und vergißt vielleicht, wie es war, da man noch im Sturm stand. Ich soll mit an diesem Herde sitzen. Ich! Schon – – schon, und soll begreifen, daß alles aus ist, die ich kaum anfing! O nein, es wäre besser gewesen, sie hätten mich, wie ich wollte, um mein Brot kämpfen lassen. Wenn es auch nur dürftig gewesen wäre – ich hätte einen Inhalt für meine Tage gehabt!“

Achim war sehr erschüttert. Das flammende Wesen der Frau riß ihn fort. Sie war also doch unglücklich! Sie litt und bäumte sich vergebens auf. „Ihre Kinder!“ rief er eindringlich und faßte nach ihrer Hand, sie beruhigend zwischen seine beiden Hände nehmend.

Ein melancholisches Lächeln verklärte ihr Angesicht.

„Ja, Milly und Leo,“ sprach sie, „aber sehen Sie – ich muß es sagen, ich weiß, Sie verstehen mich gewiß nicht falsch: was kleine Kinder für eine Mutter sind, ja, was große Kinder sind, das wird nie richtig gemessen. Darüber giebt es so viel schöne Redensarten, daß keiner mehr den Mut hat, die nüchterne Wahrheit zu sagen. Wenn mir meine Kinder stürben, ich glaube, ich stürbe vor Verzweiflung ihnen nach. Und so empfindet jede echte Mutter. Aber Kindern giebt man. Die Kinder ernährt man; mit den besten Kräften der eigenen Seele nährt man gewissenhaft ihre Seele. Sie stehen nie, niemals auf einer Stufe mit uns. Erst sind sie wie holde Pflanzen, die man hegt und pflegt. Dann süßes Spielzeug, erheiternder Sonnenschein. Dann Gegenstand der Liebe und Sorge, und das bleiben sie immer! Sie lohnen mit Dankbarkeit – sie geben Liebe wieder. Ja – aber die aufschauende Liebe der Ehrfurcht! Die Dankbarkeit der Pflicht. Es ist keine Freiheit und keine Gleichheit und keine Wahl in dieser Liebe. Und jeder Mensch und jedes Weib braucht ein gleichgeordnetes Wesen, von dem man zurückempfängt, was man nach anderer Richtung ausgiebt. Ohne diesen Ausgleich verzehren wir unsere besten Kräfte mehr und rascher, als das Gemüt erträgt, ohne Schaden zu leiden. Oh, darüber habe ich schon so viel nachgedacht – sehr viel!“

Er fühlte, daß sie Wahrheiten sprach, die sie in schwersten Kämpfen erworben hatte. Er hörte, daß ihre Seele darbte, daß eine laute, gewaltige Stimme in ihr nach Liebe, Glück, nach einem verstehenden Gefährten, nach Selbständigkeit schrie. Er ließ ihre Hand fahren. Sein Gesicht war bleich, seine Stimme tonlos.

„Und ich habe Ihnen alles geraubt,“ sprach er. Sie sprang auf. Das lodernde Feuer in ihren Augen erlosch. Sie atmete schwer und griff, um sich zu stützen, nach der Banklehne. Geängstigt stand er vor ihr und sah, daß sie nach Worten suchte.

Jetzt war der Augenblick gekommen – jetzt durfte, mußte sie ihm sagen: Du hast mir nichts geraubt. So arm war ich schon in meiner Ehe. Nur die Form meines Unglücks hat sich geändert.

Aber sie konnte nicht. Sie suchte sich zu fassen, es dauerte lange.

„Hören Sie nicht auf mich,“ sagte sie endlich mit Anstrengung und einem erkünstelten Lächeln. „Mein Temperament riß mich einmal wieder fort. Ich habe es ja gut vor Tausenden. Ich habe keine Not mit meinen Kindern. Das ist viel. Alle Menschen sagen es – dafür muß man dankbar sein.“

Nun aber war es mit seiner Selbstbeherrschung vorbei. Er griff nach ihrer Hand und preßte sie heftig.

„Sie leiden!“ rief er, „ich habe es begriffen. Sie, die für strahlendes Glück geboren scheinen. Von diesem Augenblicke an werde ich keine Ruhe mehr haben, bis ich höre, die Wunden sind geheilt, ein neues Glück erfüllt Sie ganz!“

Sie ließ ihm ihre Hand und lächelte ihn schmerzlich an.

„Sorgen Sie sich nicht um mich,“ bat sie, „ich bin allein schuld, wenn es mir nicht gelingt, zufrieden zu werden. Ich klage mich an, ganz einzig nur mich. Ich bin so unglücklich veranlagt, das ist alles! Egoisten haben es gut. Die ganz Selbstlosen auch. Beide befinden sich in einem zweifellosen Zustand. Aber ich schwanke so hin und her: bald verlange ich Unerhörtes an Glück und Gunst vom Schicksal für mich. Bald habe ich nur das eine Verlangen, mich für die Meinen aufzuopfern. So komme ich aus den Kämpfen nicht heraus. Bald bin ich unglücklich für mich, bald für andere. Ob ich mit solcher Veranlagung nun in Berlin oder in Mühlau lebe – nicht wahr, das ist gleich.“

Sie wollte mit einem Scherz schließen. Aber ihre Stimme brach dabei und sie wandte schnell das Haupt ab.

„Gehen Sie,“ flüsterte sie, „es ist besser.“

„Ich gehe,“ sprach er, „ich gehe unglücklicher als ich kam und doch reicher. Sie haben mir Anteil gegeben an Ihrem Leiden. Und wenn uns der Zufall wieder einmal zusammenführt, fern von rohen und unverständigen Beobachtern – darf ich mir dann die Freiheit nehmen, Sie zu fragen, wie es Ihnen und Ihren Kindern geht?“

Sabine nickte stumm. Er nahm ihre Hand und küßte sie dankbar und ehrfurchtsvoll. Dann ging er.

Sabine setzte sich wieder auf die Bank und brach in Thränen aus.

Rings um sie blieb alles still. Allmählich trocknete sie die Thränen und sah ängstlich umher, ob kein Neugieriger ihr Weinen beobachtet habe. Kein Mensch weit und breit.

Durch die karg belaubten Büsche der kümmerlichen Anlagen schimmerten gradeaus die Häuser von Mühlau. Eine Nebenstraße wandte ihre Rückseite dem „Bürgerpark“ zu, da lehnten sich an rote Wände hölzerne kleine Stallanbauten und schmale Nutzgärten zogen sich bis an die Grenze des Parkes. Aus stumpfen kleinen Schornsteinen, die aus Ziegeldächern aufragten, wölkte sich feiner, grauweißer Rauch in die trockene Luft. Unveränderlich, in lachendem Blau stand der Himmel und gab, wo er als Wand hinter Mühlau prangte, dem rotgrauen Kirchturm und seinem grünen Kupferspitzdach den farbenprächtigsten Hintergrund.

Sabine stand auf und ging raschen Schrittes stadtwärts. Ihr war, nachdem sie die letzte Thräne getrocknet hatte, unaussprechlich leicht, fast glücklich zu Mut.

Ihr war, als habe sie die letzten zehn Monate mit Warten zugebracht. Der heutige Tag hatte es ihr erfüllt.

Die Stille war vergangen und das Leben war gekommen.

Endlich ein Erlebnis! Endlich eine Stunde, die durchkostet zu haben sich lohnte, die man im Geist wieder und wieder durchdenken konnte. Endlich ein Mensch, der von ihr wußte, sie verstand, um sie litt, dessen Herz mit heißen Wünschen Glück in ihr Dasein ersehnte, der alles, alles für sie thun würde, der für sie die Sterne vom Himmel herunterholen möchte, um sie ihr zu bringen. Ein Mensch, der sich innerlich gezwungen fühlte, an sie zu denken, aber nicht in jenem Zwang, den die Pflicht aufdrängt! [328] Ein Mensch, dem ihre Persönlichkeit Inhalt des Lebens gab, dessen Persönlichkeit ihren Tagen neuen Inhalt brachte.

Ihre Schritte waren beschwingt, ihre Augen glänzten.

Und doch war keine Unklarheit und eigentlich auch kein Ueberschwang in ihren Gedanken. Sie wußte, daß Achim von Körlegg und sie niemals einen freundschaftlichen, offenkundigen Verkehr miteinander unterhalten könnten, daß die Vorurteile der ganzen Welt, zum wenigsten der Mühlauer Welt sich dagegen auflehnen würden. Eine Witwe befreundet sich nicht mit dem Mann, der ihr den Gatten erschossen hat, wenn auch noch so unfreiwillig, noch so bereut erschossen.

Aber vor ihrem eigenen Richterstuhl fand sie sich nicht anklagbar dafür, daß ihr Achim von Körlegg sympathisch war, daß sie keinen Mann gesehen hatte bisher, der ihr gleich bedeutend, gleich ernst, gleich männlich erschienen wäre.

Wie sehr hatte sie sonst gelitten, wenn sie morgens erwachte, aus vielleicht inhaltreichsten Träumen zum inhaltleersten Tag. Der Gegensatz der Wirklichkeit zu ihren Glücksbedürfnissen marterte sie dann mit immer neuer Kraft.

Das war nun vorbei. Das Glück war nicht gekommen. Aber es gab nun ein Interesse – ein großes, brennendes Interesse. Und gerade das Ungewöhnliche der ganzen Schicksalsverknüpfung zwischen ihr und Körlegg hatte einen phantastischen Reiz. –

Dicht vor dem Thor begegnete Sabine ihren Kindern, die Hand in Hand der beaufsichtigenden Lisbeth voranliefen. Mit einem Jubelruf öffnete Sabine, im Staube der Straße niederhockend, ihre Arme und die Kinder liefen hinein.

Wie schön sie waren! Wie unsäglich sie sie liebte! Welches Glück, sie zu besitzen! Lachend und in ihrem drolligen Kinderdeutsch mit ihnen plaudernd, ging Sabine weiter.

Die Mühlauer sahen aus den Fenstern und sprachen davon, daß die schöne Witwe sich doch getröstet zu haben scheine, denn sie lache so lustig und graue Kleider trage sie auch schon.

Und in ihrem grauen Kleide, den schwarzen Hut mit steilragenden Fittichen auf dem Haupt, dem belebten Gesicht und den dunklen Augen darin, sah Sabine auch so schön aus, so jugendmutig, so lebenglühend, daß Hauptmann von Hallendorf am Fenster die Zähne auf die Unterlippe biß.

„Morgen wird zum zweitenmal drüben Besuch gemacht,“ beschloß er bei sich, „und bei Reinald Deuben auf Heinsdorf werd’ ich mal auf den Busch klopfen.“

Die Kinder sahen zu dem Fenster empor. Herr von Hallendorf war ihr Freund, sein Bursche ließ Leo manchmal auf dem Pferd sitzen und der Hauptmann redete sie stets an auf der Straße, wobei er immer mit einem „Gruß an die Mama“ die Unterredung schloß.

Hallendorf verneigte sich gegen Sabine und warf Milly ein Kußhändchen zu. Er bekam Herzklopfen, er war berauscht, kein Zweifel, die schöne Frau hatte mit einem strahlenden Lächeln wieder gegrüßt. Also doch! also endlich! Hoffentlich, hatte sie nicht bemerkt, daß er grade eine ganz alte fleckige Litewka trug.

Nein, Sabine hatte es nicht bemerkt, sie wußte auch nicht einmal, daß sie so strahlend gegrüßt hatte. Leuchtenden Angesichts, unter Scherzreden ließ sie Leo und Milly treppan hopsen.

Oben auf dem Flur, der nicht ganz hell war, weil man die kleine Küche vor das Fenster hingebaut hatte, stand Guste und putzte den Thürklopfer an der Eßstubenthür. Die Klopfer der andern beiden Thüren, die in die ebenfalls nach vorn gelegenen Schlaf- und Eßstube führten, blitzten schon im blanken Messingglanz. Hierdurch wurde Sabine daran erinnert, daß Sonnabend war.

„Der junge Herr ist da!“ meldete Guste. „Heute?“ rief Sabine. An einem Sonnabend – das war sehr ungewöhnlich. Sonnabend abends hatte doch Reinald Löhne auszuzahlen und mit dem Inspektor den Arbeitsplan der kommenden Woche festzulegen, aber es war ihr gerade recht, den geliebten Bruder zu umarmen.

„Nehmen Sie die Kinder nach hinten, Lisbeth,“ befahl Sabine und setzte gleich tröstend hinzu: „Ihr könnt Onkel Reinald nachher noch Guten Tag sagen!“

Vorn im Wohnzimmer fand sie eine ganz wunderbare Gruppe. An Reinalds Brust weinte die Mutter; der Oberamtmann stand abgewandt und tupfte sich mit seinem türkischen Taschentuch die Augen.

„Ein Unglück?!“ rief Sabine. Schon wallte es bitter in ihr auf; eben war ein bißchen Mut und ein bißchen Zufriedenheit in ihre Seele gekommen, da gab es schon wieder einen Rückschlag; als ob es anders sein könne! Aber diesmal hatte ihr Mißtrauen gegen das Schicksal sie doch getäuscht.

„Im Gegenteil,“ sprach der Oberamtmann tief ergriffen, „dein Bruder hat sich verlobt. Und so recht nach unserm Herzen.“

Mit einem Jubelschrei flog Sabine dem Bruder an den Hals und verdrängte geradezu die Mutter. Beinahe schien es exaltiert, wie sie lachte und weinte und sich freute und den Bruder küßte. Reinald war es fast etwas zu viel, aber er war doch sehr gerührt, denn er hatte sich im Grunde ein wenig geängstigt, wie Sabine es aufnehmen würde.

Als sie sich ausgetobt hatte, war ihr leicht und friedlich und erlöst ums Herz. Ach, das Leben konnte doch noch wieder reich und schön werden!

„Nun erzähle!“ bat sie, „wer ist es? wie heißt sie? Ist es Martha Voigtstedt?“

„Ja,“ sagte er, „die Aelteste von dem Wendessener Voigtstedt.“

Er begann, etwas unbeholfen im Vortrage, zu erzählen, was für Vorzüge Martha habe, und wie er sie um dieser willen lieb gewonnen und wie reichlich Aussteuer und Mitgift bemessen sein würden. Er war ein großer, schöner Mensch, dunkel wie Sabine, aber nicht bleich wie sie, sondern seine Farben hatten von der Luft rotbraune Töne angenommen, die das Gesicht derb erscheinen ließen, während die unverbrannte Stirn weiß schimmerte. Seine Arbeit hatte seinem Wesen etwas robustes, seinen Bewegungen etwas schwerfälliges gegeben. Er sah alles in allem aus wie ein Mann, der weiß, was er will und kann, aber nicht wie einer, der viel denkt. „Zu gern möcht’ ich, Sabine,“ schloß er, „daß du und meine Martha – daß ihr zwei so recht wie Schwestern euch lieb hättet! Meine Martha hat es auch gelobt.“

Inzwischen hatte Sabinens Erregung sich mehr und mehr verflüchtigt. Sie hörte etwas zerstreut zu. Es war so harmlos, so unaussprechlich wenig aufregend für die Welt, wenn Herr Voigtstedt-Wendessen seine brave Tochter Martha mit Herrn Deuben-Heinsdorf verlobte. Und man konnte ein wenig nervös davon werden, wie Reinald alle zwei Minuten sagte: „Meine Martha“. Aber als zum Schluß seine Stimme vor Rührung bebte und die Mutter dazu wieder von neuem zu weinen begann, kam Sabine sich herzlos, gleichgültig, strafwürdig vor.

Sie stand auf, umarmte ihren Bruder und versprach, seiner Martha mit offenen Armen und offenem Herzen entgegenzukommen.

Man besprach dann für morgen eine Fahrt nach Wendessen, wo im kleinen Kreise die Verlobung gefeiert werden sollte. Heiraten wollte man erst im Winter, vielleicht gleich nach Weihnacht, jedenfalls zu einer Zeit, die dem Landmann Muße gab, mehr an sich, als an seine Aecker zu denken.

Sabine machte eine sonderbare Beobachtung. Immer hatte der Oberamtmann in dem zweiunddreißigjährigen Sohn doch noch ein wenig den kleinen Jungen gesehen, der unter väterlicher Zucht und Oberaufsicht stand und dem Kontrolle jedenfalls nur nutzte. Plötzlich war Reinald ein Mensch, dessen eigene Wünsche und Ansichten ausschlaggebend waren. Der alte Herr war mit allem zufrieden und ließ keine andern Antworten hören als: „Gern“ – „wie ihr wollt“ – „ach, uns Alten ist ja alles recht“.

Reinald war ein Bräutigam, er stand gleichsam in festlichem Glanz vor den Eltern; er hatte verständig gefreit und bekam ein vom Vater unabhängiges Vermögen durch die Heirat. Hob ihn das mit einemmal so sehr?

„Wie menschlich ist alles – selbst Elternliebe,“ dachte Sabine.

War sie auch aus ihrem Rausch zu dem gewohnten Zustand des Beobachtens und Grübelns zurückgekehrt, so blieb ihre Stimmung doch eine gehobene.

Alles schien verändert; es würde mehr Bewegung in das Leben und in die Gedanken der Eltern kommen. Das lenkte diese dann ein wenig von ihr selbst ab. Sie brauchte nicht mehr jede Miene zu bewachen, jeden Schritt zu erklären.

„Wie Sabine sich über Reinalds Glück freut,“ sagten die Eltern zu einander, „es ist ordentlich rührend.“

„Ja, sie ist ein gutes Kind. Manche Schwester wäre eifersüchtig geworden.“

[330] Nein, eifersüchtig war Sabine nicht. Eigentlich zu ihrer eigenen Ueberraschung, denn sie hatte sich immer eingebildet, es würde für sie einen inneren Konflikt schaffen, wenn der Bruder ohne ihren Rat sich verlobe. Für ihn war ihr früher die Beste nicht gut genug gewesen. Beinah’ war sie darüber traurig. Sie wünschte, sich seelisch tief erregen zu können. Aber es war ihr beim besten oder beim bösesten Willen nicht möglich, für Martha Voigtstedt, als man sich dann am Sonntag sah, etwas anderes aufzubringen als herzlichstes Wohlwollen.

Man fuhr schon um zehn Uhr ab. Es war eine ganze Expedition. Mit niedergeschlagenem Verdeck fuhr die große Kutsche vom „Hotel zum Kronprinzen“ pünktlich vor; alle Nachbarn waren an den Fenstern, nur Hauptmann von Hallendorf nicht, der noch schlief und so nachher bei seinem Besuch nur die Köchin Guste fand. Leo und Milly tobten schon im Wagen umher, ehe noch Lisbeth den Platz neben dem Kutscher eingenommen hatte und die Großen erschienen.

Der Oberamtmann und seine Frau strahlten und grüßten zu Küps hinüber und zur Frau Rechnungsrat Müller hinauf.

„Ich will auf Opa sein Schoß,“ schrie Milly jauchzend.

„Ich auch!“ kreischte Leo.

Und der alte Mann nahm auf jedes Knie ein Kind. Die Oberamtmännin schüttelte lächelnd den Kopf zu der Schwäche, hätte aber auch ihrerseits beide Kinder auf den Schoß genommen, wenn sie es verlangt haben würden.

Sabine im weißen Kleid und schwarzen Hut, schön und schlank anzusehen wie ein Mädchen, saß auf dem Rücksitz.

Die Fahrt war lang. Zwei und eine halbe Stunde brauchte man bis Wendessen. Die Kinder waren sehr unruhig. Endlich zog der Oberamtmann eine Tüte aus seiner hinteren Rocktasche.

Gegen diese Tüte, die sich immer ergänzte und eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Oelkrüglein der Witwe zu haben schien, hatte Sabine ein stetes Mißtrauen. Ja, sie war ihr ein stilles Aergernis. Die Schokoladenbonbons von Herrn Küps schmeckten verdächtig nach gebranntem Mehl. Auch war die Tüte in der hinteren Rocktasche manchen Püffen ausgesetzt, und nicht immer war der Anblick der zerkrümelten Plätzchen und der zerquetschten Pralinees sehr appetitlich, was Leo und Milly natürlich nicht weiter anfocht.

Die Kinder jubelten beim Anblick der Tüte.

„Bitte, Papa, gieb den Kindern keine Bonbons! Auf Wendessen werden sie ohnehin mehr Kuchen bekommen, als ihnen gut ist,“ bat Sabine dringend.

„ih – – so ein kleiner Bonbon schad’t keinem Kind was. Nich, Leo?“ fragte der Alte. Leo schrie: „Nein, nein!“

„Aber wirklich, Papa! Ich bitte dich! Leo zumal gefällt mir nicht ganz heute. Sein Kopf scheint heiß.“

Ungeduldig sprach der Oberamtmann: „Ich werd’ meinen Enkeln doch wohl noch einen Bonbon geben können!“

„Wirklich, Sabine, du bist zu ängstlich. Wir verstehen doch auch was von Kindern,“ bemerkte die Mutter ärgerlich.

Sabine schwieg. Eine kleine Verstimmung legte sich über die Wageninsassen. Leo und Milly aßen, zwischen des Großvaters Knien stehend, aus der Tüte, die er in beiden Händen hielt.

In ziemlicher Entfernung hinter dem Wagen her trabte ein Reiter. Sabine bemerkte es erst jetzt, da sie von der sie beängstigenden Beschäftigung der Kinder lieber den Blick fort und ins Weite richtete.

Es war einer der Herren vom Regiment. Reinald hatte von Herrn Voigtstedt die Erlaubnis bekommen, zwei derselben, die ihm besonders nahe standen, auch für heute nach Wendessen zu laden.

„Hinter uns reitet Bläser oder Langhans,“ sagte sie, froh, ein gleichgültiges Gespräch zu haben.

Aber die Alten waren noch beleidigt und sagten bloß: „So“, ohne ihre Aufmerksamkeit von den schmausenden Kindern zu wenden.

Der schwere, altmodische Landauer kam auf dem Landweg nur langsam weiter, der Reiter näherte sich schnell. Und da sah Sabine, daß es weder Leutnant Bläser noch Herr von Langhans war – –

Und auch der Reiter erkannte die Wageninsassen; Sabine auf dem Rücksitz zeigte ihm ja voll ihr Angesicht.

Er blieb nun so dicht hinter dem Landauer, daß er dieses Frauenangesicht fest im Auge behalten konnte. Sein Pferd ging im Schritt. Er dachte gar nicht daran, daß Sabinens Eltern sich umwenden und ihn, Achim von Körlegg, erkennen und sein langsames Hinterdreinreiten verwunderlich finden könnten.

Sabine glaubte ohnmächtig zu werden vor Angst und Schreck. Sie war leichenblaß. Aber mit großen Augen sah sie unverwandt hinüber.

Die Kinder krabbelten mit ihren Fingerchen schon auf dem Grunde der Tüte und sagten: „Dleich alle – dleich darteine mehr!“

Die Situation im Wagen konnte sich jede Sekunde ändern.

Die brennenden Blicke unverwandt auf des Reiters Gesicht geheftet, schüttelte Sabine langsam das Haupt.

Er hatte verstanden – er wandte auf der Stelle sein Pferd und jagte zurück. Da kletterte auch gerade schon Leo auf den Sitz zwischen den Großeltern und schrie: „Da reitet ein Soldat!“

Der Oberamtmann wandte sich um und sah dem Reiter nach.

„Dann ist es doch wohl nicht Bläser oder Langhans gewesen. Kanntest du ihn?“

Sabine schüttelte den Kopf. Ihr Herz klopfte. Nun war der Tag doch nicht so leer und lang!

Der Rest der Fahrt schien ihr unglaublich kurz, und mit hinreißender Liebenswürdigkeit bezaubcrte sie nachher alle Wendessener.

Martha, die Braut, hatte sich vor der schönen Schwägerin geängstigt, von der die Mühlauer und die Offiziere sagten, sie sei unnahbar stolz und unheimlich klug. Nun hielt Sabine das blonde, frische Mädchen in den Armen und küßte ihr die Wangen und sagte ihr dann den ganzen Tag noch viele liebe, gute Worte. Martha war selig und trieb von Stund’ an einen förmlichen Kultus mit des Verlobten Schwester. Mit dem Vater Voigtstedt, einem derbfröhlichen Mann von sechsundvierzig Jahren, kokettierte Sabine förmlich, so daß der mehr als ein stilles, anerkennendes „Donnerwetter, da steckt Rasse drin“ dachte. Frau Voigtstedt war das frühgealterte Ebenbild ihrer Martha, doch glich die untersetzte, üppige Gestalt derjenigen der Tochter noch fast vollkommen. Nur um die hellblauen Augen saßen schon viel Krähenfüße, und ein herber Zug ging vom Stumpfnäschen zum schwellenden Mund herab. Man sagte, Herr Voigtstedt gäbe seiner Frau viel Grund zur Eifersucht. Jedenfalls hatte er eine plumpe Art, darüber zu scherzen, daß Weiber nichts mehr taugten, wenn’s mit der Jugend erst bergab gehe. Sabine fand nun wiederholt und laut eine geradezu zum Verwechseln auffordernde Aehnlichkeit zwischen der jugendlichen Mutter und der schon merkwürdig gereift aussehenden Tochter, was Frau Voigtstedt sehr wohlthat.

Mit Marthas kleiner halbwüchsigen Schwester und dem Bruder, einem langen Bengel, der vor Tappsigkeit sich und andere immer stieß und trat, plauderte sie ermutigend.

Sie heuchelte nicht. Es war ihr ein Herzensbedürfnis, den Bruder glücklich zu machen, rings Behagen zu erwecken.

Ihre Seele war wie beschwingt. Und während sie mit diesen fremden, ach, ihr so wildfremden Menschen intim lachte und sprach, sah sie immer jenen langen, stummen, beredten Blick vor sich – –

Der Tag ging zu Ende, und man fuhr heim. Leo und Milly weinten, waren übermüde und schliefen endlich, ihre Köpfchen an Sabinens und Lisbeths Schultern, denn nun saß Lisbeth mit im Wagen. Und das war auch nur gut, denn Milly wurde es sehr übel, sie erbrach sich über den Wagenrand hinaus. Der Oberamtmann schalt, daß man auf Wendessen die Kinder überfüttert habe und daß er selbst von dem Bordeaux Voigtstedts einen Brummschädel kriegen werde und daß Reinald da reformierend eingreifen müsse. Es schien, daß die vielen Freuden des Tages alle sehr übellaunig gemacht hatten und daß alles, was man an Liebenswürdigkeit besaß, verausgabt und ausgeschöpft war.

In den Mühlauer Straßen brannten schon die Gaslaternen, als man endlich vor dem Hause hielt und die ermüdeten Kinder, die bleischwere Körper hatten, hinauftrug.

Sabine fühlte sich wie zerschlagen, als sie endlich im Bett lag. Es war ein anstrengender Tag gewesen. So aufreibend. Ein Kräfteverbrauch eigentlich ohne Zweck und Grund. Denn wurde dadurch Reinalds Glück gehoben, daß die beiden Familien sich einen ganzen Tag lang in plötzlicher Intimität gegenseitig krampfhaft füreinander zu interessieren trachteten? Hatte sie den ganzen Tag ein Wort gehört, das ihr Anregung oder gar Erleuchtung gebracht? –

[331] Und wie reich war gestern die eine kurze Stunde gewesen – –

Sie gönnte dem Bruder das Glück, das er gefunden hatte, wenn es denn eben sein Glück so war. Susanne Osterroth – die wäre freilich mehr gewesen. Die war auch ein gesunder und einfacher Mensch wie Martha. Und dabei war Susanne hochgebildet. Neben ihr wäre Reinald kein Bauer geworden. Neben Martha aber – –

Ich habe dennoch meinen Bruder mit heute verloren, dachte Sabine noch. Aber sie fühlte sich trotzdem nicht ärmer als vorher.


5.

Herr von Hallendorf war mit sich einig geworden. Wie das so bei Verlobungen, Sterbefällen und anderen Familienereignissen geht, hatte man in Mühlau und auch im Offizierskasino die Voigtstedtschen und die Deubenschen Vermögensverhältnisse durchgesprochen. Hallendorf hielt den Oberamtmann bisher für einen Agrarier a. D. mit eben auskömmlicher Rente, die vielleicht der Sohn mühsam genug den Erträgnissen von Heinsdorf abzwacken müsse. Dies hatte er immer sehr beklagt, weil seine Verliebtheit in die schöne Sabine nie mehr als in einer kleinen Kokettage sich äußern durfte. Bei der kalten Haltung der jungen Frau war seine Flamme immer stärker geworden und er hatte oft Momente, wo er sich sogar für einen unglücklich Liebenden hielt und sich sehr beklagte.

Nun vernahm er, daß der Oberamtmann ein sehr vermögender Herr war; die Ziffern, die genannt wurden, und welche ihm der Bürgermeister, der es wissen mußte, bestätigte, klangen sehr lieblich in sein Ohr. Besonders gefiel ihm auch wohl, daß der Oberamtmann nur die Hälfte seines Vermögens, jene, welche der Sohn erbte, in Heinsdorf hatte stecken lassen. Auch brauchten die fast geizigen alten Herrschaften kaum die Hälfte ihrer Zinsen auf und vermehrten so ihr Kapital fortwährend.

Hallendorf rechnete mit Umständen und Zahlen und kam zu diesem Schluß: früher würde der Oberamtmann mit seiner Anlage zur Knauserigkeit ohne Zweifel jeden vermögenslosen Offizier als Freier abgelehnt haben; indes, wenn eine Tochter schon ein unglückliches Schicksal hinter sich hat, sind auch geizige Eltern zu einem Opfer bereit; von einer großen Summe, einem Kommißvermögen, brauchte der Alte sich so wie so nicht zu trennen; es genügte, wenn er der Tochter 6-–8000 Mark jährliche Zuschüsse gewährte; die gute Stimmung, in welche der Vater durch die Verlobung des Sohnes versetzt worden war, mußte benutzt werden; Reinald Deuben konnte seinem Alten vorstellen, daß ein Hauptmann erster Klasse immerhin keine schlechte Partie sei und daß man doch eventuell Sabinen, die so viel gelitten hatte, auch einem armen Leutnant nicht verweigern würde, wogegen ein Hauptmann ohne Vermögen doch das kleinere Uebel sei. Außerdem steckt Verloben immer an, das ist ein Erfahrungssatz – der alte Deuben war sozusagen mit dem Segnen im Zuge!

So dachte Hallendorf. Daß Sabine und er sich bei näherer Bekanntschaft nicht zusagen könnten, dachte er nicht. Seine Gedanken eilten schon soweit vorwärts, daß er daran dachte, für ein Kommando in einer großen Garnison zu „bohren“. Mit so einer Frau mußte man in die Welt. Die half Carriere machen.

Er vertraute sich Deuben als „Kamerad“ an, nahm ihm aber den Schwur ab, weder Sabinen noch ihren Eltern vorerst eine Silbe zu verraten. Reinald wollte gern die Hand dazu bieten, daß Hallendorf und Sabine einigemal bei ihm wie auf Wendessen zusammen eingeladen würden; er war selbst so glücklich als Verlobter, daß er die Schwester auch gern glücklich gewußt hätte. Er besprach den Fall mit seiner Martha, und Martha war entzückt, eine solche Verbindung protegieren und zustande zu bringen helfen zu dürfen.

Hallendorf, der mager und groß war und etwas stelzbeinig einherschritt, was ihm mit seinem langflatternden weißblonden Schnurrbart etwas sehr Charakteristisches gab, nahm zunächst einen Kredit bei der Kleiderkasse des Regiments in Anspruch und wandte etwas an seinen Anzug.

Er erhielt eine Ermutigung durch den Gegenbesuch, den der Oberamtmann ihm machte, wozu der alte Herr eine Zeit benutzte, wo die als Wache am Fenster postierte Oberamtmännin den Ausgang Hallendorfs beobachtet hatte, was natürlich dieser nicht ahnen konnte. Er fand die Karte und dachte: Aha!

Im Laufe der Woche aber ereignete sich etwas, das Hallendorfs Schlachtplan vorerst zu einem theoretischen Entwurf herabdrückte. Der kleine Leo erkrankte sehr heftig an den Masern, obschon Doktor Sebold die Epidemie für erloschen erklärt hatte und sich darüber ausließ, daß es gegen alle Berechnung und Erwartung sei, Leo davon ergriffen zu sehen; daß es geradezu gegen die Statistik gehe.

Das machte nun Sabine sehr ungeduldig: ob innerhalb einer oder gegen eine medizinalbehördliche Statistik, ihr angebeteter Knabe war krank und das kam für sie als Mutter auf dasselbe heraus, als wenn er während der Epidemie erkrankt wäre!

Sie zog sogleich mit dem kleinen Patienten in das Giebelzimmer hinauf; dort standen an der einen Wand drei mächtige Schränke, hellgelb und gemasert angemalt, an der andern Wand deren zwei und dazwischen ein Bett. Straßenwärts gingen zwei Fenster; am Pfeiler, unter einem schmalen Spiegel, stand ein Waschtisch. In diesem öden Raum hauste jetzt Sabine. Leos Bettchen stand mitten darin. Und weil ihm die Augen wehthaten, waren die Rouleaus stets herabgelassen.

Viele Tage hatte er starkes Fieber, und Sabine verzehrte sich vor Angst. Sie wachte Tag und Nacht, und Doktor Sebold wurde ein bißchen still.

Er hatte Sabine für unpraktisch gehalten, auch für nicht sonderlich aufopferungsfähig und zuverlässig und am ersten Tag der Erkrankung auf Annahme einer Wärterin gedrungen, was Sabine schroff abwies. Nun sah er, daß die Pflege so war, daß er selbst sie als „ideal“ bezeichnete. Anerkennend sprach er zu den Eltern davon, die mit Stolz und Rührung sagten, das verstehe sich bei ihrer Sabine von selbst. Aber zugleich seufzten sie oft und schwer über all die Unbequemlichkeiten, welche die Krankheit für sie mitbringe. Der impertinenten Lisbeth konnte man Milly weder Nacht noch Tag anvertrauen. Sebold drückte ihnen teilnehmend die Hand.

Für Sabine rannen die Tage so still. Sie meinte, es müßten schon hundert sein. Und doch waren es nur erst acht. Draußen zog eine kleine Regenzeit vorüber, Sabine hörte die Tropfen gegen die Scheiben schlagen. Sie sah nicht den grauen, tristen Himmel, denn das blasse Papierrouleau mit der großen Gruppe sepiafarbener Tropenpflanzen darauf verbarg ihr die Welt.

Drüben trat oft Hallendorf an sein Fenster und sah nach oben, hinüber zum Giebelstübchen. Immer noch verhangene Fenster! Aber dies war die Gelegenheit, sich wohlthuend bemerkbar zu machen. Jeden Morgen schickte er seinen Burschen mit der Anfrage nach Leos Befinden. Manchmal brachte der Bursche auch ein Paar Rosen mit „vom Herrn Hauptmann für seinen kleinen Freund“. Sabine war ganz gerührt. So viel Gemüt hatte sie Hallendorf gar nicht zugetraut. Sie schämte sich, daß sie sich manchmal über seinen Gang mokiert hatte, und sann darüber nach, wie man ihm nach Leos Genesung danken und sich revanchieren könne.

Die Seelenbewegungen, denen sie in dieser Zeit ausgesetzt war, erreichten in einer bangen Nacht ihren Höhepunkt.

Ein Gewitter ging mit grellen Lichtzuckungen und krachendem Gelärm nieder. Der blasse Schein der Nachtlampe ward alle Augenblicke übergrellt. Unten im Hause war es laut, denn der Oberamtmann, als einstiger Landwirt, wäre um die Welt nicht beim Gewitter im Bett geblieben.

Sabine kniete mit gefalteten Händen neben dem Bettchen des Kleinen; ihre ängstlichen Augen waren groß und in fast übernatürlicher Sammlung all ihrer Kräfte auf das Kind gerichtet. Sie bewachte seine Mienen, seine Farbe, seinen Atem, seine Bewegungen. Er phantasierte. Kindische und ganz verworrene Worte kamen von seinen Lippen. Und darunter eines, das Sabine bis ins tiefste erbeben machte. Er rief nach seinem Papa!

„Sieh mal, Papa!“ – Und dann, zwischen Stöhnen, Flüstern, Unruhe wieder: „Papa, Papa, ein Löwe!“

Aus dem Untergrund der Seele hatte sich die Erinnerung wieder aufgereckt, und was das Kind in der lebhaften Regsamkeit seines kleinen Geistes über alle Ereignisse des Tages schon vergessen zu haben schien, war nun wieder gegenwärtig geworden.

Offenbar beschäftigten sich seine Phantasien mit dem ersten [332] und zugleich einzigen Besuch des Zoologischen Gartens, den Zeuthern mit dem kleinen Sohn unternommen hatte.

Sabine zitterte und fror. Ueber ihre Wangen rannen Thränen. Sie beachtete es nicht. –

Am andern Morgen sagte Sebold, daß man nun über den Berg sei und „die Geschichte mit mehr Pomade ansehen könne“. Er befahl Sabinen einen täglichen Gang ins Freie von mindestens einer halben Stunde. Als sie sich sträubte, ihren Knaben auch nur für Minuten zu verlassen und der wenig mitfühlenden Lisbeth anzuvertrauen, stellte Doktor Sebold ihr vor, daß sie auch Pflichten gegen die kleine Milly habe, die sehr nach der Mama verlange und mit der eine Begegnung nur ratsam sei nach vorheriger „Auslüftung gründlichster Art“ im Freien. Das sah die junge Frau ein.

Am zehnten Tage nach Leos Erkrankung unternahm sie den ersten Spaziergang. Sie schlug den Weg nach dem Heidegelände ein, wo auf trockenen, niederen Hügeln ein junger Kiefernstand die Luft mit harzigen Gerüchen füllte. Noch stand geballtes Gewölk in phantastischen Gruppen vor dem Himmel und ließ die Fragmente der blauen Luft, die sichtbar waren, um so tiefer blau erscheinen. Die Frische des leisen Windes wehte Sabinen angenehm ins Gesicht. Sie freute sich, als sie erst aus dem Thore war, denn auf der Straße redeten sie nacheinander der Bürgermeister Dorsten, Frau Rechnungsrat Müller und der Leutnant von Langhans auf das Befinden ihres Kindes an.

Draußen war es einsam. Die Mühlauer gingen Werktags nicht spazieren und erst recht nicht, wenn das Wetter unsicher schien. Auf dem Fahrwege rannen die Furchen zusammen, wie im Sand von Meeresufern; an der einen Seite war auf der grauen Rasennarbe des Bodens ein Fußpfad niedergetreten, da ging Sabine, ihren geschlossenen Regenschirm wie einen Stock benutzend.

Lautlos war ihr Schritt.

Lautlos auch der des Mannes, der hinter ihr her hastete. Um sie nicht zu erschrecken, rief er schon von weitem:

„Gnädige Frau – gnädige Frau!“

Sie drehte sich um und errötete. „Herr von Körlegg,“ sagte sie.

„Ich sah Sie an meiner Wohnung vorbeigehen – ich bin aus dem ‚Kronprinzen‘ nun in eine Privatwohnung gezogen – in der Berliner Straße,“ erzählte er hastig. „Ich sah Sie – und wartete einige Minuten, um Ihnen unauffällig folgen zu können … ich muß es wissen, von Ihnen selbst … wie geht es Ihrem Knaben?“

Ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht strahlte in Dankbarkeit. „Befriedigend,“ sagte sie, „Gott sei Lob und Dank, sehr befriedigend, sonst hätte ich Sebold nicht gehorcht und wäre nicht fortgegangen!“

„Gottlob!“ sagte auch er aus tiefstem Herzen und drückte ihr heftig die Hand. „Gewiß, niemand auf der Welt, selbst Ihre Eltern nicht, haben diese Tage mit Ihnen gebangt und gelitten wie ich! Und welche Pein, nur unbestimmte Nachrichten zu hören – jede direkte Frage vermeiden zu müssen! Bei Tisch, im Kasino sprach das eine und andere Mal Hallendorf sehr besorgt, sehr schmerzlich davon. Er, als Intimus Ihres Hauses, schien genau vom Stand der Dinge unterrichtet – aber wenn er nicht von selbst etwas erzählte – fragen mochte ich ihn nicht.“

„Herr von Hallendorf der Intimus unseres Hauses?“ fragte Sabine erstaunt, „wie kommen Sie darauf? Er verkehrt häufiger bei meinem Bruder auf Heinsdorf – so werden Sie das verwechselt haben! Herr von Hallendorf hat aber in so rührender Weise sich täglich nach Leos Befinden erkundigen lassen, dafür bin ich ihm sehr dankbar.“

Achim schwieg etwas verlegen. Er mochte und wollte nicht sagen, daß Hallendorf in geradezu prahlerischer Weise seine Beziehungen zur Familie Deuben zu betonen pflegte und auch zugleich in so eigenartiger Weise, daß er voll Staunen und Schreck schon die Frage bei sich erwogen hatte, ob es denn menschenmöglich sei: Sabine und Hallendorf? Und gerade für ihn, der einen Einblick in ihre hungernde Seele gethan, lag die Furcht so nahe, daß Sabine, nur um eine Veränderung ihrer Daseinsform herbeizuführen, den ersten Besten trotzig nehmen werde. Doch Hallendorf? – Nein, das war nicht der Mann, der Achim wertvoll genug für solches Glück däuchte!

Sie gingen nebeneinander her, Achim im Sande des Fahrweges watend. Vor ihnen war der Blick verschränkt durch die ansteigende Bodenwelle, auf der die rötlich schilfrigen Kiefernstämmchen in regelmäßigen Reihen sich hinanzogen. Oben stand die willkürlich ausgebogene Linie der graugrünen Kiefernwipfel vor einer silberweißen Wolkenmauer.

„Wenn ich Ihnen meine schlaflosen Nächte schildern könnte,“ hob er an, „ich sah im Geist das fiebernde Kind – irgend jemand sagte eines Tags, es müsse wohl sterben – ich sah Sie verzweifelt um das teure Leben kämpfen. Und ich zitterte, daß Sie, deren ganzes, deren letztes Glück diese Kinder sind, eines verlieren müßten! In diesen Tagen erst sah ich es völlig ein, wie sehr Ihr ganzes Leben heimlich mit dem meinen verbunden ist.“

„Ich danke Ihnen,“ murmelte Sabine, „ich danke Ihnen sehr.“

„Sie sehen angegriffen aus. Sie haben gelitten! Das war zu denken. Und Leo? Erzählen Sie mir …“

Das war keine gemachte Teilnahme, sie fühlte, daß sein ganzes Wesen sich in Ergriffenheit befand.

Gilt mir das – mir, um meiner selbst willen? dachte sie mit Herzklopfen, oder ist das alles nur Aeußerung des tiefen Ernstes, mit welchem er des von ihm Getöteten denkt?

„Ja, Leo ist sehr krank gewesen. Seine Aermchen sind mager zum Erbarmen und sein ganzes Gesicht ist Auge. Aber diese großen Wunderaugen thun ihm weh. Wir müssen noch lange vorsichtig bleiben und im halbdunklen Zimmer sitzen. Und phantasiert hat der arme kleine Mann … oh, es war schrecklich!“

Plötzlich war ihr es ganz deutlich, so daß sie erschrak und ihre Stirn sich vor Entsetzen feuchtete, als dringe durch die raunend bewegten Kiefernkronen eine klägliche Kinderstimme, die rief: Sieh mal, Papa – Papa, wo bist du?

„Arme Sabine – arme Sabine,“ murmelte er.

Sie hörte es nicht.

„Ich muß zurück,“ brachte sie heraus, „ich bekomme plötzlich solche Angst … Das Mädchen ist nicht zuverlässig …“

„Aber morgen darf ich Sie wieder selbst fragen, wie es Ihrem Knaben geht?“ sprach er und sah sie bittend an. Sie aber hielt die Lider gesenkt.

„Ich weiß nicht, ob ich morgen ….“

„Jedenfalls bin ich um dieselbe Zeit hier am Saum der Schonung“, sagte er bestimmt, „auch auf die Gefahr hin, vergebens warten zu müssen.“ –

Er brauchte nicht vergebens zu warten. Am andern Tag war sie ruhelos und verzehrte sich in Kämpfen und suchte sich in Vorsätzen zu stärken. Aber einem übermächtigen innern Zwang gehorchend, fand sie sich zu einem hastigen Stelldichein rechtzeitig zur Stelle. Und hastig blieben auch die Begegnungen an allen folgenden Tagen. Frage und Antwort wurde schnell gewechselt. Sabine fühlte sich dabei gehetzt wie ein Schuldiger auf der Flucht. Aber fortbleiben, sich die namenlose Aufregung dieses knappen Zusammentreffens ersparen – nein, das konnte sie nicht, das wollte sie nicht.

Achim bat einmal um die Erlaubnis, den kleinen Rekonvalescenten, von dessen Langerweile Sabine erzählte, ein Spielzeug mitbringen zu dürfen.

„Nein, nein!“ sagte sie. „Und ich könnte es auch gar nicht ins Haus schmuggeln. Wo sollte ich es her haben? Sie sehen, ich bin so unfrei, daß ich nicht einmal meinem Jungen ein Pferdchen mitbringen könnte, ohne zu erklären, wo ich es kaufte und wie viel es kostete.“

Drei Tage danach bekam Leo eine an ihn selbst adressierte Kiste mit allerlei Spielzeug. Die Absenderin war eine große Berliner Spielwarenhandlung, die nur dabei bemerkt hatte: „im Auftrage“.

„Natürlich vom lieben Onkel Benno,“ sagte Sabine und wußte doch genau, daß der Leutnant von Zeuthern sich nicht einmal an Weihnachten zu einer so reichen Gabe aufraffte. Sie packte die Kiste fast mit Andacht aus und zeigte jedes Stück dem vor Freude jubelnden Kind mit selbst vor Freude glänzenden Augen.

Als Achim sie am andern Tage fragte: „Langweilt Leo sich noch so sehr?“ sah sie ihn nur mit lachenden, leuchtenden Augen an und sagte: „Sie wissen, daß er beschäftigt ist!“

„Ich – woher sollte ich?“ Er that unschuldig und lachte auch.

[357] Sabine und Achim kamen sich jeden Tag näher und jeden Tag kam es ihnen selbstverständlicher vor, daß sie miteinander verkehrten, weil ihre Gespräche von den hohen, erschütternden Seelenleiden herabgestiegen waren zum kleinen Inhalt des Alltagslebens.

Sie glaubten auch, daß niemand ihre Zusammenkünfte bemerkt habe. Aber es war natürlich unmöglich, sich acht Tage lang so dicht vor den Thoren von Mühlau zu treffen, ohne daß man gesehen wurde.

Eines Tages fragte die Oberamtmännin: „Was ist denn das für ein Offizier gewesen, mit dem du gestern vor dem Berliner Thor auf dem Heideweg auf und abgingst? Davon hast du ja nichts erzählt!“

Das war harmlos gefragt, einfach aus der Annahme und Gewohnheit heraus, daß alle Familienmitglieder auch die nebensächlichsten Ereignisse des Tages mitzuteilen pflegen. Der Rechnungsrat Müller hatte Sabine gesehen und auch Herrn von Körlegg zu erkennen geglaubt, doch eher seinen Augen mißtraut, ehe er so Unmögliches annahm.

„Ich?“ sagte Sabine, „ich erinnere mich nicht.“

„Herr Gott, Rechnungsrat Müller hat dich doch gesehen und noch zu seiner Frau gesagt, wie er sich freue, daß du nicht mehr an allen Menschen so stolz und stumm vorbeigehest.“

„Ach ja,“ sagte Sabine und gewann allmählich ihre Farbe wieder, „es war Bläser, der sich lang und breit nach Leo erkundigte.“

„Bläser ist ein netter Mensch,“ bemerkte die Oberamtmännin und dachte dabei: Wie konnte dieser Schafskopf von Müller sich nur einbilden, daß sie mit Herrn von Körlegg sprechen würde.

An diesem Abend war „Trio“. Sabine mußte, da Leo schon seit halb Sieben fest schlief, wieder zugegen sein.

Das unglückliche H dur-Trio von Brahms war von den Spielern immer noch nicht so bewältigt, daß sie glaubten, mit sich zufrieden sein zu dürfen. Aber Kolvater sowohl als Turibius hatten ihren Part nun merklich besser inne als die Oberamtmännin. Sie erlaubten sich Ungeduld zu markieren, und beim Beginn des Scherzo sagte Turibius:

„Na, auf Wiedersehen bei der Fermata.“ Von Streitereien und Empfindlichkeiten unterbrochen, zog das Allegretto dahin; Sabine hörte es zuletzt nur noch im Takt in ihrem Kopf bumsen.

Der Schreck über die Frage ihrer Mutter kehrte zurück. Sie grübelte hin und her. Wer in aller Welt konnte etwas in ihrem Verkehr mit Achim finden!

Wäre ich arm, meine Kinder in Not, weil uns der Ernährer fehlt, würde nicht die ganze Welt begreifen, daß Achim den Wunsch hätte, uns sein [358] Vermögen zu Füßen zu legen? Eine so brutale Wohlthat brauchen wir nicht. Hat die Welt für die feinere, die tiefere, die bessere, die er mir erweist, kein Verständnis? Kann man nicht sagen: er hat das Unglück gehabt, meinen Kindern den Vater zu töten, dafür haben wir eine Forderung an ihn? Und er giebt, was er kann: seine Teilnahme giebt mir Frische und Kraft!

Dennoch machte sie sich klar, daß ihr Verkehr aufhören müsse, sobald er entdeckt sei. Heute hatte man sie nur „mit einem Offizier“ gesehen und zum Glück hatte sie gerade vorher wirklich Bläser gesprochen und konnte ihn anführen, ohne zu lügen. Wenn man sie morgen „mit Herrn von Körlegg“ sähe, würde es Auseinandersetzungen mit ihren Eltern geben, vor denen ihr graute.

Am andern Tage besprach sie mit Achim das Vorgefallene.

Sie sprachen lebhaft davon, daß sie vorurteilsloser und freieren Geistes seien als alle diese Philister von Mühlau. Und wenn zwei mit so lauten Reden ihre Freiheit vor den Schranken der andern preisen, wollen sie sich nur betäuben, um sich über eben diese Schranken hinwegzusetzen.

Davon hatte Achim eine ganz deutliche Empfindung. Aber er wollte sie nicht in Worte kleiden. Sie hätten die arme Sabine verletzt. Er war es ihr schuldig, dergleichen Anwandlungen mit sich allein abzumachen. Er wußte und fühlte es mit jedem Herzschlag: diese flüchtigen Augenblicke mit ihm, oft unter klatschendem Regen oder bei pfeifendem Wind – sie waren ihr der Lichtpunkt des Tages.

Es war ihm deshalb fast wie eine Erleichterung, daß sie vorschlug, man wolle sich, bis zur völligen Wiederherstellung Leos, nur noch jeden dritten Tag sehen. Aber indem er zustimmte, fühlte er zugleich, daß die beiden Tage zwischen den Begegnungen für ihn selbst tote Zeit bedeuten würden.

Die Genesung des Kleinen schritt langsam weiter, doch blieb er merkwürdig schwach. Da entstand in Sabinens Kopf ein Plan: sie wollte fort aus diesem engen Hause, hinaus aufs Land, wo ihr Knabe sich erholen könne und sie selbst Freiheit fände.

Sie begann von einer nötigen Badereise zu sprechen, wußte Sebold dafür zu stimmen und beharrte dabei, daß Leo sich hier und so nie erhole. Der Oberamtmann und seine Frau sahen in einer Badereise ein ganz außerordentliches Unternehmen, das mit viel Umständen und besonders auch mit viel Kosten verknüpft war. Ihr Mißfallen an dem Plan war so groß, daß sie sich förmlich entlastet fühlten, als Sabine eines Tages erklärte: einen teuren Badeaufenthalt, wie Sebold ihn so dringlich wünsche, halte sie für überflüssig und glaube, daß ein mehrwöchiger Aufenthalt auf Heinsdorf denselben Effekt haben werde. Erleichtert stimmten die Eltern freudig bei. So erreichte Sabine auf Umwegen, was sie wollte. Daß sie aber, um sich den so einfachen Wunsch zu erfüllen, einige Zeit bei dem Bruder auf dem Familiengut zu verleben, Umwege brauchen mußte, erbitterte sie von neuem gegen ihre Lage. Ihr Herz drängte sie wieder mehr zu dem Bruder hin. Sie hoffte, ihm während des Heinsdorfer Aufenthalts recht, recht nahe zu kommen und auch vielleicht Martha Seiten abzugewinnen, die diese wertvoll und tief erscheinen ließen. Ihr Herz war voll Liebebedürftigkeit.

Als sie an dem Tage, wo es entschieden war: übermorgen sollte übersiedelt werden! zum Stelldichein ging, erfuhr sie eine aufregende Ueberraschung. Ihre Gedanken waren so thätig gewesen, auszumalen, wo auf den Heinsdorfer Geländen sie zuweilen mit Achim zusammentreffen könne, „um ihn über Leos Befinden zu unterrichten“, daß sie zusammenfuhr vor Schreck, als ein Soldat an sie herantrat.

„Frau von Zeuthern?“ fragte er, die Rechte an die Mütze, die Linke an die Hosennaht legend.

„Ja, was wollen Sie?“ sagte Sabine unfreundlich und erstaunt.

„Dies abgeben!“ Er überreichte einen Brief und machte Kehrt.

Der Brief zitterte in Sabinens Hand. Sie ging noch fünf Mnuten vorwärts, sah einen Vermessungsstein am Wege und hockte darauf nieder. Sie las:

  „Theure, innig verehrte gnädige Frau!
Eine unverhoffte dienstliche Angelegenheit verhindert mich heute, Sie selbst nach dem Befinden Ihres Lieblings zu fragen. Ich habe nur die Wahl, Sie vergebens auf mich warten zu lassen, oder den Versuch zu wagen, Sie mit diesen Zeilen zu benachrichtigen. Mein Bursche ist leidlich intelligent. Ich werde ihm beschreiben, daß eine schlanke Frau im weißen Kleid und schwarzem Jacket, mit einem schwarzen Hut, darauf weiße Schleifen sind, ihm vor dem Berliner Thor begegnen muß. Sie sehen, gnädige Frau, daß ich den Anzug kenne, den Sie bei schönem Wetter zu tragen pflegen. Hoffentlich stimmt es auch heute, und obenein werde ich dem Burschen sagen, daß Sie ganz anders aussähen als alle anderen Damen von Mühlau. Dann kann er nicht das Unheil anstiften, den Brief in eine unrechte Hand zu legen.

Unmöglich erscheint es mir aber, infolge der heute mir auferzwungenen Entsagung sechs volle, lange Tage nichts von Ihnen und Ihren Kindern zu hören. Darf ich die Bitte wagen, mich morgen treffen zu wollen? Ich bin jedenfalls zur Stelle und warte.

  Ihr tief ergebener
A. v. K.“ 

Ein Gefühl von unsinnigem Glück überwältigte Sabine. Diese Zeilen, die im Grunde doch viel weniger sagten, als was sein Mund, seine Blicke, sein ganzes Wesen schon so oft gesagt, erschienen ihr wie ein Pfand ihrer Zusammengehörigkeit, wie eine ganz intime Annäherung.

Die Notwendigkeit, ihm antworten, ihm schriftlich irgend einen Punkt bei Heinsdorf als Rendezvous andeuten zu müssen, erfüllte sie mit Wonne und Schreck. Noch Minuten saß sie und las seinen Brief wieder und wieder, als könnte ihr ein Wort oder ein geheimer Sinn entgangen sein, und erquickte sich an dem Anblick seiner großen, klaren Handschrift.

Dann eilte sie heim, unterwegs bedenkend, daß es fast eine Unmöglichkeit für sie war, heimlich einen Brief zu schreiben und noch sogleich zur Post zu besorgen. Und doch mußte das geschehen. Die Post war der einzig mögliche Weg; die Sicherheit, daß Achim morgen früh ihre Zeilen empfange, nur gegeben, wenn sie dieselben noch heute in den Kasten steckte. Die Eltern wußten zu genau, daß Sabine nur mit drei Menschen, mit Susanne Osterroth, mit ihrem Schwager Benno von Zeuthern und mit Onkel Fritz Osterroth, korrespondiere und stets am Abend schreibe.

Mit dem Hute auf dem Kopfe setzte sie sich an ihren Schreibtisch, und ohne Besinnen schrieb sie: „Ich darf Sie morgen nachmittag nicht der Langenweile aussetzen, hochverehrter Herr von Körlegg, vergebens auf mich zu warten. Wir siedeln übermorgen nach Heinsdorf über, d. h. die Kinder und ich; und meine liebe gute Mama fände es sicherlich unbegreiflich, wenn ich morgen mich vom Einpacken für eine halbe Stunde abzumüssigen wüßte. In Heinsdorf wird mein Leo sich hoffentlich schnell und ganz erholen. Es ist sehr schön dort. Auch finde ich Lieblingsplätze aus meiner Jugend wieder, vor allem den unter der Franzosenlinde, wo ich so oft, ach, in noch glücklichen Tagen die Sonne untergehen sah.

Ich danke Ihnen noch einmal für alle Teilnahme während Leos Krankheit. Sie wurden mir dadurch in vielem Sinne zum Wohlthäter.

 Ihre
S. v. Z.“ 

Sie lächelte, beinahe stolz über ihre jesuitische Schlauheit.

Wenn sein Herz verstehen wollte, würde es den Ruf verstehen: vor Sonnenuntergang, an der Franzosenlinde harre ich dein! Und wenn sein Herz nicht so wachsam war, konnte er die letzten Worte wie ein Lebewohl für unbestimmte Zeit auffassen. Nein, ich vergebe mir nichts mit diesen Zeilen, dachte sie beruhigt.

Frau Oberamtmann stand in der Küche und besprach mit Guste, daß man übermorgen Erdbeeren einkochen wolle. Zu ihrem Erstaunen sah sie Sabine, die vor zehn Minuten vorbeigeeilt war, noch einmal weglaufen.

„Was ist? Was willst du?“ rief sie neugierig.

„Ich habe was vergessen!“ rief Sabine von der Treppe zurück. Und nach weiteren zehn Minuten kam sie heim und wies ein Päckchen Nähwaren vor. „Es ist besser, man hat alles bei sich, wenn die Kinder was zerreißen.“

„Na,“ sagte der Oberamtmann, „Zwirn und Seide kannst du schließlich auch im Dorf haben.“

Wie glücklich war Sabine, als sie am übernächsten Tag bei ihrem Bruder einzog. Reinald hatte ihr so liebevoll alles geschmückt, Kränze flochten sich um die Thüren ihrer drei Zimmer, und Martha, seine Braut, hatte riesige Blumensträuße gebunden von bunt prahlenden Bauernblumen. Die Braut war mit ihrer [359] Mutter von Wendessen herübergekommen und blieb zum Abendessen. Gleich bestand Sabine darauf, daß Reinald von morgen an, wie er es gewohnt gewesen, nach der Tagesarbeit nach Wendessen reite. Niemand sollte irgend eine Störung durch sie erleiden, am wenigsten sollte Martha den geliebten Bräutigam entbehren. Mit einem bezaubernden Lächeln bat sie um Erlaubnis, gelegentlich mit nach Wendessen hinüberkommen zu dürfen, wenn sie erst etwas wohler geworden sei. Martha und ihre Mutter waren wieder entzückt und Sabine hatte für sich und die andern die Situation ganz klar festgelegt.

Nun konnte das Idyll anfangen. Sabine wartete sozusagen empfangsbereit darauf, daß die Landluft ihr und den Kleinen wohlthun und das Zusammensein mit dem geliebten Bruder ihrem Gemüt Frieden geben solle. Aber schon gleich am andern Tag stellte sich heraus, daß die Geschwister nicht recht etwas miteinander anzufangen wußten. Und zwar trotzdem sie beide eine seltene seelische Feinheit von Natur besaßen. Aber bei ihm war diese Feinheit zur keuschen Verlegenheit geworden, bei ihr zur vollkommenen inneren Freiheit und äußerlichen Gewandtheit. Waren sie nun zusammen, so fühlte Reinald eine Art Scheu, Sabine eine leise Ungeduld. Dennoch liebten sie einander von Herzen.

Mit den Kindern war Reinald ganz besonders liebevoll. Sie hatten auch gleich von Heinsdorf Besitz ergriffen, als sei es bloß ihretwegen da. Sie tobten im großen alten Garten umher und sahen mit nie ermüdendem Interesse in den Ställen dem Vieh zu. Kein Ackerwagen verließ den Hof, ohne daß Leo nicht stolz auf dem Handpferd bis zur Thorpforte mitritt, vom Knecht gehalten. Von Leos Pflegebedürftigkeit war gar keine Rede mehr, alle Schwäche hatte er in Mühlau gelassen.

Am zweiten Tage ihres Aufenthalts ging gegen Abend ein solches Gewitter nieder, daß Sabine begriff, sie könne nicht zur Franzosenlinde wandern.

Am dritten Tag erwartete sie fieberhaft die Zeit. Während Lisbeth die Kleinen zu Bett brachte und Reinald nach Wendessen ritt, verließ Sabine den Wirtschaftshof. Der war ein Viereck, gebildet durch die Front des Schlosses, die beiden Riesenscheunen und vorn an der Chaussee das hohe Gitter, darin eine mächtige Pforte ihre Flügel offen hielt. Geradegegenüber führte von der Chaussee ein Landweg zwischen Feldern hin, zu einem kleinen Erlenbusch. Die Felder trugen das grünwogende junge Korn, bräunlich schimmernd reckten sich die Ähren aus den Halmen. Der Erlenbusch bestand aus ein paar Dutzend alten Bäumen, die sich unregelmäßig um einen Wassertümpel gruppierten. Dann hob sich das Gelände, und wenn man dem Weg noch zehn Minuten weiter folgte, kam man zu einem Aussichts- und Höhepunkt, welcher den Stolz des Gutes Heinsdorf bildete.

Da stand eine uralte Linde, unter welcher einmal ein Franzose erschossen worden sein sollte. Das vermooste Steinkreuz neben dem Baum sollte von seinen Angehörigen errichtet sein. Unter dem Großen Kurfürst hatte sich dies, der Legende nach, begeben. Von dem Höhepunkt stieg eine lange schmale Thalmulde ziemlich steil hernieder. Man übersah sie ganz, denn ihre Sohle war nur von Wiesengrün ununterbrochen bedeckt. Aber zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken zogen sich breite Waldstreifen hinab, die ihre ersten Bäume bis zur Linde heraufschickten.

Fern, unten mündete die Thalmulde im flachen Land, durch das sich breit und flimmernd der Fluß wälzte. Drüben blieb die Gegend flach und erschien anmutig bunt überwürfelt von Dörfern, Feldern, Waldflecken.

Weit war der Horizont, wie herrschend über der Landschaft stand man, wenn man sie von der Franzosenlinde aus betrachtete. Schon stand die Sonne sehr tief. Blank und ein vibrierendes Strahlengefunkel rund um sich aussendend, ging sie am hellen Himmel nieder.

Sabine saß auf der Bank, das graue Steinkreuz neben, den Lindenstamm hinter sich, und wartete.

Das Thal ward grüner, der Wald dunkler, die Luft feuchter. Die Linien und Farben drüben jenseit des Flusses verschwammen in bläulichen Tönen. Die Sonne war weg, und hoch oben am weißklaren Himmel färbte sich ein dünnes Gewölk schimmernd rosig.

Kein Schritt erklang. Niemand kam. Fröstelnd, mit Schwere in allen Gliedern ging Sabine heim. Die Enttäuschung lähmte ihr Seele und Leib. Sie fühlte sich geradezu krank.

So hatte sein Herz doch nicht verstanden – – Ihr Stolz wachte auf und beruhigte sie: ihre Schlußworte waren ja ein Abschied gewesen. Und dennoch fuhr sie fort zu leiden.

Enttäuschung erschien ihr von allen Qualen des Lebens eine der grausamsten. Stunden, Tage, Nächte sind nur erträglich gewesen durch heimliches, wonniges Warten auf einen Augenblick des Glücks. Der Augenblick kommt, das Glück bleibt aus – ach, das that wohl allen Menschen gleich weh! Mir besonders, dachte Sabine, ja, mir besonders, denn ich habe so heiß gewartet und schon so viel gelitten!

Am folgenden Tage kündigte Reinald beim Frühstück schon freudestrahlend für den Abend den Besuch seiner Schwiegereltern und seiner Braut an. Kaum erzwang Sabine ein blasses Lächeln. Sie kommen etwas oft hierher, die guten Leute, dachte sie. Mit dem festen Vorsatz war sie aufgestanden, heute abend keinesfalls zur Franzosenlinde zu gehen, um nicht die Marter einer neuen Enttäuschung zu erleben. Nun sie gewiß wußte, daß die Umstände sie verhindern würden, zu gehen, dachte sie erbittert: Also auch hier Zwang.

Der vierte Tag auf Heinsdorf schien sich in eine qualvolle Ewigkeit umgewandelt zu haben. Sabine sah so bleich aus, daß Reinald sich ängstigte. Er fürchtete, sie entbehre eine Zerstreuung.

„Sonntag essen Hallendorf und Bläser hier. Martha kommt allein. Da du hier bist, kann sie es ganz gut. Wir wollen recht vergnügt sein. Hallendorf ist ein Prachtmensch,“ erzählte Reinald.

An diesem Tag fehlte Sabine selbst die Kraft und das Interesse, sich viel um ihre Kinder zu kümmern.

Aber endlich neigte es sich zum Abend und Sabine eilte mit unsicheren Schritten und klopfendem Herzen an ihren Lieblingsplatz, ohne Hut, ohne Mantel, wie jemand, der nur fünf Minuten in den Garten will. Sie hatte es sich gelobt: kommt er heute nicht, so bin ich ihm gleichgültig und will ihm auch keine Gedanken mehr gönnen. Dabei fühlte sie, daß dies Gelöbnis eine Selbsttäuschung erzwungenster Art war. „Fünf Minuten will ich warten, länger nicht,“ sprach sie zu sich.

Und als sie noch drei Schritte von der Linde war, schrie sie auf.

Da saß er. Der alte Stamm hatte ihn ihr verdeckt. Ihr Schrei erreichte ihn. Er sprang auf. Bleich, in sinnloser Erregung standen sie einander gegenüber. Sabine glaubte umzusinken. Er legte den Arm um sie und führte sie zur Bank.

„Acht Tage – acht Tage!“ murmelte sie.

Ja, acht Tage hatte sie ihn nicht gesehen. Das Warten hatte sie zermürbt. Sie wußte nichts mehr davon, daß sie sich bewachen wolle und müsse, daß ein Weib sich nicht so verrät. Sie fühlte nur ein sinnloses Glück, ihn zu sehen, ein wildes, leidenschaftliches Glück. Ihre Blicke hingen an seinen Zügen, ihre eiskalte Hand preßte wieder und wieder die seine.

„Oh mein Gott!“ sagte er erschüttert.

Sie saßen still zusammen. Sabine sah ihn an, als könnte sie es immer noch nicht fassen, daß er es sei. Langsam breitete sich ein strahlendes Lächeln über ihr Angesicht, und ihre Leichenblässe schwand.

Achim saß mit fest verschlossenen Lippen. Ein eiserner Ausdruck trat in seine Züge. Ich muß Mann bleiben! dachte er verzweifelt. Er sah es, er mußte es begreifen, was er längst bebend gefürchtet und gehofft: dieses heiße, schöne Weib glühte für ihn.

„Wie geht es Leo?“ fragte er endlich.

„Gut!“ sagte Sabine mechanisch.

Und wieder Schweigen.

„Gestern war ich hier vergebens,“ sprach er.

„Und ich vorgestern.“

Er drückte ihr die Hand; sie hatten einander noch gar nicht losgelassen.

Unten, jenseit der weiten, friedlichen Landschaft sank die Sonne. Hinterm Waldstreifen rechts lag das Dorf; man sah es nicht, aber ein klingendes Hämmern kam schwach daher. Quer über die Thalmulde schritten ein paar Arbeiter, sie gingen durch den Wald heim ins Dorf.

Sabine trachtete, sich zu sammeln.

„Wie sind Sie gekommen? Doch nicht zu Fuß? Fanden Sie den Platz leicht?“ fragte sie.

„Ich habe mein Pferd beim Krüger im Dorf eingestellt. [360] Die Franzosenlinde habe ich mir gleich, als ich Ihre Zeilen empfing, auf der Generalstabskarte gesucht,“ erzählte er.

Nun wußten sie sich nichts mehr zu sagen. Das, was sie qualvoll durchströmte, mußten sie beschweigen. Jedes andere Wort erschien ihnen so nebensächlich. Die ganze Welt zu unbedeutend, um von ihr zu reden.

Die Minuten rannen. Langsam ermattete die Helle, so zögernd schlich das Licht davon, als wollte es die schöne Sommererde nicht gern verlassen.

Achim war sich der Gefahr bewußt, die in diesem langen Schweigen lag. Wie sollte er es enden, ohne ihr, ohne sich weh zu thun?

Sabine war es. die es schroff zerriß. Wieder war es ihr gewesen, als rufe eine klägliche Kinderstimme: Papa – Papa – und noch einmal verhallend, verhauchend: Papa – – Wollte diese Einbildung sie denn immer äffen? Ihr jedes Zusammensein vergällen?

„Es wird dunkel und kalt,“ sprach sie und stand auf.

„Kalt und dunkel – –“ wiederholte er gedankenlos.

„Morgen kann ich nicht hierherkommen, übermorgen auch nicht. Dann hat mein Bruder Gäste,“ sagte sie.

„Ich weiß. Hallendorf erzählte bei Tisch, daß er nach Heinsdorf geladen sei. Hallendorf spricht sehr viel von Ihnen.“

Sie zuckte die Achseln. Langsam ging sie den Weg, der gerade auf den Erlenbusch zuführte. Die Bäume standen schwarz vor dem lichten Abendhimmel. Kein Lüftchen rührte an ihren Wipfeln. Ueber der kleinen Wasserfläche braute ein weißlicher Dunst.

Achim ging neben Sabine her. Das Wort des Abschiednehmens wollte gefunden sein; es fand sich nicht. Endlich reichte sie ihm stumm die Hand. Sie standen schon unter den Bäumen und es dunkelte stark. Er sah in das weiße Gesicht, ihm kam vor, als wäre es flehend zu ihm empor gewandt, als zuckten herbe Bitterkeiten um den Mund. Und doch konnte er deutlich nur die brennenden Augen erkennen.

Er nahm ihre Hand, mit seinen beiden Händen hielt er sie umschlossen.

„Gute Nacht!“ flüsterte Sabine.

„Gute Nacht!“

Sein Haupt neigte sich zu ihr und das ihre bog sich ihm entgegen. Er küßte ihr Haar. Es war nur wie ein Hauch.

Sie lief fort. Er sah ihr weißes Kleid noch schimmern, bis sie im Hofthor von Heinsdorf verschwand.

Wie still es schon auf dem Hofe und im Hause war. Ganz verschlafen und arbeitsmüde schien diese kleine Welt.

Das that Sabine wohl. Niemand sprach zu ihr, fragte sie, störte sie. Sie schwelgte förmlich in der Wonne der gedankenschweren Einsamkeit, jeder Nerv in ihr durchkostete noch einmal die letzte so wortkarge und so unendlich inhaltsreiche halbe Stunde – –

Und während es draußen völlig Nacht ward und die Geräusche des Lebens allmählich ganz erstarben, saß Sabine und schrieb. Einmal hörte sie noch die klappenden Hufschläge eines Pferdes. Ihr Bruder kam heimgeritten. Bald danach knarrte das große Hofthor und fiel krachend ins Schloß. Dann blieb alles still.

Sabine konnte ihr Herz nicht verschlossen halten. Ihr Temperament drängte übermächtig nach irgend einem Ausbruch. Sie mußte es hinaus schreien und jubeln, was sie ganz erfüllte. Ihrer treuen Freundin Susanne durfte sie ihr Inneres ganz offenbaren.

„Warum soll ich Dir verhehlen, was ich mir selbst nicht länger verhehlen kann und will! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!! Hörst Du es wohl? Und vielleicht haben es Dir schon alle meine Briefe verraten. Und vielleicht entsetzest Du Dich davor. Ich liebe den Mann, der meinen Gatten erschossen hat! Und in mir ist kein Zittern und keine Furcht. Ich stehe nicht unter dem Drucke der Hoffnungslosigkeit. Jeder Pulsschlag sagt es mir: er liebt mich wieder. Sage mir nicht, daß dies in meinem Fall nicht genügt, hoffnungsfreudig zu sein. Sage mir nicht, daß die Verhältnisse Achim und mich voneinander trennen. Ich erkenne sie gar nicht als Hindernisse an, diese Verhältnisse.

Denke doch nach, sieh doch ein bißchen um Dich! Erinnerst Du Dich noch an die Geschichte Witzow-Hamsta? Die ganze Gesellschaft sprach schon zwei Jahre lang über den Baron Witzow und Frau von Hamsta. Natürlich Hamsta war der letzte, der es erfuhr. Dann forderte er Witzow, und Witzow erschoß ihn und heiratete nach einem Jahre Frau von Hamsta.

Dann jene andere Geschichte, die Volkners passiert ist! Frau von Bärenburg lebte in namenlos unglücklicher Ehe, ihre eigenen Eltern drangen auf Scheidung, jedermann wünschte ihr Freiheit. Sie gewann ihren Prozeß und das Gericht sprach ihr auch die beiden Kinder zu. Später lernte sie den Professor Volkner kennen und schloß mit ihm eine sehr, sehr glückliche Ehe. Volkner ward den Kindern ein zärtlicher Vater. Aber Bärenburg verfolgte seine einstige Frau und seine Kinder. Mehr als einmal mußte Professor Volkner ihm Annäherungsversuche energisch verweisen lassen. Umsonst. Bärenburg wußte den Kindern auf Schul- und Spazierwegen aufzulauern, versuchte sie zu beeinflussen, trübte ihre unbefangene Jugendfröhlichkeit. Da forderte Volkner den früheren Gatten seiner Frau, und diesmal behielt das Recht den Sieg: er erschoß Bärenburg.

Solche Geschichten könnte ich Dir ein Dutzend erzählen. In der ersten spielte ein ungeheurer Frevel mit, eine fluchwürdige Todsünde. Und die beiden, die sich liebten, kamen doch zusammen!

Auf Achim und mir lastet nicht der Schatten einer Schuld. Wir lernten uns erst kennen, als ich frei war.

Und solche Komplikationen, wie die arme Frau Professor Volkner erlebte, sind durchaus ausgeschlossen: es lebt niemand, der Achim meine Liebe und die Zärtlichkeit der Kinder mißgönnt.

Soll ich nicht gerade eine wunderbare Fügung des Geschickes darin sehen, daß der Mann, der – Du weißt es – nur erzwungen in jenes Duell ging – der meinen Kindern den Vater nahm, ihnen wieder Vater sein könnte – und sicher ein besserer, als der Tote war?

Aber ich will Dir noch mehr sagen: selbst wenn da Schuld wäre, wenn mich Untergang bedrohte, Elend und Tod! Ich liebe ihn und ich werde mir mein Glück erringen, einer Welt zum Trotz. Es giebt kein Hindernis, wo Liebe ist. Es giebt kein Vorurteil, wo Leidenschaft spricht. Es giebt keine Entsagung vor dem übermächtigen Willen des Gefühls.“


6.

In Verzweiflung ritt Achim heim. Er fühlte es: diese Flammen ergriffen ihn, diese Glut glühte weiter und zu ihm hinüber. Seine Pulse klopften. Er verwünschte sein Schicksal.

Es war ihm, als sei er verdammt gewesen, eine unmännliche Rolle zu spielen, weil er das Weib, das ihm entgegenzitterte, nicht in seine Arme genommen hatte und ihre durstigen Lippen nicht wundgeküßt.

Ich muß ein Ehrenmann bleiben, dachte er.

An ihm war es, zu handeln und die Gefahr zu ersticken, ehe sein Leben und das ihre darin umkam.

Langsamer und langsamer ließ er sein Pferd gehen.

Rings die Landschaft lag in sanftem Schweigen der hellen Sommernacht. Auf einer Koppel, an der er vorbeiritt, ruhten dicht aneinander gedrängt die schweren Leiber schlafender Kühe. Fern blinkte ein Licht aus einem kleinen Gehöft. Weiße Nebelfetzen zogen über tiefer gelegene Wiesen.

Dann kam er in den Kiefernwald und die Stille um ihn her schien bedeutungsvoller zu werden.

Allmählich beruhigten sich seine Nerven. Klar lag vor ihm, was er zu thun hatte. Sabine und er durften sich nicht mehr sehen. Nie mehr!

Auch er saß in der Nacht und schrieb. Aber seine Feder flog nicht über das Papier, seine Lippen öffnete kein trunkenes Lächeln. Auf seiner Stirn stand es feucht, und zehnmal zerriß er, was er geschrieben, ehe er die rechte Fassung fand.

Jede schien ihm brutal. Immer fürchtete er, daß ihr schnöder Sinn war: Sie lieben mich, meine gnädige Frau, ich lehne aber das Geschenk Ihrer Liebe dankend ab. Er durfte nur von sich sprechen, nur von seinen Gefühlen, von der Gefahr, die er für sich empfand. Was er aus ihrem Wesen erraten hatte, das mußte er vergessen, mußte blind und verständnislos scheinen.

Schließlich gab er seinem Brief diese Fassung:

„Meine hochverehrte teure Freundin! Nicht wahr, so darf ich Sie nennen, Ihre Güte scheint mir das Recht zu geben, und offen, wie ein Freund zum andern, will ich mich zu Ihnen aussprechen. Ich nahe mich Ihnen in einer schweren Stunde, schwer, weil ich mich Ihnen in all meiner menschlichen Schwachheit zeigen muß.

[362] Meine teure gnädige Frau – welcher Mann könnte mit Ihnen so oft zusammensein, wie Ihre Gnade mir in diesen letzten Wochen es erlaubte, ohne ein tiefstes Interesse an Ihnen zu gewinnen. Und jedem Mann ist gestattet, was mir allein das Schicksal verbietet: sich Ihnen liebend, werbend zu nahen!

Lebte Ihr Gatte noch – dem Lebenden machte ich Sie streitig. Dem Toten, dem, den ich getötet, kann ich es nicht! Sein Schatten verwehrt mir alles, selbst die karge Freiheit, noch weiter das Glück eines ohnehin so versteckten, so flüchtigen Verkehrs mit Ihnen zu genießen.

Denn dieser Verkehr bringt für mich eine Gefahr mit, der ich nicht erliegen darf. Wer kann sein Herz in Ketten legen, wer es stumm und tot machen, wenn es erst einmal laut gesprochen?

Und wenn ich auch hoffen darf, Ihnen ein Freund und ein wenig wert zu sein – ich fürchte, Ihre Sympathien würden sich in Haß wenden, wenn mein Wille eines Tages nicht mehr stark genug wäre, mein Gefühl zu bändigen.

Deshalb muß ich mir den Schmerz zufügen, mich selbst von Ihrem Angesicht zu verbannen, ehe Sie es thun!

Haben Sie heißen Dank für alles, was Sie mir waren! Gott segne Sie und Ihre beiden lieben, schönen Kinder. Mögen sie, wie sie es äußerlich thun, einst auch innerlich ihrer Mutter gleichen.

Vergessen Sie nicht, meine heißverehrte Freundin, daß der Mann, der Ihnen fortan fernbleiben muß, auch in der Ferne Ihr und Ihrer Kinder bester Freund bleibt, der opferwilligste, der jedem Ruf nach Hilfe gehorcht.

 Ihr ganz ergebener
 Achim.“

Noch in der Nacht trug er den Brief fort. Er hatte Furcht, anderen Sinnes zu werden. Immer sah er versuchend und Mitleid heischend das schöne, liebeglühende Angesicht vor sich.

Er biß die Zähne zusammen.

„Aus und vorbei! – Der Tote hat sich gerächt. – Ich hab’ es damals wohl vorausgeahnt, als ich’s so schwer nahm und so lastend trug – – aus jener Stunde erwuchs mir ein Schicksal.“

Deutlich sah er wieder den zusammengekrümmten Körper des Erschossenen auf dem Rasen liegen und fühlte wieder den kalten Schreck.

„Aus und vorbei! Es muß sein!“

Am andern Morgen kam für Körlegg der Dienst, und das Leben mit den Kameraden, und der Alltag lief ab wie eine aufgezogene Uhr. Bei Tisch sprachen Hallendorf und Bläser von ihrem morgigen Ausflug nach Heinsdorf, und Hallendorf erzählte, daß sowohl die Kinder als auch die gnädige Frau sich draußen schon völlig erholt haben sollten. Wenn im Kasino von den Mühlauer Damen die Rede war, hieß es: „die Landrätin“, oder „die Assessorin“, oder „sie“ – das war die Kommandeuse – oder „die gnädige Frau“, und das war immer Sabine.

Achim fand, daß Hallendorf ein unerträglicher Mensch sei und aussähe wie ein blonder Don Quixote.

Am Montag hörte er dann den Bericht der beiden Herren. Der Tag war unter der Erwartung geblieben. Das Brautpaar, in steter Zärtlichkeit ineinander versunken, langweilte jeden geschmackvollen Menschen. Oberamtmanns waren ausgeblieben, der alte Herr hatte es in den Füßen; er litt zuweilen an Stechen darin und Anschwellungen. So hatte man nach dem Kaffee keinen dritten Mann zum Skat gehabt, was sehr empfindlich gewesen wäre, weil die gnädige Frau sehr, sehr elend sich gefühlt habe und gleich nach Tisch unsichtbar geworden sei. Bläser sagte, sie habe erbärmlich ausgesehen, und Hallendorf berichtete, daß er heute hinausreiten und sich erkundigen müsse.

Achim hörte jedes Wort.

Ein schwerer Gram drückte sein Herz. So elend war sie durch seinen Brief. Er fühlte es mit vernichtender Gewißheit.

Vor zwei Tagen hatte sie in blühender Gesundheit gestrahlt. Und nun – – Um ihn! Seinetwegen! Sie liebte ihn und verging, weil sie ihn nicht mehr sah. Wie sollte er dies Bewußtsein ertragen? Und die ganze Woche hindurch hatte Hallendorf keine anderen Berichte.

„Der gute Reinald ist verzweifelt. – Sie scheint sehr nervös. – Sie hat keinen Ton von Farbe mehr, aber sie sieht einfach bethörend schön aus. Am gescheitesten wäre es, sie heiratete wieder, das wäre auch für ihre Nerven gut.“

Achim fühlte sich verletzt bis in seine tiefste Seele. So sprachen diese Männer von dem Heiligsten! Also einen Mann sollte sie nehmen, wie andere eine Medizin nehmen. Und dieser Hallendorf bildete sich ein, der Rechte zu sein.

Wenn nur erst das Manöver käme. Dann konnte Hallendorf nicht mehr so oft nach Heinsdorf reiten und er selbst kam auch in eine andere Umgebung. Vielleicht überwand sich’s da leichter.

Wenn Sabine nur wieder hereinziehen wollte in die Stadt! Da konnte er sie doch manchmal von fern beobachten, hinter seinen Gardinen stehend, wenn sie zum Thor hinaus ging.

Das Mitleid quälte ihn, und er wünschte, wie ein Märchengeist unsichtbar um sie sein und sie trösten zu können. Wäre ihm das gegeben gewesen, würde sein Mitleid nur leidenschaftlicher geworden sein. Sabine litt mehr, als selbst er ahnte. Als sie seinen Brief bekommen hatte, war ihr einen Augenblick, als hasse sie den Mann! Wie ein Feiger erschien er ihr, der keinen Mut hatte, dem Ungewöhnlichen zu trotzen. Ein Mann, der vor einem Schatten zurückweicht! War das ein Mann?!

Dann aber, mit der Erkenntnis ihres unaussprechlichen Unglücks, brach die Leidenschaft in rasenden Flammen noch mächtiger hervor. Sie wollte hin zu ihm – ihm kühn und groß sagen: Ich liebe dich; kein Hindernis ist stark genug, uns zu trennen. Ich trotze dem Himmel und der Hölle. Ich liebe dich!

Aber der wilde Vorsatz ward nicht ausgeführt. Die Phantasie ist rasch mit außerordentlichen Thaten bei der Hand.

Wie ein lähmender Bann legte sich die matte, platte Wirklichkeit auf Sabinens loderndes Verlangen.

Nein, derlei thut man nicht, das ist unweiblich! Unweiblich?! Immer giebt es irgend ein Vorurteil, wenn es sich um das Glück eines ganzen Daseins handelt.

Sabine lächelte bitter in sich hinein und bückte ihr Haupt unter das Joch.

Ihr fiel zunächst gar nicht ein, daß sie antworten könne. Alles in ihr war zerbrochen, selbst der Mut zu schreiben.

Auch von Susanne Osterroth kam ein Brief.

Er atmete Angst und Schrecken:

„In welches Verhängnis bist Du verstrickt! Es erscheint mir entsetzlich. Und Du wagst an eine Verbindung mit ihm zu denken?! Vergißt Du, daß Leo eines Tages kein Kind mehr sein wird, sondern ein Mann? Ich bezweifle nicht, daß Achim von Körlegg Deinen Kindern ein guter Vater sein würde, vielleicht ein besserer, als mein Vetter es gewesen wäre, denn der schien mir launisch und ungleich mit den Kleinen. Alles, was Du mir von Körlegg schreibst, ist so sympathisch, das heißt, wenn Du nicht blind bist. Milly und Leo würden wahrscheinlich den neuen Papa vergöttern – ich will wenigstens einmal annehmen, daß es so schön würde. Aber später? Wenn Leo ein Mann ist? Wenn er dann erfährt: sein Papa fiel im Duell und eben der, den er so oft geküßt, zu dem er aufgeschaut, den er liebt – eben der erschoß seinen leiblichen Vater? Wird Leos Liebe sich nicht in Empörung wandeln? Wird ihm nicht sein, als habe man ihn betrogen? Was wird er Dir sagen? Wie willst Du ihm ins Auge blicken?

Beantworte Dir doch alle diese Fragen!

Meine geliebte Sabine, mir scheint, es giebt nur noch eine Hilfe, und zwar die Flucht. Du mußt fort von Mühlau. Ich weiß wohl, es ist scheinbar unmöglich. Ich werde mit Onkel Fritz sprechen; ohne ihm Dein Geheimnis zu verraten, werde ich ihm sagen, daß Mühlau Dich umbringt. Er kommt demnächst zurück nach Berlin. Mir ist zu Mute, als müßte ich Dich retten – wie soll ich es anfangen! Besinne Dich! Mache doch Deine Augen auf!“

Eine Stimme in Sabine schrie: Sie hat recht! Tausendmal ja – so ist es, so wird es sein!

Aber in düsterem Trotz wollte sie auf diese Stimme nicht hören. Niemand versteht mich, dachte sie, niemand wird mich verstehen! Erhebt man sich denn mit einer solchen Leidenschaft auf so einsame Höhen, daß man dem Auge der anderen Menschen entwächst?

Und sie kam sich größer vor als die andern, weil sie fühlte, daß sie ihnen unverständlich sein würde, und weil doch das, was in ihr brannte, nichts Kleines oder Kleinliches war. Ein Tag nach dem anderen ging hin; Hallendorf sprach täglich vor, es fiel Sabine zunächst nicht einmal auf.

[363] Einmal fuhr sie in die Stadt, weil sie sich sehr über das Befinden ihres Vaters beunruhigte. Wenn der alte Herr es in den Füßen hatte, führte ihre Mutter auch kein leichtes Leben, ärgerte sich über die Reizbarkeit des Gatten und litt infolgedessen mehr an der Leber.

Doch fand sie die Eltern in unerwartet leidlichem Zustande. Der Oberamtmann trank geduldig „seinen“ Thee, die Oberamtmännin ebenso gewissenhaft „ihren“ Brunnen. Man merkte wohl, sie entbehrten die Gegenwart und Pflege der Tochter nicht, Guste verstand sich völlig auf die Bedürfnisse und Stimmungen ihrer Herrschaft. Und die Oberamtmännin ließ sogar einfließen, „es sei auch jetzt so schön still im Hause“. Der Alte gab ihr wieder einmal einen heimlichen Knuff, den aber Sabine sah und der für ihr Empfinden die Aeußerung der Mutter nur noch verschärfte.

Als sie nach Heinsdorf zurückfuhr, sah es schlimm in ihr aus.

„Wohin ich sehe: es ist im Leben kein Platz für mich. Nirgends habe ich ein Recht. Man duldet mich nur. Nicht einmal das Recht soll ich haben, zu lieben, wo ich liebe!“

Hallendorf begegnete zu Pferde ihrem Wagen. Er hielt sein Pferd an und beklagte, die gnädige Frau draußen verfehlt zu haben.

Sabine begriff sich selbst nicht ganz: aber wie ein Blitz zuckte der Gedanke durch ihr Hirn: wenn ich wieder heiratete – zum Beispiel diesen Mann da! Dann wäre alles zu Ende: die Hoffnung, die Qual, die Heimatlosigkeit! Stolz und höhnisch trete ich Achim gegenüber: – „du hattest keinen Mut – siehe, was ich nun gethan habe!“ Holdselig lächelte sie Hallendorf an. Der sah nicht, daß nur der Mund so lächelte, daß der Ausdruck leer und künstlich war. Hochbeglückt ritt er von dannen. Nun schien er nahe am Ziel! Er beschloß, noch vor dem Manöver das Jawort sich zu holen. Dann konnte man gleich nach dem Manöver heiraten.

Auf Heinsdorf fand Sabine wieder einmal Martha und ihre Mutter vor. Immer mehr sah es Sabine ein, daß Martha ein tüchtiges Menschenkind war, mit einem warmen, selbstlosen Gemüt und mit einer Fülle praktischer Kenntnisse; Reinald konnte keine bessere Frau bekommen. Aber es machte sie nervös, wie das Brautpaar aneinander klebte. Immer standen sie Hand in Hand oder Reinald mit dem Arm um Marthas Taille, oder Martha mit der Hand auf Reinalds Schulter. Es reizte sie auch, daß es Menschen gab, die sich so ungehindert ihres stillen, kleinen Glückes freuen durften. Bei denen wuchs nichts über das Maß hinaus! Da gab es keine Verzweiflung und keine Not des Herzens!

Nach einer schlaflosen Nacht, die ihr nicht einmal die Wohlthat eines Thränenausbruches brachte, stand sie vernichtet auf.

Ich kann nicht mehr! dachte sie.

Da brachte ihr die Morgenpost einen Brief, dessen Aufschrift ihr schon die Fassung raubte. Gerade saß Milly auf ihrem Schoß, und gerade wollte Leo von ihr wissen, ob der Storch auch die kleinen Kälber bringe, heute nacht sei eines im Stall angekommen. Sie schickte die Kinder fort, auszugucken, ob Onkel Reinald schon vom ersten Inspektionsritt heimkomme, und dem die Storchfrage vorzutragen.

Er hatte geschrieben! Der Brief brachte ihr das Leben zurück!

„Teure, hochverehrte gnädige Frau! Auf meine Zeilen, die ich Ihnen vor vierzehn Tagen sandte, haben Sie geschwiegen. Ich durfte es nicht anders erwarten. Wenn mir auch dies Schweigen zu verbieten scheint, mich Ihnen brieflich noch einmal zu nähern, so muß ich dennoch einem sehr angstvollen Gefühl gehorchen und Ihnen schreiben. Fortwährend höre ich davon sprechen, daß Sie erschreckend leidend aussehen. Ich flehe Sie an, beruhigen Sie mich durch ein einziges Wort über Ihre Gesundheit. Mir scheint, das Schicksal hat mich vorbestimmt, die Ursache aller Ihrer Leiden zu sein, und die Furcht will nicht von mir weichen, daß mein neulicher Brief vielleicht allzu lebhaft Ihre Erinnerungen an den erlittenen Verlust aufgewühlt hat. – Irre ich mich, verzeihen Sie mir die Zudringlichkeit der Frage und strafen Sie mich durch Schweigen. Beinahe scheint es, daß ich mich irren könnte! Denn Hallendorf, welcher mit den Kameraden offen von Gefühlen und Hoffnungen zu sprechen pflegt, die man sonst höchstens einem intimsten Freunde anvertraut, deutet an, daß wir noch vor dem Manöver eine Verlobung im Regiment haben werden. Wird das wahr, dann, meine teure gnädige Frau, wissen Sie, wer mit blutendem Herzen, aber in heiligem Ernst den Segen des Himmels auf Sie herabfleht. Hallendorf betet Sie an. Er darf es. Er! Wie sollte er nicht danach streben, Ihnen Glück zu geben!

Darf auf eine Zeile über Ihre Gesundheit hoffen
 Ihr stets ergebener
 A. v. K.“

Wie kennt er mich! dachte Sabine jubelnd. So scharf sieht nur die Liebe. Er hat gefürchtet, daß ich aus Trotz Hallendorf heiraten könne! Und habe ich es nicht schon zwei Minuten lang vorgehabt! Seine Eifersucht ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht auch die Sorge nicht. – Jedermann hat mir’s ja förmlich ins Gesicht geschrieen, daß ich krank aussähe. – Ich bin eben keine von denen, die lachen können, wenn ihnen heimlich das Herz bricht.

Lange dachte sie darüber nach, ob die Stelle, wo er auf den „erlittenen Verlust“ hinwies, eine Redensart sei – gemacht, um nicht offen einzugestehen: ich weiß, du leidest um mich; oder ob er wirklich des Glaubens lebte, sie habe an ihrem Gatten den Gefährten einer glücklichen Ehe verloren.

Sie antwortete noch am gleichen Vormittag und schrieb:

„Was sollte ich einem Manne sagen, der mir gestand, daß er eine Gefahr flieht? Ich dachte immer, es sei Mannespflicht, die Gefahr nicht zu scheuen. – Sie sprachen so oft zu mir davon, daß ich über Ihr Leben und Ihr Gut verfügen könne. Und Sie entziehen mir die Wohlthat, die für mich darin lag, zuweilen mit Ihnen mich aussprechen zu dürfen. Denn Sie allein wissen es, daß ich sehr einsam bin. Mit Ihnen darf ich und kann ich, gerade in Anbetracht des ungewöhnlichen Schicksals, welches uns in einem Atem trennt und bindet, alles besprechen. Gerade in diesem Augenblicke bedürfte ich eines Freundes, der mir rät. Daß mein Leben so nicht weiter gehen kann, ist mir klar. Meinen Eltern eine Last, bei meinem Bruder nur Gast – heimatlos bin ich. Liebe geben mir die Meinen; sie sind reich obenein. Dennoch darbt mein Herz und ich stehe da fast wie eine Bettlerin.

Wollen Sie mir eine Stunde schenken, damit ich Ihnen mein früheres Leben darlegen kann? Wollen wir dann fortan auf jeden direkten Verkehr miteinander verzichten, so lassen Sie uns nicht scheiden in der Form, die Ihr Brief von neulich uns auferzwang, sondern als Menschen, die nicht als Fliehende, sondern als Erkennende einander meiden.

Morgen abend muß ich meinen Bruder nach Wendessen begleiten, Sie werden schon wissen, daß mehrere Herren vom Regiment dorthin Einladungen zu einem Fest erhielten. Aber übermorgen abend. Ich erwarte Sie.
  Sabine.“

Als Achim diesen Brief erhielt, erschreckte ihn der entschlossene Ton. Vor dem Vorwurf, den die Eingangszeilen ihm machten, rötete sich sein Gesicht. Und doch fühlte er sich getroffen. Auch ihm schien plötzlich, daß es mutvoller gewesen sei, sich zu bezwingen, als Sabine zu meiden. In der Angst um Sabinens Gesundheit, in der brennenden Neugier, ob sie sich wirklich mit Hallendorf verloben werde, konnte er sein Vorgehen von damals gar nicht begreifen. Jetzt, wo er die verhängnisvollen Zauber ihrer Gegenwart nicht auf sich wirken fühlte, jetzt glaubte er, fest genug gegen jede Gefahr gefeit zu sein. – Ihre Betrachtungen über die Notwendigkeit, ihr Leben anders einzurichten, nahm er für ein Zeichen, daß sie doch sehr ernstlich an eine Heirat denke.

In verzehrender Ungeduld wartete er auf den bestimmten Abend. Am Mittag hörte er den Festbericht von Wendessen. Das Ereignis des Abends war gewesen: Sabine von Zeuthern hatte ihre Halbtrauer abgelegt. In einem hellen Gewand von grünlicher Seide, mit einem leuchtenden Glanz in ihren nächtigen Augen war sie geradezu unheimlich schön anzusehen gewesen. Langhans sagte etwas von „Melusine“ und „dämonischem Zauber“. Bläser erklärte ihren Hals und ihre Arme für klassisch und stellte fest, daß sie wie ein Schwan unter Hennen ausgesehen. Hallendorf sagte heute nichts, sondern strich sich unruhig den Schnurrbart, lächelte geheimnisvoll und hatte einen roten Kopf.

In Achim wuchs die Sehnsucht. Ein heimlicher Stolz erfüllte ihn. Dies Weib, über das sie alle redeten wie über ein schönes Rätsel – er allein kannte es genau. Er allein war ihr wert.

[364] Diesmal brauchte er nicht auf sie zu warten. Sie saß schon unter der Franzosenlinde, als er vom Dorf her zu Fuß einen schmalen Waldweg heraufkam. Schon von weitem sah er sie sitzen. Sie aber konnte ihn noch nicht sehen, und er gönnte sich die Wonne, lange Minuten sie heimlich zu betrachten.

Ja, die Kameraden hatten recht, wenn sie in überschwänglichen Ausdrücken von ihr redeten. In ihrer düsteren Schönheit lag ein Reiz ohnegleichen. Selig der Mann, der sie besitzen durfte!

Er kam hinter den Stämmen, die ihn verborgen hatten, hervor. Jede Besinnung verließ ihn, er eilte auf sie zu und kniete neben ihr nieder, ihre Hände mit Küssen bedeckend.

„Nicht so …“ bat sie zitternd.

Er erhob sich. „Ja, wir wollen ruhig sein,“ sagte er.

Sie saßen wieder nebeneinander. Aber diesmal breitete sich kein lachender Abendfriede vor ihnen aus; der überwölkte Himmel verbarg die Sonne. Nach einem frischen Regentag waren Rasen und Büsche noch von Feuchtigkeit schwer. Unten auf dem Fluß kroch ein Kettendampfer hin, seine schwarze, wolkige Rauchfahne ward von der schweren Luft niedergedrückt.

„Meine Kameraden,“ begann Achim, „haben mir heute mittag viel zu hören gegeben. Sehr heiter und schön seien Sie gewesen; in einem farbigen Festkleid hätten Sie geglänzt. Muß ich da noch fragen: leiden Sie noch? Darf ich weiter fragen: war das schon bräutliche Freude?“

Sabine lächelte ein wenig. „Das Festkleid galt nicht der Gesellschaft, sondern mir selbst – einer heimlichen Freude! Ich leide nicht mehr, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Und von einer Brautschaft ist noch keine Rede. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: bis vor ungefähr fünf Tagen habe ich gar nicht bemerkt, daß Hallendorf mir die Kur macht.“

„Nicht bemerkt! Eine Frau und nicht bemerken, wovon ganz Mühlau seit Monaten spricht,“ rief er.

„Ach nein. Ich bin nicht kokett. Es ist mir so gleichgültig, ob ich den Männern gefalle. Und ich war so beschäftigt! Meine Gedanken waren so ganz, ganz ausgefüllt. Aber neulich war mein Herz so voll Bitterkeit. Ich fühlte mich so heimatlos. Da – o mein Freund, Sie kennen mich gut – da …“

„Was: Da? …“ drängte Achim.

„Da dachte ich trotzig, ich wolle irgend einen heiraten. Ich äußerte dergleichen meinem Bruder gegenüber und er verriet mir, daß Hallendorf mich liebe – oder vielmehr, daß er sich einbildet, mich zu lieben. Und dann, auf dem Fest gestern, da mußte ich es wohl bemerken. Mein Bruder und seine Braut scheinen sehr eingenommen für die Idee. Sie finden sie vernünftig. Nun habe ich meine Vernunft gefragt, was sie findet …“

„Und …“

„Und ich will mit Ihnen beraten, was klug, was gesund ist,“ sprach Sabine. „Sie wissen, daß ich Hallendorf nicht liebe. Reinald, der es wissen muß, sagt, Hallendorf begnüge sich mit meiner Achtung. Soll ich nun auf dem Fundament der Achtung eine Vernunftheirat eingehen? Still – Sie können noch nicht antworten. Ich will erst zu Ihnen sprechen! Wenn es hart klingt, was ich sage, – richten Sie mich nicht!“

Erwartungsvoll sah Achim sie an. Es fiel ihm auf, daß ihr Blick ihn mied und sich in unbestimmte Fernen richtete.

„Erfahren Sie denn, daß ich meinen Mann nicht geliebt habe und in einer sehr unglücklichen Ehe lebte.“

Er erschrak furchtbar vor der Härte ihres Ausdruckes und der Härte der Thatsache. Zugleich überkam ihn ein Gefühl von Unruhe. Ihm war, als fiele eine der Schranken zwischen ihm und Sabine, als habe er da eben etwas erfahren, das sein Gewissen und seine Ehre schmeichlerisch vergiften könne. „Weshalb haben Sie Herrn von Zeuthern denn geheiratet?“ fragte er.

Sie sah ihn immer noch nicht an.

„Weshalb heiratet man, wenn man siebzehn Jahre ist? Von hundert Frauen werden Ihnen nur zwei antworten dürfen: aus voll erkannter Liebe, die sich auch erprobte. Und die Achtundneunzig? Die meisten werden nicht den Mut der Wahrheit haben. Viele kommen auch nicht zur Erkenntnis. Aber ich, warum sollte ich mich schonen? Wenn man so viel gelitten hat, wird man unbarmherzig wahr gegen sich. Ich heiratete aus Neugier, aus der Einbildung verliebt zu sein, geschmeichelt, hauptsächlich wohl aber aus der Lust an Veränderung. Die machte schon meine Kindheit phantastisch und unruhig. Wenn Wochen vergingen, ohne daß etwas geschah, bekam ich einen förmlichen Hunger nach Ereignissen.“

„Und aus einer solchen Sucht nach Veränderung könnten Sie zum zweitenmal einen ungeliebten Mann heiraten?“ fragte er entsetzt.

Nun sah sie ihn voll an.

„Die Verhältnisse liegen heute anders,“ sagte sie mit schwermütigem, sanftem Ausdruck, „was ich damals that, geschah in Selbsttäuschung, aus Illusion. Damals kannte ich mich nicht, wie ich mich heute kenne. Damals war ich schön, jung, reich. Das Leben lag vor mir; verstand ich zu warten, konnte mir das Glück kommen. Aber ich war thöricht und verstand weder das Leben noch mich. Jetzt – mein Gott – ich habe alle Illusionen begraben. Auch mein Geld habe ich verloren und damit die Freiheit, die es giebt. Meine Eltern ernähren, ein guter Verwandter meines Mannes kleidet mich. Meine Eltern können sich nicht zu der Vorstellung aufschwingen, daß ihnen und mir besser gedient sei, wenn sie mir von ihrem großen Vermögen eine Rente aussetzten. Die bescheidenste genügte mir. ‚Was würden die Leute sagen, wenn du nicht bei uns lebst!‘ Die Leute – die sind auch ihre Herren! Die Herren fast von uns allen. Aber von mir nicht – nein, von mir niemals,“ rief sie leidenschaftlich.

„Hallendorf ist aber keine Versorgungsheirat,“ sprach Achim. Alles alles verletzte und quälte ihn sehr. Sabine lächelte.

„Bei der ungemeinen Inkonsequenz, welche mit dem Vorurteil immer Hand in Hand geht, bin ich sicher, daß Papa meinem Gatten, wenn ich wieder heirate, noch einmal so viel Geld, wie er mir verweigert, als Zuschuß giebt. Die unversorgte Tochter gehört ins Elternhaus; für die standesgemäß verheiratete etwas zu thun, gebietet die Familienehre. Lachen Sie doch mit darüber!“

Aber es war ihm unmöglich.

„Sie begehren meinen Rat? Sie thaten wenigstens so. Mir scheint aber, Sie sind entschlossen,“ sagte er finster.

„Vielleicht,“ sprach sie mit rätselvollem Ausdruck. „Es giebt da noch einen Grund …, was schrieben Sie doch neulich von Gefahren, die man besser flieht?! Eine vernünftige Ehe hat etwas von einem Zufluchtsort.“

Er glaubte, Spott aus ihren Worten zu hören, und antwortete gereizt. Sie wußten es selbst nicht, wie es gekommen war, aber feindlich und kalt saßen sie nebeneinander.

„Nun, Sie haben es ja erprobt, was dabei herauskommt,“ bemerkte er.

„Doch nicht. Meine Ehe war eine Illusionsehe, keine bewußte Vernunftehe, sagte ich Ihnen schon. Aber sie hätte trotzdem gut ausgehen können. Mir scheint, ich war ein Material, aus dem sich etwas hätte machen lassen. Die Seele eines jungen Weibes ist für den Ehemann wie das Pfund in der Bibel, das er klug verwalten muß, wenn es ihn bereichern soll. Mit den Schätzen, die vielleicht auch in meiner Seele lagen, hat er nicht gewuchert. So sind sie verkümmert.“

„Nein, Sabine!“ rief er plötzlich wieder aufwallend, „nicht verkümmert! Tausend Reichtümer sind in Ihnen …“

Sie lächelte schmerzlich.

„Und die ungenützt dahinrosten. – Sehen Sie, damit meine Ehe glücklich werde, hätte es vielleicht schon genügt, daß ich zu meinem Manne aufzublicken vermocht hätte. Aber er … er hatte Streberwünsche ohne Strebermut; er hatte unanständige Gedanken, aber infolge von Feigheit und Erziehung handelte er anständig. Er schlug nie drein mit ehrlicher Männerfaust – er nörgelte und schimpfte. Ah – das ist nicht für eine Frau, die denkt, nicht für eine Frau, die Enthusiasmus hat. Gern hätte ich teilgenommen an allem, was ihn beschäftigte. Aber das Kleinliche widert mich an.“

„Und Sie wähnen, in Hallendorf einen Mann von großen Zügen zu finden?“ rief er erstaunt. Er sah sie scharf an.

Sie saß und schaute vor sich nieder. Ueber ihr Gesicht zog wechselnder Ausdruck – er sah, sie kämpfte mit einem Entschluß. [366] Als sie dann den dunklen Blick auf ihn richtete, war ihr Antlitz plötzlich heiter. „Nein!“ rief sie, „das wähne ich nicht. Und ich will ihn auch nicht. Ich habe mir das nur so vorgemacht, weil es mich trieb, mit Ihnen über mich zu sprechen. Sie sollten mich besser kennenlernen. Sie sollten erfahren, daß ich sehr viel Enttäuschungen hinter mir habe und dabei so fest und reif geworden bin, daß ich mir schon zutrauen darf, von mir und – anderen Gefahren fernzuhalten.“

„Sabine!“

„Wollen Sie nach all diesen Geständnissen immer noch Ihre Freundin verlassen? Sie wissen nun ganz, wie arm sie war und ist! Nicht einmal eine Aussicht hat sie, ihrer drückenden Lage zu entrinnen, denn sie will weder diesen Freier noch irgend einen andern. Sie will vom Schicksal nur ein Almosen: Ihre Freundschaft, lieber Achim!“

„Vergeben Sie mir,“ bat er und küßte ihre Hände. Lange saßen sie noch zusammen und sprachen von Sabinens Ehe und von ihren Kindern, von der peinlichen Lage, die nie geändert werden konnte, wenn man nicht die im Grunde so gütigen Eltern verletzen wollte.

In Achims Seele war völlige Unbefangenheit eingezogen. Der unfreundliche Abend, die ernsten Gespräche – all das ließ keine schwüle Stimmung aufkommen. Und weil er jetzt keine Gefahr mehr bemerkte, glaubte er, sie sei für immer verscheucht. Er bildete sich ein, zu Sabinen nun in ein neues, geklärtes Verhältnis getreten zu sein, und empfand darüber ein reines Glück.

Sie verabredeten ihre nächste Zusammenkunft, und auch zugleich, daß sie sich stets brieflich benachrichtigen wollten, wenn Hindernisse entständen.

Aber elend und bleich lag Sabine nachts auf ihren Kissen. Sie hatte sich ihn zurückerobert und sein argloses Vertrauen! Doch um welchen Preis der Selbstbeherrschung! Ihr ganzes leidenschaftliches Wesen zitterte darunter. Aber sie war mit sich zufrieden. Kein Blitz der Augen, kein Zucken ihrer Lippen hatte ihm verraten, was in ihr tobte. –

Fast drei Wochen gingen ihnen ungestört dahin. Sie gewöhnten sich, einander in langen Briefen die Eindrücke des Tages und daran anknüpfend ihre Ansichten von Welt und Menschen mitzuteilen. Mit großem Takt hatte Sabine zu verhindern gewußt, daß Hallendorf eine formelle Werbung anbringe und sich einen Korb hole. Sie ernannte ihn „zu ihrem besten Freund“ und Achim war entzückt, an Hallendorf zu beobachten, wie klug und schmerzlos sie das alles zu machen verstand.

Immer vertrauter ward ihr persönlicher Verkehr. Sie nannten sich stets beim Vornamen. Sabine strahlte in Schönheit und Gesundheit und Achim hörte auf, sich zu bewachen.

Mit Bekümmernis sprachen sie schon von dem nahe bevorstehenden Manöver, das ihnen eine vierwöchige Trennung auferlege. Die Sommerwochen schienen nur so dahinzufliegen. Gelb stand das Korn. Abends war es oft so schwül und so dunkel, daß Achim sich beunruhigte, Sabine allein den Weg zum Gutshof zurücklegen zu lassen. Die ganze Dienerschaft und Arbeiterschaft von Heinsdorf wußte und besprach es längst, daß die junge Frau sich häufig abends mit einem Offizier unter der Franzosenlinde ein Rendezvous gäbe. Die Gutgesinnten meinten, sie wolle wohl bald wieder heiraten. Andere kicherten und machten den Versuch, zu spionieren.

An einem Augustabend, der so dunkel war, daß vom wolkenverhangenen Himmel nicht das Flimmern auch nur eines einzigen Sternes herabdrang, ängstigte sich Sabine um Achims Heimritt und Achim um Sabinens Rückweg. Peinlich empfanden beide, daß sie zu lange im Gespräch verweilt hatten, und Achim fühlte plötzlich, daß es für zwei „Freunde“ doch ein sonderbares Ding sei, sich so heimlich im Dunkeln zu treffen und so lange bei einander zu sitzen. Gerade heute hatte er erst so spät abreiten können, daß die Sonne schon herab war, als er bei der Franzosenlinde ankam.

In schönen, ernsten Gesprächen hatten sie ruhig nebeneinander gesessen. Aber gesetzt den Fall, irgend jemand erführe von diesem Verkehr – würde nicht alle Welt ihn verdächtig finden?

Sehr beunruhigt dachte er: Es geht auch nicht in der Freundschaft. Er schritt mit ihr durch den Erlenbusch. Er wollte sie nicht früher verlassen, als bis man die Lichter von Heinsdorf sah.

Mit dem wachsamen Ohr des Soldaten hörte er im Busch etwas rascheln. Das Geräusch konnte nicht von einem Tier kommen.

Sabine hörte es nicht. Sie war von schweren Gedanken plötzlich geängstigt: mit jenem sechsten Sinn der liebenden Frau spürte sie, daß eine Veränderung im Wesen des Geliebten vorgehe, daß ihn irgend etwas zerstreue, unangenehm verstimme.

„Gute Nacht, Achim,“ flüsterte sie, „lassen Sie mich morgen wissen, ob Sie gut nach Mühlau gekommen sind.“

„Das hat keine Not. Mein Pferd ist zuverlässig und ganz in meiner Hand. Gute Nacht!“

Er stand unbeweglich, aber diesmal nicht, um ihr weißes Kleid noch zu verfolgen, bis es ihm entschwand, sondern er lauschte mit allen Sinnen in den Busch. Die schwarzen Stämme hatten ein anderes Schwarz als das nächtige Dunkel um sie; ihre Körper waren undurchsichtig, die Nacht aber erschien dem an sie erst gewöhnten Blick doch transparent. Wieder war es Achim, als regte sich da etwas. Gewiß, da bewegten sich zwei dunkle Formen zwischen den Stämmen.

„Wer ist da?“ rief er scharf.

Alles blieb still.

Er rief noch einmal. Da ertönte ein kurzes Gelächter, und schwere Schritte im eiligen Lauf verloren sich in der Richtung nach der Franzosenlinde.

Im Dunkel der Nacht stieg Achim das Flammenrot ohnmächtiger Wut und Scham ins Gesicht. Wo hatten sie nur beide ihren Verstand gehabt, er und Sabine? Sie hätten sich doch sagen müssen, daß man sie entdecken und belauern könne. Vielleicht waren sie schon in aller Mund. Und er konnte Sabinens Ruf nicht einmal wieder herstellen!

Sein Zorn gegen sich selbst kannte keine Grenzen. Er beschloß sofort und unverbrüchlich, daß er Sabine nicht mehr sehen, sie nicht mehr kompromittieren wolle. Der Anteil, den sie aneinander nahmen, brauchte sich auch nicht in persönlichem Verkehr zu bethätigen. Wenn sie sich zuweilen schrieben, konnten sie einander viel geben und bleiben.

Er hatte die Vorsicht gebraucht, sein Pferd bald beim Krüger im Dorf, bald eine halbe Stunde entfernt beim Windmüller an der Chaussee, bald in einem kleinen Gehöft kurz vor Heinsdorf einzustellen. Heute stand es zum Glücke in jenem kleinen Gehöft, dessen ärmlicher Besitzer die Mark Trinkgeld immer strahlend einstrich; diesmal wurde Achim geradezu verlegen, als er sein Pferd holte und dem Mann das Geld in die Hand drückte.

Ich bin von Sinnen gewesen, mich und sie in solche Situation hineinzurasen, dachte er.

Aber jetzt hatte er es nicht so eilig, an Sabine einen sie erschreckenden Brief zu schreiben. Er beschloß, das nächste Rendezvous unter einem dienstlichen Vorwand abzusagen, das folgende ebenso. In vierzehn Tagen war das Manöver. Dann wollte er brieflich offen zu ihr sprechen und auch um seine Versetzung einkommen.

Zu seinem Erstaunen bekam er am anderen Mittag einen Brief von Sabine. Sie hatte es gewagt, ihn durch einen Boten hereinzusenden. Er lag auf seinem Tisch, als er vom Dienst heimkam. Da mußte es sich um eilige und wichtige Dinge handeln. Sollte sie auch Beobachtungen gemacht haben wie er gestern abend? Das wäre schrecklich, das hätte er ihrem Stolz gern erspart.

Nein, Gottlob! Ganz andere, geradezu erlösende Nachrichten enthielt der Brief. Er spürte aber aus jeder Zeile die Aufregung, in welcher Sabine geschrieben hatte.

„Mein teurer Freund! Die Morgenpost bringt mir soeben einen Brief, dessen Inhalt von mir schnelle Entschlüsse fordert, die ich aber nicht fassen will, ohne vorher Ihren Rat, Ihren Willen gehört zu haben.

Oft sprach ich Ihnen von meiner treuen Freundin Susanne und vom guten Onkel Fritz. Susanne war noch sehr jung, als sie mir nahetrat, eben sechzehn Jahr. Aber sie hat seitdem alles treu mit mir getragen, begriff schon das Elend meiner Ehe und auch jetzt die Schwierigkeit meines Lebens in Mühlau, die Pein, meinen lieben, ruhebedürftigen Eltern zur Last fallen zu müssen. Sie behauptet schon lange, ich würde das Leben leichter tragen, wenn mein Gedächtnis, statt mit lauter bitteren Erlebnissen, mit schönen Eindrücken und Erinnerungen gefüllt würde. [367] Eine große, erhebende Arbeit könne man mir leider nicht verschaffen, die mich, neben der Erziehung von Leo und Milly, ganz in Anspruch nähme. So hat diese liebe Susanne denn gebohrt und intriguiert, mir wenigstens eine interessante Abwechselung zu verschaffen, und Onkel Fritz bestimmt, mich zu einer zweimonatigen Reise nach Italien einzuladen.

Onkel Fritz und ich sind uns aber zu fremd, um viel miteinander anfangen zu können; so soll denn die Anstifterin dieses schönen Planes, Susanne, auch mit.

Ich dürfte und sollte freudig jubelnd einstimmen. Meine Kinder sind liebevoll bei meinen Eltern aufgehoben. Ja, ich weiß sogar, daß meine Eltern eine gewisse Befriedigung empfinden werden, die Erziehung und Ernährung von Leo und Milly einige Wochen allein zu überwachen; Papa und Mama haben in diesen Dingen gänzlich von der meinen abweichende Ansichten und schütteln oft den Kopf über unsern reichlichen Verbrauch von Wasser und Luft.

Warum ich nicht juble, oder noch nicht? Zuerst, mein teurer Freund, fiel es mir schwer auf die Seele, daß ich Sie sechs Wochen länger entbehren müsse, als ohnehin schon bevorstand. Denn unsere Reise soll am 1. September beginnen, und dann ist von Ihrer Manöverzeit erst die Hälfte abgelaufen.

Die letzten Wochen haben ein so herzliches und so wundervolles Verständnis zwischen uns erblühen lassen, daß ich gar nicht weiß, wie das Leben aussehen sollte, in welchem unsere Begegnungen fehlten.

Aber dann durchzuckte mich wie ein Blitz die Idee zu einem Plan, der so bezaubernd ist, daß ich mir gar nicht vorzustellen wage, er sei unausführbar!

Haben wir es nicht oft beklagt, daß wir, zwei Freie, zwei Schuldlose, zwei Reine, uns heimlich sehen und sprechen, als hätten wir eine Sünde zu verstecken? Beugen wir uns damit nicht tiefer, als unser Stolz erlauben sollte, einem Vorurteil?

Wie denn, wenn wir im Auslande, fern von bewachenden, engherzigen Philistern, uns begegneten und schöne Stunden gemeinsamen Genusses in Kunst und Natur verlebten? Haben wir nicht zuweilen davon gesprochen, daß für Zwei, die so gleichen Charakters sind, so voll gleicher Interessen, so voll gleicher Lernbegier, es eine höchste Freude sein müsse, zusammen die Welt zu sehen?

Nehmen Sie nach dem Manöver Urlaub und schließen Sie sich uns an, sei es auch nur für Tage!

Meine Susanne ist ein viel zu großdenkendes Menschenkind, um unsere Freundschaft, trotz der Vergangenheit, nicht zu begreifen. Wenn ich mich auf den Markt stellen und es in alle Welt hinausschreien dürfte: ‚ich war sehr elend in meiner Ehe,‘ würden die brutalen Menschen vielleicht auch begreifen, daß ich Sie nicht hassen kann und nicht meiden will. – Susanne also wird begreifen.

Und Onkel Fritz? Ach du meine Güte, Onkel Fritz hat zweiundzwanzig Neffen und Nichten, um die alle er sich ein wenig kümmert und deren Schicksale er heillos durcheinander wirft. Nur Susanne steht ihm wahrhaft nahe; ihr Vater war nicht nur sein Vetter, sondern auch sein Jugendfreund. Und mit Susanne verkehrt er viel. Uns andern, soweit wir Geld von ihm bekommen, läßt er es von seinem Bankier ein für allemal überweisen, und unsere Korrespondenz ist einseitig: sie besteht aus unsern Dankbriefen. Ich selbst sah ihn nur einmal bei meiner Hochzeit. Ich bin sicher, daß er schon oft die Todesart meines Mannes vergaß; den Namen des Duellgegners hat er sich gewiß nie gemerkt.

So können Sie sich uns anschließen, ohne aufzufallen. Warum sollte der Zufall es nicht fügen, daß ich, die ich einst in Berlin mit so vielen Menschen verkehrte, einen Bekannten treffe?

Schwindlig vor Freude und Glück könnte ich werden, wenn ich es mir ausmale: freudig und frei werden wir miteinander, begleitet von der treuesten Freundin und dem guten Alten, durch die Straßen wandern, von Schönheit zu Schönheit! Stunden werden wir erleben, so reich, daß sie noch ihr Licht werfen können über viele Jahre der Zukunft, die so rätselvoll, so dunkel, so drohend vor mir liegt.

Sagen Sie nicht Nein, Achim! Und Ihr Ja sagen Sie mir schnell!
  Sabine.“

Er fühlte den Ton des verzehrendsten Verlangens. Aus jeder Zeile atmete ihre Liebe, die sie kaum zu verhüllen verstand. Er wußte es: er war für sie alles, alles! Seinetwegen würde sie einer Welt trotzen, betteln gehen, Elend, Verachtung tragen. Und dies Bewußtsein berauschte ihn wieder, riß ihn hin, wie es jeden Mann hingerissen hätte.

Er redete sich vor, daß sie recht habe: solche Stunden reichsten Inhalts konnten ihr noch Jahre des Lebens nachher vergolden, und er beschloß, ohne Besinnen, sie ihr zu gewähren.

So gab er ihr einmal, was er ihr geben durfte. Und die Gegenwart ihrer Reisegenossen schloß jede Gefahr des Sichvergessens aus.

Dann, nach so verlebten Tagen voll reinster Geistesgenüsse, dann wollte er von ihr scheiden für immer, und dann würde sie dankbar und zufrieden ihm die Hand zum Lebewohl versöhnt reichen.

Er vergaß, daß die rechte Liebe an ihrer Sättigung immer hungriger wird.

„Teure Sabine,“ schrieb er, „Ja also und aus freudigstem Herzen: Ja! – Lang wird der Urlaub freilich nicht werden, den ich erbitten kann. Aber unter solchen Bedingungen können wenige Tage reichsten Inhalt haben!

Lassen Sie uns, ich beschwöre Sie, bis dahin jede Begegnung vermeiden. Wir wollen nichts mehr wagen, weil uns zu leicht dann das schöne Vorhaben gestört werden möchte. Ich fürchte, man hat uns schon beobachtet und besprochen.

Heute nur dies, mit tausend Grüßen
 Achim.“

Ihre kurze Antwort war ein Jubelruf.

„Vor Wonne weiß ich mich kaum zu fassen! Dank, mein Freund, Dank! Und wenn Sie es klüger finden, daß Sie nicht mehr hinauskommen, so ist es selbstverständlich, daß wir uns nicht sehen. Aber ob die Leute uns beobachten, beklatschen, belauern – das ist mir ganz egal! Ich stehe darüber, denn mein Gefühl ist größer als der Klatsch. Nicht wahr? Sind wir nicht mehr als jene?

Sobald ich unsern Reiseplan genau weiß, schreibe ich.
 Sabine.“

Achim staunte ihre Kühnheit an. „Das ist mir ganz egal!“ Ueber alle Aeußerlichkeiten ging sie hinweg, für ihren stolzen freien Sinn existierten die kleinen Alltagsmenschen gar nicht.

Ich, der Mann, bin wieder einmal der Feige, dachte er.

Nun flogen die Briefe hin und her, bis Achim ins Manöver rückte.

Da erhielt Sabine als letzten Gruß aus Mühlau noch all seine Manöveradressen und sein Bild, das sie sich erbeten. Sie hatte ihm das Bild ihrer Kinder gesandt und versprochen, sich in Mühlau gleich photographieren zu lassen.

Die Truppen zogen am Heinsdorfer Gutshof vorbei. Es war ein lachender Hochsommermorgen. Der Tau perlte im Gras am Rain, und auf den Feldern vor dem Erlenbusch standen bleichgelbe Roggengarben mit melancholisch geneigten Aehrenhäuptern. Die Sonne flimmerte erst hinter den hohen Gartenbäumen, so lag der Gutshof noch im feuchten Schatten.

Und vorn am Thor, Leo an der Hand, stand Sabine; ihr Bruder neben ihr, die kleine Milly auf dem Arm.

Sabine hatte ein weißes Morgenkleid an und einen großen, grünen Sonnenschirm geschultert. Von dem farbigen Rund hob sich ihr schönes Haupt herrlich ab.

Sie nickte allen bekannten Offizieren zu. Aufhalten konnten sich die Herren nicht, sie sollten die anderen beiden Bataillone des Regiments treffen, die aus der nächsten Stadt kamen.

Es war ein Lachen und Grüßen und Leo jauchzte.

Auch Achim von Körlegg kam vorüber und sie wechselten Gruß und Blick. So nahm er das Bild ihrer in Freude glühenden Schönheit mit hinweg.

Sein Mannesstolz regte sich und sein klopfendes Herz sagte ihm:

„So leuchtet sie mir!“

[389]
7.

Das Manöver zog sich in die Provinz Posen hinein und brachte den Offizieren gleich in den ersten zehn Tagen tausend Unannehmlichkeiten. Der lachende Auszug am ersten Morgen blieb wie ein Lichtpunkt in aller Erinnerung. Noch am selben Tage brach mit einem fürchterlichen Gewitter eine Regenzeit an, die eigentlich aus einer unaufhörlichen Folge von Wetterkatastrophen schlimmster Art bestand. Die Warthe, in deren Gebiet man sich bewegte, schwoll unerhört an; jedes Bächlein ward ein Strom, aber nicht von der reißenden Art der Gebirgswasser, die schnell und verderblich mit Gefahren vorüberstürzen; sondern still wuchs und schwoll das und stand und überzog die Felder, durchweichte den Boden, unterminierte die Straßen.

Tagelang wurden den Mannschaften wie den Offizieren die Röcke nicht trocken, in den Quartieren war es dumpf und dürftig; anstatt der vorgesehenen Biwaks bezog man Notquartiere. Und wenn die Leute einigermaßen untergebracht waren, erwuchs den Offizieren noch die Pflicht, sich davon zu überzeugen, ehe sie selbst eine fragwürdige Ruhe suchen konnten. Die Plackereien nahmen kein Ende, und wenn der Soldat, übellaunig, verzagt, die Lust verlor, hatten die Offiziere die Pflicht, die Stimmung frisch zu erhalten.

Abends saß alle Welt in irgend einem kümmerlichen Dorfwirtshaus zusammen und schimpfte. Da aber Schimpfen immer etwas Gemütbefreiendes hat, so wurden auch beim schlechten Bier diese Abende zuletzt doch noch manchmal gemütlich.

Wenn das Glück den Herren ein Quartier auf größerem Gutshof oder gar dem Schloß eines Großgrundbesitzers bescherte, fühlten sie sich auf zwölf Stunden wieder als Menschen.

„Schlimmer kann’s im Kriege auch nicht zugehen,“ sagte Hallendorf zu Achim von Körlegg, „so’n Manöver bei Hundewetter ist eigentlich ’ne Probe darauf, wie lange ’n anständiger Mensch es aushält, als Schwein zu leben, ohne krank zu werden.“

Er hatte schon mehrere Kranke in seiner Kompagnie und sah das Unwetter als persönliche Chicane der himmlischen Mächte gegen sich an. Achim war der Nächste dazu, alle üble Laune des Hauptmanns zu ertragen. Unter solchen Verhältnissen wuchs das Traumbild einer italienischen Reise mit Sabine noch mehr zu einem Strahlengemälde von überwältigendem Reiz. Beinahe stoisch ertrug er das Ungemach. Immer sah er Sabine vor sich stehen, wie sie am Thore stand, da er vorbeizog. Jeder Gedanke an sie ward der erquickende Gegensatz zur Misere dieser Tage.

Nach anderthalb Wochen schon erhielt er ihr Bild. Sie hatte sich in einem Ballkleide photographieren lassen. Da er sie nie anders als im Freien, in Straßenkleidern gesehen hatte, wirkte das Bild beinahe fremdartig auf ihn, aber doch auch wie eine neue Offenbarung ihrer Schönheit. Mit Herzklopfen betrachtete er es. Wie stolz ihr [390] edles Haupt auf dem schlanken Hals saß! Wie köstlich waren die Linien ihrer Schultern und Arme!

Er seufzte schwer und resigniert, als er dann das Bild in seinem Koffer verbarg. Aber allabendlich holte er es hervor und starrte es an, und eine dumpfe, zehrende Unruhe wuchs langsam in ihm.

Seine Nächte wurden von leidenschaftlichen Träumen gequält. Tags freute er sich nun fast all der fatalen Lebensbedingungen, die wenigstens ihm gewaltsam Vergessen aufzwangen.

Eines Nachts, als sie in einem polnischen, jämmerlichen kleinen Städtchen im Quartier lagen, brachen derartige Unwetter nieder, daß der nächste Morgen ihnen eingestürzte Brücken, zerstörte Straßen, überschwemmte Felder zeigte, und anstatt, wie geplant gewesen, um vier Uhr früh weiterzumarschieren, hieß es für das Regiment, dem Pionierdetachement bei Straßen- und Notbrückenbau behilflich sein. Das Städtchen lag auf einer Insel, von zwei Armen der Warthe umflossen. Die nördliche Brücke war eingestürzt, der Damm der hier mündenden Zweigbahn unterwühlt; die Chaussee, zu welcher man über die südliche Brücke gelangte, viele Meter lang gleichsam eingesunken und von Steingeröll und Wasserlachen bedeckt.

Hier hielt Achim und überwachte von seinem Pferde aus die Arbeiten seiner Füseliere. Zwischen den Leuten bewegte sich Bläser und ein Leutnant von den Pionieren. Man ließ Bretter heranführen und Erde, um einen Uebergang herzustellen.

Hinter ihnen rollte gelb und schwerflutend der Strom an dem rotgrauen Häusergehock des Städtchens vorbei. Da ragten ein paar Fabrikschornsteine und ein Kirchturm in die trübe Luft. Vor ihnen zog sich die mit Bäumen eingefaßte Chaussee endlos in die flache Gegend hinein. Die nassen Wipfel sperrten ihr Gezweig krankhaft auseinander, denn es war schwer von Regen und von Obst.

An der Stelle, wo die Einsenkung begann, sammelten sich nach und nach allerlei Gefährte und Fußwanderer. Den Fußgängern halfen einzeln die Soldaten hinüber, und Achim sah da mehr als ein Genrebildchen, wenn einer seiner frischen, kernigen Kerle mit gutmütigem Spott einen zitternden Handelsjuden mit Kaftan und Schläfenlocken mehr zog als führte, während die schmale Bohle unter ihren Tritten schwankte.

Für die Wagen hieß es: warten. Da fuhr zuletzt eine förmliche Wagenburg zusammen, sechs vierspännige, gleichaussehende, schwer mit Säcken beladene Fuhrwerke, die Kutscher alle mit gleicher Mütze. Sie sollten Getreide von einem nahen Herrschaftssitz an die Bahn bringen. Dann ein vergittertes Wägelchen, aus dem jämmerliches Geblök erscholl, Kälberköpfe suchten sich durch die Lücken des Gitters zu drängen und der Kutscher schimpfte laut. In zwei leeren Ackerwagen legten sich die Führer gleichgültig zum Schlafen hin und die Gäule standen in Stumpfsinn unbeweglich. Dazwischen stand, schon ganz eingekeilt, eine offene Viktoriachaise. Ein Kutscher in Livree saß auf dem Bock, ein alter Herr und eine junge Dame im Wagen. – Die Kommandostimmen der Offiziere überschrieen den Lärm, Bretter krachten polternd zur Erde, Hammerschläge hallten, die Kälber blökten jammervoll, rechts und links blinkte schlammiges Wasser auf dem Gebreite der Felder, und vom zinnfarbenen Himmel begann es eben zu tröpfeln.

Achim sah, daß die beiden Personen in der offenen Halbchaise sich erhoben und augenscheinlich mit Gebärden der Entmutigung die ganze Scenerie rings sich anschauten. Nun bemerkte er erst, daß es eine Dame war und ein alter Herr, also zwei Menschen, die des Schutzes oder wenigstens vielleicht eines Rates bedurften.

Er stieg ab und gab sein Pferd dem nächsten Mann zum Halten.

„Kommen Sie, Bläser,“ sagte er im Vorübergehen, „wir wollen den Herrschaften helfen.“

Vorsichtig balancierend, gelangten sie über das schmale Brett nach der anderen Seite und wanden sich zwischen den Wagenrädern, Pferdekruppen durch bis zur Chaise hin.

Achim grüßte.

„Wenn ich mir erlauben darf, den Herrschaften zu raten, so wäre es besser, Sie stiegen aus und gingen zu Fuß ins Städtchen. Es ist nur eine Viertelstunde. Bis der Wagen hinüber kann, wird noch eine Stunde und mehr vergehen.“

Der alte Herr lüftete höflich seine Lammfellmütze und sah das junge Mädchen fragend an.

„Wie du meinst, Onkel,“ sagte sie.

„Den Zug haben wir schon versäumt,“ bemerkte er verstimmt.

„Wenn die Herrschaften mit der Bahn weiter wollten – der Bahndamm ist unterspült. Vor morgen wird kein Zug abgelassen,“ berichtete Achim.

„Ach du meine Güte!“ rief der alte Herr.

„Aber Onkel, wie romantisch! Denke doch! Dies ist das erste Abenteuer meines Lebens,“ rief das junge Mädchen vergnügt.

Der alte Herr lächelte, auch die beiden Offiziere erlaubten sich ein wohlwollendes kleines Lächeln.

„Gnädiges Fräulein werden vielleicht mehr Unbequemlichkeit als gerade Romantik finden. Im Gasthof ‚Zum König Stanislaus‘ haben die Stäbe die besten Zimmer mit Beschlag belegt. Aber Platz finden die Herrschaften sicher. Auch das Essen ist nicht schlecht. Nur ist es ein großes militärisches Treiben da,“ erzählte Achim.

„Also steigen wir aus,“ entschied der Alte, „wenn die Herren uns hinüberhelfen wollen … und Sie, Prenka, kommen nachher in das Hotel mit den Sachen.“

„Zu Befehl, gnädiger Herr!“

Mit einem bezeichnenden Blick gebot Achim seinem Kameraden, den alten Herrn zu führen. Es war selbstverständlich, daß ihm, dem Premier, der angenehmere Teil der Aufgabe, nämlich die Führung der jungen Dame, zufiel. Und obenein gefiel ihm dieselbe ganz ausnehmend.

Sie war mittelgroß und schlank, ganz in einen englischen grauen Reiseüberrock gehüllt, welcher in der Taille fest anschloß und die hübsche Gestalt ganz erkennen ließ. Dazu trug sie einen weißen Strohhut von Matrosenform. Dick quoll unter seinem Rande ein blonder Haarknoten hervor. Das Mädchen hatte blaue Augen, die mit einem freudigen Blick in die trübselige Welt schauten. Man sah es ihrem offenen, frischen Gesicht an, daß all diese unerwarteten Unbequemlichkeiten ihr die Laune gar nicht verdarben. Vertrauensvoll und ohne Ziererei sah sie zu Achim empor.

Den alten Herrn hielt Achim für einen Russen, trotz seines reinen Deutsch. Er war sehr groß und schlank, trug sich etwas vornübergeneigt und hatte auf seinem weißen Haar eine Lammfellmütze. Sein Gang war müde, sein Gesicht bleich, die Nase lang und fleischig. Er hatte etwas Verbrauchtes, Blasiertes, Zerstreutes, das aber nicht unliebenswürdig wirkte, sondern eher Teilnahme erregte.

Achim ließ das junge Mädchen vor sich her gehen und hielt sie, hinter ihr schreitend, an beiden Oberarmen. Das Brett bog sich unter ihnen. Zuweilen überlief das Schlammwasser und netzte ihre Füße.

„Hineinfallen möchte ich nun gerade nicht in den Schmutz,“ sagte sie lachend.

Achim sah dicht vor sich den blütenweißen Leinenkragen aus dem Mantel gucken und sah den Hals, das Ohr und ein Stückchen Wangenprofil sowie den dicken Haarknoten. Ein Glanz von Appetitlichkeit ging von allem aus, ein unbeschreiblicher Duft von Jugendfrische.

Nein, das paßte nicht zu diesem wohlgepflegten Mädchen – in den Schlamm fallen. Er faßte unwillkürlich fester an.

„Um Onkel ist es mir leid. Er ist so sehr nervös. Mir macht es Spaß,“ erzählte sie in unbefangener Aufrichtigkeit.

„Darf ich fragen: sind die Herrschaften schon weit hergekommen?“

„Immerhin zwei Stunden gefahren. Wir waren bei Verwandten zum Besuch. Taufe – wissen Sie, der arme Onkel muß allerwärts Pate spielen. In unserer Familie giebt es schon gewiß ein Viertelhundert Fritze und Friederiken. Die jungen Eltern meinen immer, es macht Onkel Spaß. Aber es ermüdet ihn so. Und er ist zu gut. Er kann nicht Nein sagen. Nie zu etwas!“

Sie plauderte mit der leichten Mitteilungsfähigkeit junger [391] Menschen. Vielleicht wollte sie dem gefälligen Herrn Leutnant gegenüber sich auch nicht zu konventionell benehmen.

„Onkel Fritz,“ dachte Achim … „aber das wäre doch …“

Immerhin erregte ihn die Möglichkeit eines solchen Zusammentreffens, und er fing an, starke Neugier zu fühlen, wer die beiden Reisenden seien.

„Hoffentlich stört der unvermutete Aufenthalt Sie und Ihren Herrn Onkel nicht in Ihrem Reiseplan?“ fragte er.

„Ja, schon ein bißchen. Das heißt, alles verschiebt sich um einen Tag. Aber das macht nichts. Onkel ist kein Pedant. Und mir ist es auch egal. Da kommen wir eben einen Tag später nach Italien. So – danke vielmals.“

Sie waren drüben und sahen nun zu, wie der lange alte Herr, von dem kleinen Bläser geleitet, etwas schwankend nachkam.

Dann lüftete Onkel Fritz wieder die Lammfellmütze, dankte den beiden Herren mit vieler Freundlichkeit und sagte:

„Also komm, Susanne!“

Natürlich, sie sind es, dachte Achim und sah ihnen interessevoll nach. Bläser, neben ihm, pries mit großen Worten das Aussehen und die Gestalt des Mädchens.

„Werd ’mal ’n Ton mit ’m Kutscher reden, wer die sind. Da muß man sich noch ’n bißchen ’ranmachen. Ein famoses Mädel! Wissen Sie was, Körlegg – wenn wir heut das Essen bei unsern Quartierwirten schießen ließen und im ‚König Stanislaus‘ dinierten? Wir haben beinahe Lebensretter gespielt – also gewissermaßen Anrecht, Bekanntschaft zu kultivieren. Was meinen Sie?“

„Ach, Sie machen aus jeder Bagatelle ein Ereignis! Die wissen heut mittag schon nicht mehr, wie wir aussehen,“ sagte Körlegg ausweichend, trotzdem er sofort entschlossen war, auch im „König Stanislaus“ zu essen.

Susanne Osterroth wußte um Mittag aber noch ganz gut, wie die beiden Herren ausgesehen hatten.

„Nicht wahr, Onkel,“ sagte sie, „das waren zwei nette Leutnants? Besonders der große, blonde hat mir gut gefallen. Er hatte so etwas Männliches, Ernstes.“

„Vielleicht hat der ganze Eindruck von Männlichkeit bloß in den hohen schlammbespritzten Stiefeln seinen Grund. So eine Uniform mit den Spuren harter Arbeit sieht nach was aus. Das kleidet,“ sprach er lächelnd.

„Dir imponiert auch nichts,“ meinte sie.

„Ein Leutnant wenigstens nicht gleich auf den ersten Blick, denn ich bin kein Mädchen.“

„Na, so eins bin ich doch auch nicht,“ rief Susanne.

Mittags suchten sie sich im Speisesaal des „Königs Stanislaus“ einen Tisch. Die beiden langen Haupttafeln waren für Offiziere bestimmt, die teils schon dasaßen, teils gerade ankamen. Die ganze Sache war Onkel Fritz etwas zu kriegerisch bewegt. Indes, essen mußte man und drüben in der kleineren Wirtsstube wimmelte es von Unteroffizieren und Feldwebeln. Am Fensterpfeiler stand ein freier Tisch. Ueber ihm an der Wand hing ein Riesenplakat; da sauste eine brennendrot gekleidete Dame mit prallsitzenden Strümpfen auf einem Velociped geradeswegs auf den Beschauer los. Darunter hing die Ankündigung der Berliner Gewerbeausstellung. Die sich emporstreckende Faust mit dem Hammer war von Fliegenschmutz betupft. Seufzend ließ Onkel Fritz sich nieder. Das kleine Vergnügen, welches ihm die Situation gewährte, war die Beobachtung, daß Susanne, als einzige Dame wohl unter vierzig Herren, ganz so unbefangen blieb, wie sie immer war.

„Sieh mal, da sitzt dein Held mit den Reiterstiefeln,“ sagte er.

Da Körlegg und Bläser bemerkten, daß der alte Herr zu ihnen hinübersah, erhoben sie sich grüßend. Auch Susanne nickte lebhaft und freudig.

„Wir werden sie nachher zu einem Trunk Sekt herüberbitten lassen.“

„Kann man das?“ fragte Susanne zweifelnd.

„Ein alter Herr darf zwei jungen Leuten, die ihm einen Dienst erwiesen, schon ein Glas Wein anbieten, ohne sie zu kränken.“

Susanne blieb ein wenig unruhig. Onkel Fritz in seiner Patriarchenstellung innerhalb seiner weitverzweigten Familie hatte sich angewöhnt, auch Fremden gegenüber manchmal etwas leutseliger zu sein, als es Susanne richtig schien. Wie allen jungen Menschen fehlte ihr in Persönlichkeitsfragen noch oft die innere Freiheit.

Aber Körlegg und Bläser nahmen die Einladung, die der Oberkellner ihnen nach genauer Personalbeschreibung brachte, nicht übel, sondern verließen mit strahlenden Gesichtern ihren Nachtisch, von ihren Kameraden beneidet.

Der alte Herr ging ihnen einige Schritte entgegen.

„Von Körlegg.“

„Bläser.“

„Osterroth.“

Nach dieser Selbstvorstellung erwuchs nun Onkel Fritz die Pflicht, die Herren seiner Nichte vorzustellen.

„Gestatte, mein liebes Kind,“ sagte er, „Herr von Hörneck, Leutnant Heeser, – meine Nichte, Fräulein Osterroth.“

Onkel Fritz war sehr befriedigt. Namen waren seine schwache Seite, diesmal hatte er nach seiner Meinung gleich richtig verstanden und vorgestellt. Auch war er noch von der alten Schule und nannte die adeligen Herren beim Namen und die bürgerlichen bei ihrer Charge.

Man plauderte sogleich sehr heiter. Körlegg gestand, daß die Lammfellmütze ihn verführt habe, Herrn Osterroth für einen Russen zu halten, für einen Diplomaten überdies, wegen der ganzen Erscheinung.

Da der alte Herr seinen Namen falsch verstanden und nachgesagt hatte, fühlte Körlegg eine fröhliche Sicherheit in sich.

Der Saal wurde immer leerer, alle Offiziere waren seit vier Uhr früh in aufregender Thätigkeit gewesen. Der Dienst begann um drei Uhr von neuem.

„Sie werden sich ausruhen wollen und wir halten Sie auf,“ sprach Onkel Fritz.

„Nein,“ gestand Bläser aufrichtig, „nach all dem wüsten Lärm und Regen und Schmutz bietet dies heitere Stündchen mit Ihnen uns mehr Erfrischung, als es der Schlaf vermöchte.“

Bläser ist ein netter Mensch, dachte Körlegg wohlgefällig.

Beim dritten oder vierten Glas fragte Susanne dann Körlegg, welches seine Garnison sei. Gerade sprach Bläser lebhaft von seinem Steckenpferd, der Fuchsjagd, mit dem alten Herrn.

„Ich stehe in Mühlau,“ sagte er unwillkürlich leise und sah Susanne ernst in die blauen Augen.

Der Ton und der Blick hinderte Susannen, den fröhlich überraschten Ausruf zu thun: „Da reisen wir ja gerade hin!“

„Kennen Sie …“ begann sie und stockte schon.

Er sah sie wartend an. Sie besann sich anders und sagte auch halblaut:

„Ich habe Verwandte in Mühlau.“

Er nickte langsam. „Ich weiß es!“ Es klang so schwer.

„Hat Onkel Ihren Namen richtig verstanden?“ fragte sie schnell.

„Nein!“

Und wieder sah er ihr fest, fast befehlend in die Augen.

Sie verstanden sich. Ihm schien es, als wechsele Susanne ihre Farbe. Sie mußte begriffen haben, wer er war.

Das Gespräch wurde wieder allgemein, und mit großer Lebhaftigkeit scherzte man miteinander. Die Worte waren harmlos, die Mienen lachend.

Aber Susannens Blicke ruhten immerfort mit einem offenkundigen, unersättlichen Interesse auf Achims Angesicht.

So also sah der Mann aus, welcher der Gegenstand einer unheilvollen, rasenden unseligen Leidenschaft war! Um diesen wollte ein Weib einer Welt trotzen!

Welche Eigenschaften mußte er haben? Wo lagen die geheimen Zauber seines Wesens? Was war die Gewalt, die von ihm ausging und der armen Sabine alle Besinnung raubte?

Das war er! Er! Und saß hier, ein friedlich und angenehm plaudernder, verbindlicher Mann, in einer Uniform ebenso wie die vierzig oder fünfzig anderen Männer, die eben noch im Raum hier gewesen waren. Ganz gewöhnlich, ganz alltäglich!

Und trug doch ein großes Wunder verschwiegen mit sich herum.

Das Wunder einer unsäglichen Liebe. Es war Susanne, [394] als kämen die Rätsel des Lebens an sie heran. Ein Schauer rann fröstelnd durch ihre Adern.

Sie versuchte sich vorzustellen, daß Sabine hier mit am Tische säße, daß Achim von Körlegg heiße Liebesblicke ihr zusende. Es ging nicht. Das konnte Susanne sich auf keine Weise vorstellen. Es erschien ihr unmöglich, daß dieser festblickende Mann, von dessen ganzem Wesen eine stille Energie ausging, sich der verderbenden Gewalt einer verbotenen Liebe hingeben sollte. Denn für Susanne blieb diese Liebe eine „verbotene“. Kein Mut, keine Kühnheit, keine Freiheit konnte je groß genug sein, sich über die Kluft hinwegzusetzen, die zwischen den unseligen Beiden gähnte.

Ob er wohl klarer sah als Sabine? Ob er dann nicht litt, sehr schwer und tief litt? Sie hätte in seiner Seele lesen mögen.

Wenn er wüßte, daß ich eingeweiht bin! dachte sie. Vielleicht weiß er es.

Sie fühlte sich ihm ganz vertraut. Er war ihr kein Fremder. Sie kannte sein Schicksal, das ihr ein ungeheures schien.

Er aber bemerkte wohl, daß ihre Blicke sich nicht mehr von ihm wandten. Und er erriet den Grund.

Ein Zorngefühl quoll in ihm auf. Instinktiv wehrte sich seine ganze Männlichkeit dagegen; er wollte nicht beobachtet sein als einer, der nicht mehr Herr seines Schicksals und seiner Person ist. Er fühlte sich als ein Mann, der aller Gefahr siegreich begegnet war. Und in diesem Augenblick glaubte er, daß es fortan überhaupt gar keine Gefahren mehr geben könne.

Er hätte wissen mögen, was dieses Mädchen von ihm wußte oder dachte. Das war ihm wichtig. Durch Sabinens Erzählungen war ihm Susannens Persönlichkeit sehr bekannt, sehr verehrungswert geworden. Sie war ein Mensch, von dem man geachtet zu sein wünschte.

Dachte sie, er habe kein Gewissen, keine ethischen Grundsätze? Nahm sie an, daß er widerstandslos dem Zauber der schönen Frau erlag, die unbewußt, getrieben von der elementaren Gewalt einer großen Leidenschaft, mit ihrem ganzen Wesen zur Versucherin an ihm geworden?

Wenn sie das annahm, konnte sie ihn dann noch für einen rechten Mann halten?

Oder glaubte sie, daß er bei all der Liebe, die ihm entgegenloderte, kühl und fest geblieben war? Daß er wie ein anderer keuscher Joseph seinen Mantel gelassen hatte und entflohen war?

Wenn sie das annahm, konnte sie ihn dann noch für einen rechten Mann halten?

Frauenlogik und Frauenempfindung ist in solchen Dingen unberechenbar. Ein Mann, der sich schwach in eine Leidenschaft verstrickt, erscheint ihnen oft der Teilnahme würdiger als einer, der ihr stark widersteht.

Als Unterlieger oder als Sieger – immer hat er das Urteil der Frauen zu fürchten. Ja selbst den Richterspruch der einen, um die er leidet!

So war für Achim wie für Susanne diese kurze, scheinbar harmlos verplauderte Stunde voll reichsten Inhaltes. Als man sich endlich trennen mußte und Abschied nehmend noch zusammenstand, erzählte der alte Herr, daß er nach Mühlau wolle, dort noch eine Nichte abzuholen. Bläser erlaubte sich die Frage nach dem Namen derselben. „Ach, die wunderschöne Frau von Zeuthern? Ich habe im Sommer oft das Glück gehabt, sie bei ihrem Bruder auf Heinsdorf zu treffen.“

„Da kennen Sie Frau Sabine besser, als ich sie noch kenne,“ sagte der alte Herr, durch diese gemeinsame Beziehung gleich noch zutraulicher geworden. „Ich bin ihr eigentlich ziemlich fremd. Aber mein klaräugiges Mädchen da meinte, eine solche Reise thäte Sabinen gut.“

Bläser machte sich ein bißchen wichtig und sprach sehr intim von Reinald Deuben, dem Oberamtmann und dessen Frau und dem Mühlauer Leben, wo Sabine von Zeuthern allerdings etwas deplaciert sei.

Achims Gedanken blieben an dem einen liebkosenden Wort hangen, das der alte Herr von Susanne gebrauchte, „mein klaräugiges Mädchen“.

Ja, besser konnte man sie nicht benennen. Da waren keine vulkanischen Untiefen. Da war Reinheit und Licht.

Die Offiziere gaben den Herrschaften noch tausend gute Wünsche mit auf die Reise und Achim sagte, daß er nach dem Manöver auch eine kleine Spritztour hinunter zu machen denke, worauf der alte Herr mit der landläufigen, konventionellen Freundlichkeit, die man in solchen Fällen aufwendet, antwortete, dann könne man vielleicht auf ein Wiedersehen hoffen.

Susanne erglühte dermaßen und zeigte so deutliche Spuren plötzlicher Erregung, daß Bläser später den Kameraden neckte, er habe Eindruck gemacht. Achim glaubte den Grund dieser plötzlichen Erregung zu erraten. Er schwieg zu den Neckereien und blieb sehr schweigsam den ganzen Tag.

Susanne aber konnte kaum den Augenblick des Wiedersehens mit Sabine erwarten. Durch die vielfach gestörten Verbindungen ward ihr dieser erst am nächsten Abend.

Sabine stand am Bahnhof. Blanker Sonnenschein brach eben, nach einem regnerischen Tag, durch die Wolken und warf ein hartes, gelbes Licht auf die nassen Büsche rechts und links vom roten Bahnhofsbau. Der kiesbestreute Perron glitzerte. Es war beinahe kalt. Sabine trug deshalb ein schwarzes Jackenkleid von Tuch, aber auf ihrem Hut steckten grünschillernde Fittiche.

Als die Freundinnen sich in jubelnder Freude umarmt hatten, gab Sabine, unwillkürlich etwas befangen, dem alten Herrn die Hand.

Onkel Fritz, groß und vorgebeugt, stand vor ihr und sah unter seiner gesenkten Stirn so forschend heraus, wie es nun einmal immer seine Angewohnheit war. Er beobachtete schnell, schweigend und intensiv. Es war Sabine, als durchschaute er sie ganz und gar. Sie lächelte den alten Herrn etwas gezwungen an.

„Papa und Mama bitten zum Abendbrot,“ bestellte sie. „Papa läßt sich entschuldigen, daß er nicht mit zum Empfang herkam. Er hat wieder dicke Füße.“

„Gut, gut,“ antwortete Onkel Fritz zerstreut.

Die außerordentliche Schönheit der jungen Frau machte ihn betroffen; noch mehr beschäftigte ihn der Ausdruck ihrer Züge. Schweigsam und zerstreut blieb er auch während der Abendtafel.

Er war mit Susanne im „Kronprinzen“ abgestiegen und fügte sich ungern in die freilich auch von ihm anerkannte Notwendigkeit, bei Sabinens Eltern zu speisen. Gegen den alten Deuben hatte er ein Dutzend Vorurteile; mit fremden Menschen unterhielt er sich nur, wenn er aus freiem Interesse die Unterhaltung suchte. Hier lag Zwang vor. Deubens waren ihm gänzlich fremd; von der kurzen Begegnung auf Sabinens Hochzeit hatte er kaum eine deutliche Erinnerung mehr.

Ebensowenig freudig erwarteten Deubens ihre Gäste.

Der alte Deuben war, wie viele Geizige, in die Taschen anderer Leute hinein generös und fand, das könnte Onkel Fritz wohl, zwei hübsche Nichten mit auf Reisen nehmen, daran habe er sicher viel Pläsier. Andrerseits empfand der Oberamtmann diese Reise doch wie einen stillen Vorwurf. Es war eigentlich gerade so, als ob sie ihrer Tochter selbst nicht genug böten. Ueberhaupt war der ganze Onkel Fritz sozusagen ein lebendiger Vorwurf – ein Mann, der so mit vollen Händen gab!

Um sich von diesem heimlichen Druck zu befreien, sprach der Oberamtmann viel von der Art, wie Onkel Fritz sich ausnutzen lasse, und Sabine hörte mit ihrem klugen Ohr sogar ein bißchen Geringschätzung heraus, was sie nicht wenig ärgerte.

Was am Abend gegeben werden sollte, hatte lange Debatten verursacht. Die Oberamtmännin schlug ein Vorgericht von Fisch vor. Aber das wäre dem Oberamtmann undenkbar erschienen, Fische an einem andern Tag als dem Markttag Sonnabend zu essen. Schließlich einigte man sich auf ein Ragout von Kalbsmilch und eine junge Gans. Die Kochfrau Heller, der Stolz von Mühlau, wurde für den Abend bestellt, und Sabine ängstigte sich, daß Onkel Fritz bemerken möge, wie viel Umstände er veranlasse; und zugleich hatte sie das Gefühl, daß ihr diese „Umstände“ sozusagen auf Rechnung gesetzt würden. „Diese Unbequemlichkeiten kommen uns durch dich!“ schien das Wesen ihrer Mutter zu sagen.

Der Oberamtmann zog seinen neuesten braunen Gehrock an, die Oberamtmännin trug ihre alte Staatsrobe, das starre schwarzseidene mit dem eingewebten gelben Treffasmuster. Zu Sabinens Hochzeit war es angeschafft worden. Es stand die Anschaffung eines neuen kostbaren Kleides für Reinalds Hochzeit bevor. Die Oberamtmännin nahm an, daß Onkel Fritz sich dieses ihres Kleides von Sabinens Hochzeit her sicher nicht mehr erinnere.

[395] Aber seltsamerweise war es gerade dieses so besonders gemusterte Kleid der Oberamtmännin, was in Onkel Fritz’ Gedächtnis von der ganzen Familie Deuben haften geblieben war.

Fast betroffen blieb er denn auch einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Dann wandte er mit einer kurzen Bewegung sein Haupt nach Susanne um und sah sie an. Susanne blieb aber gefaßt. Sie nannten ja unter sich Sabinens Mutter stets die „Treffasdame“, damit Onkel Fritz begreife, wer gemeint sei.

Man war sehr steif miteinander. Der Oberamtmann besaß eine natürliche, wuchtige Würde in seiner Art und Erscheinung und sprach wie ein Souverän. Onkel Fritz hatte eine feine, stille, etwas weltmüde Würde und in Wort und Gebärde die Gewohnheit der völligen Unabhängigkeit.

Das ging schlecht zusammen. Das waren zwei Größen, davon keine die andere innerlich als solche anerkannte.

Die Oberamtmännin sprach ausschließlich Familiengeschichte und stellte alle Osterroths fest, bis auf die gemeinsame Ururgroßmutter, die sie mit Onkel Fritz hatte. Dies langweilte ihn sehr.

Da ihn zu den Eltern keine Sympathie zog, erschien ihm die schöne, interessante Tochter um so anteilswürdiger.

Am andern Morgen früh wollte man reisen. So gewannen Sabine und Susanne noch einige Minuten für sich, unter dem Vorwand, den Koffer fertig packen zu müssen.

Kaum in Sabinens Stube angelangt, fiel Susanne der Freundin um den Hals.

„Ich habe ‚ihn‘ kennengelernt! Onkel Fritz auch!“

„Wo – um Gotteswillen, wo . . .?“

„Die beiden Offiziere, von denen wir bei Tisch erzählten! Sie waren von der hiesigen Garnison! Der eine hieß Bläser, der andere war Er!“

Sabine bebte am ganzen Leibe.

„Und Onkel Fritz?“

„Verstand natürlich seinen Namen falsch. Und als Körlegg sagte, er käme auch nach Italien, erhoffte Onkel Fritz ein Wiedersehn, wie man so thut.“

Susanne sah die Freundin durchbohrend an.

Aber Sabine fühlte nur eine große Erleichterung. Also war nichts verdorben, nichts gestört. Gottlob!

„Du hast dich mit ihm verabredet,“ fragte Susanne ernst.

„Ja! er wird uns treffen. Wie zufällig. In Verona oder Mailand oder Venedig. Ich werde ihm immer unsere Adresse telegraphieren,“ sagte Sabine.

„Und was soll daraus werden?“ fragte Susanne.

„Das Glück – das Glück!“ flüsterte Sabine. Ihre Augen schlossen sich halb, ihre Lippen öffneten sich, ein Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Sie sah aus wie eine Berauschte.

„Sabine –“ rief das junge Mädchen und fiel ihr wieder um den Hals. „Besinne dich doch! Es kann ja nicht sein!“

„Warum kann es nicht sein? Zwischen uns steht keine Schuld. Nur Vorurteile. Die lassen sich besiegen. Ah – Susanne – wenn du wüßtest, wie das ist, zu lieben, mit den Erfahrungen des Unglücks! Gerade in der elenden Ehe erwachte mir das glühende Verständnis, welch eine Himmelswonne es sein muß, im Gatten zugleich den Geliebten zu besitzen.“

Susanne erschrak vor diesem verzehrenden Ausdruck im Ton, in den Augen der andern. Die qualvolle Unruhe, in welcher sie selbst sich seit der Begegnung mit Achim befand, wuchs und wuchs.

„Ich will niemals lieben, wenn Liebe etwas so Blindes, Tolles ist,“ sagte sie leise.

„Du hast ihn doch gesehen! Begreifst du denn nicht?!“ fragte Sabine in triumphierendem Stolz auf ihre Liebeswahl.

Susanne wurde ganz verwirrt. Ja, sie hatte ihn gesehen und ihn angestaunt und sich gefragt, wo seine Zauber seien. Und sie dachte seitdem immerfort darüber nach und vergegenwärtigte sich in jeder Minute sein Angesicht und sein Wesen. Aber auf diese Frage zu antworten, vermochte sie nicht.

„Ich verstehe nichts von Männern,“ sagte sie zögernd.

Und Sabine lachte glücklich und küßte sie zärtlich.

Am andern Morgen machte Sabine eine Entdeckung an sich selbst. Die ganze Freude an der Reise versank mit einem Male, und der Abschied von ihren Kindern, von ihren Eltern wurde ihr sehr schwer. Sie stellte sich plötzlich vor, daß die Kleinen inzwischen erkranken oder verunglücken könnten, daß ihr alter Vater inzwischen sterben, ihre Mutter ihrer Pflege und Hilfe bedürftig sein könne. Sie machte sich Vorwürfe, hinausgestrebt zu haben; kam sich lieblos vor, weil ihr Sehnen aus dieser ihr angestammten Welt hinausging. Mit Thränen in den Augen beschwor sie ihre Mama, ihr täglich eine Postkarte zu schicken, sonst habe sie keine Ruhe. Reinald, der zum Abschied hereingeritten kam, nahm sie ebenfalls das Versprechen ab, ihr oft von ihm und Martha Nachricht zu geben, und sie ließ Martha so viele tausendmal grüßen, daß Reinald ganz beglückt war, seine Braut von seiner Schwester so geliebt zu sehen.

Im Coupé trocknete Sabine ihre Thränen und sagte, mit dem Versuch zu lächeln und Onkel Fritz nicht mit einer Stimmung lästig zu fallen, die er am Ende als Sentimentalität auffassen könnte: „Ich wundere mich über mich selbst. All die lange, schwere Zeit hindurch habe ich fast nur noch das Schwierige meiner Lage gefühlt und geglaubt, ein zeitweiliges Herauskommen aus derselben sei eine Riesenfreude. Und nun sitz’ ich und weine. Sie müssen mich für undankbar halten, Onkel Fritz. Aber im Augenblick kommt mir’s doch so vor, als könnten die Meinen nicht ohne mich, ich nicht ohne die Meinen auch nur einen Tag fertig werden.“

Onkel Fritz sah sie an.

Er lächelte und schwieg.

Er war überhaupt schweigsam. Aber Sabine fühlte schnell, daß es nicht die Stumpfheit der Interesselosigkeit war. Er beobachtete fortwährend.

„Es scheint, er studiert mich,“ sagte sie schon am ersten Abend zu Susanne. „Das ist mir sehr ungemütlich. Du schriebst doch immer: er schwebe über Dingen und Menschen und merke sich weder Namen, noch Daten, noch Verhältnisse.“

„Ja – das Aeußerliche ist ihm egal. Das geht so an ihm vorbei. Aber wenn ihn ein Mensch interessiert! Er ist ganz weg in dich, das merkt man gleich.“

Da tauchte in Sabinens Kopf der Gedanke auf, daß ihr am Ende in Onkel Fritz ein Bundesgenosse erstehen könnte.

Er selbst, so ging die Sage unter seinen Neffen und Nichten, sollte in seiner Jugend an einem romantischen Schicksal gescheitert sein. Er hatte die Frau eines Freundes geliebt. Sie ließ sich von ihrem Gatten scheiden. Aber ihre Eltern kämpften so erbittert gegen ihre Wiedervermählung, daß die gewonnene Freiheit der jungen Frau nichts nützte. In Leid und Kämpfen rieb sie sich auf, und als endlich eine Vereinigung in sicherer Nähe stand, brach sie zusammen. An ihrem Sterbebett sollte Onkel Fritz ihr geschworen haben, nie zu heiraten. Sie büßte ihre Schuld mit dem Tode; er wollte sie in einem Leben voll Entsagung und Gutthaten büßen.

An dieses Gerücht dachte Sabine. Vielleicht war alles in Wirklichkeit viel einfacher gewesen. Alle Ereignisse haben einen andern Gehalt, als ihr Aussehen erkennen läßt.

Meist sind die Linien einfacher und der seelische Inhalt viel verworrener und schwerer.

Weiß Gott, dachte Sabine, es ist, als ob sich mit dem Kostüm auch die Dramen des Menschenlebens geändert haben. Jetzt klirren keine Rüstungen und Ritterschwerter mehr. Es zittern nur die Nerven. Ach, das sind die besseren Tragödien, die in fünf Akten vorüberrasen wie ein Gewitter! Aber dies stille, langsame, versteckte Leiden und Kämpfen – das ist fürchterlich!

Fortan gab sie sich freier dem alten Herrn gegenüber. Sie wollte wohl studiert sein, aber auch ihrerseits ihn studieren.

Mit Erstaunen bemerkte Susanne, daß sich zwischen den beiden bald so etwas herstellte wie ein besonderes, geheimes Einvernehmen, von welchem sie, des alten Herrn Liebling, bisher ausgeschlossen schien.

Sabinen kann doch keiner widerstehen, dachte sie, halb stolz auf die Freundin, halb neidvoll.

Sie wußte nicht, daß es nur das unwillkürliche Verstehen war von zweien, die genau wissen, was Liebe, Leid und Leben ist. Eine Wissenschaft, von welcher ihre unberührte Jugend sie ausschloß.

[396]
8.

Vierzehn Tage waren vergangen und die Reisenden, von den italienischen Seen und Verona kommend, beschlossen, in Venedig zu bleiben. Onkel Fritz sah merkwürdig fahl aus und seine Haltung war auffallend ermüdet. Deshalb bat Susanne ihn, doch ihretwegen nicht so schnell weiter und nach Rom zu streben, was ihr als das höchste Ziel zwar vorschwebte.

„Was meinen Sie, Sabine?“ fragte er.

„Und wenn wir Rom gar nicht zu sehen bekämen,“ sprach sie, „Sie sollen sich um unsertwillen nicht ermüden. Lassen Sie uns zwei, drei Wochen still in Venedig bleiben.“

Er nickte beifällig.

Und Sabine jubelte innerlich. So war es auch am bequemsten für Achim. Sein Manöver mußte gerade an demselben Tage zu Ende sein, wo sie in Venedig einfuhren. In zweimal vierundzwanzig Stunden konnte er da sein.

Im „Hotel Royal Danieli“ fanden sie eine reizende Wohnung im Mezzanin. Ein kleiner Salon mit zwei Fenstern ging gerade auf eine der Treppenbrücken, welche die engen Kanäle überschlagen. Wenn Sabine und Susanne sich gegen die balkonartigen Fenstergitter lehnten, konnten sie den Leuten ins Gesicht sehen, die treppan und treppab gingen. Rechts dehnte sich die Riva degli Schiavoni bis zur Piazetta hinauf, links schweifte der Blick über das großartige Denkmal Viktor Emanuels hinweg bis zu den grünen Baumwipfeln des Giardino pubblico. Und gerade vor ihnen wogte das grüne, von ockerfarbenen Tinten überflimmerte Wasser des Canale grande. Drüben auf der Insel erhob sich der steife Turm der Kirche Sän Giorgio Maggiore vor dem tiefblauen Septemberhimmel.

Sie wurden nicht müde, auszugucken und das seltsame Schiffs- und Straßenleben zu beobachten. Da die Unterströmung eines beständig forttönenden Straßenlärms fehlte, da kein Wagenrasseln, kein Pferdebahnrollen sich endlos fortspann, so wurde jeder Einzellaut vernehmbar und eindringlicher für das Ohr. Heulend ging zuweilen der Ton der Dampfpfeifen durch die Luft, wenn eins der Lidoschiffe abfuhr, oder dumpf und lang’ schwoll ein Nebelhornsignal über das Wasser, wenn ruhevoll ein großer Ueberseeer vom offenen Meere hereindampfte in den Kanal. Auch das Sprechen und Lachen der vorbeigehenden oder auf dem breiten Quai stehenden Menschen war vernehmbar.

Alles schien so persönlich, so übersichtlich. Kein Großstadtlärm, keine rohen, unentwirrbaren Geräusche verschlangen die Laute menschlichen Lebens. Es war, als habe es Platz und Zeit, sich hier vernehmlich zu machen, sich hier voll auszubreiten.

Und doch war keine Stille und keine Enge in dem Straßenleben. Dazu war es zu laut und zu rastlos.

Die internationalen Reisetypen störten fast das Auge.

Aber die einheimische Bevölkerung gab farbenbunte Freudigkeit. Die Damen mit kühnen hellen Hüten und Kleidern, die Mädchen aus dem Volk mit lockeren, leuchtenden Blusen und Papierfächern, die brachten Lustigkeit in das Bild der wogenden Menschenmenge. Neben diesem Salon, der ihnen so tausendfach wechselnde Ausschau bot, lag, auch nach vorn, Sabinens Zimmer.

Nach der Seite des schmalen Kanals folgten zwei Stübchen, die Onkel Fritz und Susanne innehatten. Es war eine kleine, in sich abgeschlossene Wohnung und wurde nur im ganzen vermietet. Um das beste, nach vorn gelegene Schlafzimmer entspann sich zunächst ein Kampf. Sabine wollte, daß Onkel Fritz es nähme. Aber er bestand allerorten darauf, daß Sabine das beste Gemach bekam. Susanne behandelte er immer wie sein liebes Kind, Sabine wie eine große Dame.

Vielleicht regte sich in seinem alten Herzen die Ritterlichkeit. Jedenfalls fühlte Sabine, daß er ihrer Person viel Wichtigkeit beimaß. Das rührte sie und that ihr wohl. Aber sie vermochte niemals mit unbefangen töchterlicher Zärtlichkeit dafür zu danken wie Susanne. Es war immer, als stände etwas zwischen ihr und dem alten Herrn.

Habe ich denn ein schlechtes Gewissen, weil ich unter seinem ahnungslosen Schutz Achim sehen will? dachte Sabine.

Und es war ihr unbehaglich, wenn der alte Herr unter seiner vorgeneigten Stirn heraus sie mit seinem stillen, schmerzlichen Lächeln so stetig und so besonders ansah. Sie konnte dann plötzlich erröten und schnell fortblicken.

Die Museen und Kirchen ließ Onkel Fritz die beiden Damen allein besehen; er kannte alles und sagte, er werde gelegentlich still für sich hingehen, dies und jenes künstlerische Wiedersehen zu feiern. Sabine hatte eine Fiebereile, in den ersten zwei Vormittagen so viel zu sehen, als ihre Kräfte nur irgendwie erlaubten.

Wenn „er“ da ist, wollen wir nicht zwischen anderen Gaffenden in den Kirchen umherstehen. Dann wollen wir in der Gondel uns still auf allen Kanälen umhertreiben.

Daß dieses Zusammentreffen in Italien von ihr geplant und verlockend hingestellt worden war, um gemeinsam Kunst zu genießen, hatte sie vergessen.

Sie dachte nur ihn und wollte nur ihn. Die ganze märchenhaft schöne Welt war ihr bloß Rahmen, bloß Schauplatz. Sie war nur gekommen, um, frei von Zwang und Heimlichkeit, als Mensch mit dem einzigen Menschen zu verkehren.

Es war am dritten Tag. Sie fuhren in der Gondel nach dem Lido hinaus, um draußen auf dem Altan des Badeetablissements ihren Nachmittagsthee zu nehmen. Onkel Fritz benutzte nie das Dampfschiff. Auch die Eisenbahn war ihm verhaßt, aber leider unvermeidlich auf Reisen. Alle rohen Geräusche, alles Hasten und Durcheinanderdrängen von Menschen mied er gern.

Die Sonne stand am Himmel, man konnte nicht zu ihr emporsehen, ein gleißendes Flimmern und Funkeln machte die Linien ihres weißen Balles unkenntlich. Hitze zitterte in Wellen über Wasser und Land. Aber sie drückte nicht. Ihr Atem war leicht.

Leise tauchte der Gondelier sein langes, schwarzes Ruder in die Flut. Man spürte immer den kleinen Ruck, wenn er, mit festem Druck gegen den Gondelrand, neu ausholte. Vorn am Kiel, unter der hochragenden, eisenverzierten Spitze, gluckste und plätscherte es rinnend.

Zum Horizont hinab schien der Himmel bleicher zu werden. Da stand das weißgraue Häusergebreite von Venedig, sich aus den Wassern hebend. Türme und Kuppeln ragten, auf der goldenen Weltkugel der Punta della Salute blinkte der Sonnenschein. Eine Welt, schön wie ein Traum und still wie ein Traum.

In der Gondel sprach niemand ein Wort. Sabine lehnte neben dem alten Herrn an den Kissen des Hauptsitzes, auf einem der winzigen Seitenstühlchen saß Susanne.

Susanne dachte, daß morgen vielleicht schon aller Friede sich in heimliche Angst gewandelt haben möge, wenn Achim von Körlegg käme, und quälte sich damit, ob es nicht eine Pflicht sei, Onkel Fritz einzuweihen. That sie das, verriet sie Sabine, und that sie es nicht, verriet sie Onkel Fritz. Zwar hatte Sabine ihr in ihrer gewohnten leidenschaftlichen Art gesagt, sie werde sofort offen mit dem alten Herrn reden, sobald sie nur selbst erst die Sicherheit über ihre Geschicke habe. Daraus entnahm Susanne dann, daß Sabine der Gegenliebe Achims noch keineswegs sicher sei, oder wenigstens nicht seines Willens, sich über das furchtbare Hindernis hinwegzusetzen. Es quoll so etwas wie Stolz und Freude in Susanne auf: wenn ich mir das nicht so von ihm gedacht hätte! Aber dann kam eine riesengroße Angst: was wird mit Sabine werden?

Der alte Herr dachte auch viel, sehr viel, als sie so still dahinfuhren, grünschillernde Wogen nahe dem Auge, den morgenländischen Farbentraum der Stadt fern als Hintergrund und den stolzen Himmel über sich.

Er dachte über die schöne Frau nach, die neben ihm träumte. Er glaubte den feinen Duft zu spüren, der aus ihrem Haar kam, und die Falten ihres leichten weißen Kleides lagen wie Bleigewicht auf seinem Knie.

In seiner Seele war eine Stimmung aus Wehmut und Bitterkeit gemischt, und er dachte: Es giebt Menschen, die förmlich vorbestimmt sind, selbst zu leiden und andere leiden zu machen. Solch ein Mensch ist sie.

Er sah die lodernde Leidenschaft ihres Wesens und fragte sich: Wohin will die? Was wird sie noch aus sich, was aus andern machen?

Er hätte ihr Schicksal voraussehen, es lenken, beschützen mögen. Und er war nur ein alter, müder Mann.

Sabine allein dachte nichts. Sie ahnte nicht einmal, daß sie die Gedanken ihrer Gefährten so in Bewegung setzte.

Sie saß reglos. Sie atmete kaum. Sie empfand nur. [398] Wohlig durchwärmte die Hitze ihren Körper. Es war nicht die erschlaffende Hitze, wie sie den Norden manchmal überfällt, einer schwülen, sündigen Krankheit gleich; es war lebenglühende Kraft in ihr und eine siegessichere Natürlichkeit. Blinzelnd sah Sabine hinüber zu den weißlichen Steinen der aufgemauerten Straßenufer. Daliegen wie ein Junge, sich im Sonnenschein dehnen und recken und faul sein und nichts denken! Oder sich tragen lassen von der grüngelben Flut, das kühle Naß um freie Glieder fühlen, von den weißen Armen die Perlen des Wassers rinnen lassen und plätschernd um sich schlagen wie ein übermütiges Kind und nichts denken! Nur leben, leben!

Die Wonne zu leben drang ihr in alle Poren ein.

Der blaue Himmel prangte ihretwegen; ein Morgenlandgedicht, stieg die weiße Stadt aus grünen Wassern auf, ihretwegen, damit sie ihrem nahenden Glücke eine würdige Stätte sei!

Ihr ganzes glühendes Ich breitete sich aus und nahm von allen Herrlichkeiten der Welt Besitz.

Schaukelnd trug die Gondel sie weiter, wiegend und schweigsam, immer tiefer hinein in den Traum eines königlichen Glückes. –

Alle drei erschraken sie, als ein dumpfer Stoß ihnen ankündigte, daß sie angelangt seien.

Sabine öffnete weit die Augen und sah sich um wie eine, die aus fernen Welten zurückgekehrt. Der alte Herr sah diesen erwachenden Blick. Und ihm war, als habe er unzart ein Geheimnis belauscht.

Wo waren ihre Gedanken? Bei wem? Hat ihr Sehnen ein Ziel? dachte er.

Von plötzlicher Heiterkeit befallen, die in unbändigem Frohgefühl ihr fast die Brust zersprengte, unterhielt Sabine ihre Gefährten in der anmutigsten Art. Sie wanderten die kurze Allee hinab, die das lange schmale Eiland durchschneidet, und suchten drüben auf dem dem offenen Adriatischen Meer zugewandten Altan der Badeanstalt einen Platz.

Dicht unter ihnen, im flachen Strandwasser, wimmelte es von Badenden, die Herren fast alle in schwarzen, die Damen fast alle in roten Badekostümen. Die Flut stieg und die anrollenden Wogen schienen manchmal die krabbelnden und kreischenden Menschen zu verschlingen, während der nächste Augenblick sie wieder allen Blicken preisgab, wenn die Wasser zurückgesogen wurden. In vollkommener Unbefangenheit beobachteten Sabine und Susanne das lustige Schauspiel.

Das blaue Meer dehnte sich ins Grenzenlose; am Horizont stand mit den roten und gelben Farbenpunkten ihrer phantastischen Segel eine Fischerflottille.

Sabine hatte das Gefühl, als könnte man hier ungemessene Stunden sitzen, dem Meere zuzuschauen; das war die thatenloseste Beschäftigung, die man nur ersinnen konnte, das that so wohl.

Da sich aber alle Tische auf dem großen Altan füllten und lebhaft geputzte Damen, elegante Herren sich drängten, da Düfte von scharfem Parfum und Essensgeruch von Nachbartischen zuweilen heranzogen, gab Susanne der Freundin einen leisen Stoß. Das war nichts mehr für den alten Herrn.

So wanderten sie denn am weißen Strand südwärts entlang, träge und mit den Füßen im Sande wühlend. Onkel Fritz voran, allein, um Ruhe zu fühlen nach dem Leben der letzten Stunde. Dann, fünf Schritte hinter ihm, Susanne, die Blicke scharf auf den nassen Rand gerichtet, den die herankommenden und zurückweichenden Wogen auf dem Boden zeichneten. Sie sah nach Muscheln aus. Sie und Sabine wollten deren für Leo und Milly sammeln. Auch Sabine, die hinter Susanne bald zurückblieb, sah anfangs eifrig nach kleinen Raritäten aus, die das Meer heranspülen könnte. Bald aber vergaß sie es.

In ihrem Ohr hallte träumerisch die endlose Melodie des Meeresrauschens nach. Vor ihrem geblendeten Auge standen in grandioser Einfachheit nur noch zwei Farben, das Blau des Himmels und des Meeres und die Gelbweiße des Strandes.

„Guten Tag, gnädige Frau,“ sagte da eine fröhliche Stimme hinter ihr.

Sie stieß einen Schrei aus – sie wandte sich um. Achim stand vor ihr.

„O mein Gott – o mein Gott . . .,“ stammelte sie sinnlos vor Glück.

Ihr Sonnenschirm lag an der Erde, ebenso ihre Handschuhe.

Mit beiden zitternden Händen hielt sie seine Rechte umklammert und sah zu ihm auf, lodernde Freude in den dunklen Augen.

Und er? Unbefangen fast, in hundert fröhlichen Vorsätzen war er gekommen. Er freute sich auf die Reise, auf die Freude, die er mit seiner Person Sabinen bringe, auf den feinen, stillen, alten Mann, auf das klaräugige Mädchen – ja auf diese letzten beiden ganz besonders, denn ihm schien, als gäbe ihre Nähe ihm alle Sicherheit, ja geradezu erst das Recht, sich auch Sabinens Freundschaft zu erfreuen. Er sah Tagen voll reinster Harmonie entgegen und dann einem Abschied voll gefaßter Wehmut.

Er hatte sich alles vorher überlegt und zurecht gedacht, wie ein Programm der schönsten Vernunft.

Und nun stand er hier und sah das blasse, schönäugige Weib in ihrer ganzen trauervoll lockenden Schönheit. Und sah sie in fassungslosem Glücke erzittern. Um ihn, – um ihn!

Sein Herz klopfte.

„Sabine,“ murmelte er, „teure Sabine!“

„Achim – Achim!“

Es klang wie leises Jauchzen.

In diesem Augenblick sah sich Susanne um. „Onkel Fritz!“ schrie sie. Warum – das wußte sie nicht. Es war beinahe, als riefe sie ihn zur Hilfe, und da er nicht gleich hörte, rannte sie ihm nach.

„Komm doch – höre doch,“ rief sie.

Achim und Sabine kamen mit schnellen Schritten heran.

„Er ist da – er ist da!“ sagte Susanne und hatte einen roten Kopf.

Mit großem Erstaunen sah der alte Herr ihre Fassungslosigkeit und sah von ihr zu dem Herannahenden, der ihm sogleich sehr bekannt vorkam.

Achim nahm höflich seinen Hut ab und reichte dem alten Herrn die Hand.

Da schaute dieser mit einem sprechenden Blick Susanne an. Solcher Blick hieß immer: Wer ist das doch gleich? Wo habe ich diesen Menschen gesehen?

Und gewohnt, so als Nachfragebuch benutzt zu werden, sagte Susanne:

„Das ist Herr von Körlegg.“

„Körlegg – Körlegg – verzeihen Sie – – der Name ist mir bekannt – – nur im Augenblick . . .“

Sabinen stockte der Atem. Sollte ihm der eine verhängnisvolle Zusammenhang beifallen, den der Name mit Zeutherns Tod hatte?

„Aber Onkel,“ sprach Susanne, „das ist ja Herr von Körlegg, der uns damals so freundlich half, als unser Wagen wegen des Chausseeeinsturzes nicht weiter konnte.“

„Ach ja. Tausendmal Pardon! Ich habe Sie damals nur in Uniform gesehen,“ sagte Onkel Fritz, vor sich selber vollkommen entschuldigt, und schüttelte Achim noch einmal die Hand, viel herzlicher, weil er eine Gedächtnisschwäche gutzumachen hatte.

Daß Sabine, die doch damals nicht dabei gewesen war, Körlegg kannte, fiel ihm nicht auf.

Vor lauter Beobachten übersah er oft das Meiste. So war er jetzt ganz hingenommen von dem Erstaunen über Susannens Wesen. Denn ihr, die gar keine Gelegenheit und Verpflichtung gehabt hatte, sich jemals in der Kunst der Selbstbeherrschung zu üben, konnte man mit größter Deutlichkeit anmerken, daß sie aufgeregt und verlegen war.

Sie schlug die Augen nieder, als Achim ihr die Hand gab, und als ihre auffällige Röte wich, blieb ein ängstlicher Ausdruck auf ihren sonst so freien Zügen.

Ja, Susanne glaubte vor Angst und Schreck versinken zu müssen.

Was sollte aus dieser Begegnung werden? Wenn Onkel Fritz die Wahrheit erriete oder erführe! Wie, wenn Sabine begriffe, daß Achim nicht als Werbender, sondern nur als guter Freund gekommen sei? Sie würde sich töten! Oder wenn Achim dennoch alle Schranken überspringen und Sabine heiraten würde? Susannen war es, als könnte sie dann nur noch Verachtung für die ganze Menschheit empfinden, wenn so etwas möglich sei!

Und wie war es nur möglich, daß Sabine jetzt unbefangen [399] und gewandt eine Plauderei mit beiden Herren zugleich zu unterhalten verstand? War das eine Kunst, die man in der Welt lernte, wenn man durch Unglück und Leidenschaft dahin gekommen war, sich eine Maske vorzubinden? Freilich sie, die sie Sabine so genau kannte, sah es ja doch, daß in ihr alles in Aufruhr war. Bleich wie der Tod war sie und ihre Augen schienen beinahe schwarz. So unheimlich schön sah sie immer aus, wenn sie sich in tobender Aufregung befand. Unfaßlich! Und dennoch sprach ihr lachender Mund von der Schönheit ihrer Reise und den Vorzügen ihres Quartiers im Hotel Royal Danieli. Achim seinerseits erzählte, daß er bei Bauer-Grünwald wohne.

Und die ganze, im Grunde doch so kurze Bekanntschaft, die man vor drei Wochen in dem Unwetter der Manövertage gemacht hatte, nahm hier im fremden Land sogleich den Charakter einer alten Freundschaft an. Man verabredete alsbald, heute zusammen zu dinieren, am Abend auf der Piazza zusammen das Konzert zu hören, am andern Tag eine Partie nach Murano zu machen.

Susanne konnte es nicht fassen.

Sie hätte nur ahnen sollen, daß gerade ihre sichtbare Aufregung bei der Begegnung mit Achim von Körlegg den alten Herrn bestimmte, so eifrig und so freundschaftlich dessen Gesellschaft anzunehmen. Onkel Fritz hatte noch nie gesehen, daß sein klaräugiges Mädchen um eines Mannes willen errötend aus der Fassung gekommen war.

Dafür gab es natürlich, seiner Meinung nach, nur einen Grund. Der Grund gefiel ihm! Da konnte sich etwas Erfreuliches anspinnen! Für seine Susanne ein gesundes Glück, das ihr die Buchhalterinexistenz abschnitt, noch ehe sie begonnen war. –

Auch die höchsten Erregungen schwingen aus. Sabinens äußere Fassung ward bald auch eine innerliche. Ein leuchtendes, sicheres Glücksgefühl erhellte ihre Seele. Und als Susanne sah, daß nichts Erschreckendes sich begab, daß kein Blitz herniederfuhr und die ganze Welt ebenso strahlend schön und vergnügt blieb wie vorher, als sie Onkel Fritz in Behagen, die anderen beiden in wahrer Sicherheit plaudern hörte, ward auch ihr wieder mutiger ums Herz. Sie fing an, mitzusprechen, traute sich, Achim zu betrachten, und fand bei sich, daß sein Reisecivil ihn jünger aussehen lasse als die strenge Uniform, und gestand sich, daß er der vornehmste, edelste, imponierendste Mann sei, den sie je gesehen.

Die arme, arme Sabine! Warum hatte gerade er ihren Gatten erschießen müssen! Verzeihlich war es gewiß, daß sie sich fortgerissen fühlte, diesen Mann zu lieben.

Aber nein – sie, als erfahrene Frau, sie hätte das Gefühl gleich erkennen und fliehen müssen. –

Sabine schwamm auf den tragenden Wogen einer wahren Hochflut von Lebensfreude. Ihre Augen strahlten. Sie war schön wie noch nie. Ihr Wesen war üppig und geheimnisvoll, kühn und verheißend, wie diese Stadt, wie die südliche Sonnenwärme, wie das halblaute, drängende Treiben der Menschen, wie der flimmernde Himmel über ihnen!

Am Abend saßen sie auf der Piazza, welche die prangenden Mauern stolzer Paläste umschranken, die Fassade der bunten Markuskirche abschließt. Sterne blinkten droben. Die Luft strich lau über den Platz. Im Halblicht der Gasflammen drängte sich wie ein unklares Farbengewoge die Menge. Unsicher beleuchtet, gleißten die bunten Mauern der Kirche wie ein Geheimnis des Orients herüber. Schmachtend und eindringlich schwollen die Weisen der Tannhäuserouverture durch die Nacht, mit der Gewalt ihres dämonischen Verlangens die banalen Menschenstimmen überdröhnenh.

Und auch in Sabinen schwoll das Verlangen, ganz glücklich zu werden. Ihre Seele war bereit, jubelnd weit geöffnet, das eine Wort zu vernehmen, das die Krönung ihres Lebens werden sollte.

Eine unbändige Sehnsucht, mit ihm, den sie liebte, allein zu sein, überfiel sie plötzlich und trauervoll. Sie hätte die Wahrheit wissen mögen. Jetzt gleich – entscheidend über Tod und Leben. Dringend ins Auge hätte sie ihm schauen mögen, sein geheimstes Innere mit ihrem Blicke durchforschend.

Liebst du mich – liebst du mich? schrie alles in ihr.

Ihre Rechte krampfte sich in die Falten ihres Kleides. Ihr war es, als müßte sie irgend etwas anpacken, fest, fest, um sich Halt zu geben, um ihre Sehnsucht und ihre Not nicht hinauszurufen, um die Arme nicht auszubreiten.

Alles schien sich zum Körperlichen zu wandeln: der hohe, dunkle Himmel, die laue, streichende Luft, die Märchen und Geheimnisse, die von den Farben der Kirche im durchhellten Dunkel wirkten, die zehrende Qual der Musik!

An ihr Herz hätte sie das alles pressen mögen, an ihr großes heißes Herz, darin sie alles fand, was außer ihr war, und noch tausendfache Reichtümer mehr. Ein Menschenherz! Und so voll, so zersprengend voll Glück, Qual, Sehnsucht.

Ein Seufzer zitterte von ihren Lippen. Er, dem all dies galt, hörte den Seufzer und sah die Hand, die sich in das Gewand krallte. Und leise suchten seine Finger die ihren. Er wollte ihr sagen: Sei ruhig! Oder er bildete sich wenigstens ein, daß er ihr das sagen wollte. Denn auch sein Herz klopfte, und er war trunken von der glühenden Schönheit der dunklen Stunde.

So saßen sie und fanden den Mut zurück, Anteilnahme an ihrer Umgebung zu zeigen, während ihre Pulse bang klopften. –

An diesem Abend fiel Susanne dem alten Herrn weinend um den Hals, als Sabine sich zurückgezogen hatte.

„Ach, Onkel,“ rief sie, „wenn du wüßtest, wie das Leben schwer ist!“

Er lächelte sein müdes Weltweisenlächeln.

„Wirklich – so schwer? Fasse dich nur! Mit den Schwierigkeiten, die sich dir jetzt herandrängen, wirst du schon fertig werden, ahnt mir.“

„Ach – du weißt ja nicht! Wenn ich doch wüßte, wie ich dir klar machen soll …“

Er streichelte ihr geduldig die Wange. Er hatte ein gewisses nachsichtiges Interesse an dem, was er für die Verliebtheit eines verständigen Mädchens hielt, das sich demnächst mit einem netten Mann zu verloben hofft.

„Werde dir nur erst selber klar,“ mahnte er herzlich, „und sei sicher, daß auch sonst alles klar ist. Vorher spricht man nicht.“

Susanne versuchte sich zu fassen und schickte sich an, nach einem etwas flüchtigen „Gute Nacht“ das Zimmer zu verlassen. Der alte Herr in seiner Weichheit glaubte, seine Abweisung möge etwas rauh gewesen sein, und sagte noch: „Du, Susanne, nicht wahr, Herr von Körlegg macht den Eindruck eines Mannes von ausgezeichnetem Charakter? Mir gefällt er sehr gut. Wie heißt er mit Vornamen?“

„Achim,“ brachte Susanne heraus und rannte davon.

In ihrem Zimmer saß sie dann auf ihrem Bettrand und konnte sich nicht fassen.

Wie schelmisch Onkel Fritz das gesagt hatte! So neckisch. Wie kam er dazu? Was bedeutet das? Doch nur das eine, daß er annahm, sie, Susanne, sei in Herrn von Körlegg verliebt!

Welche Annahme! Als ob irgend eine Menschenphantasie sich so etwas in Wahrheit vorstellen könne! Sie, die junge Susanne, die nichts war, nichts hatte, nichts leistete, sie sollte ihre Augen zu „ihm“ erheben?

Wenn Onkel Fritz wüßte!! Sabine würde ihr doch nicht den kleinsten, den geheimsten Gedanken an „ihn“ erlauben.

Plötzlich erwachte so etwas wie Trotz in Susannen. Nein, dazu hätte Sabine kein Recht, ihr zu verbieten, ihn zu lieben! Und wenn man denn alles abwog, so müßte man sogar eingestehen, daß nichts in der Welt als Hindernis zwischen ihr selbst und „ihm“ stehe, während er von Sabine doch durch einen Abgrund getrennt war. Also, wenn schon von einem Recht die Rede sein sollte in dieser Sache, so hatte sie ein besseres Recht, ihn zu lieben, als Sabine.

Wenn – wenn – dachte Susanne und lachte mit einem Mal in sich hinein, das sind ja nur dumme Gedanken, infolge von Onkels Mißverständnis. –

Die Stunden und die Tage rannen. Sie hatten vielfachen Inhalt, aber da über ihnen allen dasselbe prangende Bild venetianischen Sonnenscheins lag, war doch eine gewisse Einheit der Stimmung in ihnen. Und sie entglitten so schnell, wie nur Stunden des Genusses können. Man zählt sie nicht und wird dann und wann mit Entsetzen inne, daß doch schon so viele von den zugemessenen dahin sind.

[400] Achim lebte mit den dreien zusammen, als bildeten sie alle eine Familie. Er dachte gar nicht daran, auch nur den Schein erwecken zu wollen, als suche er für seine Urlaubstage einen anderen und wechselnden Inhalt. Er schien sich mit großer Klugheit Susannen und dem alten Herrn ebensoviel zu widmen als Sabinen. Wenigstens bildete diese sich ein, daß es Klugheit sei. Achim aber hatte in der That eine herzliche Zuneigung zu dem alten Herrn gefaßt.

Ihm, dem Mann, der schon in den harten Kämpfen des Lebens gestanden hatte und sich selbst fast als ein Reifer fühlen durfte, ihm gab es ein wohlthuendes Empfinden von jünglingshafter Unterordnung, sich so an einen feinen milden Alten schließen zu dürfen.

Und mit Susanne vertrug er sich großartig. So bezeichnete er bei sich die Stimmung, die zwischen ihm und dem Mädchen sich bald hergestellt hatte. Er fühlte selbst, daß diese banale Bezeichnung ihr merkwürdiges Verhältnis zu einander gar nicht richtig benannte. Aber es war so etwas Neues, etwas so Unerklärliches zwischen ihnen. Wenn er nicht ein Mann von dreißig und sie nicht ein Mädchen von zwanzig gewesen wäre, hätte man beinahe sagen können, er fühlte sich wie geborgen in ihrer unzerstörbar verzeihenden, mütterlichen Milde. Aber das wäre ja heller Unsinn gewesen, so etwas zu sagen.

Wirklich Unsinn? Ihm fiel das achtjährige Töchterchen seines Majors ein. Der Major lag einmal schwer erkältet auf seiner Chaiselongue; Achim machte ihm einen Krankenbesuch und ward Zeuge, wie die kleine Irma ihren Papa mütterlich besorgt zudeckte, mit der Miene, wie sie ihre Puppen zuzudecken pflegte, und ihm nicht minder mütterlich bevormundend die Cigarre wegnahm. Regt sich nicht in jedem Weibe gleich das Mütterliche, sobald es Anteil nimmt an einem Menschen? Und durfte er sich nicht gestehen, daß Susanne, wahrscheinlich die Vertraute Sabinens, Antell an ihm und seinen Kämpfen nahm?!

Aber im Grunde grübelte er nicht allzuviel darüber nach, sondern gab sich dem Gefühle fröhlicher Sicherheit beglückt hin, das in ihrer Nähe seine Nerven beruhigte und gesunden ließ.

Denn in andern Stunden befand er sich in den qualvollsten Zuständen. Jeder Blick Sabinens, jedes schnelle Flüsterwort zwischen ihnen erinnerte ihn daran, daß ein schweres Schicksal noch ungelöst neben ihm stand, daß er für sich und eine andere die Kraft haben müsse, aus dem Labyrinth dieser Leidenschaft rein und frei hervorzugehen.

Auch er begriff die Notwendigkeit einer entscheidenden Aussprache, einer Gelegenheit, sich unter vier Augen zu sehen. Und schon brach der achte Tag an. Am neunten des Morgens mußte er reisen.

Als er an diesem Tage, wie es Gewohnheit geworden, früh um zehn Uhr seine „Freunde“ im Hotel Royal Danieli abholte, fand er die Damen schon unten in der großen, von Oberlicht erhellten Halle, die die Mitte des Hauses, eines vormaligen Palastes, einnahm. Sie waren in einem sorgenvollen Gespräch über das Aussehen des alten Herrn.

Sabine meinte, seine Stimme klänge matt und seine Züge trügen den Ausdruck verborgener Leiden; man müsse ihn bewegen, sich zu schonen. Aber Susanne, die ihn besser kannte, riet von allen Fragen und Fürsorgen ab; wenigstens dürfe man keine zur Schau tragen. Er habe manchmal Zeiten, wo er, nach innen gekehrter noch als sonst, zu leiden scheine. Daran dürfe man nicht rühren.

„Meine Mama hat mir mal gesagt,“ schloß sie eifrig, „daß es mit Seelennarben ebenso geht wie mit körperlichen. Das ist wohl zugeheilt, aber zu gewissen Zeiten rührt es sich und reißt und erinnert fortwährend daran, daß es da ist. Onkel Fritz, sagt Mama, ist in seiner Jugend um sein echtes Glück gekommen. Ein Surrogatglück wollte er nicht. In solchen Menschen ist immer was Unvollkommenes, etwas nicht voll Entfaltetes, sagt Mama, wie z. B. bei Kindern fremder Völker sich die Glieder nicht ganz entwickeln, die man durch Bandagen künstlich umformt. So sei irgend etwas in Onkel Fritz’ Seele verkümmert und man dürfe nie hart daran fassen. Das vertrage sie nicht.“

Etwas in diesen Worten traf Achim wie eine Mahnung und erweckte Unruhe in seinem Herzen.

„Deine Mutter kennt die Menschenseele,“ sagte Sabine leise.

„Da kommt der alte Herr,“ sprach Achim.

Etwas vorsichtig kam Onkel Fritz die große Treppe herab. Er sah auch blaß aus. Aber das that er eigentlich immer. Heute fiel es Achim recht auf, was für eine würdige und sympathische Erscheinung der alte Herr war, in seinem silbergrauen Jackettanzug, mit dem hellen weichen Filz, immer noch elegant. Nur älter sah er aus, als er war. Sechzig Jahre ist schließlich kein methusalemisches Alter. Achims eigener Oheim hatte mit Sechzig noch geheiratet und zwischen ihn und das Majorat drei eigene Söhne gestellt.

Das Leben verbraucht eben die Menschen verschieden. –

Draußen war es heute schwül, trotzdem der erste Oktober im Kalender stand. Graues Gewölk zeigte sich am Himmel. Es lagerte unbeweglich. Kein frischer Atemzug vom Meere fegte heute durch die Kanäle in das enge Innere der Stadt. Auf der Piazza konnte man vor den pickenden und stolzierenden Tauben kaum zutreten.

Langsam schlenderten die vier unter den Hallen um den Platz herum, von Laden zu Laden, wo Sabine und Susanne mit nie gesättigtem Interesse alle Auslagen betrachteten und sich mit Entschlüssen kämpfend trugen, welche Kleinigkeiten sie noch für die Lieben daheim einhandeln wollten, ehe sie abreisten.

[421] Als Sabine und Susanne mit ihren Begleitern vor einem der Juwelierläden standen und die Pracht der Perlen und Juwelen anstaunten, in der wunschlosen Freude an unerreichbarem Glanz, sagte Onkel Fritz, daß er drinnen etwas zu besorgen habe, und bat, mit hineinzukommen.

„Wir wollen deiner Mama eine Nadel oder dergleichen kaufen,“ erklärte er drinnen.

Susanne freute sich. Onkel Fritz brachte ihrer Mama, seiner vieljährigen Freundin, von allen Reisen ein Geschenk heim. Das Aussuchen machte Spaß. Sabine und Achim beugten sich auch über die Auswahl an zierlichen Gegenständen, die der Verkäufer ihnen auf dem Glasdeckel eines Warenkastens ausbreitete. In diesen faulen Reisetagen ward jede Kleinigkeit zum Erlebnis von Wichtigkeit fröhlich aufgebauscht. Sie lachten und scherzten zusammen, und Sabine sah Achim, ohne sich darüber klar zu sein, mit leuchtender Zärtlichkeit ins Angesicht. Der Verkäufer bat [422] darauf Achim, für seine „junge Frau Gemahlin“ auch etwas zu wählen. Darüber lachten sie nun noch mehr.

Unterdes hatte Onkel Fritz mit dem Herrn des Hauses selbst leise verhandelt.

„Nun, ist das große Geschäft gemacht?“ fragte er, „hat Susanne gewählt?“

„Erst eine engere Auswahl von zehn Stücken,“ erklärte Sabine.

„Das kenne ich. Dann kommt die engste von fünf. Und dann die allerengste von zweien. Und dann die Wahl nach dem Preis, wobei Susanne meint, aus Bescheidenheit das Billigste wählen zu müssen. Liebe Sabine, heute bestimmen Sie! Ihr tadelloser Geschmack wird für meine alte Freundin schon das Beste finden.“

„Dann das,“ raunte Susanne und zeigte mit begehrlichen Blicken auf eine Brosche, die sie sich sehr kleidsam für ihre Mama dachte.

„Also hier.“

Auch Achim sah die bunten Kleinigkeiten mit begehrlichen Blicken an. Brennend gern hätte er den beiden Damen ein Andenken an diese Tage gekauft. Nur einen Scherz – nur irgend ein kleines Ding, das sie am Arme oder am Halse tragen konnten. Er wagte es nicht. Er sagte sich, daß er keck den Augenblick hätte ergreifen müssen, wo der Verkäufer ihn aufforderte, für seine „Frau Gemahlin“ etwas zu wählen; da hätte er scherzen können, „die Damen sind meine Schwestern, geben Sie ihnen zwei gleiche Anhänger.“ Der Augenblick war verpaßt. Achim ärgerte sich.

„Bitte, Kinder – wollt ihr eure Handschuhe ausziehen. Jede den linken,“ sagte Onkel Fritz.

Befremdet und verlegen gehorchte Sabine, freudig und auch ein bißchen verlegen Susanne. Sie begriffen beide auf der Stelle, daß Onkel Fritz ihnen einen Ring schenken wolle.

Er ist zu gut, dachte Susanne dankbar. Geht das nicht zu weit? dachte Sabine, wie kann ich fort und fort von ihm annehmen, ich stehe doch nicht so zu ihm wie Susanne!

Onkel Fritz war dabei, an Susannens Finger einen köstlichen Ring zu schieben. Es war ein glatter Reif mit drei gleichmäßig großen Steinen. Befriedigt lächelnd sah Onkel Fritz in das Freude glühende Gesicht seines Lieblings.

„Da,“ sagte er, „der Saphir heißt: bleibe so treu, der Rubin: bleibe so Weib, und der Brillant: bleibe so rein, wie du bis jetzt warst.“

Obgleich man sich in einem Juwelierladen befand und die draußen vorbeischlendernden Menschen hereingafften, fiel Susanne ihrem lieben Onkel Fritz jubelnd und dankend um den Hals.

„Gottlob,“ dachte Sabine, „dies war ihm der eigentliche Zweck. Sein Takt verbietet ihm, mich ganz zu übersehen.“

Und sie erwartete, daß er ihr einen unbedeutenden kleinen Ring geben werde, vielleicht mit dem Bemerken „für Milly“.

Als der alte Herr nun an sie herantrat, schien sich plötzlich so etwas wie Feierlichkeit über sein Wesen zu legen. Auch der Juwelier nahm eine besondere Haltung an. Er wußte, daß nun erst die große Kostbarkeit verschenkt wurde.

Achim hatte eine Mißempfindung. Bin ich neidisch, dachte er, daß ich nicht so mit Diamanten um mich streuen kann? Oder was ist es sonst?

Er sah, daß Sabine noch blasser wurde, als sie gewöhnlich war, und daß der Ausdruck eines Schrecks über ihre Züge ging.

Und dann sah er, daß der alte Herr ihr schweigend einen kostbaren Ring an den Finger schob, einen Reif, der eine große Perle trug, um welche ein Kreis von Brillanten flimmerte.

Sabine atmete schwer. „O, mein Gott!“ sagte sie.

Stumm und ritterlich neigte sich der alte Herr und küßte die Hand, die er eben so fürstlich geschmückt hatte. Und als er sich wieder aufrichtete, streifte sein Blick beinahe scheu das Antlitz der schönen Frau und wurzelte sekundenlang in ihrem dunklen Auge.

„Ich danke Ihnen,“ sagte Sabine tonlos.

Achim wandte sich ab.

Sie gingen. Susannens kindliche, laute Freude deckte das Schweigen der anderen zu. Ihr ganzer Schmuckbestand setzte sich bisher aus den Sächelchen zusammen, die von ihrer Konfirmation stammten. Nun hatte sie einen kostbaren Ring, so schön, so herrlich, wie sie nie geahnt, einen zu besitzen. Und sie hing am Arm des alten Herrn und plauderte ihm ihren Jubel vor und erging sich in Vorstellungen, wie Mama über die allzugroße Güte doch schelten werde und vielleicht zanken, daß Susanne sie angenommen.

Sabine litt. Sie kam sich wie bedeckt vor mit der Schmach der Undankbarkeit und Unehrlichkeit. Heute abend noch will ich ihn um eine Unterredung bitten und ihm alles gestehen, dachte sie. Aber was hatte sie ihm denn zu gestehen? Nichts! Denn sie konnte nicht sagen: Achim und ich, wir lieben uns und wollen uns verbinden, trotz alledem. Ich vertraue mich dir an. Gieb mir deinen Beistand. Nein, das konnte sie nicht sagen.

Und ihm nur von der Not ihrer Kämpfe, von der Qual ihrer Leidenschaft sprechen? Ihm? Der ihr eben so – in solchem Schweigen und mit so rätselhaftem Blick diesen Ring gegeben!?

Nicht einmal in ihren Gedanken wagte sie, an der Bedeutung dieses Blickes sich grübelnd zu versuchen. Alles, was in ihr an Zartheit weiblichsten Empfindens war, nötigte sie, blind daran vorbeizueilen.

Und auch Achim litt. Das Geschenk des Ringes an Susanne war nur ein Vorwand, dachte er. Und staunend erwog er, ob ein Menschenkind je so alt werden könne, daß es aufhöre zu leiden. Er hatte sich vorgestellt, daß mit den weißen Haaren die große Stille des Lebens kommt.

Und ihm ahnte, scheu und von fern nur, daß er eben etwas habe verräterisch aufblitzen sehen, das etwas anderes war als unberührte Stille – – –.

Tote Seelen weckte sie wieder zu schmerzlichem Leben auf mit ihren lodernden Blicken!

Ihre Schönheit prangte vor aller Augen, und selbst auf der Straße standen die Menschen, ihr nachzuschauen, und sagten: „Wie schön!“

Schritt sie einher, so ging etwas Gebietendes von ihr aus. Es war, als umwittere sie eine Majestät.

Und er, dem dies alles zu eigen zu werden sich glühend drängte – – er sollte kalt und stark bleiben?! Und er war doch auch nur ein Mensch!

„Onkel Fritz,“ plauderte Susanne, „für eine Buchhalterin, die ich doch vom 1. Januar sein will, paßt es gar nicht, so köstlichen Schmuck zu haben.“

„Was,“ sagte Achim, sich gewaltsam bezwingend, „Sie wollen unter die emanzipierten Frauen gehen? Das erste Wort, das ich davon höre!“

„Mit Emanzipation hat das nichts zu thun,“ erzählte Susanne, ganz guter Dinge bleibend. „Mama hat vor einiger Zeit sehr viel von ihrem Vermögen verloren – durch – durch ein Ereignis. Ohne Onkel Fritz’ Güte könnten wir nicht in gewohnter Weise weiterleben. Nun hat Onkel Fritz mir fest versprochen, mindestens hundert Jahre alt zu werden, und ich werde also vierzig Jahre Zeit haben, ein Kapital zusammenzuverdienen.“

Achim hätte gleich viele Fragen thun mögen: was war das für ein Ereignis? Und: beerben denn nicht Sie in erster Linie Onkel Fritz? Er konnte nicht recht begreifen, daß Susanne ein armes Mädchen oder doch ein sehr bescheiden bemitteltes sein sollte. Die Vorstellung, daß sie für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen eines Tages gezwungen sein könnte, regte ihn sehr auf und verscheuchte mit einem Schlag alle quälenden Empfindungen, die ihn eben durchwühlt hatten. Aber er konnte nicht wohl fragen, denn der, dessen Tod und Hinterlassenschaft dabei ins Gespräch kommen mußte, ging ja neben ihnen.

„Kinder,“ sagte der alte Herr, stehenbleibend, „ich weiß nicht, – ist es die schwüle Luft – ein bevorstehendes Gewitter – ich bin sehr müde. Ich möchte allein sein und ruhen. Was meint ihr, wenn ich unserm verehrten Freund hier das Amt übertrüge, mit euch zu lunchen?“

Er lächelte – wie immer. Aber etwas sehr Wehes, Verlegenes war in seinem Lächeln.

„Die Damen können nur über mich verfügen,“ sprach Achim.

Susanne sah den Onkel liebevoll und ängstlich an.

„Wir werden Sie doch erst bis ins Hotel bringen dürfen?“ bat Sabine. „Bitte, stützen Sie sich auf mich!“

Der alte Herr wich zurück.

„Ich bitte Sie, liebe Sabine … ich werde mich doch nicht wie ein zerbrechlicher Greis betragen. Mein Arm für Sie! Aber nicht der Ihre für mich.“

[423] Der Scherz kam etwas mühsam heraus. Und gleich danach, entschloß Onkel Fritz sich doch, Achims Arm zu nehmen.

Sie gingen sehr langsam zum Hotel, der alte Herr viel aufrechter als sonst, woran man den Zwang sah, den er sich anthat.

Susanne bestand darauf, mit hinauf zu gehen und erst selbst zu sehen, daß Onkel Fritz kühl gebettet und mit einer erfrischenden Limonade versorgt sei.

Die beiden wollten unten in der Halle auf sie warten. Aber es schien, als sollten ihnen sogar diese wenigen Minuten des Alleinseins vor Zeugen, diese karge Möglichkeit sich zu besprechen nicht gegönnt sein, denn der immer väterlich verbindliche Wirt des Hotels, der seine Tage in den Lehnstühlen der Halle zu verträumen schien, riß sich aus einem Halbschlummer, trat zu ihnen und äußerte seine Ansicht über das Wetter, das sich heute oder morgen in einem Gewitter ausladen und dann sich zur herbstlichen Rauheit ändern werde. Eine Meinungsverschiedenheit, die ein Engländer mit dem Portier zu haben schien, rief den Wirt endlich von ihnen fort.

Da fragte Achim schnell, als habe ihn dieser Gedanke die ganze Zeit beherrscht: „Was war das für ein Ereignis, das Susannens Mutter Geld verlieren ließ?“

Sabine glaubte, es früher schon erzählt oder geschrieben zu haben.

„Aber gewiß nicht – wenigstens habe ich es dann vergessen.“

„Also: auch das kommt auf das Schuldkonto… Sie wissen, Achim, wessen! Er hatte außer meinem Gelde auch das seines Bruders und fast dreiviertel von Frau Osterroths Vermögen zu verwalten.“

Also auch die Schuld dessen, den er erschossen! Ganz von fern, ganz vag zog es durch Achims Sinn, daß er ja immer von der Idee besessen gewesen, seine That zu entsühnen – gut zu machen. Wer dieses prachtvolle Mädchen heiratete, es nahm in all seiner Armut – der machte gut, was der Tote auf sich geladen hatte. Er fühlte selbst: das waren verworrene Gedanken. Seine eigene That wollte er ja gutmachen – nicht die des Toten. Und doch schien ihm da irgend eine Verbindung, eine ausgleichende Gerechtigkeit.

„Was denken Sie?“ fragte Sabine fast herrisch.

„Nichts.“

„Als ob je ein Mensch eine andere Antwort auf die Frage hätte!“

„Gut. Zugestanden: Thorheiten und Trübes,“ sprach er. „Aber sagen Sie doch: erbt denn Susanne kein Geld von Onkel Fritz?“

„Nur ein Zweiundzwanzigstel. Er will es so. Ein pedantisches Gerechtigkeitsprinzip – vielleicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls bekommen Susanne, mein Schwager Benno und meine Kinder nicht mehr als die anderen neunzehn Osterrothschen Nichten und Neffen. Sein Einkommen bei Lebzeiten indes verteilt und verbraucht er, wie Sie sehen, nach seinen Neigungen.“

Und nach einer kurzen Pause fügte sie bitter hinzu:

„Sind wir dazu zum erstenmal zwei Minuten ohne Zuhörer, um Onkel Fritz’ Vermögen zu besprechen?“

„Sabine!“

Aber über seine Stirn ging ein helles Rot.

Sie sah mit dunklem Blick zu ihm empor.

„Morgen werden Sie nicht mehr hier sein!“ sagte sie leise.

„Es waren schöne Tage,“ sprach er bewegt. „Aber sie können und sollen nicht enden, bevor Sie mir nicht gestatten, Sie noch zu sprechen. Ich habe Ihnen viel zu sagen, Sabine. Viel.“

„Sicher heute noch. Ich werde es frei mit Ihnen verabreden. Heimlichkeit – – das war für Miihlan,“ lächelte sie. „Und da kommt Susanne.“

„Mit Regenschirmen,“ rief diese schon auf der Treppe.

„Venedig und Regenschirm! O weh!“

„Wie geht es ihm?“ fragte Sabine.

„Nur matt. Er schien zufrieden, still und allein liegen zu dürfen,“ erzählte Susanne. „Aber ich werde doch den Nachmittag nebenan im Salon sitzen und nicht ausgehen.“

„Selbstredend auch ich!“ erklärte Sabine entschlossen.

„Wenn ich offen meine Meinung sagen darf,“ sprach Susanne, „laß das lieber. Ehrlich: mir kommt es vor, als genierte er sich vor dir ein bißchen. Nicht als ob er unhöflicher oder ungepflegter wäre, wenn er mit mir allein ist. Ich kann dir das nicht so beschreiben. Aber mit mir ist er wie ein Papa mit seiner Tochter und vor dir wie ein Herr aus der Gesellschaft. Warum, weiß ich nicht.“

Aber Achim und Sabine ahnten warum. Unwillkürlich sahen sie sich an und sahen schnell voneinander weg.

Es tröpfelte draußen ein wenig. Die Gondoliere sprangen wie gejagt herum, ihren Gondeln die schwarzen Gehäuse aufzusetzen.

Auf der Straße standen Herren und krempelten sich die Beinkleider auf. Alle Welt schien Eile zu bekommen.

„Wie die bange vor dem bißchen Regen sind!“ lachte Susanne.

Es hörte gleich wieder auf. Trocken kamen sie bei „Bauer-Grünwald“ an. Man suchte sich in dem hohen, weiten Restaurationssaal einen Tisch. Susanne erklärte wichtig, daß sie die Börse von Onkel Fritz habe, sie solle für sich und Sabine bezahlen, Onkel Fritz fände es nicht passend, wenn sie etwa Herrn von Körleggs Gäste wären. Hierüber zeigte sich Achim enttäuscht und beleidigt. Aber Susanne meinte, daß dann die Bescheidenheit ihnen gebiete, sich ihr Menu nach den Aufzeichnungen auf der zweiten Seite der Speisekarte zusammenzusetzen.

So scherzten sie, ein wenig wie Kinder, die plötzlich ohne Aufsicht sind. Und während die bestellten Speisen hergerichtet wurden, lief Achim schnell zu einem nahen Blumenhändler und holte ganze Bündel Rosen. Nachher stießen sie mit dunkelfließendem, starkem Barolo auf Onkel Fritz’ Gesundheit an. Dann mußte Achim noch genau die Ringe besehen und bewundern, und er hielt dabei erst Sabinens, dann Susannens Hand in der seinen und entließ jede mit einem kleinen zärtlichen Druck.

Die fröhliche Laune der drei jungen Menschen zog die Blicke aller auf sich.

Sabine bemerkte einmal, daß man sie ansah.

Und jäh flog ein schneidender Gedanke mitten durch ihre frohe Stimmung: Wenn diese Menschen rundum wüßten, daß der Mann, mit dem ich hier lachend sitze, meinen Gatten erschossen hat – würden sie mich nicht steinigen? …

Und das ganze Leben erschien ihr wie ein groteskes Zufallsspiel, vielleicht nur eines höhnischen Lächelns wert oder einer Thräne.


9.

Um vier Uhr holte Achim Sabine ab. So hatten sie es vor Susanne noch beim Frühstück verabredet. Sie sagten, da seien noch ein paar Kirchen, die Achim notwendig sehen müsse, so vor allen Dingen Santi Giovanni e Paolo.

Susanne meinte: „O gewiß. Die muß Herr von Körlegg noch sehen, wir waren gleich am ersten Tag da und hatten einen großen Eindruck. Und außerdem haben Sie doch gewiß noch viel miteinander zu sprechen.“

Das sagte sie so unumwunden, so einfach.

Auf dem Rückweg vom Frühstück trat Sabine noch in einen Blumenladen, um für den alten Herrn Blumen zu kaufen. Achim und Susanne fanden ihre Wahl thöricht.

„Die kann er ja nicht zwei Minuten im Zimmer haben.“

Aber Sabine ließ unbeirrt einige lange Stiele der schwül duftenden Tuberose mit einigen melancholisch schwer hängenden Marschall Nielrosen zusammenbinden.

„Er kann sie dann ins offene Fenster, ans Gitter stellen.“

Susanne, welche die Blumen hineintragen mußte, berichtete denn auch, daß er sich offenbar sehr gefreut habe. Aber schwach sei er doch erbärmlich, sie habe wohl gesehen, daß seine Hand zitterte. Dennoch hoffe er, zum Diner aufzustehen, und lasse Herrn von Körlegg bitten, dies bei ihnen im Hotel einzunehmen.

Als Achim um vier Uhr kam, hatte sich das graue Gewölk am Himmel verdichtet. Es sah aus, als hielte der Regen nur mühsam zurück, und fern schien es zu donnern. Aber der Gondolier erklärte energisch, daß das Wetter nicht vor Abend käme. Regen hingegen? Regen – das sei möglich. Jedenfalls sei eine offene Gondel nicht ratsam.

So stiegen sie denn in das schwarze kleine Kämmerlein, wo sie mehr liegen als sitzen mußten. An den offenen Fenstern glitten wie stille Wandelbilder die Mauern der aus dem Wasser steigenden Häuser vorbei. Das geöffnete Thürchen ließ ihnen [426] den Blick auf die schmalen Kanalstraßen frei, durch die sie wiegend und sacht entlangstrichen.

Manchmal zeigte sich ein drolliges Bild: auf einer Hausthürschwelle hockte eine Mutter und badete ihr Kind im schmutzig grünen Wasser. An den feuchten Mauern, dicht über der Kanaloberfläche, saßen mit sternförmig auseinandergespreizten, klammernden Beinen zahllose kleine hellgraue Taschenkrebse und Seespinnen.

Die ersten Minuten vergingen schweigend. Durch einen ihnen beiden unerklärlichen seelischen Vorgang war eine feindselige Stimmung zwischen ihnen. Eine Art von Trotz, in welchem jedes den andern dafür verantwortlich machte, daß man hier gefangen zusammensaß, um von der Stunde eine Entscheidung zu erzwingen, mochte die Stunde nun gerade dafür günstig sein oder nicht. Die kargste Freiheit – die, den Augenblick zu erfassen, die war ihnen immer verwehrt gewesen.

Es lag so etwas Niederdrückendes in der Situation. Seit heute morgen hatten sie es gewußt: nachmittags vier Uhr sollst du deine höchsten und besten Kräfte voll einsetzen können, um dein Ziel zu erreichen. Das ist ein verhängnisvolles Vorherwissen in Sachen der Leidenschaft.

Es machte zunächst beide gereizt und unsicher.

Sabine brach das Schweigen durch einige Bemerkungen über die Gegend, durch die man fuhr.

„Das hier ist ein anderes Venedig. Nicht das der Fremden. So still, so verschlafen. Ein Stück Vergangenheit.“

Schmale und bescheidene Häuser säumten die Kanäle ein. Wo eine knappe Uferstraße für Fußgänger einen Weg von Treppenbrücke zu Treppenbrücke gewährte, sah man wenige Menschen gehen; Frauen mit Umschlagtüchern, Männer in Hemd und leinenem Beinkleid. Auf dem weißen Gestein lagerten Kinder und träumten in den Tag hinein. Traurig sah der graue Himmel hernieder.

Sie kamen vor der Kirche an und hießen die Gondel warten.

Wie steinerne Schwermut umschrankte sie die gewaltige, kühl dämmerige Kirche. Mit erkünsteltem Interesse gingen sie an den Grabdenkmälern der Dogen vorbei. Die starre und stumme Pracht kalter Steine hatte ihnen heute nichts zu offenbaren, die graue Strenge sah sie fremd an.

Das war Tod. Das war Vergangenheit.

In ihnen aber waren alle quälenden Sensationen des Lebens.

Wie soll ich es ihr sagen, daß wir scheiden müssen für immer? dachte Achim. Und er litt selbst so peinvoll in der Vorstellung, daß es ihm versagt war, das Gnadengeschenk dieser glühenden Liebe anzunehmen.

Wird er die Zeit verrinnen lassen, ohne mir zu sagen, daß Liebe stärker ist als Welt und Vorurteil? dachte sie angstvoll.

Als sie wieder hinaustraten, froh, der Gesellschaft des Küsters ledig zu sein, der, unnütze Erklärungen murmelnd, immer einen halben Schritt voran, neben ihnen geblieben war, atmeten sie auf.

Die Luft schien ihnen wärmer und frischer und heller als vorher, obschon sie ganz unverändert geblieben war.

Achim half Sabinen in die Gondel. Dabei sahen sie sich an. – –

Und auf einmal war sie da, die Stimmung, die zur Entscheidung drängte, die ganze fieberheiße Erregung. –

Die Gondel glitt langsam weiter, den breiten, stillen Rio dei Mendicanti entlang, hinaus in die Lagune, jenseit der Stadt. Auf träumerisch wogender, glanzloser Flut, unter zinnfarbenem Himmel, in brütender Luft schwamm sie schaukelnd dahin; der Gondolier, hoch hinter dem schwarzen Dach stehend, holte unablässig zu gleichmäßigem Ruderschwung aus. Zuweilen klang sein melancholischer Warnruf. Langsam flog einmal eine Möwe mit lautlosem Flügelschlag dicht über dem Wasser hinstreichend vorbei.

„Sabine,“ sagte Achim und nahm mit seiner Rechten ihre Hand, „teure Sabine – ich danke Ihnen für diese Tage. Es sind unvergeßbare.“

Und er legte seinen linken Arm um ihre Taille. Wie ein Bruder, liebevoll und herzlich wollte er zu ihr sprechen. So hatte er es sich vorgenommen gehabt, für diese Stunde, schon seit Wochen.

Ihr Atem stockte. Sie sah zu ihm auf. Sie fühlte seinen Arm. So nah’ war sie ihm – so nah’. Ihre Augen brannten in den seinen.

„O Gott – – Achim,“ flüsterte sie. Ihr Haupt sank an seine Schulter.

Er wollte ganz gefaßt bleiben. Von der Natur meinte er das Unnatürliche erzwingen zu können; inmitten eines Flammenmeeres dachte er kühl zu atmen. Er vergaß, daß er auch nur ein Mensch war.

„Sabine,“ sprach er kaum hörbar, „Sabine – mein Herz ist voll Dankbarkeit für alles, was Sie – – was – –“

Und sie schwieg immerfort. Sie suchte keine Worte und sie brauchte keine. Ihre Augen sprachen von hingebendem Verlangen, von seligster Glückserwartung.

Und ihre Lippen schienen sich ein wenig zu öffnen.

Da neigte er sein Angesicht und sein Mund preßte sich auf den ihren.

Er vergaß alles.

Er wußte nur, daß es wert war, zu leben um dieses Augenblickes willen.

Wie zwei, die sich aus höchster Gefahr und Not endlich zu einander gerettet haben, hielten sie sich umklammert, trunken vor Leidenschaft, sinnlos vor Glück.

„Mein!“ stammelte Sabine. „Mein – endlich doch.“

Zwischen immer neuen Küssen stammelte sie es. Und er ließ sie nicht aus seinen Armen, als fürchtete er das Erwachen – oder als könnte er nicht an so viel Seligkeit glauben, ohne sie zu halten.

Dann kam ein jubelnder Stolz über Sabine, eine Art von Machtrausch, von königlicher Trunkenheit.

Die Arme um seinen Hals, ihr Angesicht nah’ und gerade vor dem seinen, sprach sie zu ihm: „Was ich um dich gelitten habe, wie ich mich nach dir zersehnte – ich kann es dir niemals, niemals ganz sagen! Menschenworte beschreiben es nicht. Ich fühlte wohl, daß du mir zu entfliehen trachtetest! Warum? O mein Gott, Achim! Ist die Leidenschaft nicht gewaltiger als Herkommen und Vorurteil und selbst als der Tod?! Laß die Bedenken und die kleinen bangen Gedanken für die, welche armen Herzens sind. Laß die feige sich vor Erwägungen fürchten, denen das Blut dünn und still in den Adern schleicht! Wir aber, wir sind wie Herren und Fürsten – weil wir die Leidenschaft haben, haben wir auch die Kraft. Wir werden das Ungewöhnliche zum Selbstverständlichen machen. Die Liebe giebt uns das Recht dazu. Deine Seele hat schwer an dem Bewußtsein getragen, ein Menschenleben vernichtet zu haben. Daß du Kindern einen Vater nahmst, das drückte dich. Es war das erste Geständnis, das du mir machtest, damals, als uns der Zufall an seinem Grabe zusammenführte. Weißt du noch? Aber es war kein Zufall. Das Schicksal hatte uns mit Vorbedacht dorthin geführt. Den Kindern, denen du schuldlos den Vater nahmst, denen wirst du alles ersetzen, was ihnen verloren ging – du wirst es ihnen besser ersetzen. Ist das nicht Ausgleich und Entsühnung? So groß, so tief, so wunderbar?! Kannst du dir eine weisere denken? Und ich? Und ich? Weißt du, Achim, ich habe gelitten – o, laß mich nicht mehr daran denken, wie alles in mir getreten ward – alle Illusionen, alle Jugendfröhlichkeit, aller Stolz. Ich lebe wieder, seit ich dich sah! Ich bin erst Ich selbst geworden durch dich. Und ich preise mein vergangenes Unglück. In ihm lernte ich mit allen Sinnen, mit allen Nerven, mit jedem Schlag meines Herzens, was es sein müsse: das Glück, das Glück! Ich weiß was Liebe ist – jetzt weiß ich es. Und ich liebe dich – rasend – zum sterben – –“

Und wieder warf sie sich an seine Brust. Er aber, erschüttert von der Gewalt ihrer Leidenschaft, schloß sie fest an sein Herz.

Das Schicksal ist stärker gewesen als ich, dachte er, vielleicht hat es recht gehabt.

Ihre flammenden Worte brausten über seine schweren Gedanken hin. Ihm schien es in dieser Stunde nicht mehr unmöglich, Vergangenes zu vergessen, ganz zu überwinden. Er fühlte, daß er geliebt wurde, über menschliches Maß hinaus. Und von wem? Von dem herrlichsten Weibe. Und er sollte dieses große Herz zurückstoßen? Dieses glühende Leben zerknicken? Sich selbst der heißesten Wonne berauben?

Das konnte kein Gott und kein Mensch von ihm fordern.

Mutig als ein Mann mußte er nun mit eherner Stirn die Thatsache vertreten und tragen.

[427] „Sabine,“ sagte er, als sie sich beide ein wenig gefaßt hatten, „wie wollen wir uns nun verhalten?“

„Meine Eltern …,“ ihre Stimme klang ein wenig zaghaft. Aber dann lehnte sie ihr Haupt gegen seine Schulter, nahm spielend seine Hand und streichelte sie und sagte im Gefühl glücklichster Geborgenheit: „Ah – die werden nichts mehr einwenden von dem Augenblick an, wo sie dich sahen und sprachen. So ein Mann wie du! Das müssen sie doch begreifen!“

Er lächelte. Die Naivetät der Liebe war bezaubernd. Er war für sie der Mensch aller Menschen, das fühlte er wohl.

„Willst du deinen Eltern schreiben, damit ich sie vorbereitet finde?“

Sabine richtete sich lebhaft auf.

„Nein, nein. Es ist besser, du kommst zu den Ahnungslosen. Am besten ist es so: reite gleich zu Reinald hinaus und sag’ ihm alles. Reinald ist sehr einfachen Sinnes. Gerade deshalb und weil er mich sehr lieb hat und eben selbst in der Feierzeit seiner Liebe steht, wird er begreifen, daß es sich hier um etwas ganz Großes handelt. Ihm wird vielleicht ein bißchen bang werden – aber er wird uns beistehen. Er soll dich zu den Eltern begleiten. Er soll dabei sein, wenn du mit Papa und Mama sprichst! Manchmal geschehen ja Wunder. Vielleicht begreifen sie gleich, daß mein Glück wichtiger ist als das Urteil des Krämers Küps und der Frau Rechnungsrat Müller.“

„Wie bist du bitter!“

„Ich will es nicht mehr sein. Komm – verzeih mir! So – – Und dann, Achim: ich bin in Zweifeln. Sollen wir’s Onkel Fritz gleich sagen oder nicht,“ sprach sie.

„Nein,“ rief er hastig, „nein, um keinen Preis. Es – – es wäre nicht taktvoll – erst doch deinen Eltern, nicht wahr? Und dann, mir ist, als würde es den alten Herrn doch erregen. Er war heute morgen so sonderbar, als er dir den Ring gab – fandest du nicht?“

„Wie du willst. Rechnen wir so: in einigen Tagen bist du wieder in Mühlau; sobald du die Einwilligung meiner Eltern hast, telegraphierst du mir nach Rom. Uebermorgen reisen wir dorthin. Und dann sag’ ich es Onkel Fritz. Natürlich kann ich ihn auf dieser Reise, die meinetwegen unternommen ward, nicht im Stich lassen. Vor dem ersten November hast du mich nicht wieder.“

„Es ist vielleicht gut so. Inzwischen gewöhnen sich die Mühlauer an das Ereignis. Denn sobald ich erst mit deinen Eltern gesprochen habe, wird es dort bekannt werden, das kennen wir ja.“

„Vier Wochen soll ich dich entbehren!“

„Vier lange Wochen – –“

Auch ihm erschien das eine furchtbare, eine entsagungsvolle Zeit.

„Sabine!“ flüsterte er und nahm sie wieder in seine Arme.

Der graue Tag ging still zu Ende. Durch die blaue Dämmerung, die sich über die Lagune breitete wie feiner Dunstschleier, glomm das erste trübrote Licht einer Laterne. Sacht glitt das Boot des Anzünders an das Bouquet von Pfählen heran, die, aus der Flut aufsteigend, sich oben mit den Köpfen zu einander neigten und dort auf dünner Stange eine vieleckige Leuchte trugen. Mit träumerischem Ruderschlag ging der Nachen dann weiter auf seiner lichtspendenden Fahrt.

An den Ecken der Kanäle, auf vorspringendem Arm, brannten schon die Gaslaternen. Zwischen den hochragenden Häusern lagen die schmalen Wasserstraßen schon in tiefem Abendschatten. Eilig und lautlos glitt die Gondel dahin.

Auch die beiden, die aneinander geschmiegt in ihr versteckt saßen, schwiegen.

Eine große wundervolle Stille war in Sabinens Seele, wie Abendfrieden nach heißen Stürmen. Sie fühlte sich am Ziel und sie war vollkommen glücklich. Auch in Achim war es still. Eine seltsame Mattigkeit lähmte seine Gedanken. Und er wollte auch nichts mehr denken. Ein berauschendes Glück war sein geworden. Eine Vergangenheit durfte es nicht mehr geben, die Zukunft mochte sein wie sie wollte: diese Stunde war die Krone seines Lebens gewesen. –

Sabine seufzte, als die Gondel vor dem Hotelportal am kleinen Seitenkanal hielt. Die Rückkehr aus dem Traumland der Liebe in die gemeine Wirklichkeit hatte etwas Beleidigendes für sie.

[453] Die Uhr in der großen Halle des Hotels zeigte schon fünf Minuten vor Sieben und oben in Sabinens Zimmer stand Susanne und legte ein Kleid zurecht.

„Ich habe mich verspätet,“ sagte Sabine, „wir fuhren in den Lagunen gegen Murano zu herum. Es war so eigentümlich unter dem stilldrohenden Himmel. Wir konnten uns nicht losreißen. Achim ist eben ausgestiegen, da an der kleinen Brücke, von welcher man schnell zur Piazza kommt. Er wollte sich zum Diner umkleiden. In einer Viertelstunde ist er hier. Wie geht’s denn Onkel Fritz? Was – das Kleid, meinst du, soll ich anziehen? Nein, das weiße gieb her! So, danke vielmals. Und den hellgrünen Gürtel! Laß uns doch die Rosen in den Gürtel stecken, die er uns heute mittag gab!“

Susanne half der Freundin und sah sie immer dabei forschend an.

„Wie bist du aufgeregt, Sabine!“

„Ich – gar nicht!“ Und Sabine lachte laut.

„Doch! Warum leugnest du vor mir? Ich kenne dich zu genau. So blaß wie ein Gespenst bist du, und förmlich schwarz sind deine Augen.“

„Hu – zum graueln!“

„Lache doch nicht so! Hast du denn kein Vertrauen mehr zu mir?“ sagte das junge Mädchen traurig.

Da fiel Sabine ihr stürmisch um den Hals.

„Laß mich schweigen. Ich sage es dir später, was ich mit ihm gesprochen habe. Laß mich ... sonst wein’ ich. Ich will gefaßt bleiben! Immer stark und stolz.“

Was heißt das? dachte Susanne gequält, sind sie sich klar geworden über die Notwendigkeit, zu scheiden?! O, dann erkenne ich meine Sabine: stark und stolz will sie sein, ihm ihren Gram verhehlen, damit er sie doppelt achte!

Vor Wonne habe ich geweint – vor Wonne möchte ich weiter weinen, dachte Sabine jubelnd.

[454] Und sie liebkoste Susanne und bat, daß sie ihr nur glauben solle, daß sie immer ihre liebe einzige Freundin wäre und bleibe.

Dann ging sie hinein, den alten Herrn zu begrüßen. Er konnte nicht zu Tisch hinauf in den Speisesaal gehen. Man wollte deshalb im Salon essen. Das war auch sicher gemütlicher, weil das Diner doch den Charakter einer kleinen Abschieds- und Abschlußfeier haben sollte.

Im Salon brannte eine Lampe, denn Onkel Fritz konnte das elektrische Licht an seinen Augen nicht gut vertragen. Auf dem Tisch blühten in einem hohen Glase die Tuberosen und Marschall Niel, die Sabine ihm gegeben hatte. Die Fenster standen offen. Das gleichmäßige Geräusch der Tritte und Stimmen der Menschen, die die Brücke hinauf- und hinabschritten, klang herein, einer angenehm gedämpften Musik gleich. Draußen hatte sich die Abenddämmerung fast in Nacht gewandelt, aber weil man sie vom hellen Zimmer aus sah, erschien sie seltsam blau. Auf dem Wasser kroch eben mit blinkenden Lichtern ein Schiff vom Lido heran und legte sich vor die Landungsbrücke am Quai.

Der alte Herr saß im Lehnstuhl, nach dem Fenster zu.

Als Sabine eintrat, überwältigte sie ein Gefühl von grenzenloser Dankbarkeit und Verehrung. Sie eilte auf den Greis zu und, sich tief, tief herabbeugend, küßte sie ihm die Hand. – Eine Pause von Sekunden folgte. Sabine glaubte, man müßte ihr Herz klopfen hören. Kaum war die impulsive Handlung geschehen, so fürchtete die junge Frau, pathetisch, überspannt, lächerlich gewirkt und den alten Herrn erzürnt zu haben.

„Nicht, mein Kind – nicht …“ murmelte er und hielt Sabinens Finger zwischen den seinen.

„Was Sabine alles mit Onkel Fritz macht,“ dachte Susanne, „bei mir würde er schelten.“

„Sie sind sehr schön heute, Sabine,“ sagte der alte Herr dann.

Sie lächelte triumphierend. Ein anderer hatte ihr das auch heute gesagt, mit heißen Flüsterworten hatte er es ihr zugeraunt. Und heute zum erstenmal in ihrem Leben freute sie sich stolz ihrer Schönheit.

Endlich kam auch Achim. Die Entschuldigungen über seine Verspätung, das Fragen nach dem Befinden des alten Herrn halfen über die ersten fünf Minuten weg.

Bei Tisch beobachtete Susanne ihn. Was Sabine ihr noch vorenthielt, verriet vielleicht sein Wesen. Auch er war bleich, das hatte Susanne noch nie gesehen. Und auf seiner Stirn lag ein schwerer Ernst, und wenn er lachte, lachten seine Augen nicht mit.

Vielleicht bilde ich mir auch alles nur ein, dachte Susanne. Aber der hoffnungsvolle Glaube festigte sich doch in ihr, daß Achim wie ein Mann das endende und klärende Wort des Abschieds gesprochen habe. Sie wollte so gern an ihn glauben, an seine Festigkeit und Charaktergröße.

Der alte Herr hatte Heidsieck kalt stellen lassen und man stieß oft zusammen an. Sabine ging ganz in dem Wunsch auf, den Greis fröhlich zu stimmen, ihn angenehm zu unterhalten, ihm Dankbarkeit zu zeigen. Sie wandte kaum einen Blick von ihm, in bezaubernder, töchterlicher Fürsorge. Ihre lachenden Augen suchten seinen Blick und ihr ganzes Wesen entfaltete sich in schmeichelnder Weiblichkeit.

Sie vermeiden es, einander anzusehen, stellte Susanne bei sich fest, es ist gewiß, sie haben den großen, den einzigen Entschluß gefaßt.

Und mit ihren klaren Augen sah sie Achim liebevoll an. Er hatte vielleicht gelitten. Wenn sie doch nur wüßte, wie sie ihm tröstend wohlthun könnte!

Draußen grollte der Donner. Gerade trug schon der Kellner die Früchte und die leeren Flaschen fort.

Onkel Fritz stand auf. „Ich ziehe mich zurück. Bitte – lieber Herr von Körlegg – Sie nehmen noch den Kaffee und Ihre Cigarette bei den Damen … Und leben Sie wohl! Haben Sie Dank für alles, was Ihre Gesellschaft den Damen und mir gegeben hat. Darf ich sagen: Auf Wiedersehen? Sie wissen, im Winter in Berlin, Lützowufer. Im Sommer als Vagabund bei der Familie herum. Vielleicht in Zukunft auch einmal in Mühlau – wenn Sabine mich da haben will.“

Bewegt drückte Achim die Hand des alten Herrn.

„Wenn ich Ihnen ein wenig lieb geworden bin – so machen Sie mich stolz. Ich bin es, der zu danken hat – ich! Und gewiß, Herr Osterroth – das Leben führt uns wieder zusammen. Bleiben Sie mir immer so gütig gesonnen!“ sprach Achim.

Onkel Fritz lächelte. Es schien, als wollte er noch etwas sagen, flüchtig streifte sein Blick Susanne. Doch er schwieg, nickte noch einmal und ging.

Es donnerte lauter. Gleich danach blitzte es, und polternd krachte es hinterher.

„Das kommt von allen Seiten. Wollen wir nicht die Fenster schließen?“ meinte Susanne. Sie war ein wenig ängstlich beim Gewitter und schämte sich nun ihrer Furcht vor Achim.

„O nein, das giebt ein prachtvolles Schauspiel,“ sagte er.

Wenn Sabine doch daran denken wollte, daß ich so bange vor dem Blitzen bin, dachte sie, früher hatte sie doch selbst Furcht.

Aber Sabine dachte an nichts als an ihn, der jetzt neben ihr am Fenster stand, gleich ihr die Hände auf dem kleinen Gitter, das es von außen schützte.

Im wilden Zickzack flog ein Blitz nach dem andern vom Himmel herab, auf Sekunden das wildflutende Wasser und den steilen Kirchturm von San Giorgio Maggiore überhellend.

Draußen war alles Leben wie fortgefegt, leer lag der Quai, und die ersten Regenschauer klatschten auf die Steine nieder. Der Donner rollte unaufhörlich in allen Tonstärken, die Nähe und Ferne ihm gab. Entzückt starrte Sabine in das wilde Schauspiel. Susanne aber lief zu dem alten Herrn hinein und, indem sie die Thür rasch öffnete und schloß, entstand ein Windstoß, der die Lampe traf, sie flammte hoch auf und verlosch.

Achim legte seinen Arm um das Weib. Stumm standen sie, Wange an Wange, und sahen dem tobenden Wetter zu.

Das war ihre Abschiedsstunde. Das große Schauspiel schien dafür die rechte Weihe.

Zu sagen hatten sie sich nichts mehr.

Achim fragte sich: Ist das eine Vorbedeutung? Wird so mein ganzes künftiges Leben sein – Wetter und Sturm?

Sabine aber dachte: Nun schreckt mich nichts mehr, nichts in der Natur, nichts im Leben, wenn ich neben ihm stehe. Und sie preßte ihre Wange fester an die seine.

Drinnen ließ Susanne sich liebevoll vom alten Herrn wegen ihrer Furcht ausschelten. Da nun der Donner in ferneren Himmelsräumen zu vergrollen schien, in Susannen auch der Wunsch übermächtig war, die letzten Minuten von Achims Anwesenheit noch zu genießen, so entschloß sie sich, wieder in den Salon zurückzukehren.

Und da sah sie, im dunklen Raum stehend, vor dem Fenster, im Schein, der von der Laterne draußen hereinfiel, die Silhouette von zwei Menschen, die, Wange an Wange, unbeweglich verharrten. „O mein Gott …,“ sagte sie.

Die beiden hörten den Ausruf und lösten sich voneinander.

Sabine wandte flüchtig das Haupt und bemerkte Susanne, die da wie versteinert stand. Aber ihr war nicht nach Erklärungen und Erörterungen zu Mute.

Sie atmete tief auf. Die Minute des Scheidens war gekommen. Stumm reichte sie Achim die Hand, mit großem, tiefem Blick noch einmal ihm in die Augen schauend.

Sie wechselten einen Händedruck, so fest, wie man ihn giebt zu einem ewigen Bündnis, oder zu einem ewigen Abschied.

Dann ging Sabine in ihr Zimmer. Die Thür fiel zu. Der kurze dumpfe Ton schien Susanne zu erschrecken oder zu erwecken. Sie machte eine Bewegung und that einen Schritt vorwärts. So kam sie in den Lichtstreifen, der zum Fenster hereindrang. Gerade zuckte auch draußen wieder ein Blitz nieder und überflammte ihre Gestalt mit bläulichem Schein.

Achim sah es: diese klaren Augen schauten auf ihn mit einem unverhohlenen Ausdruck des Entsetzens.

Er trat an sie heran. „Denken Sie nicht klein von mir,“ murmelte er, „die Liebe war stärker als alles. Die Leidenschaft sprach zu laut.“

„Hat denn die die lauteste Stimme?“ fragte Susanne.

[455] Ihm war schrecklich zu Mute, so, als müßte er sich schämen.

Das war ein schlimmes Gefühl für einen, der eben über sein Schicksal entschieden hat.

„Sie sind zu jung, Fräulein Susanne,“ sagte er finster, „um das beurteilen zu können.“

Aber anstatt einer Antwort, sprach sie vor sich hin: „Und ich habe so an ihn geglaubt! Ich habe so gewiß geglaubt, daß er ein ganzer Mann wäre!“ Sie fing an zu weinen.

Er stand erschüttert – wie geschlagen! Diese naiven Worte trafen ihn wie eine furchtbare Anklage.

Er nahm sich zusammen, er wappnete sich mit Bitterkeit.

„Männer sind nicht so, wie junge Mädchen sie sich denken,“ sprach er; „auch ich bin nur ein Mensch, und Mitleid und Leidenschaft haben schon Größere als mich aus der Bahn gerissen.“

Sie schwieg.

„Soll ich so von Ihnen scheiden?“ hob er an und fand sich selbst von plötzlicher Weichheit überrascht, „so ohne ein gutes, treues Wort? Soll ich denken, daß Sie mich richten, vielleicht sogar verachten? Glauben Sie, daß das meine Seele leichter macht?“

Sie griff nach seiner Hand. „Nein, nein,“ rief sie weinend, „ich richte Sie ja nicht! Da sei Gott vor! Wenn das Unfaßliche denn wahr werden soll – – möchten Sie glücklich werden, so ganz unmenschlich glücklich, wie ich – – wie Sie – ich meine …“

Sie konnte nicht weiter. „Adieu – adieu,“ stammelte sie.

Er küßte ihr die Hand immer wieder, und vor schmerzlicher Bewegung fand auch er kein Wort mehr, kein einziges.

Dann war er fort.

Susanne stand noch lange und weinte. Später klopfte sie an Sabinens Thür. Sie war verschlossen. Sabine antwortete nicht. – Achim fuhr gen Norden. Es war Nacht. Er lag in seinem Schlafcoupé und dämmerte zwischen Wachen und Träumen hin. So, nur mechanisch an dem Treiben der Reise teilnehmend, war er gestern von Venedig nach Verona gekommen – so fuhr er nun über den Brenner durch die Nacht. Er bemerkte kaum, wie die Zeit verrann. Er hatte kein Maß für sie, und sie wurde ihm auch nicht lang.

Er gedachte, so ohne Aufenthalt weiter zu reisen, „wie ein Paket,“ sagte er bei sich selbst. Ein unbeschreibliches Bedürfnis nach Ruhe trieb ihn, sich abzuhetzen, um nach Mühlau zu kommen, einen Tag vor dem Ende seines Urlaubes, um einen ganzen Tag lang sich zu verstecken in seiner Wohnung, in seinem Bett auszuschlafen.

Er brauchte keine besonderen Anstrengungen zu machen, um weder zurück noch vorwärts zu denken. Zum ersten Male in seinem Leben waren seine Nerven so abgespannt, daß er nichts fühlte wie eine totale Stille in sich – so, als ginge ihn die Welt für zweimal vierundzwanzig Stunden gar nichts an.

Die rauhen Herbstlüfte, die ihn in Deutschland empfingen, machten ihn frösteln. Als er in Mühlau ankam, peitschte ein heftiger Regen, von Ostwind getrieben, ihm entgegen.

Er kam sich wie erlöst und in den Hafen eingelaufen vor, als er in seine erleuchtete und ordentliche Wohnung trat.

Seine Wirtin hatte, seit sie das ihn anzeigende Telegramm erhalten, nichts gethan wie geputzt und gescheuert. Sein Bursche grinste vor Freude und Dienstbeflissenheit. Das ganze war doch so etwas wie eine Häuslichkeit.

Diese Nacht schlief er wie ein Toter, und er schlief bis in den Vormittag hinein.

Als er aufwachte, wußte er gar nicht genau, wo er war. Kein Laut ringsum. Und alles so dunkel.

Vor seinen Fenstern waren Holzläden, nach altmodischer Art, von draußen vorgeknebelt. In jedem von ihnen hatte der Zimmermann eine kleine Kleeblattfigur ausgeschnitten. Die ließen nun in drei runden Lichtlöchelchen einen einfachen, dünnen Strahl der Morgensonne herein. Staubfädchen tanzten darin. Achim sah ihnen lange zu.

Er klingelte. Gleich darauf polterte und klappte es draußen vor den Fenstern; der Bursche schlug da die Laden zurück.

Dann kam er herein und meldete, was Achim schon vom Bett aus sah, „daß das Wetter wieder fein sei“. Dabei setzte er den Morgenthee auf einen Stuhl vor seines Herrn Bett.

„Briefe?“

„Zu Befehl!“

Achim griff hastig zu. Nur eine Jagdeinladung, eine Geschäftsempfehlung und ein Brief von einem Kameraden aus seinem alten Regiment. Es war ja auch ganz unmöglich, daß schon ein Brief von Sabine dabei sein konnte.

Er nahm aus seiner Brieftasche, die auf seinem Nachttisch lag, ihr Bild.

Und in der einsamen Stille seines Zimmers stieg helles Rot in seine Stirn. Ihr Zauber wirkte wieder. Schauernd erinnerte er sich der Stunde, da ihr Mund an dem seinen gehangen hatte. Das Verlangen nach ihr rann durch alle seine Nerven.

Er stand auf. Er entschloß sich, schon heute den Kampf aufzunehmen.

Sein Bursche erinnerte ihn daran, daß Sonntag sei. Desto besser. Da konnte er hoffen, Herrn Reinald Deuben daheim zu treffen.

Er freute sich des Sonnenscheins draußen, obschon es der herbe Schein der Herbstsonne war, die sich vergeblich bemühte, die Erde zu erwärmen, die noch fröstelte von all dem Sturm und Regen der letzten Tage.

Er befahl einen Wagen. Er fand es nicht angemessen, zu Pferde anzukommen.

In Mühlau einen Wagen zu erhalten, wenn man ihn nicht einen Tag vorher bestellte, war nicht so einfach. Der Wirt zum „Kronprinzen“ ließ sagen, daß der eine Knecht zur Kirche sei; das Gespann des Hotelomnibus könne er nicht hergeben; der Krümperwagen sei auch schon weg, den hätten Oberamtmanns; wenn Herr von Körlegg bis zwölf Uhr warten wollten, dann könnten Sie den kleinen Jagdwagen mit einem Pferde haben.

Achim fuhr seinem Burschen mehrmals ungeduldig mit Zwischenbemerkungen in seine lange Bestellung hinein. Warum er nicht gleich zum Wirt der „Stadt Berlin“ gegangen sei, der habe doch auch Fuhrwerk. Und er sei und bleibe ein Mensch ohne eigene Initiative!

Dann fiel ihm etwas auf: Oberamtmanns hätten den Krümperwagen? Wozu? Wohin?

„Ist bei Küps schon auf?“ fragte er nach kurzem Besinnen.

„Eben noch nich. Aber nu woll,“ antwortete der Bursche, „es schlug grade Glock Elf, als ich in die Hausthür kam. Und Küps macht immer gleich auf, wenn die Predigt aus ist.“

Achim griff nach seinem Portemonnaie. „Hier, Stören, holen Sie gleich bei Küps alles für mich zum Abendbrot. Und für sich können Sie ein Dutzend Cigarren mitbringen – Sie wissen – von Ihrer Sorte. Und dann lassen Sie sich von Küps erzählen, wohin Oberamtmanns gefahren sind. Fangen Sie das aber ’n bißchen helle an – verstanden?“

„Herr Leutnant können sich ganz auf mir verlassen,“ sagte Stören und trat ab.

Achim verbrachte eine unruhvolle Viertelstunde.

Jede Verzögerung, welche die Ausführung seines Vorsatzes erlitt, schien ihm von übler Vorbedeutung.

Es giebt Ereignisse, die keinen Aufenthalt vertragen, die unaufhaltsam vorwärts stürmen müssen, die in atemloser Jagd zu verfolgen sind. Jedes Besinnen – jedes Stillstehen hemmt vielleicht für immer ihren Vollzug.

Endlich kam der Bursche wieder. „Da war bloß gekochter Schinken, Herr Leutnant,“ sagte er.

„Mensch,“ sprach Achim verzweifelnd, „ich will ja wissen, wohin der Oberamtmann Deuben gefahren ist.“

„Ach – bloß nach Heinersdorf, nach seinen Sohn,“ berichtete Stören, „sie, was die Oberamtmännin ist, auch. Herr Hauptmann von Hallendorf ist auch mitgefahren. Der Herr Leutnant Bläser und noch zwei Herren auch. Da wäre Geburtstag auf Heinersdorf, ich glaube, der Braut ihrer, sagte Küps, und den feiert der Bräutigam mit ’n großen Frühstück. Küps sagt, der Oberamtmann wäre immer nich so recht, er hätt’ es sehr in den Füßen. Darum ist die Festlichkeit nich abends. Abends soll noch auf Wendessen was los sein.“

„Es ist gut, und sagen Sie im ‚Kronprinzen‘, daß ich keinen Wagen brauche.“

[456] Weil Martha Voigtstedts Geburtstag von der Verwandtschaft und Freundschaft gefeiert wurde, konnte er nicht daran denken, lebenentscheidende Fragen zu lösen. Es war zum lachen!

Er kam in eine bittere ärgerliche Stimmung. Jede Stunde schien ihm so unnütz verlebt, die er nun nicht in kämpfender Erregung verbringen durfte.

Zum stillen Warten war sein Gemüt nicht aufgelegt.

Plötzlich kam ihm die Erkenntnis, daß das schlimm, sehr schlimm sei. Ein Gefühl, das fortan doch sein ganzes Leben ausfüllen sollte, war mit so viel Ruhelosigkeit verbunden, daß er immerfort eine Sensation brauchte?!

Nur nicht denken!

Er ging aus. Seine Wohnung, die ihn gestern abend wie ein Asyl umfangen hatte, war ihm unerträglich.

Auf der Straße traf er zwei Kameraden und die Kommandeuse. „Schon zurück aus Lugano?“

Für Mühlau war er in Lugano gewesen.

„Na Sie haben sich wohl himmlisch amüsiert!“

„Was sagen Sie denn, daß Lauenstein sich inzwischen mit Cäcilie von Müller verlobt hat?“

„Sie sind aber braun gebrannt, Körlegg, das steht Ihnen vorzüglich.“

„Gnädige Frau sind zu gütig.“

„Wir wollen heut’ nachmittag noch eine Tennispartie riskieren im Kasinogarten, ’n bißchen kalt ist es ja. Kommen Sie auch?“

„Jedenfalls,“ sagte Achim, „auf Wiedersehen also!“

„Auf Wiedersehen!“

Er kam an das Berliner Thor. Nur keine Bekannten mehr, dachte er.

Ein besonderes Gefühl trieb ihn, nach dem Bürgerpark zu gehen, wo er damals Sabine zum erstenmal wieder gesprochen hatte.

Die dürftige Anlage sah noch kahler aus als im Frühling.

Die um ihr Dasein mühselig im Sande kämpfenden Büsche hatten ihr weniges Laub widerstandslos fast ganz dem ersten Herbstregen preisgeben müssen. Unter den Akaziensträuchern lag es schon gelb von den kleinen Blättchen. Zäher und grün saß das Laub der Syringen an den Büschen. Jetzt schien die Sonne. Oben am blauen Himmel jagten vereinzelte schneeweiße Wolken einher. Hier unten war es fast windstill.

Der weiße Sand war wirklich warm. Man fühlte es angenehm an den Füßen. Die Bank auf dem runden Mittelplatz stand im vollen Sonnenschein.

Achim setzte sich dahin. Gedankenlos sah er zu, wie aus den Schornsteinen der roten, niederen Dächer der Hinterstraße Rauch aufwölkte.

Einmal ging eine Bürgerfamilie an ihm vorbei. Der Vater im Bratenrock und Cylinder, ein Töchterchen an der Hand. Zu beiden Seiten von deren Kindergesichtchen hingen so plump und sonderbar Korallenohrringe. Die Mutter in einem neuen Regenmantel und einem Capothut, auf dem ein steilragendes Schmelzbouquet mit allerlei blinkenden, baumelnden Pailetten stand, hatte an jeder Hand einen Knaben. Sie trugen Marineanzüge und auf ihren Mützenbändern stand zu lesen: S. M. S. Moltke.

Achim lächelte wehmütig. Im Glanz und Stolz ihrer besten Sonntagsgarderobe, in der Ordnung und Sauberkeit ihrer Erscheinung zogen sie vorbei, Befriedigung leuchtete von ihren Gesichtern. Das ganze Glück dieser Leute bestand vielleicht in dem Bewußtsein, gute, bezahlte Kleider ihren Nachbarn und Bekannten vorzuführen.

Der Mann grüßte. Nun erst sah Achim, daß es der Buchbinder war, bei dem er zuweilen arbeiten ließ und sein Schreibpapier kaufte. Er grüßte mit freundschaftlichem Wohlwollen wieder. Ihm war, als müsse er dem Mann zeigen: Du lebst in einfachen, gesunden, glücklichen Verhältnissen. Ich beneide dich. Ich achte dich.

Lange blickte er ihnen nach. So sah er, daß diese Bürgerfamilie eine Begegnung hatte. Sie sprachen mit einem jungen Mädchen und zwei Kindern. Die Buchbinderfrau gab den Kindern die Hand.

Sie waren weiß gekleidet. Das Mädchen trug einen großen Hut mit Rüschen und Volants und ein weißes Jäckchen. Und der Junge einen knappen, weißen, rauhhaarigen Paletot.

So kleidete nur Eine in der Stadt ihre Kinder. – –

Nun lösten sich die Gruppen voneinander. Das Mädchen und die Kinder kamen auf die Anlage zu.

Achim sah ihre Gesichter.

Es waren Leo und Milly. Sabinens Kinder!

Diese Kinder, an die er nicht mehr zu denken gewagt hatte, seit Tagen. – –

Achim blieb auf der Bank sitzen und wartete auf ihr Herannahen. Er fühlte, daß er keine Kraft habe, aufzustehen.

Ich werde mit ihnen sprechen, dachte er.

Sie kamen näher. Mit ihnen war Lisbeth, die an keinem Mann in Uniform vorbeigehen konnte, ohne ihm einen koketten Blick zuzuwerfen.

Wie schön sie waren! Milly mit ihrem weißen Gesicht und übergroßen dunklen Augen sah ihrer Mutter so ähnlich. Es war unerhört, wie ähnlich! Sie schien ein bezauberndes kleines Ebenbild der schönen Frau. Wie lieb ihr Gesichtchen aus dem Rahmen von weißem Stoffgefältel heraussah!

Aber Leo – – hatte Achim ihn früher nie so genau angesehen? Hatte der Knabe sich verändert? Das waren nicht Sabinens Züge, das war ein fremdes Gesicht. Die Züge Eines, den Achim auch gekannt! Das Gesicht Eines, den er tot hatte auf dem Rasen liegen sehen. – – –

„Guten Tag, Kinder,“ sagte er mit Anstrengung, „wollt ihr mir nicht ein Händchen geben? Guten Tag, schönes Fräulein,“ setzte er mit einem Blick auf Lisbeth hinzu.

Nun war Lisbeth überzeugt, daß die Anrede ihr gälte. Wohlgefällig lächelnd blieb sie stehen.

„Gieb doch die Hand, Milly! Leo, man nimmt die Mütze ab. Du siehst doch, daß der Herr ein Offizier ist!“

„Onkel Benno ist auch Leutnant,“ sagte Milly und guckte Achim an.

„Ich kenne deinen Onkel Benno,“ erzählte Achim.

„Nee – so was! Komm, Millychen, gieb’s Händchen,“ mahnte Lisbeth.

Sie schob Milly heran. Das Kind berührte Achims Knie.

Er legte seine Rechte auf die Schulter der Kleinen, beugte sein Haupt und sah tief, tief in die großen, dunklen Kinderaugen, die ihn anstaunten.

Seine Stirn war feucht.

Er wollte das süße, erstaunte Kindergesicht küssen.

Er wagte es nicht. Er konnte es nicht.

Es war, als ob eine Gewalt, die er nicht sah, die er aber mit lähmendem Schreck fühlte, ihn davon abhielt.

Und es war doch Sabinens Kind, es war Sabinens schönes, unergründliches Angesicht. Nur mit dem Rätselzauber der Kinderunschuld übergossen.

„Liebe Milly, süßes Kind,“ flüsterte er. Und er zwang es sich ab und der Trotz in ihm wallte auf. Er wollte!

Seine Lippen berührten die Stirn des Kindes. Mit kurzem, stürmischem Druck zog er das kleine Körperchen an sich.

Da ängstigte Milly sich, riß sich los und klammerte sich an das Kleid des Mädchens.

„Und du, Leo?“ fragte Achim mit bebender Stimme, „willst du mir nicht Guten Tag sagen? Ich habe deine Mama gesehen, sie läßt dich grüßen.“

„Ach Mama!“ sagte der Knabe mit beglücktem Lächeln. „Wo hast du sie gesehen, Herr Leutnant? Bringt sie mir auch wirklich eine Festung und Soldaten mit?“

Er kam heran. Er war ganz zutraulich und neugierig.

Achim hielt ihm die Hand hin. Ohne Zögern legte der Knabe seine kleine, sonnverbrannte Hand in die große des Mannes.

Sie sahen einander an. Die Blicke des Mannes durchforschten das Kindergesicht.

Und unter diesen fragenden, forschenden Blicken wandelte sich ihm das Knabenangesicht.

Es alterte rasch. Es wurde das Antlitz eines Jünglings, eines Mannes. Und es glich zum Entsetzen dem des Toten! Und der Mund lächelte nicht mehr kindlich und neugierig, sondern er sprach furchtbare Worte: „Wie – du hast meinen Vater [458] erschossen und hast doch meine Mutter geküßt? Und du hast dich in mein Herz gestohlen, als ein Dieb und ein Betrüger? Als meinen Vater hab’ ich dich gekannt und geliebt, und du bist es, der meinen eigenen, wirklichen Vater getötet hat?! Du hast mich, als ich ein unwissendes Kind war, auf deinen Knien gehalten. Mich, dessen Erzeuger deine Kugel traf?! Und du hattest die Stirn, am selben Tisch mit mir dein Brot zu essen! Den Mut, meine Mutter zu lieben! Die Gewissenlosigkeit, uns zu lehren, daß wir dich ehren sollen! Du hast eine Familie mit uns gegründet – du – zwischen dem und uns ein Grab liegt! Ich hätte dir verzeihen können, denn ich weiß, daß du kein Mörder bist und selbst gelitten hast, mehr vielleicht als wir. Aber da du den Platz einnahmst, den sein Tod frei gemacht, den Platz neben meiner Mutter, den in unserm Herzen – dafür muß ich dich hassen, verachten, mich rächen!“

Waren es nur Sekunden, die verrannen? Nur ein paar Herzschläge lang rückte die Zeit? – –

Keuchend, bleich – entsetzt saß der Mann und starrte dem Knaben in das Antlitz.

Und dennoch – dennoch wollte er’s von sich erringen. – –

Er neigte sein Haupt. Seine Lippen näherten sich der Kinderstirne. – –

Da äffte ihn ein Spuk. Und über dem frischen, jungen Knabenangesicht sah er ein anderes, fahles, starres! Und aus hohlen Augen sah ihn Jener an, der durch ihn gefallen. Und eine fürchterliche Stimme donnerte ihn an: „Niemals!“

Er sank zurück, in sich zusammen. Seine Hand machte eine abwehrende Bewegung, dann legte er sie vor seine Augen.

Das Mädchen, erschreckt über dies Gebahren und die plötzliche Todesblässe des Mannes, riß die Kinder fort. Die Kleine schrie.

Lange saß der Mann noch. Hoch über ihm zogen lustig schneeweiße Wolken am blauen Himmel einher. Die Oktobersonne spielte in dem kahlen Gezweig. Lässig trieb ein Lüftchen wirbelnd gelbe Blätter über den Boden. Fern auf einer durchsichtigen Pappelkrone lärmte ein Rabenvolk.

Und als Achim aufstand, da wußte er es: es war zu Ende. Zwischen ihm und Sabine konnte es keine Vereinigung geben!

Der wilde Traum war aus. Er war erwacht, und er sah das Grab wieder, über das hinweg er dem Weibe die Hand nicht reichen durfte. –

Wie er diesen Tag verbrachte, wußte Achim sich später niemals in die Erinnerung zurückzurufen.

Am Abend saß er an seinem Schreibtisch. Auf seiner Stirn lag hoher Ernst, sein Mund war fest geschlossen. Es war das Antlitz eines Mannes, der sich aus heißen Kämpfen zu einem eisernen, unbeugsamen Entschluß emporgerungen.

Er schrieb:

  „Teure Sabine!

Als wir vor einigen Tagen schieden, verließ ich Dich, um die Entscheidung über unser Leben herbeizuführen.

Schneller und anders als ich dachte, ist diese Entscheidung gefallen. Und noch zur rechten Zeit! In allem Schmerz, den ich Dir bereiten muß und den ich selber leide, müssen wir das festhalten: Gottlob noch zur rechten Zeit!

Meine liebe, teure Sabine! Es ist eine Offenbarung über mich gekommen. Das Schicksal hat mir unschuldige, unbefangene Sendboten geschickt, holde Engel, die mich mit großen Augen anstaunten, Deine Kinder, Sabine! Deine eigenen Kinder! Die auch die des Toten sind! Und als ich ihnen in die Augen sah, als ich sie küssen wollte auf ihre reinen, jungen Stirnen, mit dem Kuß des künftigen Vaters, mit der Liebe eines Mannes, der ihrer Mutter Gatte werden soll – da, Sabine – da geschah etwas Furchtbares. Eine Hallucination schreckte mich. Der tote Mann schien sich hinter diesen seinen Kindern aufzurecken und mir den Kuß zu verbieten – mir jede Zugehörigkeit zu verweigern. Laß mich schweigen über das, was in mir vorging!

Aber ich habe erkannt, daß es Dinge giebt, über die auch das kühnste Gefühl nicht hinweg kann und auch nicht hinweg darf. Gewissen kann ich es nicht nennen – denn der Tod Deines Mannes wird mir vor Gott und Menschen nicht als Schuld angerechnet. Moral kann ich es nicht nennen – denn kein sündiges Verlangen war es, was uns zu einander zog. Aber dennoch … ich darf nicht Dein Gatte, nicht Deiner Kinder Vater werden.

Immer würde die Vergangenheit wie ein Gespenst neben uns sein. Und Dein Sohn würde uns richten, wenn er einst ein Mann geworden ist. Wenn Verstandesschlüsse, wenn Leidenschaft Dir und mir auch vielleicht das Recht gäben, uns trotz alledem zu verbinden: Deine Kinder dürfen wir nicht solchen Konflikten aussetzen.

Diese meine Erkenntnis ist unumstößlich!

Teure Sabine, für dies herbe, herbe Schicksal sind wir nicht verantwortlich. Und trotzdem stehe ich vor Dir als Einer, der Dich um Verzeihung anflehen muß. Ich hätte die Kraft und die Selbstüberwindung haben sollen, Dich niemals wiederzusehen, nach jenem ersten Augenblick, der mich ahnen ließ, daß ich Dir teuer bin.

Aus tiefster Seele bereue ich! Mehr kann ich Dir nicht sagen. Es ist ein hartes Wort für einen Mann.

Und in großer Sorge denke ich Deiner! Erscheine ich Dir als allzu schuldig? Vielleicht gar als ein Mutloser? Wirst Du leiden? Nein, nein – leide nicht zu sehr! Besinne Dich. Versuche gleich mir, die Lage nicht allein, sondern auch unser Gefühl mit klarem Blick zu prüfen. Zog uns wirklich eine große, ewige, unsterbliche Liebe zusammen? War es nicht vielleicht nur das wilde Feuer einer Leidenschaft? War es wirklich das Leben selbst? War es nicht vielleicht nur ein Traum von Sonne und Glück, wie ihn jene leicht träumen, die im Schatten stehen?

Man sagt immer, eine wahre Liebe, eine echte, elementare, aus geheimster seelischer Notwendigkeit geborene, die sei so stark, daß sie selbst den Tod überwindet!

Ich zweifle an der meinen, da ich sie scheitern sah. Oder ist das, was zwischen uns steht, so geartet, daß selbst die Kraft einer wahren Liebe daran zerschellen muß?

So sehe ich mich von Fragen und Qual umdrängt. Ich kann sie nicht lösen. Ich muß sie begraben.

Alles, was heiße Wünsche, was tiefe Dankbarkeit, was unauslöschliche Verehrung für Dich von Gott an Frieden und an Glück erflehen kann, ersehne ich für Dich. Denke an Deine Kinder. Lebe für sie!

Und wenn ich es wagen darf, Dich zu bitten, meiner zu gedenken: vergiß nicht ganz den Mann, der sich still und entsagend aus Deinem Leben schleichen muß! Denke seiner ohne Groll.

Ich küsse Deine lieben Hände in Ehrfurcht und Trauer.

Lebewohl.   Achim.“


10.

Es war in Rom und vier Tage später. Sabine stand vor ihrem Spiegel und kämmte ihr Haar.

Im Zimmer war lachendes Licht. Die Sonne kam herein und durchwärmte es und füllte es ganz mit Helligkeit. Das große, weißverhangene Bett stand mitten darin. Auf dem Tisch blühten in einem Glase blasse Herbstrosen. Auf dem Sofa lag ein buntseidener Shawl. Auf der Kommode stand eine große Terracottanachahmung des Sterbenden Fechters vom Kapitol; gestern hatte Onkel Fritz ihn für Sabine gekauft.

Und Sabinens Gesicht leuchtete vor Schönheit und Lebensfreude. Nur aus Gewohnheit stand sie vor dem Spiegel, weil man da beim Haarordnen nun einmal zu stehen pflegt. Sie sah sich gar nicht. Ihre Gedanken waren weit in der Welt draußen, weit über den Alpen. Bei ihm – bei ihm!

Heute kommt ein Brief. Der erste! Sie wußte es ganz genau. Sie hatte sich seine Heimreise, seine ersten Stunden daheim, dann die Postverbindung genau ausgerechnet. Daß er ihr gleich am ersten Abend schreiben würde, war gewiß. Ja, heute kommt ein Brief. Und er kam auch. Susanne brachte ihn.

„Hier ist eine Postkarte von deiner Mama. Den Kindern geht es gut. Und den Geburtstag von Reinalds Braut sollst du nicht vergessen. Natürlich ist der schon vergessen. Der war ja am Sonntag. Deine Mama hätte früher daran erinnern sollen,“ sagte Susanne.

„Sonst nichts?“

„Doch. Ein Brief aus Mühlau,“ sprach Susanne mit gekünstelter Gleichgültigkeit. Sie hatte gesehen: es war ein A. v. K. [459] hinten auf dem Couvert. Aber sie schwiegen über den Namen und den Mann. Seit jenem Abend in Venedig war ein stiller Trotz zwischen ihnen.

„Gieb her. Du weißt recht gut, von wem er kommt.“

„Ja leider!“

Sabine riß ihr den Brief aus der Hand. Der Umschlag flog zur Erde – mit bebenden Fingern – ein seliges Lächeln auf den Lippen, entfaltete sie die Bogen.

Und dann ein Laut – –

„Mein Gott – was ist das? Was hast du?“ rief Susanne und sah der Andern entsetzt zu.

Die stand da, fahl, zitternd, vornübergebeugt, und las und las – – Und dann taumelte sie und Susanne sprang herzu und brachte sie in die Sofaecke. Da saß sie – vor Frost bebend – mit blöden Blicken und murmelte: „Aus – aus – aus.“

„Sabine – liebe, liebe Sabine! Was hast du? Fasse dich doch! Was ist passiert?“

Sie weinte beinahe vor Angst.

„Lies!“ sagte Sabine heiser.

Susanne nahm den Brief aus den kalten Fingern, die ihn mechanisch umklammert hielten. Sie las.

Auch aus ihren Wangen wich die frische Farbe. Weinend kniete sie neben der Unglücklichen nieder.

Sie wußte wohl: da war kein Trost, keine Hilfe, keine Hoffnung! Aber in diesem Augenblick hätte sie ihr die Möglichkeit, doch noch jenes unerreichbare Glück zu erlangen, herbeizaubern mögen. Vom Himmel oder aus der Hölle – nur wiederkommen sollte es.

Wie konnte Sabine noch weiterleben, wenn sie ihn verloren hatte! Sie würde sterben, den Verstand verlieren, sich ein Leid anthun!

In dem Kopfe des jungen Mädchens entstand eine heillose Angst und Verwirrung. Sie umklammerte Sabine, bedeckte ihre Wangen mit Küssen, flehte sie an, sich zu fassen.

„Mein Leben wollte ich ja dafür hingeben, um ihn dir zu erkaufen. Aber es ist ja wahr – es kann ja nicht sein – es wäre gegen Natur und Menschlichkeit gewesen – liebe, süße Sabine – – “

Mit einem Mal fuhr Sabine auf. Sie reckte sich empor. Ihre Augen flammten.

Und dreimal sagte sie es: „Ich hasse ihn! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“

Das letzte Mal klang es wie ein fürchterlicher Schrei.

Susanne entsetzte sich. Sie fürchtete sich vor dem blassen Weib, das da stand, ein dämonisches Licht in den Augen …

Ihr junges Herz wußte noch nicht, was dieser Schrei des Liebeshasses bedeutete.

Sie wußte nicht, daß er vielleicht nichts war als ein Verzweiflungsruf der aufs höchste gesteigerten Liebe; vielleicht nur die blinde Abwehr einer stolzen Seele gegen das Joch einer hoffnungslosen Leidenschaft.

„Sabine!“ rief sie jammernd, „wie kannst du!“

Mit heftigen Schritten ging die andere hin und her, einer gefangenen Tigerin gleich, schnell, lautlos, rastlos, mit funkelnden Augen.

„Denke doch auch an ihn!“ flehte Susanne, „gewiß, er leidet.“

„Er leidet?!“ rief Sabine voll Hohn und blieb stehen. „Hast du nicht gelesen: ‚Zog uns wirklich große, ewige Liebe zusammen? War es nicht bloß Leidenschaft? Nicht bloß ein Traum?‘ – Weißt du, was das heißt? O, ich will es dir sagen! So fragt er, um die schnöde Wahrheit in zarterer Form zu sagen. So fragt er, mich mit hineinbeziehend, weil er nicht sagen kann: ,Ich, ich der Mann, ich habe nur eine flüchtige Leidenschaft für dich empfunden, nur meine Sinne waren entbrannt, nicht mein Herz‘. Und nun ist er erwacht, fern von mir sogleich erwacht! Sein Gefühl war bloß ein Echo. Ein armseliges Echo!“

„Aber das ist doch nicht möglich,“ stotterte Susanne heraus.

„Nicht möglich? Bei einem Manne etwas nicht möglich?“ Sabine lachte laut.

Sie richtete das Haupt voll Hochmut auf und begann von neuem ihre Wanderung.

„Geliebtes Herz,“ sprach Susanne, in dem verzweifelten Wunsch, die Arme zu beruhigen, „ich verstehe ja nicht alles. Verzeih mir, wenn ich dumme Sachen sage. Aber wie kannst du ihn so schmähen und so verachten! Gestern war er dir noch ein Gott. Besinne dich doch! Du sprichst, was dein Herz nicht billigt. Er hat schwere Kämpfe durchgemacht. Er handelt aus tiefster Erkenntnis. Ja, ich muß es sagen: er handelt wie ein Mann, der wohl irren konnte, aber einen Irrtum nicht zur That werden lassen will.“

„Wie ein Mann!“ rief Sabine in bitterem Spott. „Und bereut?! Hast du gelesen: er bereut! Ah, das ist ein feiges Gefühl. Das ist klein. Wie kann man bereuen? Vorher sehe man den Dingen in das Angesicht! Und wenn sie mich mit drohenden Augen wieder anschauen, wenn sie mich in Elend und in Schuld locken – einerlei! Ich habe gewollt! Ich habe gewußt! Ich will es tragen! So denkt ein starker Mensch. So denke ich. Ich war bereit, allem zu trotzen. Der Welt! Und der Erinnerung. Selbst meinem Sohn, wenn er eines Tages mich richten wollte! Und Er! Der Mann – er bereut!“

Susanne schwieg.

Ein ungeheures Schauspiel that sich vor ihr auf. Sie sah in das Elend und in die Geheimnisse der Leidenschaft hinein. Und ihre Seele erzitterte.

Sie fühlte, daß ihre junge Weisheit hier nicht ausreichte, zu trösten und zu raten.

Und immer ging Sabine noch rastlos hin und her, königlichen Stolz in der Haltung, Todesblässe auf den Wangen. Ein beleidigtes Weib, das sich aufbäumte, im Gefühl der Riesengröße seiner Liebe verachtend auf den herabsah, der sich nicht an dieser Liebe ebenbürtig aufzurecken vermocht hatte.

Das leise Weinen Susannens drang an ihr Ohr. Sie blieb stehen.

„Warum weinst du?“ fragte sie herbe, „du hast ihn nicht verloren. Du ihn nicht geliebt!“

„Oh!“ sagte Susanne abwehrend und erhob ihre Hände wie zum Schutze gegen etwas, das ihr körperlich gefahrbringend nahte.

Plötzlich stand die Andere dicht vor ihr.

„Was war das für ein Ton?“ herrschte sie die Zitternde an, „du liebst ihn? Deine Miene sagt es. Du liebst ihn. Ja, du liebst ihn!“

Susanne trat einen Schritt zurück und versteckte ihr Gesicht in den Händen.

„Nicht so etwas sagen – nicht – nicht,“ rief sie angstvoll.

Sabine wandte sich ab. Ach, das war ja auch so gleichgültig! Ob das Kind ihn liebte oder nicht – – was wußte das von Liebe? – – Nach zwei Minuten hatte sie es schon vergessen, daß ihr überhaupt der Verdacht gekommen war.

Brütend saß sie am Fenster. Die lachende Sonne kam herein und glühte über das dunkle Haar hin. Lärm und Fröhlichkeit war draußen auf der Straße. Der blaue Himmel lockte – und es war der Himmel Roms. Aber Sabine sah nichts und hörte nichts. Plötzlich war alles Leben in ihr wie erloschen, aller Haß verglüht, aller Hohn verdorrt. Die Flamme der rasenden Schmerzensleidenschaft war in sich zusammengesunken.

Nur das unaussprechliche Elend war geblieben. Das dumpfe, ungläubige Staunen: es kann ja nicht sein.

Und wieder bat Susanne: „Faß dich!“

Aus hohlen Augen sah die Andere zerstreut zu ihr auf.

Sie solle doch bedenken … was der alte liebe Onkel Fritz sagen werde … wie es doch nötig sei, sich zu beherrschen, sich wenigstens Mühe zu geben, des lieben Alten wegen ….

Sabine sah sie an und schien nichts zu verstehen. Und wie Susanne immer weiter und immer dringlicher sprach, schien sie doch zuletzt zu erwachen.

Mit einer tonlosen, müden Stimme sagte sie:

„Geh’ zu ihm. Sag’, ich sei krank. Sag’, ich müsse allein sein. Heute. Immer. Mein ganzes Leben. Allein … allein.“

Schwer sank ihr Haupt, und sie verbarg es auf ihren verschränkten Armen am Fenster.

[485] Wochen vergingen. Der Oberamtmann Deuben und seine Frau wunderten sich, daß Sabine nur ab und zu noch kurze Karten schrieb, auf denen dann nichts zu lesen stand, als daß es in Rom oder in Neapel, oder in Florenz sehr schön sei, daß man dann und dann angekommen sei, an diesem und jenem Tag weiter zu fahren gedenke und daß die nächste Adresse so und so heiße.

„Sie vergißt in all dem Vergnügen ihre alten Eltern,“ sagte der Oberamtmann zu seiner Frau.

„Ja, ja, dieser allzu generöse Onkel Fritz verdirbt uns das Kind völlig für Mühlau. Eben schien sie sich in die Verhältnisse zu schicken. Ich sagte gleich, ich hielte die Reise für Unsinn.“ Sie schenkte ihrem Mann gerade den Kaffee ein.

Vor Erstaunen über eine derartige Behauptung legte der Oberamtmann sein Kreisblatt hin.

Du, Alte! Du hättest gesagt, du wärest gegen die Reise?! Im Gegenteil, du warst Feuer und Flamme dafür. Ich äußerte gleich meine Bedenken. Wenn man doch nun mal bestimmt ist, Pförtner zu sein, muß man nicht Glöckner spielen wollen, sagte ich noch. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, sagte ich noch, und wenn ich nicht weiß, wie es in Rom aussieht, bin ich auch in Mühlau zufrieden.“

„Das kenne ich schon bei dir. Nachher willst du es immer gewesen sein, der den weiten Blick gehabt hat,“ sagte sie, ohne sich übrigens zu ärgern. Denn ihr Ueberlegenheitsgefühl gab ihr immer eine gewisse epische Ruhe.

Sie strich sich ein Butterbrot mit einer Sorgfalt, die den Alten reizte.

„Na ja, und wer hat ihn denn auch noch stets bewiesen?“ fragte er aufpochend. „Schon damals, als Sabine sich verlobte, sagte ich, daß sie warten solle: sie ist jung, sie hat ja keine Eile. Aber ihr Weiber könnt ja nicht! Das ist förmlich, als ob ihr von der Tarantel gestochen wäret. Als wenn ’n Ruhm drin läge, die Tochter früh unter die Haube zu bringen. Und habe ich nicht recht gekriegt? Wollt’ Gott, ich hätt’ es nicht. Aber so sehr glücklich ist sie doch wohl nicht ausgefallen, die Ehe.“

„Das konnte ich nicht vorher wissen, daß Zeuthern im Duell fallen würde,“ sagte sie und biß in ihr Butterbrot.

Gegen die schlagende Logik dieser Erwiderung fühlte Deuben sich machtlos. Er war so verblüfft über dieselbe, daß er nicht bemerkte, wie sie eigentlich nur schief auf seine Rede paßte.

Da er zwei Sekunden schwieg, sah die Frau sich als Siegerin an und sprach milde weiter: „Es ist ja auch nicht unsertwegen. Wir wissen ja doch, daß unser Kind liebevoll an uns denkt. Aber was soll man erzählen? Heute abend werden Turibius und Kolvater wieder fragen.“

„Ja, es ist wirklich peinlich,“ seufzte der Mann.

In den ersten vier Wochen hatte [486] Sabine so glückliche, ausführliche, schöne Briefe, voll von Beschreibungen, geschickt. Sie genossen alles förmlich mit. Und es war auch eine große Genugthuung, diese Briefe an den Trioabenden vorzulesen. In Mühlau gehörte es noch nicht zu den alltäglichen Ereignissen, daß man eine vielwöchige Reise nach Italien machte. Turibius und Kolvater hielten die ganze Stadt auf dem Laufenden über die Reise der schönen Frau von Zeuthern.

Die große und etwas prahlerische Mitteilsamkeit, welcher sich der Oberamtmann und seine Frau hingegeben hatten, rächte sich nun.

Fast mit Unbehagen sahen sie dem heutigen Trioabend entgegen. In der vorigen Woche hatten sie davon gesprochen, daß „Sabinens Briefe zu Reinald hinausgeschickt worden seien.“ Das Mal vorher war von „Postunordnungen“ die Rede. Was sollte man heute sagen?

Sklaven der Kleinstadt, wie sie waren, fürchteten sie gleich immer: „man könne etwas denken!“ Und seufzend setzte sich die Oberamtmännin an ihr Klavier, um noch vorher ihren Part durchzuspielen.

Der alte Mann nahm seinen Beobachterposten am Fenster ein.

Ein Weilchen klang der Klaviervortrag, einer stammelnden, unvollkommenen Sprache gleich, durch das Zimmer. Die Oberamtmännin zählte laut. Auch ihre vieltaktigen Pausen.

„Bei Küps läuft es heute mal wieder toll,“ sagte der Alte, „seit ich hier sitze, sind schon an die fünf oder sechs Kunden dagewesen.“

Antwort verlangte er nicht auf seine Bemerkungen.

„Donnerwetter! Crolpa seine Frau mit’n Federhut. – Herrjes – ’n neuen Wintermantel hat sie auch!“

Den mußte die Oberamtmännin sehen. Sie eilte ans Fenster. „Ja. Wahrhaftig schon wieder. Alle Jahr einen! Na, wenn Crolpa es kann! Wo sie wohl hin will?“

Und Kopf an Kopf sahen die beiden Alten der Frau des Ackerbürgers Crolpa nach, ihre Stirnen neugierig an das Fensterglas drückend.

Drüben trat eben der Postbote aus Küps’ Hausthür.

„Na nu – Buller hat sich woll verspätet heute. Haben Sie was, Buller?“

Der Briefbote konnte das natürlich nicht hören, aber er guckte von freien Stücken herauf, sah den Oberamtmann und nickte verheißend.

„Er kommt über die Straße. Er hat was,“ sagte die Frau und ging ihm bis auf den Flur entgegen.

Eine Postkarte lesend, kam sie langsam wieder herein und trug im Gehen das Gelesene laut vor: „Liebe Mama! Wir sind soeben auf unserer Rückreise in Genua angekommen. Es ist hier sehr kalt und windig. Daß es Euch gut geht, freut mich. In kurzer Zeit sind wir wohl zurück. Ich telegraphiere noch. An Papa viele Grüße.   Deine Sabine.“

Obgleich es vorgelesen war, reichte die Oberamtmännin die Karte noch ihrem Mann. Er setzte den Kneifer auf und las nochmal selbst.

„Ja,“ sagte er, „richtig aus Genua.“

Sonst war ja auch eigentlich nicht viel zu der Karte zu sagen.

„Daß es da aber kalt ist! Das müssen wir doch Kolvater erzählen.“

„Und hier ist noch was!“

„Was denn? Auch ’n italjänsche Freimarke! I, und ’ne fremde Schrift!“

Anstatt den Brief zu öffnen, zerbrachen sie sich noch einige Minuten den Kopf, wer ihnen aus Italien schreiben könne, denn Onkel Fritz oder Susanne hatten doch keine Veranlassung dazu.

„Na, woll’n mal sehn,“ meinte der Alte schließlich, öffnete, entfaltete den Bogen und las zunächst am Ende die Unterschrift: „Fritz Osterroth.“

„Siehst du. Das sagte ich gleich!“

„Aber keinen Ton hast du davon gesagt.“

„Lies nur, lies nur,“ drängte sie, doch noch mehr neugierig als rechthaberisch.

  „Hochverehrter Herr Oberamtmann!

Sie waren so gütig, mir Ihre Frau Tochter bis zum ersten November anzuvertrauen. Nun ist es schon der fünfzehnte geworden und wir befinden uns immer noch in Italien. Auch tritt die Notwendigkeit an mich heran, Ihnen zu gestehen, daß ich Ihnen Ihre teure Sabine nicht so frisch und wohl zurückbringe, als meine herzliche Hoffnung war, es zu können.

Die ersten vier Wochen unserer Reise vergingen in Fröhlichkeit und Gesundheit. Es beglückte mich, damals zu sehen, wie herrlich Ihre Frau Tochter aufblühte, wie eifrig und klug sie alles in sich aufnahm, was uns die Gegenden und die Städte, welche wir sahen, Neues zeigten.

Aber in den allerersten Tagen unseres römischen Aufenthalts ward Ihre Frau Tochter von einem heftigen Malariaanfall betroffen. Zwar ist diese Krankheit ganz verschwunden und ihr Zustand völlig fieberfrei. Allein eine nervöse Depression ist doch zurückgeblieben. Immer hoffte ich, daß der Wechsel der Scenerie günstig einwirken werde. Allein, in völliger Teilnahmlosigkeit hat unsere liebe Sabine Rom, Neapel, Capri u. s. w. an sich vorbeiziehen lassen.

Meine Hoffnung, daß sich Stimmung und Zustand bessern möchten, verführte mich, Ihnen dies bis jetzt zu verschweigen. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, wenn die Dinge besser werden konnten, ohne Sie erst in Mitleidenschaft zu ziehen.

Lassen Sie mich Ihnen aber aufs nachdrücklichste sagen, daß von einer Gefahr nicht die Rede ist. Es handelt sich um die Nerven. Man nennt das für gewöhnlich: nur Nerven. Dieses ‚nur‘ ist mir immer ein Aergernis. Denn mit kranken Nerven leiden wir mehr und machen andere mehr leiden als mit akuten, organischen und in bestimmter Zeit wieder heilenden Erkrankungen.

Ich habe unserer teuren Sabine vorgeschlagen, den Winter an der Riviera zu verbringen. Zwar hat meine Susanne es sich vorgesetzt gehabt, bereits für den ersten Januar eine Stellung zu suchen, wo sie ihre so eifrig erworbenen Fähigkeiten verwerten kann. Aber sie ist bereit, die Ausführung ihrer Pläne bis Ostern zu verschieben, um sich ganz ihrer geliebten Freundin zu widmen. Und auch ich dachte daran, nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin, der für meine Angelegenheiten nötig wäre, mich den jungen Damen zuzugesellen. Allein Ihre Frau Tochter hat es abgelehnt. Mir scheint, sie fürchtet, Ihre Billigung dazu nicht zu erhalten.

Sodann habe ich vorgeschlagen, daß Sabine für den Winter mit ihren Kindern nach Berlin übersiedeln möge. Vergeben Sie mir die Offenheit, allein es erscheint mir unmöglich, daß eine junge Frau, deren Nervendepression an Schwermut grenzt, in dem stillen Mühlau leben soll.

In Berlin haben wir alles: hervorragende Aerzte, Stille, Anregung. Jedem Bedürfnis kann jeden Augenblick entsprochen werden. Und ich würde mich ganz und gar und in jeder Beziehung in den Dienst Ihrer Frau Tochter, meiner lieben Nichte, stellen.

Zu diesem meinem zweiten Vorschlag hat Sabine sich nicht ablehnend verhalten. Er schien ihr zu gefallen. Sie erwog ihn. Aber sie erwähnte öfters Ihrer und scheint zu glauben, daß Sie dagegen sein würden.

In jedem Falle, meinte sie, müßte ich dies mit Ihnen mündlich besprechen. So habe ich mich denn entschlossen, Ihnen Frau Sabine selbst zu bringen. Aber ich schreibe Ihnen dies vorher, hinter ihrem Rücken, um Sie dringlich zu bitten, Ihre Vorurteile gegen eine derartige Uebersiedelung Sabinens nach Berlin zu überwinden.

An meiner ernsten Teilnahme für Ihre Frau Tochter werden Sie nicht zweifeln; ich bitte Sie, auch nicht an meinem Verständnis für ihr Leiden zu zweifeln. Und aus Teilnahme und Verständnis heraus sage ich: Sabine kann nicht in Mühlau leben.

Ich bitte Sie, mir den Empfang dieses Briefes mit einem Wort nach München, Hotel Vier Jahreszeiten, bis zum 20. November zu bestätigen. Am 22. d. mit dem Mittagszuge kommen wir in Mühlau an.

Mit den verehrungsvollsten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin bin ich

  Ihr ergebenster

  Fritz Osterroth.“

[487] Nachdem dieser Brief gelesen und wieder gelesen worden war, brach die Oberamtmännin in Thränen aus. Der Oberamtmann saß konsterniert.

Im Zimmer wurde es dunkel. Guste kam mit der Lampe und fand ihre Herrschaft in sichtbarer Aufregung.

„Sind Sie krank, Frau Oberamtmann?“ fragte sie.

„Denk dir, Guste, Frau von Zeuthern ist sehr elend,“ schluchzte die Oberamtmännin.

„Aber, nee – so was! Zu’s Verjnügen ausjereist und denn krank!“ sagte Guste mehr objektiv als teilnehmend.

„Wo sind die Kinder?“ fragte der Oberamtmann seufzend.

Sein Herz war voll Mitleid und erhöhtem Verantwortlichkeitsgefühl, als er in diesem Augenblick der Kleinen dachte.

„Hinten. Lisbeth schneid’t sie Schlitten aus alte Spielkarten. Davon sind sie so still.“

„Alte,“ sagte der Oberamtmann, „ich hab’ eine Idee. Guste könnte mal eben nach Sebold längs laufen und ihn herbitten. Um diese Zeit ist er ja meist zu Hause.“

„Ach ja. Nicht wahr, Guste? Es sind nur fünf Minuten,“ sprach die Oberamtmännin fast bittend, denn sie wußte, wenn Guste noch nicht ganz mit ihrer Küche fertig war, ging sie sehr ungern davon.

Aber diesmal brummte Guste nicht, sondern ging.

„Malaria, das ist natürlich eine Krankheit, die Sebold in der Praxis noch nicht vorgekommen ist. Aber er muß uns doch etwas darüber sagen können,“ bemerkte der Alte.

Die Frau war ganz klein und still und hörte nur zu. Wenn ernste Dinge vorfielen, kam doch so eine Art von Schutzbedürftigkeit über sie und sie ließ dann ihren Mann reden, war sogar manchmal überrascht, daß er Kenntnisse hatte, die sie nicht bei ihm vermutete, Urteile fällte, die ihr imponierten.

Während sie nun die Rouleaus herabließ und der Lampenglocke den grünen Schirm überstülpte, zündete sich der Oberamtmann seine Pfeife an und nahm seinen Abendplatz in der Sofaecke ein.

„Auch im Holsteinischen, in der Marsch kommt die Malaria vor,“ fuhr er fort, „und die meisten Afrikareisenden sterben daran. Die Menschen werden gelb und mager dabei. Klimawechsel ist das beste. Ich begreife Onkel Fritz nicht, daß er nicht stantepede mit Sabine zurückgereist ist.“

Die Oberamtmännin schloß resigniert ihr Klavier. Heute wurde nichts aus dem Triospiel. Das ahnte ihr schon.

„Na, du merkst doch, daß Onkel Fritz sehr gegen Mühlau eingenommen ist,“ sagte sie, „nicht mal jetzt will er sie hier lassen, wo sie doch soweit gut zu Wege war, solange sie hier war.“

„Er will sie nicht hier lassen?“ wiederholte der Oberamtmann; „da haben wir ja noch drüber mitzureden; bin ich der Vater oder ist er es? Laß man erst Sebold kommen.“

Und Doktor Sebold kam.

Nun saßen sie zu dritt um den runden Tisch, im friedevollen Licht der grünbeschirmten Lampe. Aus der Pfeife des Oberamtmanns kräuselte in leichter, gewundener Linie der Rauch auf. Die Finger der Frau bewegten sich emsig über einem halben Strumpf, und manchmal blinkten die Nadeln, wenn sie gerade durch den Lichtschein geführt wurden. Auch Sebold nahm gern eine Cigarre und ließ ab und zu sehr bedächtig die Asche in den kleinen Kupferbecher fallen, den die Oberamtmännin vor ihn auf die weiße Theeserviette gestellt hatte. Von der Straße herauf drang in großen Zwischenräumen zuweilen ein klapperndes Wagenrasseln oder das Klingeln einer Hausthür.

Und in dieser friedlichen, kleinbürgerlichen Stille saßen sie und sprachen sehr eingehend über Sabine und ihr Leiden.

„Ich bitte Sie, lieber Oberamtmann: eine nervöse Frau und Berlin!“ sagte Sebold.

„Nicht wahr!?“ fragte die Mutter, dazu nickend.

„Onkel Fritz meint ja aber, da ist alles: Stille, wenn man will, und Zerstreuung, wenn man will, und besonders Aerzte,“ bemerkte der Oberamtmann mit einem humoristischen Zwinkern seiner Augen.

„Die Berliner Aerzte!! Na …“ sagte Sebold mit einem schnellen Augenaufschlag zum Plafond hinauf, wo so freundlich der weiße vibrierende Lichtkreis stand, den die Lampe hinaufsandte.

„Man liest ja immer viel,“ sprach der Oberamtmann.

„Reklame!“ betonte die Frau mit einer gewissen mitleidigen Verachtung.

„Jedenfalls gratuliere ich Ihnen im voraus zu der Rechnung, wenn der Herr Osterroth Ihre Tochter von einem Modearzt behandeln läßt,“ meinte Sebold. „Diese Herren sehen und sprechen einen Patienten eine Viertelstunde und wollen dann besser wissen, was ihm dient, als unsereiner, der den Patienten von Kindheit an kennt. Die Konstitution des Patienten genau kennen … das ist die Hauptsache!“

Sie sprachen hin und her und kamen zu dem Schluß, daß Mühlau ein unübertroffener Aufenthalt gerade gegen Malaria sei, ebenso für einen Nervösen. Das Klima war trocken, das Leben still. Dazu war Sebold hier, Sebold, der Sabine schon geimpft hatte und sie seit ihrem ersten Lebenstag kannte, denn auch draußen auf Heinsdorf war Sebold schon der treue Hausarzt der Familie Deuben gewesen.

Sie klammerten sich an das Klima und die Stille von Mühlau und an das Vertrauen zum Doktor Sebold, um das nicht auszusprechen, was außerdem sehr peinlich und ärgerlich ihre Gedanken bewegte.

Wie dachte sich Onkel Fritz das: in Berlin wohnen? Sollte Sabine auch da mit den Kindern sogar sein Gast sein? Das ginge denn doch über das hinaus, was man annehmen konnte.

Der Oberamtmann war im ganzen nicht fürs Nehmen. Geschenke empfangen ist manchmal ein teures Vergnügen, das nötigt zum Revanchieren. Sollte der Oberamtmann es bezahlen? Man brachte gern jedes Opfer für die Tochter, gewiß. Aber wenn man ein solches brachte, mußte man doch vorher wissen, daß das Geld nicht unnütz hinausgeworfen werde. Und sie versprachen sich nichts von Berlin, gar nichts.

„Ich als Mutter bin doch auch die nächste dazu, mein Kind zu pflegen, wenn es leidend ist,“ sagte die Oberamtmännin weinend und legte ihr Strickzeug hin, um ihr Taschentuch aus ihrer Kleidertasche hervorzusuchen.

Dabei brachte sie zwei kleine Aepfel heraus, die sie heut’ mittag in der Speisekammer für Leo und Milly eingesteckt, weil sie eben eine so drollige, kleine, ebenmäßige Façon hatten, darüber mußte sie nun durch ihre Thränen lachen.

Man kam auf andere Gedanken, und Sebold erzählte eine Geschichte von einer Dame, die einen Kondolenzbesuch machte, ihr weißes Taschentuch herauszog, um Mitleidsthränen zu trocknen, und dann sah, daß es ein dreieckiges Nachttuch ihres Mannes war, worüber alle vor Lachen fast gestorben waren.

Turibius und Kolvater erschienen und nahmen mit großen, lauten Anteilsworten und Gebärden die Nachricht entgegen. „Ach, das war ja ein Malheur ohne gleichen!“ – „Krank zu werden auf einer Vergnügungsreise!“ – „Gewiß hatte der alte Herr den Damen zu viel zugemutet; so ein Großstädter hat ja keine Nerven!“ – „Sie wird sich mit Essen verdorben haben. Die alte Oelkocherei in Italien, die ist nicht für jeden Magen!“

Noch einmal hielt Sebold einen Vortrag über Malaria, ihre Folgen und die beste Behandlung während der Rekonvalescenz. Dann empfahl er sich.

Auch Turibius und Kolvater wollten gehen. Etwas zögernd machten sie den Vorschlag, den sie für schicklich hielten.

„Aber nein,“ sprach der Oberamtmann mit Lebhaftigkeit, „das sehe ich nun nicht ein. Warum willst du dir die kleine Zerstreuung nicht gönnen? Sabine hilft es nicht, wenn du hier sitzest und weinst, und dir macht es doch mal Spaß, zu spielen.“

„Meinst du?“ fragte die Frau und sah in Zweifel und Wunsch die beiden musikalischen Freunde an. „Ich habe aber auch gar keine Brötchen vorbereitet über all der Aufregung.“

„Ih was, Guste deckt für uns alle vier heut’ mal im Eßzimmer auf. Die Herren nehmen vorlieb. Wir haben einen prachtvollen Schinken aus Heinsdorf bekommen. Und Guste ist ja groß in Rühreiern. Und was meinen Sie, Herr Musikdirektor, zu einem Grog nach dem Abendbrot,“ sagte der Oberamtmann wohlgelaunt.

[490] Die Oberamtmännin ging hinaus, sich schnell mit Guste zu besprechen, trat flüchtig bei den Kindern ein, ihnen zärtliche Gute Nacht-Küsse zu geben, und kam mit förmlich jugendlich roten Backen wieder zurück.

Bald klang die lächelnde Melodie des ersten Satzes eines Haydnschen Trios durch das Zimmer. Der Abend wurde noch sehr behaglich. Die gebeugten und geängsteten Geister richteten sich mit besonderer Lebhaftigkeit wieder auf, und nachher beim Grog erzählten der Oberamtmann und der Organist Geschichten aus alten Zeiten, wo es in Mühlau noch kein Gas und keine Garnison gab.

Am andern Tag sprach es sich in ganz Mühlau herum, daß Frau von Zeuthern an der Malaria erkrankt sei. Bei Küps im Laden wurde erzählt, daß sie nur noch wie ein Gespenst aussehen solle und im Krankenwagen zurücktransportiert werde, weil sie in den Armen ihrer Eltern sterben wolle. Man besprach bei dieser Gelegenheit noch gleich einmal wieder den Tod des Herrn von Zeuthern im Duell und daß Herr von Körlegg ausgerechnet nach Mühlau versetzt worden war. Auf einem Damenkaffee bei der Bürgermeisterin war davon die Rede, daß Malaria eine schreckliche, mit Ausschlag verbundene Krankheit sei, die durch Mangel an Salz entstehe. Eine heftige Meinungsverschiedenheit entbrannte zwischen den Damen. Frau Rechtsanwalt Meiners sagte, daß das eine ganz andere Krankheit sei, deren Namen sie nur im Augenblick nicht nennen könne, obgleich er ihr auf der Zunge liege – es sei auch so ein Wort mit „al“ darin. Der Friede konnte nur durch den neuen Brockhaus des Herrn Bürgermeisters wieder hergestellt werden, aus welchem die Bürgermeisterin laut den Artikel Malaria vorlas. Die Damen, welche dieser Krankheit so schrecklichen Ausschlag zugesprochen, waren beinahe enttäuscht. Man sprach über allerlei Fieber weiter, kam dadurch auf das Nervenfieber, an dem Frau von Müller gestorben war, und weiter auf die Verlobung des Fräuleins von Müller mit dem Leutnant Lauenstein, und war gerade bei den Schulden Lauensteins angelangt, als Frau Rechtsanwalt Meiners auf einmal schrie: „Ich hab’s, ich hab’s: Pellagra! Pellagra!“ –

Auch im Kasino wurde davon gesprochen, es war am Abend. Ihrer drei saßen um den Tisch unter der Gaslampe und spielten Skat. In der Ecke um den runden Tisch rekelten mehrere Herren und unterhielten sich schläfrig. Das ganze Zimmer war mit blauem Dampf angefüllt. Es war sehr heiß. Eine Ordonnanz ging ab und zu und brachte Bier.

Achim von Körlegg war unter den Skatspielern.

Hallendorf kam erst gegen 10 Uhr. Er hatte in der Stadt irgendwo Abendbrot gegessen und stand nun hinter Achim, seine langen Beine in gespreizter Stellung, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte in solcher Stellung eine unerträgliche Art, ohne sich vom Fleck zu bewegen, sich regelmäßig zu wiegen, vom Hacken zur Zehe, von der Zehe zum Hacken.

„Nett gewesen?“ fragte einer vom Tisch her.

„Nee. Langweilig.“ Er guckte Achim in die Karten.

„Was Neues?“ fragte wieder jemand.

„Nee. Meist wurde von der Geschichte mit Frau von Zeuthern gesprochen,“ sagte Hallendorf.

„Was für ’ne Geschichte?!“ rief Bläser.

„Herrjeses – hab’n Sie das denn heut’ mittag nich gehört?“ fragte Hallendorf. „Ach nee – Sie und Körlegg war’n schon weg. Natürlich ist die Hälfte der Räubergeschichten wieder mal glatt gelogen. Ich sprach Sebold vorhin, der weiß es genau.“

Achim gab gerade Karten herum. Er hörte jedes Wort.

Ihm war, als müßten ihm alle Kameraden ansehen, daß er die Farbe wechselte. Und seine Hände wurden ihm kalt.

Zum Glück wollten seine Mitspieler auch hören, was Sebold denn erzählt habe. Das Interesse für die „gnädige Frau“ war im Kasino beinahe Mode.

„Sagen Sie doch erst mal: was für ’ne Geschichte denn überhaupt?“ fragte Bläser ungeduldig. „Das muß neuesten Datums sein, ich war doch vorgestern bei Deuben auf Heinsdorf, und der sagte keinen Ton.“

„Die gnädige Frau sind unterwegs krank geworden. Malaria. Gleich den zweiten oder dritten Tag in Rom. Es soll schon ganz vorbei sein, bloß rasend nervös ist sie geblieben, beinahe melancholisch, sagte Sebold. Der alte Onkel, mit dem sie reist, hat es so lange verschwiegen. Aber nun mußte er damit ’rausrücken, weil sie wiederkommen. Andere Woche wohl. Und der alte Herr will sie absolut mit nach Berlin haben. Es scheint, der hat Geld wie Heu. Aber Oberamtmanns werden die Tochter nicht hergeben wollen. Sehr verständig! Die gnädige Frau sollte nur diesen Winter tüchtig tanzen und dann wieder heiraten. Das wäre das beste. Da vergehen den jungen Frauen die melancholischen Flausen.“

Ein paar Kameraden lachten und neckten Hallendorf, ob er sich noch immer einbildete, der rechte Arzt für die schöne Frau zu sein.

Dann sprach man weiter und spielte man weiter.

Achim war sich bewußt, mit keinem Wimpernzucken besondere Teilnahme verraten zu dürfen. Er wußte wohl, unter den Kameraden ging ein leises, leises Gerücht, daß er im Sommer einige Male mit Sabine gesehen worden sei. Er wußte auch, von Hallendorf selbst, daß man es so gedeutet: er, Körlegg, habe es sehr schwer genommen, daß durch ihn ein Mann gefallen war, der Weib und Kind hinterließ; er habe das Bedürfnis gehabt, sich zu vergewissern, daß man ihm nicht fluche. Und so zart war da wieder einmal die Kameradschaft, daß niemand daran rührte.

Die Wahrheit ahnte aber keiner!

So spielte er denn seinen Skat, nicht sonderlich schlechter als sonst, und sprach, nicht sonderlich weniger oder häufiger als sonst.

Aber als er allein heimgehen konnte, atmete er auf. Eine kalte, trockene Novembernacht umfing ihn und kühlte ihm das Gesicht.

Malaria! Er wußte, daß das nur ein Wort war. Er begriff, daß der alte Herr Sabinens Eltern etwas hatte hinwerfen wollen, daran sie sich halten konnten mit ihren Fragen und Gedanken. Leute, die wohnen und reisen und leben wie der alte Herr und die beiden Damen, bekommen nicht die Malaria. In den ersten Oktobertagen, gleich in Rom, hatte sie die Krankheit bekommen? Nein, da hatte sie seinen Brief bekommen!

Ob wohl der alte Mann mit der zarten, müden, leidvollen Seele nun alles wußte? Ob er mit seiner Fürsorge Sabine beschützte?

Als er in sein Zimmer trat, machte er Licht und holte, nach langer Zeit zum erstenmal wieder, Sabinens Bild heraus.

Er betrachtete es lange, tiefe Wehmut im Herzen, aber doch mit Ruhe.

Wie schön sie war!

Ob sie ihn wohl noch liebte? Oder haßte? Bei so leidenschaftlichen Frauen steht die Kraft zu beidem verhängnisvoll nahe bei einander.

Er durfte und er wollte nicht darüber grübeln. Es war zu Ende zwischen ihr und ihm – für immer.

Selbst das Mitleid und die Sorge durfte das leidenschaftliche Verlangen nach dem schönen Weibe nicht wieder auferwecken.

Aber der heiße Wunsch stieg in ihm auf, daß sie alles bald überwinden möge und sich in neuer Freudigkeit dem Leben zuwende. Und – dann seiner still gedenken möchte. Den wollte er nicht aufgeben – den kleinen verborgenen Platz in ihrem Gedächtnis! Denn auch er, er würde nie jene heißen Tage voll Verlangen und Wonne vergessen, jene Tage von Venedig. – –

Ihm war, als könne das Bild ihn verstehen. „Nicht wahr, Sabine,“ sagten seine Gedanken, „du wirst eines Tages wunschlos und in Milde meiner gedenken?“

Die Augen wurden ihm naß. Und er verschloß das Bild. Als er den Schlüssel abzog, war ihm, als habe er ein Begräbnis gefeiert, in stiller Einsamkeit der Nacht. – – –




Ob wohl Onkel Fritz alles wußte? Das war die Frage, die auch Sabine sich manchmal vorlegte, wenn sie sich aus ihrer müden Zerbrochenheit gewaltsam aufraffte, um für alle [491] Teilnahme und alles Schöne, das der alte Herr ihr zu bieten bestrebt war, doch dankbar eine blasse Anteilnahme zu zeigen.

Sie fragte Susanne, ob sie gesprochen habe, und Susanne sagte: „Nein.“ Sabine glaubte ihr, denn sie log sonst nicht, die absolute Wahrhaftigkeit war ein hervorstechender Zug ihres Wesens. Aber diesmal log Susanne doch, und zwar auf Geheiß von Onkel Fritz.

Wie hätte Susanne ihm gegenüber schweigen können! Man mußte so weltabgewandt, so ganz in sich selbst versunken sein wie Sabine, um das überhaupt für möglich zu halten. In einer so engen, kleinen Vereinigung, wie drei Personen zusammen auf Reisen sie bilden, kann nicht einer von diesen dreien in eine plötzliche, furchtbare Veränderung des ganzen Wesens verfallen, ohne daß die andern beiden auf den Grund der Dinge zu sehen trachten. Einen Tag lang glaubte Onkel Fritz an die „Unpäßlichkeit“, aber schon am zweiten Tag, als er Sabine wiedersah und sie beobachtete, sah er, daß eine seelische Qual sie marterte. Er stellte Susanne zur Rede. Da war etwas vorgefallen; man litt und man vertraute sich ihm nicht an, der vielleicht helfen könne?!

„Ach nein, Onkel Fritz, da kannst du auch nicht helfen,“ sagte Susanne in Thränen ausbrechend. Und sie erzählte alles, wie es gewesen und geworden, von jener ersten Begegnung der beiden am Grabe Zeutherns.

Der alte Herr hörte zu, den Ellbogen auf dem Tisch, die Hand vor der Stirn, so daß sie ihm die Augen überschattete. Susanne ängstigte sich sehr, Onkel Fritz möge böse werden, obschon sie sich eigentlich nicht erinnerte, ihn jemals heftig gesehen zu haben.

Reuevoll gestand sie ein, daß sie gleich damals bei der Begegnung im Manöver hätte sagen müssen: Herr von Körlegg ist der Gegner Zeutherns gewesen. Aber schon damals habe ihr das Bewußtsein, daß Sabine ihn liebe, die Zunge gelähmt.

Aber Onkel Fritz wurde nicht böse. Er streichelte Susanne das Haar und sagte merkwürdigerweise:

„Armes Kind – armes Kind!“

Darauf weinte Susanne von neuem und viel gramvoller, ohne zu wissen warum. Denn sie – sie hatte doch nichts verloren! Man kann doch nicht verlieren, was man nie besessen hat?!

Dann saß Onkel Fritz lange und sah vor sich hin. Sein Gesicht sah noch ein wenig stiller und bleicher aus als sonst. Aber endlich spielte doch das bekannte milde Lächeln, das Susanne so an ihm liebte, um seinen Mund. „Es war ganz recht so, daß ihr schwieget,“ sprach er dann, „die Leidenschaft soll nicht gleich zur Instanz der Weisheit laufen und sie um Rat fragen. Das muß durchgekämpft werden. So oder so. Wen es trifft, der halte Stand, zum Siegen oder Sterben. Flucht? Nein, Flucht giebt es da nicht. Die Leidenschaft mit ihrem rasenden Flug überholt ihr Opfer doch.“

Susanne stand in ehrfürchtigem Schweigen. Sie fühlte, daß er rückwärts denken mochte, an jenes geheimnisvolle Ereignis seiner Jugend, das sein Leben in Schatten getaucht.

Auch that es ihrem Herzen wohl, daß er die Leidenschaft als etwas ansah, dem man, wenn es über einen kommt, nicht kampflos zu entrinnen vermag. Das entlastete Achim vollends. Ja, er hatte standgehalten. Aber er hatte gesiegt über sich selbst.

„Nun müssen wir Sabine helfen – tragen helfen, meine ich,“ sagte der alte Herr, „du mußt ihr nicht eingestehen und auch auf Fragen nicht zugeben, daß ich eingeweiht bin. Eine Lüge, welche die einfachste Zartheit gebietet.

Sabine soll nicht vor mir erröten. Und wie ich sie kenne, würde sie es. Sie ist sehr stolz. Das liebe ich auch an ihr. Und gerade wenn ein so stolzes Herz mit so elementarer Gewalt einem Ziel zustrebte, ist der Rückschlag zumeist furchtbar.“

„Ich werde ganz gewiß über unser Gespräch schweigen. – Ach, Onkel Fritz, glaubst du nicht, daß sie allmählich vergessen und überwinden wird?“

Er schüttelte leise das Haupt.

„Nein,“ sagte er, „ich glaube überhaupt nicht an die Möglichkeit, daß man Erlebtes und Erlittenes jemals vergessen kann. Nur wechselt das: bald stehen wir über, bald unter unseren Erinnerungen. Unter Menschen, die großartig beanlagt, heiter, interessant sind, wachsen wir über das Erlittene empor, und es scheint uns nur die Prämisse gewesen zu sein zu erlangter Reife. Ebenso in einer großen und schönen Natur. Aber wo weder Menschen noch Natur unsern individuellen Bedürfnissen zusagen, wachsen in unserer Erinnerung unsere Erlebnisse zu Riesen empor, die mit Keulen unsern Lebensmut totschlagen.“

„Wie viel mußt du gelitten haben, um so alles zu erkennen,“ wagte Susanne leise zu bemerken.

Er machte eine kurze, unwillige Bewegung und sprach dann weiter: „Großartige Menschen können wir ihr nicht bieten. Aber große Natur. Wir wollen mit noch mehr Umsicht unsere Reisetage ausnutzen. Nur fürchte ich: es ist noch zu frisch, das Leid.“

Da konnte Susanne sich doch nicht mehr halten. Sie fiel ihm um den Hals und rief enthusiastisch:

„Du bist ein großartiger Mensch, du!“

Und er schüttelte lächelnd den Kopf.

Sabine wurde mit einer Sorgfalt behütet und gepflegt, die sie gar nicht einmal immer bemerkte.

Es schien geradezu, als habe der alte Herr nun einen Lebenszweck gefunden. Kein Vater konnte zärtlicher sein. Aber über das Väterliche hinaus war noch etwas anderes in seinem Wesen, etwas Ritterliches und doch zugleich Zurückhaltendes.

Einmal, als seine Art wie unendliche Wohlthat auf Sabine wirkte, rief sie aus: „Wie soll ich noch leben ohne Ihre mich so grenzenlos verwöhnende Gesellschaft!“

Und da nahm er die Gelegenheit wahr, ihr von einem Winteraufenthalt an der Riviera zu sprechen. Sie lehnte es rundweg ab. Sie durfte ihre Wünsche ja gar nicht erst befragen. Sie fühlte gleich, daß ihre Eltern nicht beistimmen würden. Auch glaubte sie, es würde den alten Herrn zu viel Opfer an Bequemlichkeit kosten. Außerdem war es undenkbar, die Kinder nachkommen zu lassen. Es schien aber unmöglich, diese für so lange zu verlassen.

Dann schlug der alte Herr Berlin vor, und Sabine zeigte einen förmlichen Fiebereifer, darauf einzugehen und die Möglichkeit der Ausführung zu erwägen. Sie flehte Onkel Fritz an, mit nach Mühlau zu kommen, er allein konnte den Eltern das vorstellen und klarmachen.

Sie belebte sich etwas, seit dieser Plan festgehalten wurde.

Nach Mühlau mußte sie noch einmal, um eines bestimmten Zweckes willen – das stand als fixe Idee bei ihr fest. Aber da bleiben, da wohnen, ihm täglich an allen Straßenecken begegnen – – nein, nein. Eines Tages vielleicht mit einer Frau, seiner Frau am Arm? Nein, nein!

In leidenschaftlicher Exstase sagte sie: „Wenn ich in Mühlau bleiben muß, werde ich noch wahnsinnig!“

Da setzte sich Onkel Fritz hin und schrieb heimlich an den Oberamtmann, damit der sich an den Gedanken gewöhne, schon so hineinlebe, daß kein Widerstand reize und errege. Das war ein falscher Zug, den der alte Herr da that. Er kannte den Oberamtmann und dessen Frau nicht genug. Durch dieses Vorbereiten gab er ihnen nur Gelegenheit, all ihre kleinen Vorurteile und ihre Sparsamkeitsgelüste in Bereitschaft zu setzen, wie man Waffen vor dem Gefecht noch besonders blank putzt. Ueberrumpeln hätten sie sich vielleicht lassen. Da hätte es den Oberamtmann doch vielleicht momentan gestachelt, nicht minder generös zu sein als Onkel Fritz; oder Sabinens Anblick und Bitten hätten ihn und die Mutter gerührt. – Onkel Fritz war es so gewöhnt, Autorität zu sein, und da er am Schluß seines Briefes noch besonders unterstrichen betont hatte: „Sabine kann nicht in Mühlau leben!“ war für ihn die Sache schon innerlich entschieden. Er ahnte gar nicht, daß er für Deubens nicht im mindesten eine Autorität war. Im Gegenteil: seine offene Hand war dem Oberamtmann etwas, das er fast geringschätzte. Und was Onkel Fritz sonst besaß und was ihn bei vielen zur Autorität machte, seine reife Milde, sein ethisches Erkennen – dafür hatten der Oberamtmann und seine Frau nicht einmal von fern Schätzung; sie taxierten es weder hoch, noch gering, sie taxierten es gar nicht; es war für sie gar nicht da. –

Mit gutem Mut fuhr der alte Herr dem Norden zu. Vor seinem Geiste standen schon inhaltreiche Wintertage. Er hoffte, Sabine täglich zu sehen; sich ihren Kindern zu widmen; Sabine ins Theater zu führen; ihren Tisch mit Büchern, Journalen, Blumen täglich neu zu bedecken; ihr den einen oder anderen Menschen zuzuführen. Einmal mußte, mußte doch wieder ein [492] Lächeln auf diesem wunderschönen Angesicht erscheinen. Einmal mußte er doch weichen, dieser sphinxartige, brütende Ausdruck. –

Es war ein schlimmer Novembertag, als man in Mühlau ankam. Durch die windstille Luft fiel der Regen geradlinig herab, der ganze Himmel war zinnfarben. Die Reiser der kahlen Gebüsche, rechts und links vom roten Bahnhofsbau, glichen schwarzen Ruten. Die schwere, naßkalte Luft drückte den Rauch der Lokomotive herab, so daß er rußig und riechend über den Bahnsteig hinfegte. Das Dach des Hotelomnibus sah wie schwarzes Lackleder aus vor Nässe, und das Pferd, mit einer karierten orangefarbenen Decke zugedeckt, senkte kläglich den Kopf mit der in Strippen hängenden Mähne.

Unter Schirmen, von denen an jeder Rippe kleine Rinnsale flössen, standen der Oberamtmann und seine Frau. Als der Zug langsam anfuhr und viel weiter über den Platz hinaus, wo Sabinens Eltern standen, sagte der alte Herr plötzlich und sehr hastig: „Liebes Kind … Sie haben in Rom einen Malariaanfall gehabt! Die Folgen davon drücken noch ein wenig Ihr Befinden nieder. So schrieb ich Ihren Eltern.“

Sabine war gerade dabei, das Fenster herabzulassen, um ihren Eltern zuzuwinken. Jäh wandte sie sich um. Sie sah den alten Mann durchbohrend an, während langsam ein dunkles Rot in ihre Wangen stieg. Sie begriff, daß er alles wußte. Ein kurzer Kampf in ihr – ein sekundenlanges Aufwallen verletzten Hochmutes. Und dann das überströmende Erkennen all seiner Güte!

Sie reichte ihm die Hand und sah ihm in die Augen.

„Dank!“ hieß dieser Blick. „Heißen Dank!“

„Mühlau!“ schrie der Schaffner und riß die Thür auf.

„Ach, das wissen wir von selbst!“ sagte Susanne mit einem komischen Seufzer.

Der Oberamtmann und seine Frau, die die Notwendigkeit, bei solchem Wetter auszugehen, als eine Verschärfung des auf sie gefallenen Schicksals ansahen, setzten sich in Bewegung, nach der Spitze des Zuges zu. Im zweiten Wagen hatten sie ihre Tochter am Fenster bemerkt.

Und da kam Sabine auch schon schnellfüßig, wie sonst, ein Lächeln auf den Lippen, auf den Wangen noch den Nachglanz der eben gehabten Erregung.

Die Eltern waren betroffen, so sehr, daß sie darüber fast nicht zur Freude kamen. Sie hatten unklare Vorstellungen davon gehabt, daß Sabine äußerlich ganz verändert sein würde; sie waren in dieser Vorstellung sehr aufgeregt, unsicher, ja geradezu verlegen gewesen, denn sie wußten nicht, welchen Ton sie zur Begrüßung anschlagen dürften.

„Na, gottlob, du siehst ja so weit gut aus! Geht es denn besser?“ fragte die Mutter, als sie Sabine geküßt.

Im Oberamtmann stieg ein Groll gegen Onkel Fritz auf.

Uns so ins Bockshorn zu jagen! Das Kind ist ja ganz wohl, dachte er. Sabine hat gewiß nur ihre Launen gehabt, und Onkel Fritz, der sie nicht kennt, nahm das gleich für „Nerven“ –

Etwas langsam kamen Onkel Fritz und Susanne heran. Die ungemein ceremoniöse Begrüßung unter den triefenden Regenschirmen stellte sofort eine Stimmung von unerträglicher Ungemütlichkeit her.

Der Oberamtmann entschuldigte sich, nicht nach München geschrieben zu haben.

Onkel Fritz fror und haßte den Regen und war nicht jedermann gegenüber bereit, sich zu beherrschen. Mit den Mienen und Gebärden eines Menschen, dem sein gegenwärtiger Zustand recht lästig ist, stieg er in den Hotelomnibus.

„Heute abend haben wir doch das Vergnügen?“ fragte die Oberamtmännin.

Onkel Fritz, der wieder seine Lammfellmütze trug, lüftete sie ein wenig und sagte, daß sie alle drei sehr müde seien und daß die Eltern heute wohl auch Anspruch auf ihre Tochter allein hätten. Susanne versprach, im Laufe des Nachmittags einmal nach Sabinens Befinden zu sehen, und dann rasselte der Omnibus davon.

Im Hotel zum Kronprinzen saßen Bläser und Hallendorf mit einigen Kameraden bei einem Frühschoppen, der sich bis zum Mittag heute ausgedehnt hatte. Sie wollten doch den alten Herrn Osterroth und das Fräulein ankommen sehen, für welche oben der Staatssalon nebst zwei Schlafzimmern geheizt waren. Bläser erzählte von der Bekanntschaft damals im Manöver und saß dem Fenster zunächst, um womöglich einen erkennenden Blick von Susanne zu erhaschen und einen Gruß anzubringen.

Aber die Reisenden huschten schnell den Tritt des Wagens herab und ins Haus hinein. Nur den dicken blonden Haarknoten unter dem Rand des schwarzen Filzhütchens konnten die Herren so recht bewundern.

Gleich danach kam der alte Landauer vorbei, der Lärm, den seine schwerfällige Fahrt auf den Kopfsteinen des Straßendammes machte, hallte ordentlich zwischen den Häusermauern wieder.

Die Fenster des Wagens waren beschlagen, und so sahen die Herren nichts von Sabine. Sie mußten sich mit dem interessanten Bewußtsein begnügen, ihren gelben Rohrkoffer auf dem Bock neben dem Kutscher gesehen zu haben.


11.

So war Sabine wieder daheim. Auf der Treppe stürzten ihr die Kinder entgegen. Leo jubelte. Bei Milly erwachte nach Kinderart erst jetzt nachträglich das Erkennen, daß sie ihre Mama so lange entbehrt habe, und sie weinte bitterlich.

Und im Halbdunkel, auf der Treppe kniete Sabine nieder, um ihre Kinder zu umarmen. Dabei wallte ein Gefühl in ihr auf, vor dem sie sich entsetzte.

War das Abneigung gegen ihre eigenen Kinder? Zorn gegen sie, die so unschuldig ihr im Wege zum Glück standen? Denn um ihretwillen konnte sie nicht des Geliebten Gattin werden!

Welche Abgründe giebt es im Menschenherzen! Erbebte Sabine vor dem, welcher sich ihr in ihrem eignen aufthat?!

Stürmisch, aber mit kalten Lippen küßte sie die Kleinen.

Später saß man zusammen um den Tisch. Wirklich eine Familie?!

Sabine hatte das Gefühl, als habe sich ein Abgrund zwischen ihr und den Ihren aufgethan. Sie hatte so viel erlebt! Durch ein Märchen voll Glück, durch ein Drama von Elend war sie seither gegangen. Und die Ihren hatten unterdes still behaglich beim Lampenschein, Pfeifendampf und Kaffeeduft gesessen.

Sie hatte so viel gesehen! Im Lande der Schönheit war sie gewesen, und während sie gemeint, blind und gleichgültig an den Wundern der Kunst und Natur vorbeizugehen, hatte sie doch, sie begriff es jetzt, unbewußt, mit allen Sinnen den Zauber aufgenommen. Und die Ihren hatten unterdes auf die Thür des Krämers Küps gepaßt und die Kleider der Frau Crolpa besprochen.

Wie sollte man sich wieder zusammenfinden!

Und war doch von einem Fleisch und Blut. War einander so nahe, wie sonst nichts mehr auf der Welt: Eltern und Kind, Mutter und Kinder.

Die Mutter betonte, daß man Sabinens Lieblingsgerichte gekocht habe. Der Vater erzählte Streiche, die Milly und Leo gemacht, und Antworten kecker, kluger Art, die sie gegeben hatten.

Nach und nach bemerkten sie dann auch und verständigten sich durch Blicke darüber, daß Sabine doch recht teilnahmlos scheine und wirklich leidend aussähe.

Da sie nun mit großer Vorsicht das Thema „Berlin“ vermeiden wollten, aber auch danach trachteten, ihre Meinung nicht gleich dadurch kundzuthun, daß sie etwa sagten: „Das stille Leben bei uns in Mühlau wird dir gut thun,“ so ward das Gespräch bald gezwungen.

Zum Glück kam Reinald gleich nach Tisch. Sabine umarmte ihn heftig, sagte, daß sie seiner Braut etwas mitgebracht habe, und zog ihn nach hinten in ihr Zimmer, wo Koffereinsätze, noch unausgepackt, auf Stühlen standen und auf dem Sofa und Wandschirm helle Kleider lagen und hingen.

Sabine kniete vor dem Koffer nieder und wühlte auf seinem Grunde. Ihre Bewegungen waren so hastig, sie schien so aufgeregt. Schon sprang sie wieder auf.

„Da, Reinald! Für dich habe ich noch eine Terracotte. Die kommt mit Fracht. Dies für Martha.“

Er bewunderte die hübsche Brosche und dankte viele Male.

Plötzlich warf Sabine sich an seine Brust.

„Reinald,“ sagte sie flüsternd, „ich kann nicht in Mühlau bleiben. Ich muß hier fort. Die Eltern ahnen noch nichts. Morgen wird Onkel Fritz mit ihnen sprechen, ob ich nicht nach Berlin ziehen solle. Steh’ mir bei! Ich flehe dich an!“

„Ach mein Gott,“ sagte Reinald gedrückt, „da wirst du [494] wohl wenig Glück mit haben. Onkel Fritz hat ja schon geschrieben deswegen. Aber Papa und Mama wollen nicht.“

„Er hat geschrieben!“ sprach sie vor sich hin. Heimlich und immerfort hat er schon daran gedacht, wie er mein Los erleichtern kann. Er liebt und versteht mich mehr als meine eigenen Eltern, dachte sie.

Dann umklammerte sie Reinalds Arm. Ihre Augen brannten.

„Du mußt mir beistehen,“ sprach sie heftig, „du mußt, wenn du mich lieb hast. Stoßen Papa und Mama sich an der Geldfrage? Wollen sie nichts geben und auch nicht, daß ich von Onkel Fritz noch mehr nehmen soll? Dann schaff’ du mir das Geld! bitte, bitte!“

„Wie sollte ich das?“ fragte er verstimmt durch ihre heftigen Bitten. „Das Geld, das ich von Papa im Gut habe, kontrolliert er doch. Und überhaupt, wie sollte ich imstande sein, heimlich Geld zu schaffen? Und von Marthas Mitgift, die ich im Januar bekomme, kann ich dir doch auch nichts geben.“

„Ich kann aber nicht hier bleiben! Ich ertrag’ es nicht, ich werde wahnsinnig!“ murmelte sie.

Reinald sah sie aufmerksam an. Sein Gesicht war traurig.

„Sabine,“ sprach er, „wenn du dich so hast, müssen mir da nicht Gedanken kommen? Ich hab’ so was munkeln hören im Dorf. – Der Wirt, der mein Feind ist, machte mal so ’ne schnodderige Bemerkung von feinen Damen und Rendezvous und Franzosenlinde. Ich hab’ es nicht glauben wollen! Sabine, es giebt doch nicht in Mühlau einen Mann, dem du nicht begegnen kannst?!“

„Schweig!“ schrie sie. Bebend vor Zorn stand sie vor ihm, das Wetterleuchten einer maßlosen Erregung auf dem Angesicht. „Du läßt deine Schwester beschimpfen?“ sprach sie flammend, „du! Du glaubst, daß ich etwas Kleines und Unreines thun könnte? Ja denn, ich will von hier fort um eines Mannes willen. Aber die Augen brauche ich nicht niederzuschlagen, vor ihm nicht, vor niemand. Frage aber nichts!“

Reinald war beschämt und kleinlaut. Zugleich fühlte er sich seiner Schwester so seltsam entfremdet.

„Wenn du denn durchaus fort willst, mußt du lieber den Eltern alles gestehen,“ sagte er etwas trotzig.

„Das kann ich nicht – das niemals,“ murmelte sie, „sie würden mich nicht verstehen.“

„Na, dann kann ich dir nichts weiter raten,“ meinte er.

„Geh nur. Laß mich nur. Verzeih, daß ich dich mit meinen Angelegenheiten behelligte,“ sprach sie wie erschöpft, setzte sich auf den nächsten freien Stuhl und starrte vor sich hin.

„Aber Sabine. Sei doch nicht so!“

Und in dem Wunsch, brüderliches Interesse für sie zu bekunden, setzte er noch hinzu: „Am besten wäre es wirklich, du heiratetest bald. Das gäbe dir wieder festen Halt. Sieh mal, da ist Hallendorf – der denkt noch immer an dich. Ein ermunternder Blick von dir – und er beginnt von neuem, um dich sich zu bewerben. Das garantier’ ich.“

„Laß nur. Danke,“ sprach sie, „vielleicht später.“

Reinald merkte, daß sie ganz geistesabwesend war und gar nicht wußte, was ihre Lippen sprachen. Kopfschüttelnd ging er hinaus. Gottlob, daß seine Martha verständiger war und von ruhigerer Gemütsart!

Sabine wurde von einem unbändigen Heimweh nach Onkel Fritz und Susanne befallen. Die waren, so schien es ihr, die einzigen wahren Freunde, die sie noch auf der Welt hatte. Sie fühlte sich außer stande, auf Susannens angekündigten Besuch zu warten. Sie warf ihren Pelzmantel um, nahm ein Tuch um den Kopf und lief, die Straße entlang, zum Marktplatz, in das Hotel. Es war schon fast ganz dunkel. Dazu bückte sie sich tief unter ihren Regenschirm, um den Wind und die schräg daherjagenden Tropfen abzuhalten. Unter dem Rand des Schirmes sah sie, daß zwei Offiziere ihr entgegenkamen; sie waren schon dicht vor ihr, und wenn Sabine die Gesichter hätte sehen wollen, hätte sie den Schirm hochheben müssen. Aber sie hielt ihn nur fester an sich. Sie wollte keine Bekannten sehen und vielleicht gar angeredet werden. Daß es Achim von Körlegg sein könnte, der ihr hier im versiegenden Abenddämmer des Novembertages so nah’ vorbeiging, daß sein Ellbogen ihren Schirm streifte, ahnte sie nicht. Es fiel ihr merkwürdigerweise gar nicht ein.

Er aber, der mit einem Kameraden ging, sah sich flüchtig nach der dunklen, eiligen Gestalt um, und der Kamerad sagte: „Nanu, wer war denn das?“

Sie war nicht erkannt worden.

Bei Susanne und Onkel Fritz wurde sie mit Freuden empfangen. Die saßen so gemütlich um den Theetisch, als hatten sie ihr Leben lang nie wo anders gewohnt wie im Hotel zum Kronprinzen in Mühlau.

Sabine erzählte, daß sie von ihrem Bruder die Ungeneigtheit ihrer Eltern erfahren habe, sie von hier fortzulassen.

Darauf meinte der alte Herr, er wolle unter vier Augen mit ihnen reden. Sabine sah ihn erschreckt an. Er verstand den Blick. Er nickte ihr beruhigend zu. „Ich weiß, was ich zu sagen und was ich zu verschweigen habe,“ sagte er.

Sie errötete.

Nachher, als Susanne sie auf den Flur hinausbegleitete, hatten sie noch ein erregtes Flüstergespräch.

„Um eines flehe ich dich an, liebe, beste Susanne! Wenn ich hier bleiben muß – verlaß du mich nicht auch gleich! Bleibe bei mir! Wenigstens ein paar Wochen noch! Du mußt mir auch noch einen Dienst erweisen – einen großen, großen Dienst!“

„Welchen? Natürlich bin ich zu jedem bereit,“ versprach Susanne. Die andere küßte sie heftig.

„Ich danke dir! Ich werde dir’s schon sagen, wenn es soweit ist.“

„Morgen früh kommen wir zu dir. Während Onkel Fritz vorn mit den Eltern spricht, helfe ich dir, deine Sachen auspacken und einräumen.“

„Gut – ja. Ich werde nicht wieder in das Hotel kommen. Ich könnte doch ihm begegnen! Das wäre schrecklich. Eben gingen mir zwei von seinen Kameraden vorbei.“

„O Gott, wenn er es gewesen wäre!“ rief Susanne.

„Er war es nicht! Das hätte ich gefühlt. Ich glaube, ich würde in der Nacht unter Tausenden seine Gegenwart herausspüren. Ich würde – ich weiß nicht was. Gute Nacht! Auf morgen!“

In ihrem Elternhause empfingen sie Vorwürfe.

„Bei dem Wetter bist du noch ausgegangen!“ jammerte die Mutter.

„Zieh’ nur gleich trockenes Fußzeug an,“ sagte der Oberamtmann.

„Ihr thut ja gerade, als wenn ich die Schwindsucht hätte,“ sprach sie ungeduldig.

Milly und Leo standen verschüchtert und enttäuscht umher. Sie hatten sich so sehr auf die Mama gefreut! Und nun kümmerte sie sich kaum um sie.

Als Sabine abends im Bett lag, kam es ihr vor, als sei sie von ungeheuren körperlichen Strapazen tödlich erschöpft, so hatte der halbe Tag daheim sie angegriffen.

Und in der Stille, die sich nun über Menschen und Haus senkte, fing Sabine an, über sich nachzudenken. Besonders beschäftigte sie sich mit der Empfindung, die sie beim Anblick ihrer Kinder in sich aufwallen fühlte. Hab’ ich denn kein Herz? Bin ich eine schlechte Mutter? Ein liebloser Mensch?

Die Stelle in Achims Brief fiel ihr ein: „Denke an deine Kinder, lebe für sie!“ Dieser Hinweis hatte sie furchtbar verletzt, allen Trotz damals in ihr wachgerufen. Derlei kann nur ein Mann schreiben, der ein Weib weder wahrhaft liebt noch versteht.

Die Kinder? Die Kinder waren ein Teil ihrer selbst!

Wenn das Schicksal ihr damals den kleinen Sohn genommen hätte, wie er krank war – Achims Liebe, Achims Besitz hätten ihr nicht das Kind zu ersetzen vermocht, es nicht verschmerzen lassen! Ebensowenig konnten die Kinder ihr den Geliebten ersetzen, die einen und der andere – sie füllten doch ganz verschiedene Seiten ihres Wesens aus!

Ob ein Mann das wohl gar nicht begreifen konnte?!

Aus diesen Gedanken fuhr sie plötzlich erschreckt auf: Milly hustete im Schlaf. Auf nackten Füßen lief Sabine an das Bettchen der Kleinen. Da kam schon die Strafe für die böse Aufwallung von heute mittag: das Kind würde erkranken, sterben!

Vor lauter Herzklopfen konnte Sabine weder deutlich fühlen noch hören. Der Puls der Kleinen schien ihr zu rasen, der Atem zu keuchen. Sie betastete die Wangen des Kindes. Sie machte Licht, weil die Nachtlampe so unheimlich düster brannte und schwarze Schatten auf dem Gesicht der Kleinen lagerten.

[495] Endlich mußte Sabine begreifen, daß die Wange des Kindes kühl, der Schlaf ruhig, der Puls normal war.

Sie schlich an ihr Bett zurück und setzte sich auf dessen Rand.

Die Eltern? Wenn den Eltern aber etwas zustieße! Sie fühlte tief, daß sie ablehnend, ja unfreundlich gewesen war. Und sie mußte es sich doch gestehen, die Eltern hatten so viele Unbequemlichkeiten durch sie! So viel Sorgen trübten das Alter der beiden, das doch die Feierzeit nach so fleißigem Leben hatte sein sollen!

In Sabinens Augen standen Thränen. Wenn den Eltern jetzt etwas – zustieße, sie hätte doch vor Reue verzweifeln müssen! Und das Schicksal war oft so grausam. Es hatte schon manchmal Menschen für ewig auseinandergerissen, die mit einem lieblosen Wort sich nur für Stunden zu trennen meinten.

Von schreckhaften Vorstellungen gehetzt, lief Sabine über den Flur, um an der Schlafstubenthür ihrer Eltern zu horchen.

Drinnen war alles still. Nein, nicht still: der Oberamtmann schnarchte. Sein kräftiges Schnarchen drang so prosaisch durch die Nacht.

Es ernüchterte Sabine heilsam. Auf diese Weise mache ich mich krank, dachte sie und ging zu Bett.

Am andern Morgen, während Onkel Fritz mit den Eltern das entscheidende Gespräch führte, hatte Sabine schon alle Hoffnung aufgegeben, von Mühlau fortzukommen. Sie wußte, daß der alte Herr und ihre Eltern gleichsam Menschen aus verschiedenen Kulturzonen waren, zwischen denen eine Verständigung unmöglich war.

Und in der That: Onkel Fritz fand den festen Willen bei seinen Gegnern, auf Gründe nicht einzugehen und alle Vorschläge empfindlich zu nehmen. Besonders als der alte Herr sehr fein und vorsichtig den Geldpunkt berührte und andeutete, daß Sabine und die Kinder nebst Bedienung in Berlin quasi seine Gäste sein sollten – da wurde der Oberamtmann fast unangenehm. Es ging ihm wie vielen Knausern, er hatte nicht den Mut seiner Sparsamkeit und nahm es übel, wenn man ihn als geizig aufzufassen schien.

Das einzige, wozu sie sich verstanden, war, daß Susanne Osterroth, wenn sie das Opfer bringen wolle und ihre Mama nichts dagegen habe, – denn zwischen Eltern und Kinder dürfe man sich nicht drängen, schalteten sie anzüglich ein – bis Weihnacht bei Sabine bleiben könne. Und wenn Sabine sich unter der treuen Pflege ihrer Mutter von den Strapazen dieser unglücklichen italienischen Reise ganz wieder erholt haben würde, könnte sie ja vielleicht im Frühling eine kurze Zeit Onkel Fritz in Berlin besuchen, denn sie würde ja wohl auch einmal das Bedürfnis haben, das Grab ihres Mannes zu sehen, wogegen sich ja nichts sagen lasse.

Damit schien das Gespräch zu Ende. Der alte Herr stand am Fenster und sah nachdenklich auf die Straße hinaus.

Der Oberamtmann und seine Frau wechselten Blicke. Was wollte er nun noch? Warum stand er da so schweigend, wie einer, der mit Entschlüssen kämpft? Hat er ganz vergessen, daß wir hier sitzen? Wir, der Hausherr und die Hausfrau?

Ja, er hatte es vergessen. Er kämpfte einen Gedanken nieder, der so thöricht, so verblendend war … und der doch immer wieder zu ihm heranschlich.

Es gab wohl einen Ausweg, Sabine aus diesem Kerker zu retten – – –

Aber würde das nicht nur ein Wechsel des Gefängnisses sein? Keine Freiheit ihre Jugend auszuleben, würde das bedeuten! Kein Glück! Nur eine Rettung in einen friedlichen Hafen. Erlaubte sein Gewissen ihm, solche Rettung anzubieten? War es nicht besser für die Jugend, auf dem hohen Meer des Unglücks und der Leidenschaft einherzutreiben? Da gab es doch noch vielleicht unbekannte Ufer, ferne, noch unsichtbare Welten, die am Horizont einst auftauchen und ihr fröhliche Landung versprechen konnten – –

Sabine war jung, Jugend und Zukunft – das sind verwandte Worte. Nein – die Hand eines alten Mannes in Verzweiflung zu ergreifen, – nein, dazu durfte man sie nicht verführen, wenn man sie mehr liebte als sich selbst – – –

Der alte Herr wandte sich um. Er sah mit einem besonderen, zerstreuten Blick die beiden an.

„Ich kann die jungen Damen wohl rufen?“ fragte die Oberamtmännin.

Er nickte.

„Sabine! Sabine!“ rief die Mutter zur Thür hinaus.

Sabine und Susanne kamen sich vor wie Schulmädchen, die eine Censur bekommen, als ihnen der Oberamtmann das Resultat der Unterredung mitteilte. Er verlor bei außerordentlichen Anlässen sogleich seine innere Freiheit, sprach gewählter als sonst und redete sich in Rührung.

Susanne sah während dieser Rede ängstlich auf Onkel Fritz, aber der schaute zum Fenster hinaus. Wenn er merkte, daß Männer unfrei waren, wurde er verlegen. Er genierte sich in die Seelen der anderen hinein.

„Es heißt also scheiden,“ sagte Sabine mit einer Ruhe, die alle überraschte.

„Ja. Ich reise noch heute nachmittag,“ erklärte Onkel Fritz. Susanne besprach eifrig mit Oberamtmanns ihr Hierbleiben.

Sabine trat zu dem alten Herrn. Er sah sogleich, daß ihre Ruhe nur äußerlich war. Er verlor kein Wort, er schenkte sich jede Höflichkeitsphrase und sagte nicht, daß es ihm leid thäte.

„Werden Sie mir schreiben, Sabine?“ fragte er halblaut.

„So oft ich darf!“

Er griff nach ihrer Hand.

„Es kann schwer für Sie werden … hier …“ sprach er leise.

Sabine sah ihn an. Sie war sehr bleich, und gramvolle Schatten lagen um ihre Augen. Aber sie versuchte, ihrem Blick und ihrer Haltung Festigkeit zu geben.

„Ich will versuchen, stark zu sein,“ sagte sie einfach.

Sie drückten sich die Hand.

Und Sabine konnte nicht anders, sie mußte thun, wie sie damals in Venedig, in der Stunde ihres Glückes, gethan: sie neigte sich und küßte diese liebe alte Hand ………

Dann lief sie hinaus.

Das war ihr Abschied und ihr Dank.

[517] Schon am ersten Tage bemerkten Oberamtmanns, daß das, was für sie ein Opfer bedeutet hatte, nämlich Susanne zum Dableiben einzuladen, viel Segen trug.

Ihre Tochter, von deren nächtlichen Seelenkämpfen sie nichts ahnten, bestrebte sich ersichtlich, gleichmäßiger, geduldiger zu sein. Sie schrieben es Susannens Einfluß zu.

Und dann war Susanne auch sogleich derart gut Freund mit Leo und Milly, daß die Kinder förmlich an ihr hingen und Festtage durch sie erlebten.

Außerdem hatte sie eine frische, unbefangene Art, mit dem Oberamtmann umzugehen, dessen pedantische Tyrannei ihr nicht imponierte, die sie einfach für Spaß nahm und gerade hierdurch oft entwaffnete.

Mit der Oberamtmännin spielte sie jeden Nachmittag von Vier bis Fünf vierhändig. Die Oberamtmännin hatte eine gewisse Leidenschaft für Ouvertüren, und die Ouvertüre zu „Dichter und Bauer“ war ihr Liebling. Eifrig im Takt sich wiegend, mit freudigem Gesicht, saß sie dann vor den Tasten. Sabine [518] verzweifelte oft daran, immer und immer wieder dies selbe Stück hören zu müssen. Die schmeichelnd banalen Melodien blieben ihr in unerträglicher Weise im Gedächtnis haften und vermengten sich mit ihren todtraurigen Gedanken.

So flössen die Tage in melancholischer Friedlichkeit dahin.

Eines Nachts kam von Osten her mit schneidenden Winden auf einmal der Winter. Schnee trieb gepeitscht am Fenster vorüber, und als es gegen Mittag stiller wurde, fiel er sanft und unaufhörlich und deckte die Straßen und Dächer. Die Fassade des spitzgiebligen Hauses vom Nachbar Crolpa war beinahe anzusehen wie ein altes Gesicht mit einer weißen Haube herum.

Der Oberamtmann saß behaglich am Fenster. Das mochte er leiden, wenn die Welt so in stillem, weißem Schnee sich versteckte. Und für den Landmann war es auch gut.

„Morgen haben wir schönes Wetter. Da solltet ihr mal ein bißchen an die Luft,“ sagte er zu Susanne, „bisher wollt’ ich ja nichts sagen, bei dem Regen alle Tage! Aber die ewige Stubenhockerei taugt nicht. Ich mein’, Sabine wird eher magerer und blasser als wohler. Und wir leben doch so still und gemütlich und haben keine Aufregung. Und Sie selbst, Susannchen – Sie sind nicht mehr so frisch wie vor vierzehn Tagen. Ihre Mama kommt uns auf den Pelz. Sie müssen an die Luft.“

„Sabine mag nicht ausgehen und ich mag sie nicht verlassen.“

„Sie sind eine treue kleine Seele,“ sagte der Oberamtmann und sah ihr wohlgefällig in die klaren Augen.

Freilich wird Sabine magerer und bleicher und freilich werd’ ich weniger frisch, dachte Susanne, wenn man so die halben Nächte nicht schläft!

Alles, was am Tage zugedeckt bleiben mußte, gruben sie des Nachts aus.

Ruhelos wanderte Sabine hin und her. Hörend, mit all ihren Gedanken wach und interessiert, lag Susanne im Bett.

Die Kinder schliefen jetzt mit Lisbeth oben in der Schrankstube. So hatten die beiden Freundinnen die Nacht für sich, zu besprechen, was sie beide nie ermüdete, daran sie sich nie satt sprachen.

Sabinens Liebe und Sabinens Haß. Achims Recht und Achims Unrecht.

Einmal gestand Sabine es zu, vernichtet von her Macht det Thatsachen, daß der Mann, der ihren Gatten erschossen, in der That niemals ihrer Kinder zweiter Vater hätte werden können. Und dann war Achim der herrlichste Mann, und mit flammenden Augen rief sie, daß es wert sei, zu leben, um ihn still und von fern zu lieben, dann weinte Susanne vor Rührung und verstand sich ganz mit der Freundin.

Aber das andere Mal glomm der Zorn auf gegen ihn und sich. Sie schwor, ihn zu hassen. Nicht leben zu können, weil ein Mann sie geküßt, der nicht ihr Gatte wurde! Sie nannte ihn feig, herzlos, wankelmütig. Und dann richtete Susanne sich auf und verteidigte ihn mit feurigen Worten.

Der Gram und der Zorn waren häufiger als die gute Stimmung. Aber so oder so: Susanne sah, daß die Unglückliche sich aufzehrte. Oft erschrak sie über die Magerkeit ihrer brennenden Hand.

„Wenn ich dir doch nur Ruhe schaffen könnte,“ klagte sie.

Da gestand Sabine ihr, daß es wohl ein Mittel gebe, ihr die Ruhe, zurückzubringen.

„Geh du zu ihm,“ sagte sie, „fordere meine Briefe von ihm zurück. Ich habe eine schreckliche Vorstellung. Er wird mich bald vergessen – er hat es vielleicht schon! Er wird eine andere lieben! Er wird heiraten! Dann wird vielleicht eines Tages eine andere, die mich nicht kennt und nicht versteht, über diese Briefe kommen. Der Gedanke quält mich.“

„Du wirst ihn tödlich beleidigen mit solcher Zumutung,“ rief Susanne.

„Er hat mich auch tödlich beleidigt, als er meine Liebe zurückwies,“ sprach sie finster, den geheimsten Trieb verratend, der sie zu diesem Wunsch drängte – den Trieb, wieder zu schlagen, wo sie sich geschlagen wähnte.

„Schicke deinen Bruder!“

„Reinald einweihen? Damit er es Martha anvertraut?“ fragte sie.

„Das wird er nicht!“

„Männer können nicht schweigen, am wenigsten vor ihrer Braut. Da sind sie alle jammervolle Schwätzer.“

„Laß Onkel Fritz ihn schriftlich bitten,“ schlug Susanne vor.

„Nein! All dies sei mit Schweigen zwischen ihm und mir bedeckt. Zwei Menschen wissen nur um mein Elend. Du – mit der ich alles reden kann. Er – der mich mit Schweigen schont und versteht. Laß mir das! Das ist die einzige Wohlthat, die mir ward.“

„Aber ich kann doch nicht zu ihm gehen!“ rief Susanne. Sie zitterte vor dem Gedanken.

„Du mußt! Du hast mir versprochen, mir jeden Dienst zu leisten, den ich fordern würde. Es ist auch nicht um die Briefe allein. Du sollst ihm sagen, daß er fort von hier zu gehen hat. Er und ich sind zuviel in einer Stadt! Du siehst es ja: wir wagen uns nicht auf die Straße, aus Angst, ihn zu sehen. Er muß sich von hier versetzen lassen.“

So sprach Sabine, herrisch und entschlossen, jede Nacht, immer wieder.

Es war ihre fixe Idee, sie kam immer darauf zurück und forderte nur dies eine. Sie sagte, daß sie dann ruhig werden würde, ganz ruhig. Eher aber nie.

Durch das tägliche Reden fing Susanne an, die Ausführung für möglich zu halten. Nur ….

Alles Zagen, alle „wenn“ und „aber“ hatten einen innerlichen Grund. Die äußerlichen Umstände eines solchen Unternehmens schreckten sie nicht. Daß jemand sie beobachten, sich darum kümmern könne, wenn sie zu Achim von Körlegg ging, fiel ihr gar nicht ein. Sie war in Berlin aufgewachsen, wo man von seinem Nachbar nichts weiß und wo es vorkommen kann, daß man erst in der Zeitung liest, daß nebenan Mord und Totschlag war.

Es gab für sie und Sabine überhaupt in Mühlau keine Mühlauer. Es gab in der ganzen Welt nur einen Menschen und nur eine Angelegenheit.

Und beide hatten heimlich den verzehrenden Wunsch, genau zu wissen, wie Achim lebte, dachte, fühlte.

„Du mußt zu ihm gehen.“

„Ich kann es nicht.“

So hieß es täglich zehnmal.

„Wie soll ich seine Wohnung finden?“

„Ich begleite dich so weit, daß ich dir das Haus zeigen kann. Im Sommer hab’ ich oft hineinsehen können, wenn die Hausthür aufstand. Da ist ein Flur mit roten Ziegelsteinen gepflastert. Links eine Thür: dort wohnt die Advokatenwitwe Leermann, seine Wirtin. Rechts eine Thür: die führt in sein Wohnzimmer. Du kannst gar nicht irren.“

Und endlich versprach Susanne, hinzugehen; sie gab das Versprechen zum Schein, wie man einem Kranken alles zugiebt und nicht mehr widerspricht.

Dann aber sah sie, daß Sabine von Stund’ an ruhiger, wohler, zuversichtlicher wurde. Und da glaubte sie, es sei ihre Pflicht, Selbstüberwindung zu üben und wirklich den Gang zu wagen, obschon ihr war, als würde sie die Aufregung, Achim wiederzusehen, nicht überleben.

Es wurde beschlossen, daß Susanne am nächsten Tag zwischen Fünf und Sechs gehen solle.

Aber den Tag kam die Doktorin Sebold. Und am folgenden Reinald. Und dann war Trioabend. Die Freundinnen verzehrten sich vor Ungeduld.

Und an diesem Tage kam der Oberamtmann mit einem Vorschlag. Am achtzehnten Dezember war Ressourceball. Er war seit seinen jungen Jahren Mitglied der Ressource, einer geselligen Vereinigung, welcher die Honoratioren von Mühlau, die Elite der Gutsbesitzer aus der Umgegend und die Offiziere des Regiments angehörten. Obschon Oberamtmanns seit Jahren nicht mehr zu den Festlichkeiten gingen, war die Zahlung des Mitgliederbeitrages doch eine von jenen Ausgaben, von denen der Oberamtmann sagte: man kann nicht gut umhin. Nun hatte er mit seiner Frau besprochen, daß man „Susannen doch einmal etwas bieten müsse.“

Sabine ihrerseits, als ihre Eltern bei Tisch damit herausrückten, lehnte gleich für sich rundweg ab.

[519] „Ich danke Ihnen sehr,“ sagte Susanne, „ich bin hier ganz fremd. Ich würde ja kaum Tänzer finden. Ich bleibe bei Sabine.“

„Der Ressourceball ist eine sehr noble Festlichkeit,“ sprach der Oberamtmann, „die feinsten Leute aus der Stadt und Landschaft lernen Sie da kennen. An Tänzern ist nie Mangel. Die Offiziere von den anderen beiden Bataillonen aus der Nachbargarnison kommen auch. Sie könnten mit Voigtstedts und Reinald gehen. Die Voigtstedt bemuttert Sie gern. Das ist auch eine nette Frau.“

„Gewiß,“ sagte Sabine bevormundend, „sie nimmt es an. Sie geht mit. Wir wollen nachher gleich sehen, ob wir eins von meinen Kleidern umändern können.“

Susanne wollte sich wehren. Sie verstand Sabine nicht. Aber ein beredter Blick derselben ließ sie schweigen. Kaum waren sie allein, so überhäufte sie Sabine mit Vorwürfen.

„Das geht zu weit! Was soll ich da? Mich tödlich mopsen? Beinah’ kann es ja komisch werden! Wozu dies nun wieder?“ fragte Susanne.

„Was du da sollst? Ganz einfach. Wenn wir morgen und weiter wie Gefangene hier sind und immer keine Möglichkeit kommt, daß du zu Achim gehen kannst, dann wirst du ihn auf dem Ball sehen. Wenn er aus der Liste weiß, daß ich nicht da sein werde, kommt er sicher. Es ist alter Höflichkeitsbrauch der Offiziere gegen die hiesige Gesellschaft, nicht zu fehlen. Der Major hält streng darauf.“

Susanne wurde rot.

„Aber ich kann ihm doch auf dem Ball nicht solche Sachen sagen!“

„Nein. Aber mit drei Worten ihm sagen: ich muß Sie morgen vormittag da und da sprechen – das kannst du!“

Susanne machte keine Einwendungen mehr.

Die folgenden Tage gingen mit allerlei Schneiderarbeit hin. Sie gab den beiden Vorwand, viel hinten in Sabinens Stube zu sein und zuweilen zusammen auszugehen, um Besorgungen zu machen. Dabei lernte Susanne das Haus kennen, wo Achim wohnte. Aber allnachmittäglich schien sich das Schicksal förmlich gegen sie verschworen zu haben; es ward ihnen immer unmöglich gemacht, ihren Plan auszuführen.

Endlich, am fünfzehnten, drei Tage vor dem Ball, schlug es fünf Uhr, ohne daß ein Nachmittagsbesuch gekommen wäre.

„Wir gehen noch eben zu Weiler,“ sagte Sabine, „in den Ausschnitt von Susannens Kleid müssen noch Spitzen.“

„Die laufen sich was zurecht wegen des Kleides,“ sprach der Oberamtmann hinter ihnen her, „ja, ja, was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben.“

„Laß sie nur,“ meinte die Oberamtmännin milde, „sie haben doch wenigstens nun was vor, was sie beschäftigt.“

Zitternd und hochatmend standen sie auf der Straße. Am dunkelblauen Nachthimmel flimmerten und fackelten die Sterne so sonderbar. Auf dem festgetretenen Schnee knirschte jeder Schritt. Unter Küps’ Fenster, im Schein der Ladenbeleuchtung, glitt auf klappernden Pantoffeln eine Schar von Kindern dahin, die hatten sich da eine Glitschbahn gemacht und schrieen vor Vergnügen.

Aus den Wohnungen kam durch herabgelassene Rouleaus sanftes Licht. Manchmal bewegten sich Menschenschatten dahinter.

Eine schwarze Katze lief über den Weg. Fern bimmelte eine Hausthürglocke hell und lang’.

Schweigend und frierend hasteten die beiden vorwärts.

Einmal begegnete ihnen ein Offizier, die Hände in den Paletottaschen, die Nase in dem hochgeschlagenen Kragen.

Mein Gott – wenn er es wäre! Wenn er nicht zu Hause wäre?!

Aber er war es nicht.

Und nun standen sie auf dem linken Bürgersteig der Straße. Rechts, drüben, ein Streckchen weiter hinauf, leuchtete aus seinen beiden Fenstern das Licht.

„Er ist da! Gottlob!“ sagte Sabine wie erlöst. Daß er da, aber etwa nicht allein sein könne, fiel weder ihr noch Susanne ein. Es schien, als ob in all der fortgesetzten, wochenlangen Aufregung ihre gesunden und klaren Gedanken aus der Bahn geworfen worden wären. Sie lebten so im Ungewöhnlichen, daß ihnen das Gewöhnliche ganz aus dem Blick gerückt war.

„Ich kann es doch nicht!“ sprach Susanne plötzlich, „ich kann ihn nicht wiedersehen!“

Sabine griff nach ihrem Arm.

„Wie,“ raunte sie leidenschaftlich, „du willst mir wortbrüchig werden? Auch du? Seit Wochen habe ich nur gelebt für diesen Augenblick! Und nun willst du feige …“

„Gut. Ja. Ich gehe,“ stieß Susanne hervor.

„Ich warte. Ich gehe auf und ab.“

Ihre Stimmen waren ganz heiser.

Susanne lief über den Fahrdamm, ging unter seinen Fenstern hin und öffnete die Hausthür. Die hatte eine neue Glocke, die zweimal tönend und durchdringend anschlug, einmal beim Oeffnen, einmal beim Zuschlagen der Thür. Die beiden Töne hatten für Susannens Ohr betäubende Gewalt. Der Schreck ließ sie besinnungslos vorwärts handeln. Sie klopfte an die Thür gleich rechts.

„Herein!“

Und sie stand drinnen, sich mit der Linken an den Thürpfosten klammernd, das Haupt nach links geneigt, als brauche sie eine Stütze.

Achim sprang auf. Er hatte am Tisch gesessen und geschrieben, im Lichtkreis der Lampe lagen allerlei Papiere.

Er glaubte nicht, was er sah ……

Atemlos, furchtsam, mit großen blauen Augen unter dem Pelzmützchen stand da Susanne?

War sie es wirklich?

Und eine Freude wallte in ihm auf, eine Freude, deren Kraft und Tiefe ihn selbst überraschte.

„Susanne – Fräulein Susanne!“

Aber die Freude flutete zurück, wie sie gekommen war: in jäher Wallung. Und ein namenloser Schreck machte ihm die Wange fahl.

Sie hier! In seiner Wohnung! Welch rührende Thorheit! Welcher Leichtsinn – der Leichtsinn eines reinen unbefangenen Herzens.

Wenn, jemand käme?!

War ein Unglück geschehen?

Er trat auf sie zu und nahm ihre rechte Hand.

„Mein liebes und teures Fräulein,“ sprach er mit bebender Stimme, „Sie kommen zu mir?! Wohl in außerordentlicher Veranlassung. Aber welcher Art diese auch sei – sagen Sie schnell, schnell, was Sie zu sagen haben!“

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn immerfort an.

Alle Reden waren fertig gewesen, jedes Wort, das gesagt werden sollte, in langen Beratungen mit Sabine festgestellt. Und, nun war alles weg. Sie konnte nichts sagen. Kein Wort.

Das klaräugige Mädchen! dachte Achim und wußte nicht, wie ihm in diesem angstvollen Augenblick das Wort des alten Herrn einfallen konnte. Aber sie sah ihn auch so an: so groß, so bang, so staunend.

„Kommen Sie aus eigenem Antrieb?* fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

„Mit einem Auftrag von … von …“

Der Name schien ihm nicht recht von den Lippen zu wollen.

Aber Susanne nickte heftig.

Achims Züge verfinsterten sich. Er hatte ein Gefühl von Zorn gegen Sabine: wie konnte sie, die erfahrene Frau, das junge Mädchen dazu bestimmen, in die Wohnung eines Offiziers zu gehen.

„Was will sie von mir?“ fragte er.

Susanne kam näher an den Tisch.

„Etwas, was vielleicht schwer zu erfüllen ist, denn wir wissen ja recht gut, daß ein Offizier sich nicht immer nur so hin und her versetzen lassen kann,“ hob sie nun leise an. „Sie möchten fortgehen.“

Der Ernst auf Achims Gesicht ängstigte sie. Er würde sicher böse werden. Aber er sagte ganz ruhig:

„Daß Mühlau ein zu kleiner, Ort ist für zwei Menschen, die sich besser nicht mehr begegnen, habe ich mir längst gesagt. Wollen Sie, bitte, Sabine bestellen, daß ich durch persönliche Bemühungen und dank meiner Verbindungen es [522] durchzusetzen wußte: ich trete am ersten Januar in mein altes Regiment zurück.“

„Wieder nach Berlin?“ rief Susanne in plötzlicher, freudiger Lebhaftigkeit aus.

„Ja. Nach Berlin. Freut es Sie ein wenig?“ fragte er glücklich lächelnd.

„Ja, o sehr, das heißt … ich meine, Onkel Fritz wird sich freuen. Er hat Sie so liebgewonnen. Sie werden ihn doch besuchen?“

Sie hatte Sabine und alle Ereignisse der letzten Zeit vergessen. Ihre Augen strahlten.

„Gewiß werde ich ihn besuchen, so oft er mir’s erlaubt.“

Herzlich nahm er Susannens Hand.

„Und nun schicke ich Sie fort. Gehen Sie gleich! Daß mich Ihre Gegenwart beglückt und ehrt, brauche ich nicht erst zu sagen. Aber Ihr Geschäft ist gethan. Mein Kamerad Bläser könnte kommen. Ich erwarte ihn.“

„O, ich kenne ja Bläser,“ sagte Susanne verwirrt.

Diese thörichte Antwort rührte ihn sehr. Er sah dem Mädchen innig in die blauen Augen.

„Er darf Sie aber doch nicht hier finden. Und ich, nicht wahr, ich darf nun sagen: Auf Wiedersehn in Berlin?“

„Ich habe aber noch gar nicht alles bestellt,“ brachte Susanne zögernd heraus.

Er ließ ihre Hand fahren.

„Was ist denn noch?“ fragte er unruhig.

„Sabine ängstigt sich … Sabine meint … sie wünscht … sie möchte … sie denkt oft an all die Briefe …“

Sie konnte es nicht herausbringen. Um keinen Preis. Sie fürchtete, er würde rasen und sich verschwören, die Briefe nie, um die Welt nicht, herauszugeben; er habe Sabine geliebt und wolle diese Beweise ihrer Liebe für immer als heiligen Besitz behalten.

Er sah sie erwartend an. Ein schon verstehendes, wehmütiges Lächeln spielte um seine Lippen.

„Sabine möchte ihre Briefe zurück?“ fragte er.

„Ja,“ sagte sie eifrig und erleichtert, daß er sie so schnell verstand, „das möchte sie. Sie denkt, wenn Sie einmal … einmal … heiraten, daß dann diese Briefe keinen Wert mehr …“

„Sie sollen diese Briefe mithaben,“ sprach er voll Haltung. „Wenn ein Weib von einem Mann, den es geliebt hat, ihre Briefe zurückfordert, verweigert der Mann nur in zwei Fällen die Hergabe. Er sagt Nein, wenn er ein Schuft ist, der einmal aus den Briefen Waffen zu schmieden denkt. Er sagt Nein, wenn er das Weib noch immer heiß liebt. Ich bin ein Ehrenmann. Und ich liebe Sabine nicht. Sie weiß es, daß nur eine vorübergehende Leidenschaft mich blendete. Darum gebe ich Ihnen die Briefe zurück. Aber ich bitte Sie, Sabinen zu sagen, daß sie mir immer wert, sehr wert geblieben wären, daß ich sie ihr mit schmerzlicher Bewegung zurückgäbe.“

Er ging an ein Cylinderbureau, das an der Wand neben dem Fenster stand.

Susanne hätte weinen mögen. Alles, was er gesagt, und besonders wie er es gesagt hatte, kam ihr so männlich und so herzvoll vor.

Während Achim aufschloß und drinnen abermals ein Schubfach mit einem Schlüssel öffnete, den er erst aus seiner Tasche holen mußte, erzählte Susanne ganz zutraulich:

„Seit zehn Tagen haben wir es jeden Tag vorgehabt, daß ich zu Ihnen gehen sollte. Die arme Sabine hatte keine Ruhe! Aber nun wird ihr wohl besser werden. Denken Sie sich, sogar auf den Ressourceball wäre ich gekommen, um Sie zu sprechen, wenn es vorher nicht geglückt wäre!“

Er sah auf.

„Und nun?“ fragte er.

„Thut’s nicht mehr nötig!“

„Kommen Sie doch! Ich würde mich freuen. Der Abend, der für mich sonst eine Strafe ist, hätte dann Inhalt,“ sagte er schnell.

Sie schwieg.

„Hier sind die Briefe … ich will sie Ihnen zusammen in einen großen Bogen einpacken … ich …“

Draußen schlug zweimal die Hausthürglocke an mit ihrem melodischen Bim–bam.

„Bläser!“ sagte Achim, und der Schreck fuhr ihm durch den ganzen Körper.

Nein? Er schien es nicht, denn niemand klopfte. Aber gleich danach hörte man Stimmen draußen – die Bläsers, der mit Achims Hauswirtin sprach. Die war also auch auf dem Flur?

Achim trat der Schweiß auf die Stirn. Mit unsicheren Händen packte er die Briefe in einen Bogen.

Gerade war er fertig.

Da klopfte es kurz, und ohne ein Herein abzuwarten, trat Bläser ein. – – –

Eine schwüle Pause entstand.

Bläser, mit einem verlegenen, beinah’ dummen Lächeln auf seinem hübschen Leutnantsgesicht, sah Achim an.

Der biß sich auf die Lippen und atmete kurz.

Susanne war etwas verlegen, ja sie war sogar in Sabinens Seele hinein schuldbewußt. Wenn Bläser nun erriete, daß sie hier war, um Sabinens Briefe zu holen!

Was werde ich ihm sagen? dachte Achim verzweifelt.

Die Wahrheit sagen, hieße Sabinen kompromittieren – sie verschweigen, Susannen bloßstellen.

Inzwischen wunderte Susanne sich doch, daß Bläser so an ihr vorbeisah.

„Kennen Sie mich nicht mehr?“ fragte sie; „wir haben uns doch Ende August im Manöver gesehen, als ich mit Onkel Fritz reiste.“

„Aber gnädiges Fräulein – aber selbstverständlich,“ sprach Bläser und schlug die Hacken zusammen und dienerte wohl sechsmal, „darf ich fragen, wie sich der charmante alte Herr befindet?“

„Danke. Sehr gut. Sind Sie fertig, Herr von Körlegg?“ fragte sie ruhig.

Achim konnte ihre Ruhe nicht fassen.

Aber in Susannens Gemüt war es in der That ganz klar geworden. Die kurze Angst war ganz überwunden. Zuversichtlich dachte sie: Er wird Bläser schon nachher irgend etwas Verständiges sagen und es zu verhüten wissen, daß der die Wahrheit errät.

„Hier, mein gnädiges Fräulein!“ sagte Achim sehr zeremoniös.

„Ich danke Ihnen.“

Sie neigte das Haupt gegen Bläser.

Achim riß die Thür auf. Er konnte nun nicht anders, und wenn zehnmal Frau Leermann etwa auf dem Flur an ihren Leinenschränken herumkramte – er mußte Susannen bis an die Hausthür begleiten wie einen feierlichen offiziellen Besuch. Bläsers wegen konnte er sie nicht eilig entwischen lassen, ihr nicht raten, das Gesicht zu verstecken.

Und Frau Leermann auf dem Flur, einen Tisch mit der Dielenlampe darauf vor den offenen Schrankthüren neben sich, machte Augen und dachte: Ist das nicht das Fräulein, welches bei Oberamtmanns zum Besuch ist?

Als Achim sein Zimmer wieder betrat, fand er Bläser rittlings auf einem Stuhl sitzend, die Hände an der Lehne und ihn mit einem spitzbübischen Lächeln erwartend.

„Sag’n Sie mal, Körlegg,“ begann er, seine Beine weit von sich streckend, „da wir doch in ein und derselben Stunde die Bekanntschaft des reizenden Fräuleins gemacht haben – stehen wir so, daß ich Sie fragen kann: darf man gratulieren?“

Achim stemmte die Faust auf den Tisch und sah auf den andern herab.

„Wenn ich nun sagte, lieber Bläser: Nein, so stehen wir nicht? Aber Sie wissen ganz gut, daß die Situation mich nötigt, Ihnen irgend etwas zu sagen. Einen Glückwunsch darf ich aber nicht annehmen.“

Bläser sprang auf. Er wurde mit einem Male ernst und herzlich.

„Hörn Sie mal – als Ihr Kamerad und als Ihr Freund gewissermaßen, muß ich’s sagen: es ist doch nicht denkbar, daß Ihnen die Familie Schwierigkeiten macht, weil Sie damals die Geschichte mit dem Zeuthern hatten?!“

„Schwierigkeiten,“ murmelte Achim, „wieso meinen Sie?“

„Na,“ sagte Bläser, „daß man sich daran stößt. Zeuthern war doch immer ein Vetter von Fräulein Osterroth. Und Sie [523] werden ja dann gewissermaßen mit der Witwe verwandt. Aber so nah’ ist die Verwandtschaft doch nicht, daß man sich nicht aus dem Weg gehen könnte. Aber wissen Sie – schließlich so’n bißchen Romantik und Heimlichkeit, ehe man zu seinem konzessionierten Glück kommt – das hat seinen Reiz.“

Achim sah es wohl: der andere glaubte steif und fest, daß er mit Susannen so gewissermaßen heimlich verlobt sei. Was sollte Bläser auch sonst denken? Achim mußte ihm noch dankbar sein für diesen Glauben, der doch wenigstens Susannen nicht beleidigte. Was hätte er machen sollen, wenn sein Kamerad auf frivole Gedanken gekommen wäre?

„Lieber Freund,“ sagte er mit allen Zeichen einer gewissen Aufregung, „ich stand und ich stehe allerdings in schweren Konflikten und diese sind in der That Folgen jenes unglücklichen Duellausganges. Mehr darf ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Aber ich bekomme Ihr Ehrenwort: Sie verschweigen, daß Sie Fräulein Susanne Osterroth bei mir gesehen haben. Was Frau Leermann betrifft, so hoffe ich, das Fräulein ist ihr unbekannt.“

Bläser schüttelte ihm herzlich die Hand. Diese allgemeinen Worte nahm er für Zustimmung und Eingeständnis.

„Das versteht sich. Mein Ehrenwort. Aber alle Wetter, Körlegg, wenn Sie’s durchsetzen: das Mädel neid’ ich Ihnen! Trotzdem: im voraus tausend gute Wünsche!“

Und Achim widersprach nicht.

Ich sollte sagen, dachte er, Susanne ist nicht meine Braut, wir lieben uns gar nicht. Ich darf ein solches Mißverständnis nicht dulden! Aber er schwieg.

Seine Zunge war ihm gebunden.

Allerlei Auswege für später sann er aus: ich werde nach einiger Zeit Bläser sagen, daß ich es doch nicht durchgesetzt habe; oder: ich werde der Form wegen um sie anhalten, einen Korb bekommen und dann Bläser sagen, daß es nichts wird; oder: ich werde gar nichts sagen, gar nichts thun, vielleicht vergißt er es.

Die beiden Frauen aber liefen wie Flüchtlinge heim. Sie spürten nicht die schneidende Kälte. Ihre Wangen brannten. Sabine bebte vor Verlangen, jedes Wort zu hören, sich das Zimmer beschreiben zu lassen, wie er selbst ausgesehen habe, wie seine Miene gewesen.

Aber erst als der Oberamtmann und seine Frau schlafen gegangen waren, konnten sie sich aussprechen.

Sabine hielt ihre Briefe auf dem Schoß. Nun hatte sie, was sie gewollt.

Und sie bereute, sie gefordert zu haben. Er hätte doch vielleicht eines Tages wieder darin gelesen – neu, zärtlich ihrer gedenkend.

„Ihr Besitz war ihm doch wert?!“ fragte sie zum zehnten Male, „sagte er so?“

„Ja, er drückte sich sehr edel und warm aus,“ bestätigte Susanne.

„Sah er aus wie jemand, der sehr gelitten hat?“

„Eigentlich nicht. Noch ernster freilich schien er als früher.“

Darüber, daß Bläser Susannen dort ertappt hatte, ging auch Sabine hin wie über eine bloße Unannehmlichkeit.

„Achim wird ihm schon etwas vorreden,“ meinte sie, „damit er auf keine dummen Gedanken kommt.“

Und zuletzt sagte sie dann:

„Nun brauchst du ja auch nicht auf den langweiligen alten Ressourceball zu gehen.“

„Weißt du,“ meinte Susanne eifrig, „es ist, glaube ich, doch besser; es fiele so auf, wenn ich zurückträte. Und um die Wahrheit zu sagen: er bat, ich solle doch hinkommen! Dann habe der sonst so öde Abend doch Inhalt.“

Sabine stutzte und sah die Freundin an. Dann sagte sie zerstreut:

„Ja, geh’ nur, geh’ nur!“

Ein seltsames, geheimnisvolles Lächeln spielte um ihren Mund, das Susanne sich gar nicht erklären konnte.

Sie ist ihm ein Teil der Vergangenheit, dachte Sabine; wenn er mit ihr spricht, erinnert ihn alles an mich, an die Tage von Venedig. Vielleicht liebt er mich doch noch und will es sich nur nicht eingestehen.

„Es ist gut, daß du ihn noch einmal siehst und sprichst. Du kannst ihm sagen, daß ich ihm für die Briefe danke und daß ich sie ihm nicht abgefordert haben würde, wenn ich gewußt hätte, daß sie ihm noch wert seien,“ sagte sie.

Und diese fast weiche Stimmung hielt bei ihr bis zu dem Balltage vor.


12.

Wenn im „Hotel zum Kronprinzen“ in Mühlau der Ressourcenball abgehalten wurde, herrschte in Mühlau schon am Vormittag großes Leben. Die Gutsbesitzer kamen mit ihren Familien schon früh herein, die Frauen und Töchter machten Besorgungen, die Herren fanden sich mit Mühlauer Persönlichkeiten zu einem Frühschoppen zusammen, wo dann ungeheuer viel getrunken und geklatscht wurde. Jede Familie hatte doch irgend ein befreundetes Haus in Mühlau, wo man absteigen und sich zum Ball umkleiden konnte. Auf dem Markt, vor dem „Kronprinzen“, stand dann eine ganze Wagen- und Schlittenburg.

Auch Herr und Frau Voigtstedt kamen von Wendessen mit Martha schon um elf Uhr morgens herein, und es verstand sich von selbst, daß sie bei Marthas Schwiegereltern aßen und tranken und sich umzogen.

Die Oberamtmännin lief seit dem frühesten Morgen zwischen Küche und Eßzimmer hin und her. Susanne half Butterbröte belegen. Lisbeth mußte fortwährend etwas vom Krämer holen und auch den Voigtstedtschen Damen zur Hand sein. Sabine spielte mit den Kindern.

Alle waren beinahe schon erschöpft, als der Besuch kam. Herr Voigtstedt erfüllte die ganze Wohnung mit seiner geräuschvollen Lebensfreudigkeit. Nachdem sie sich bei Butterbrot und Glühwein von der kalten Schlittenfahrt erholt hatten, gingen sie wieder: die Damen, um für das bevorstehende Weihnachtsfest Haushaltungsgegenstände und Dienstbotengeschenke zu kaufen, Herr Voigtstedt in den „Kronprinzen“. Der Oberamtmann ging nicht mit. Er vertrug seit Jahren schon das Trinken nicht mehr, besonders nicht vormittags.

Dann ging das Rennen und Jagen wieder an. Die Oberamtmännin war früher eine großartige und umsichtige Hausfrau gewesen, aber nun lebte sie schon zu lange still und klein, daß es sie im hohen Grade erregte, wenn sie Gäste hatte. Sie verlor den Kopf. Um Drei sollte gegessen werden. Dazu kam dann auch Reinald von Heinsdorf herein.

Pünktlich dampfte die Suppe auf dem Tisch und die Gäste saßen müde, die Wirte abgespannt beim Mahl; Reinald und Martha wieder Schulter an Schulter, Hand in Hand, wenn sie nicht gerade aßen. Herr Voigtstedt sah manchmal mit einem besonderen, lächelnd forschenden Blick zu Susanne hinüber. Frau Voigtstedt hatte schon ihre Migräne. Nach Tisch wollten alle schlafen. Oberamtmanns hatten ihre Schlafstube Voigtstedts überlassen und nickten in den Sofaecken im Wohnzimmer. Viel Zeit war auch nicht dazu, denn nachher, wenn alle im Ballstaat waren, sollte es noch Thee und Kaffee und Kuchen geben.

Susanne und Sabine seufzten zahllose Male in sich hinein und wechselten einen Blick. So viel Lärm und Strapazen eines „Vergnügens“ halber! Sie begriffen es nicht.

Endlich, halb Sieben, saß die Oberamtmännin, alle Kräfte wie zu einer letzten Schlacht sammelnd, auf dem Sofa hinter Thee- und Kaffeekannen. Tassen und zwei Teller mit Bergen von Kuchen standen vor ihr. Als erster, der ballbereit war, erschien Herr Voigtstedt. Der Frack und die weiße Weste standen ihm gut. Er war noch etwas verschlafen, auf seiner feisten Wange hatte das Kopfkissen Falten abgedrückt; er trank den Kaffee schwarz, dann taute er auf.

„Hör’ mal, Deuben, was ich dir noch erzählen wollte – ich habe da heute morgen eine unglaubliche Geschichte gehört. Die kleine Osterroth soll mit Herrn von Körlegg ein Techtel-Mechtel haben.“

Die Oberamtmännin sah in sittlicher Entrüstung den Plafond an und faltete dazu die Hände.

Was in Mühlau geklatscht wird! Es ist unglaublich! Nein so was! Susanne kennt Herrn von Körlegg gar nicht!“ rief sie mit Pathos.

„Nee,“ sprach der Oberamtmann, „das muß ich nun selbst sagen: das geht doch ’n bißchen weit.“

„Je – das sagt ihr wohl!“ bemerkte Voigtstedt zweifelnd. [524] „Warum soll’n sie sich nicht kennen? Er stand doch in Berlin. Sie ist aus Berlin. Die Leute sagen, es sei eine alte Liebe. Na, und das wissen wir doch alle, daß in Berlin die jungen Mädels leichtfertige Geschichten machen. Denk’ doch bloß mal allein an all das, was unser früherer Major von der einen bewußten Hofdame erzählte. Also selbst in den Kreisen. Jedenfalls hat sie ihn hier in seiner Wohnung besucht, die alte Leermann soll es erzählt haben.“

„Ach, Unsinn,“ sagte die Oberamtmännin wegwerfend.

„Na, so ’n Unsinn ist es doch nicht. Warum soll so was nicht wahr sein? Das kommt doch vor! ’ne Sünde ist das doch gerade nicht, wenn zwei junge Menschen sich lieb haben,“ meinte Voigtstedt jovial.

„Aber heimlich von unserem Hause aus einen Mann in seiner Wohnung besuchen – noch dazu diesen Mann – das möchte man doch etwas schärfer beurteilen!“ sprach der Oberamtmann. „Wie ich dir aber sage: das ist Unsinn. Sie kennt ihn gar nicht. Und dann: guck dir mal das Mädel an: sieht die nach Heimlichkeiten aus?!“

Reinald kam dazu und fragte, ob denn Martha noch nicht fertig sei.

„Ja, die Damen! – Aber hör’ mal die Räubergeschichte, die sie Voigtstedt beim Frühschoppen aufgebunden haben!“ sagte sein Vater. Reinald hörte, und ein Ausdruck starker Verstimmung legte sich auf sein Gesicht. Obschon er sich einer großen Unruhe nicht erwehren konnte, sagte auch er, daß das Unsinn sei.

„Wir werden ja sehen heut’ abend. Wenn sie sich kennen, werden sie’s kaum verstecken können,“ meinte Voigtstedt.

„Du bist ein ungläubiger Thomas,“ schalt der Oberamtmann.

Nun erschienen alle Damen auf einmal. Frau Voigtstedt mit einem schweren lila Moirékleid, mit spitz angeschnittener Schleppe, die schon zwei Jahre keine Mode mehr war.

„Eine Frau von dem Aussehen und Alter der Ihrigen trägt in Berlin eine ausgeschnittene hellseidene Robe,“ sagte Sabine zu Voigtstedt, „Sie sollten es verbieten, daß Ihre Frau sich wie eine Sechzigjährige kleidet!“

„Wir sind aber nicht in Berlin!“ bemerkte der Oberamtmann.

Reinald war beglückt in den Anblick seiner Braut versunken. Sie hatte ein ausgeschnittenes, kurzärmliges Kleid aus rosa Tüll auf Seide an, dazu einen grünlichen Gürtel und künstliche weiße Rosen an der Brust und im Haar. Wegen des grünlichen Gürtels glaubte sie, mit ihrem Anzug auf der Höhe der Mode zu stehen. Die weißen Rosen verdarben aber alles und sahen zu ihrem blonden Kopf sehr fade aus. Dazu hatte sie vorn die von Sabine aus Rom mitgebrachte Brosche angebracht.

„Sehr schön! Sehr geschmackvoll!“ sagte Reinald bewundernd. Wohlgefällig bemerkte der Oberamtmann: „Was unsre Martha für’n weißen Speckbuckel hat.“ Und er klopfte ihr auf den Nacken. Sie kicherte. Auf ihren Oberarmen hinten hatte sie leider „Grütze“, und all die roten dicken Poren waren über dem Rand des langen Handschuhs sichtbar.

Die ganze Gesellschaft wurde in Tücher, Mantel und Galoschen gepackt. Man ging zu Fuß nach dem „Kronprinzen“. Es waren ja nur hundert Schritt.

Voigtstedts dankten noch tausendmal für den vergnügten Tag und baten, ja alle Sachen gut einzupacken, der Knecht hole sie nachher ab.

„Verwahrt euch nur gut für die Heimfahrt!“ rief der Oberamtmann noch besorgt oben von der Treppe hinter ihnen her, „und nicht wahr, Reinald, du bringst Susanne nach Haus und schließt auf! Die Lampe bleibt unten brennen!“

„Hu – das war ’n saurer Tag!“ stöhnte er nachher. „Gottlob, daß er überstanden ist! Alte, wir gehen bald in unsere Posen.“

Die Oberamtmännin und Sabine räumten die Tassen zusammen. Auch ihnen war, als sei ein Sturm verhallt. Plötzlich fiel dem Alten etwas ein.

„Keiner hat auf Susanne geachtet und ihr ein Wort über ihr Aussehen gesagt. Was hatte sie denn eigentlich an?“

Sabine lächelte ein wenig. Welch ein Kompliment für Susanne: über dem Staat der Voigtstedtschen Damen war ihr tadelloser Anzug nicht bemerkt worden.

„Sie ist nicht eitel. Beruhige dich nur, Papa, sie nimmt es nicht übel. Sie wird doch die Schönste sein.“

Die Alten gingen bald zu Bett. Sabine stand an ihrem Fenster und sah in die Winternacht hinein.

Drüben, der große Dachstuhl, der so mit langer gerader Linie und schräg abfallenden Seiten massig vor dem leuchtenden Nachthimmel stand, der gehörte zum „Kronprinzen“.

Davor noch ein dunkles Gehocke von niederen Stalldächern und Hinterflügeln. Auch ein kahler Lindenwipfel ragte dazwischen auf. Und irgendwo in diesen Höfen brannte ein stilles Licht, rot und trübe.

Das alles war, vor dem blausilbernen Himmel der Wintermondnacht, deutlich erkennbar.

Je länger Sabine hinausstarrte, um so schärfer sah sie.

Es war so ein dürftiges, reizloses, weltvergessenes Bild! Und so verschlafen und verschwiegen.

Die einsame Frau kam sich wie getrennt vor von Leben und Sonne. Für immer – –

Mit gierigem Ohr trachtete sie, etwas von der Musik zu hören. Vergebens, es war zu weit.

Dort freuten sich die Menschen. Es waren Freuden, die Sabine klein und lächerlich erschienen, die sie nicht hätte teilen mögen. Und dennoch neidete sie sie ihnen. Die standen doch alle im Genuß des Daseins. Die hatten Freuden und Kämpfe! Ja, selbst wenn sie Sorgen hatten – sie lebten doch darin, all ihre Kräfte übend – sie vegetierten nicht …

Und er war da! Er that, als nähme er teil an der Freude der anderen – –

Vielleicht that er es auch wirklich. Wer konnte das wissen? Vielleicht trat er, nachdem er von ihr geschieden, mit frohem Mannesmut in eine neue Epoche seines Daseins, darin er ein sonnenhelles, dauerndes Glück fand …

Sabine faltete in stummem Jammer die Hände.

Ihr Elend erdrückte sie. Und so seltsam klang ein Dichterwort in ihrem Gedächtnis nach, das sie einst gelesen. Es war gerade, als stehe jemand hinter ihr und raune es ihr ins Ohr:

„Doch mit dem Herzen,
Voll Liebe und Schmerzen,
Verglüh’ ich allein ….“

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Als Susanne am Arm des Herrn Voigtstedt den Ballsaal betrat, gleichsam im Gefolge der Frau Voigtstedt, die von einem der Vorstandsherren geführt wurde, fiel ihr erster Blick auf Achim von Körlegg, der mit Bläser zusammenstand und die Eingangsthür beobachtete.

Sie wurde rot. Achim und Bläser kamen gleich auf sie zu.

„Nanu – die Herrschaften kennen sich?“ fragte Voigtstedt und dachte: Na? schade, daß Deuben dies nicht sieht!

„Von einer Begegnung im letzten Manöver her – bei Schrimm,“ sagte Bläser. „Darf ich um den ersten Walzer bitten? Und darf ich einige Kameraden vorstellen?“

„Ach ja,“ bat Susanne aufrichtig, „wenn ich schon einmal hier bin, will ich auch gern tanzen. So vorurteilslos ist kein junges Mädchen, daß es sitzen bleiben mag.“

Bläser stürzte davon.

„Ich tanze nicht,“ sprach Achim, „darf ich um die Ehre bitten zu Tisch?“

Susanne strahlte.

„Wie, Sie tanzen nicht? Ein preußischer Leutnant und kein Tänzer?“ fragte Voigtstedt. „Gnädiges Fräulein, wollen Sie mit mir altem Knaben die Quadrille riskieren?“

Nun kam Bläser heran und stellte Kameraden vor. Er that, als sei er ein uralter Freund von Susanne und machte sich in einer so liebenswürdigen Weise wichtig und war so beflissen und verehrungsvoll, daß Achim ihm einmal im Vorbeigehen dankbar die Hand drückte.

Als Reinald die Tanzkarte seiner Braut, mit der er selbst natürlich alle großen Tänze tanzte, versorgt sah, dachte er daran, daß er sich um Susanne bekümmern müsse.

„Besetzt,“ sagte sie vergnügt.

Reinald, der nur noch eine Extratour einzeichnen konnte, sah lauter Offiziersnamen und darunter auch den Körleggs. Zu Tisch diesen. Er fragte mit finsterem Ausdruck:

[526] „Wie geht denn das zu? Kennen Sie die Herren?“

„Nur Herrn Leutnant Bläser und Herrn von Körlegg,“ sagte Susanne unbefangen. Und sie erzählte, wo man sich im Manöver getroffen.

Sie kennen sich also doch! dachte er. Sollte die Geschichte wahr sein?

Was hat Reinald denn? dachte Susanne, wie bös und übellaunig sieht er aus.

Aber sie vergaß das schnell. Sie war zwanzig Jahr, und ihr hatte sich noch nicht allzuoft die Gelegenheit geboten, so recht nach Herzenslust zu tanzen. Sie fühlte sich auch gar nicht fremd hier. Bläser war ein zu reizender Mensch; ein Bruder hätte nicht aufmerksamer um sie bemüht sein können. Und wenn sie tanzte, sah sie immer irgendwo Achim stehen, der zusah und besonders ihr zuzusehen schien.

Sie fand auch den großen, etwas niedrigen Saal, der mit Tannenguirlanden und Fähnchen ziemlich schützenfestartig geputzt war, sehr gemütlich und alle älteren Herren und Damen sehr nett, wenn man den Damen auch meist sehr deutlich anmerkte, daß sie sich in den eleganten Kleidern nicht sehr glücklich fühlten und in fortwährender Angst davor schwebten, begossen zu werden.

Weder sie noch Achim hatten eine Ahnung davon, daß sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses standen. Sie tauschten keinen flüchtigen Blick, kein Wort, ohne daß es besprochen wurde.

Mehr als einmal sah Bläser sich auf die Geschichte angeredet. „Ist es wahr, daß sie heimlich verlobt sind?“

„Ich weiß von nichts,“ sagte er mit vielsagendem Lächeln.

„Ach thun Sie man nicht so. Das merkt man ja an Ihrem Verkehr mit Fräulein Osterroth, daß Sie eingeweiht sind. Warum veröffentlichen denn die Menschen nicht ihre Verlobung? Er hat doch Geld. Und sie den reichen Onkel,“ meinte die Doktorin Sebold; „so – kompromittiert er das Mädchen. Denn wissen Sie – daß sie heimlich zu ihm läuft … das ist doch selbst für ’ne Berliner junge Dame ’n bißchen stark!“

„Meine gnädigste Frau,“ sprach Bläser sehr ernst, „ich muß jedermann davon abraten, über Fräulein Susanne Osterroth schlecht zu sprechen. Ich glaube, weder ich noch mein Freund Körlegg würden das ungeahndet hingehen lassen!“

„Nun, ich sage ja nichts Schlechtes. Aber daß sie bei ihm gewesen ist, ist doch wahr. Die Leermann hat’s mir selbst erzählt.“

„Dann sollte Ihr Herr Gemahl die alte Leermann untersuchen – sie scheint nervös zu sein und an Hallucinationen zu leiden!“ sagte Bläser und ging davon.

„Aus dem kriegen Sie nichts ’raus, liebe Sebold,“ sprach Frau Rechtsanwalt Müller, „die Leutnants halten unter sich zusammen. Aber Ihr Mann, als Hausarzt und Freund, sollte es dem Oberamtmann stecken!“

Am glücklichsten war Susanne, als es endlich zu Tisch ging. Die ganze Gesellschaft zog paarweise die Treppe hinunter, denn die Tafeln waren unten, im großen Speisesaal, gedeckt, wo sonst an der Table d’hote ein paar Handlungsreisende, einige Beamte und Offiziere aßen, eine Menscheninsel, zwischen weiß bedeckten, öden, langen Tischplatten.

Bläser hatte natürlich die Plätze so belegt, daß sie ihn an ihrer anderen Seite fand.

„Wer mir noch vor vierzehn Tagen gesagt hätte, daß dies möglich sei,“ sprach sie zu Achim, „mir ist gerade, als sei ich aus einem düsteren Traum erwacht, in dem es nur Schreck, Trauer, gesteigerte Gedanken und ewige Sensationen gab. Nun sitze ich hier ganz friedlich, ganz menschlich neben Ihnen.“

Er drückte ihr die Hand. Er wußte wohl: das treue Mädchen hatte mitgelitten.

„Ich soll Ihnen noch etwas ausrichten!“ begann sie.

„Lassen wir das,“ bat er hastig, „lassen wir die ganze schwere, schwüle Vergangenheit. Gönnen Sie mir die harmlose Stunde!“

Mein Gott – ja, dachte sie, er ist gewiß froh, einmal aufatmen zu können.

Sie sprachen nicht mehr von Sabinen. Eine stille, innerliche Fröhlichkeit erfüllte sie beide ganz. Ihre Umgebung gab ihnen auch Stoff genug zu heiteren Beobachtungen, denn ihnen, den Großstädtern, war manches neu auf diesem Fest. Es wurden viele Reden gehalten: auf den Vorstand, den Kommandeur des in Mühlau garnisonierenden Bataillons, auf die Damen, auf die anwesenden Brautpaare. Endlich brachte der alte Getreidehändler Müller noch einen Toast aus, auf den „Herrn Knusemon“. Man erklärte das den Offizieren: „que nous aimons“, „was wir lieben“, sollte das heißen, es war der ständige Witz des alten Herrn; die jüngere Generation lächelte mitleidig und nachsichtig über den alten Herrn, und Frau Rechtsanwalt Müller, seine Schwiegertochter, genierte sich sehr.

Susanne fand alles „amüsant, reizend, urgemütlich, altväterisch, rührend.“

„Von diesem Balle werden wir noch oft in Berlin sprechen,“ sagte sie zu Achim.

„Werden wir uns oft dort sehen?“ fragte er mit besonderer Betonung.

„Hoffentlich fordert Onkel Fritz Sie zu seinem Donnerstag auf,“ meinte sie lebhaft; „ach, da ist es immer nett! Sie glauben nicht, wie! Onkel Fritz hat eine alte Haushälterin, eine prachtvolle Person. Die macht ihm alles sehr behaglich. Und jeden Donnerstag Abend sind Mama und ich da; außer uns werden noch drei Personen eingeladen, die wechseln. So ist es immer neu und doch immer intim.“

„Darf ich auch Ihrer Frau Mama einen Besuch machen?“ fragte er und sah sie an.

„O gewiß,“ sagte sie und wurde sehr befangen; „ich habe Mama schon viel von Ihnen geschrieben!“

„Haben Sie!“ rief er freudig.

Das hätte ich nicht sagen dürfen! dachte Susanna bestürzt, was wird er von mir denken.

Nach Tisch folgte noch der Cotillon mit endlosen Touren. Der Vorstand hatte die unglaublichsten Mützen, Attrappen, Scherze kommen lassen. Auch eine Blumentour gab es. Und vor aller Augen holte der nichttanzende Herr von Körlegg einen Strauß vom Blumenständer und brachte ihn Susanne Osterroth.

Das war deutlich!

Susanna brachte ihren Orden Bläser.

„Nie war eine Auszeichnung verdienter!“ sagte sie, den Papierstern an seinen Waffenrock heftend.

„Ich that nur, was eigne Verehrung und Freundschaft für einen gewissen Jemand mir gebot,“ sprach er übermütig.

Was will er damit sagen? dachte Susanne erschreckt.

In fröhlicher Müdigkeit ging sie endlich heim. Es war drei Uhr morgens. Reinald ging neben ihr, bis zur Hausthür.

Er war so still, daß es selbst Susannen in all ihrer guten Laune peinlich auffiel.

Dann saß sie noch auf Sabincns Bett und erzählte.

Ich will ihr das Herz nicht schwer machen, dachte sie und sprach fast gar nicht von Achim. Daß sie ihre Bestellung ausgerichtet habe, betonte sie und dachte ganz verwirrt: Mein Gott – das hab’ ich ja gar nicht – er wollte es nicht! Auch daß er gar nicht getanzt hatte und mit ihr zu Tisch saß, erzählte sie. Das schien Sabinen wohlzuthun.

Und endlich schlief Susanne ein, mit friedlichen, still glücklichen Gedanken.

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Am andern Morgen im Kasernenhof schimpfte Bläser etwas übellaunig mit den Soldaten herum, die Kniebeugen von einer Ungeschicklichkeit machten, daß einem die Haare zu Berge stehen konnten! Solche Kerls hatte es noch nie im Regiment gegeben! Und die Rotte, sonst für Bläser gewissermaßen schwärmend, weil er lustig und human war, nahm sich kolossal zusammen. Der Unteroffizier, seines Leutnants üble Laune bemerkend, schrie die Leute auch mehr an als sonst.

Achim von Körlegg kam und begrüßte seinen Kameraden. Sogleich zog Bläser ihn beiseite.

„Eh’ der Hauptmann kommt, zwei Worte. Der Deubel ist los, Körlegg. Ganz Mühlau ist voll von Ihrem ‚Verhältnis‘ mit Fräulein Susanne. Die alte Leermann hat sie doch erkannt und nicht dicht gehalten. Die Tugendbasen von Mühlau schreien Zeter, daß Fräulein Susanne bei Ihnen auf der Bude war. Ich hab’ gesagt, die alte Leermann litte an Hallucinationen. Ich hab’ geredet und gedroht und gewarnt! Aber Sie wissen ja, wie so etwas läuft! Und in acht genommen habt ihr euch gestern abend nun auch nicht ein bißchen – das nehmen Sie mir nicht übel, Körlegg. Mir scheint, handeln thut not! Was scheren [527] Sie sich am Ende um den Oberamtmann und die schöne Frau von Zeuthern, die übrigens gar nicht so sehr glücklich mit ihrem durch Sie Seligen gewesen sein soll! Lassen Sie die Familie zehnmal Nein sagen! Sie sind unabhängig! Nehmen Sie Ihre Braut und machen allem, was Zeuthern, Osterroth und Deuben heißt, Ihr ergebenes Kompliment. Ich will nicht noch derber werden. Also: am liebsten heut’ noch die Annonce ins Kreisblatt!“

Achim war unter dieser eiligen, langen Flüsterrede ganz fahl geworden. Der Schreck lähmte seine Gedanken.

„Na ja,“ fuhr Bläser fort, ihm teilnehmend in das entstellte Gesicht blickend, „ich habe mir’s gedacht, daß Sie wütend werden würden. Die paar Stunden, die ich heut’ überhaupt im Bett lag, bin ich nicht zur Ruhe gekommen wegen der Geschichte. Das kann ich wohl sagen. Ich stand vor der Frage: teil’ ich Ihnen den Klatsch mit oder nicht? Aber am Ende dachte ich dann: Ja! Meine herzliche Ergebenheit für Sie, meine Verehrung für das charmante Fräulein, und schließlich auch die Thatsache, daß ich gleichsam eingeweiht bin, machen es mir zur Pflicht, zu sprechen.“

Achim drückte ihm heftig die Hand. „Gewiß,“ sprach er heiser, „ganz gewiß. Ich danke Ihnen, lieber Freund!“

„Je schneller Sie handeln, um so besser wird es sein.“

„Selbstverständlich!“ sagte Achim.

„Da kommt der Hauptmann!“ raunte Bläser.

Herr von Hallendorf, lang und dünn mit seinem etwas stelzenden Gang, kam neben dem breitschultrigen Feldwebel über den Kasernenhof. Sofort trat Achim mit dienstlichem Gruß an ihn heran und bat in einer unaufschiebbaren Ehren- und Familiensache um Dispens vom Dienst für diesen Vormittag.

Im Dienstverkehr hatte Hallendorf immer eine etwas gnädige Note im Wesen. Leutselig gewährte er seinem Premier die Bitte. Achim ging zurück in seine Wohnung, die er eben in einer so innerlichst heiteren Stimmung verlassen hatte – ein geschlagener Mann.

Allmählich kam das Leben in ihn zurück – er hatte in der letzten halben Stunde wie ein Automat sich bewegt.

Zorn und Bitterkeit übermannten ihn.

Sie, die ihm die Verkörperung von Reinheit, von Seelenklarheit schien – sie war in eine solche peinliche, zweideutige Lage gekommen! Ihr Ruf wurde in diesem Augenblick in allen Häusern der Stadt und Umgegend zerfetzt oder doch wenigstens angezweifelt. Es war empörend!

Und neben dem Zorn empfand er einen tiefen, schneidenden Schmerz. Ihm war, als hätten da rohe Fäuste zarte, verborgen sproßende Keime ans Tageslicht gezerrt, das sie noch nicht vertrugen, und als sei nun ihre Lebensfähigkeit für immer vernichtet.

Eine Hoffnung, die so fern, so licht an seinem Horizont sich erhoben, daß er selbst sich noch kaum getraut, ihr recht in die glückverheißenden Augen zu sehen, war verscheucht.

Bitter dachte er: Ich habe kein Glück in der Liebe. Erst kommt sie mir mit rasenden Blitzen, wie ein Gewitter, und braust vorüber, daß mir um meine Ehre und das Leben einer anderen Angst werden konnte. Und nun seh’ ich von fern ein himmlisches Licht, wie Trost, wie Friede … und der schändlichste Mund, den es giebt – der Mund des „lieben Nächsten“ bläst es mir aus.

Darüber, was er zu thun hatte, war er keinen Augenblick im Zweifel.

Zunächst schrieb er an den alten Herrn in Berlin. Seine Feder flog nur so über das Papier. Er schrieb:

 „Hochgeehrter Herr Osterroth!
Das Herz von Kummer und Zorn schwer, trete ich vor Sie hin mit einer Beichte. Ich nehme ohne weiteres an, daß Ihnen die schmerzlichen Ereignisse bekannt sind, welche mein Dasein und das Frau Sabinens durchstürmten, und daß Sie wissen, wie ich aus tiefster Erkenntnis, einer wilden Leidenschaft nicht das Opfer meines Lebens bringen zu dürfen, mich befreite. Vielleicht haben Sie mich verdammt, vielleicht verstanden. Ich weiß es nicht.

Aber jene unselige Leidenschaft ist nicht verhallt und vergrollt, ohne ein anderes Ereignis sehr peinvoller Art nach sich gezogen zu haben.

Frau Sabine wünschte ihre Briefe zurück und wünschte mir sagen zu lassen, daß ich fort von Mühlau müsse. Mit der Unvorsichtigkeit, die nur holdeste Reinheit und verblendete Leidenschaft haben konnten, beschlossen die beiden Damen, daß Fräulein Susanne zu mir gehen solle.

Sie that es vor einigen Tagen in einer Nachmittagsstunde. Zehnmal bin ich gerade um jene Zeit mutterseelenallein. Aber Sie kennen das: wo keine Zeugen gewünscht werden, stellen sie sich unfehlbar ein. Mein Kamerad Bläser kam. Meine Wirtin war auf dem Flur gewesen.

Bläser faßte die Situation ritterlich auf. Er sah, ich merkte es, Susannen für meine heimliche Braut an.

Die Wirtin aber schwatzte.

In zwei Tagen war Mühlau voll davon. Da traf ich, noch ahnungslos über den Klatsch, Fräulein Susanne auf dem Ressourcenball und widmete mich ihr in der unverhohlenen Verehrung, welche ich für dieses holde anbetungswürdige Geschöpf empfinde.

Nun ist der Klatsch zum Skandal geworden; mein treuer Kamerad Bläser berichtet ihn mir eben.

Daß ich sehr eilig handeln muß, Fräulein Susannens Ruf zu schützen, versteht sich von selbst.

Diese Zeilen an Sie werden noch nicht auf der Post sein und man wird mich schon unterwegs sehen nach dem Hause des Oberamtmanns Deuben. Was ich dort will? Das einzige, was ein Ehrenmann kann, der nicht gesonnen ist, eine junge Dame, die denn doch thatsächlich und unleugbar in seiner Wohnung war, schutzlos zu lassen!

Ich werde um die Hand von Fräulein Susanne anhalten!

Ich werde einen Korb bekommen! Mit schmerzlicher Bitterkeit gestehe ich es mir. Aber lassen Sie mich Ihnen, teurer, hochverehrter Freund, in dieser Stunde gestehen, daß ich vielleicht später, wenn die Zeit mir gestattet hätte, mir Ihr Vertrauen und dasjenige Fräulein Susannens zu erwerben – daß ich dann vielleicht den Mut gehabt haben würde, um ihr Herz zu werben.

Es hat nicht sein sollen. Dieser brutale Zwischenfall vernichtet alles.

Ich habe mich gefragt: welche Genugthuung kann ich Fräulein Susanne geben? Wie ihre Ehre wiederherstellen? Die Wahrheit kann ich nicht sagen – Sie wissen es. Lieber sterben!

Es ist ja kein schuldvolles Geheimnis das, was zwischen mir und Sabine vorging. Aber die Geschichte dieser unglücklichen Leidenschaft ist nur von feinen und reifen Seelen zu verstehen und zu verzeihen. Es ist keine Geschichte für den Marktplatz.

Und mich muß noch die Furcht peinigen, daß Sabine, in Großmutsekstase, in Raserei unerloschener Liebe, aus ihrem ganzen kühnen Temperament heraus, selbst die Wahrheit sagt, ohne zu bedenken, daß in der Folge ihr Leben noch schwieriger werden würde, als es ohnehin schon ist. Sabine wird sich ja, ebenso wie ich es thue, sagen, daß wir allein die Ursache dieses Vorkommnisses sind. Sie wird, sich selber preisgebend, die Freundin verteidigen wollen.

Aber Sie werden mir beistimmen, daß es meine Pflicht ist, sowohl zu verhüten, daß Sabine sich anschuldige, als auch, daß auf Susannen ein häßlicher Verdacht ruhen bleibt. Der einzige Weg dazu scheint mir aber, Fräulein Susanne einen förmlichen Antrag zu machen, ihr freizustellen, mein Vermögen, meine Stellung zu teilen. Eindringlicher kann man der Welt doch nicht darthun, daß man eine Dame hochachtet. Und die Welt – diese enge kleine Mühlauer, wird das ja schleunigst erfahren, und wenn sie zugleich erfährt, ich sei abgewiesen, so wird sie immerhin vielleicht von ernsthaften Konflikten phantasieren, aber sie wird Susannen nicht mehr für leichtfertig halten.

Vielleicht mache ich da ganz falsche Schlüsse. Dann haben Sie Nachsicht mit einem Mann, der sich in sehr verwickelter Lage befindet und zugleich nach zwei Seiten hin den Schützer spielen möchte und muß.

Entrüstet Susanne sich vielleicht gar darüber, daß ich, ein Mann, den sie noch vor kaum drei Monaten für eine andere entbrannt sah, es wagte, ihr meine Hand anzutragen, so nur der Form halber, dann, ich flehe Sie an, sprechen Sie ein wenig für mich. Erklären Sie ihr meine guten Absichten, wie ich versucht habe, diese Ihnen zu erklären.

[528] Und wenn das Unwahrscheinliche, das Unfaßliche dennoch geschehen sollte, wenn Fräulein Susanne diese Hand nicht ausschlägt – dann, ich schwöre es Ihnen – soll mein ganzes Leben lang jeder meiner Gedanken mit ihrem Glück beschäftigt sein.

In schmerzlicher Bewegung
 Ihr tief ergebener
 Achim von Körlegg.“

Nach diesem Brief war ihm besser zu Mut.

Er rief nach seinem Burschen. „Hier – diesen Eilbrief zur Post – aber erst noch meinen besten Waffenrock – auch die neue Schärpe – schnell – hören Sie denn nicht? – schnell, sage ich!“

In zwei Minuten war er fertig. Und als er über die Straße schritt, lächelte er in bitterer Ironie in sich hinein und dachte: Heut’ nachmittag haben die guten Leute die Fortsetzung des Romans, das Neueste von den beiden Liebenden, ha ha, von den beiden Liebenden ….

Fast hätte er voll Hohn laut aufgelacht. Und ihm war so weh ums Herz – so schneidend weh.

[550] Herr Doktor Sebold hatte sich die Hinweise seiner Frau gemerkt. Ja, er war der Nächste dazu, seinen alten Freund, den Oberamtmann, darüber aufzuklären, daß ganz Mühlau sich mit der zur Zeit in seinem Hause lebenden Susanne Osterroth beschäftige.

Solche Missionen sind ja immer unangenehm. Aber was thut Freundschaft nicht. Und dann schließlich: gab es wohl in der Stadt irgend ein Ereignis, bei dem Sebold nicht Berater, Mitwisser war? Ja, wenn er hätte sprechen wollen!! Vor ihm brauchte man sich wahrlich nicht zu schämen, er wußte, daß schließlich jeder sein Skelett im Hause hatte.

Unter solchen Vorreden saß er in der Eßstube beim Oberamtmann, und schon fühlte sich die Oberamtmännin gefoltert vor Angst und Neugier.

„Um Gottes willen, so sagen Sie lieber geraderaus: was ist denn los?“ fragte sie.

„Es betrifft Fräulein Susanne,“ sagte er.

„Ach – die –“

Sie war ganz enttäuscht und erleichtert. „Wohl der dumme Klatsch, daß die mit Herrn von Körlegg was haben soll?“

„Sie wissen …“

„Voigtstedt kam gestern damit an. Aber da seien Sie ruhig, lieber Doktor – die kennen sich gar nicht!“

Das wußte Sebold nun besser.

Er erzählte ganz genau, wie gestern abend alles hergegangen: kaum betrat Susanne den Saal, so stürzte Körlegg auf sie zu; offen sagten sie, daß sie sich schon gekannt; bei Tisch drückte er ihr einmal heimlich die Hand, Frau Rechtsanwalt Müller, die gegenüber gesessen, habe es so genau gesehen, daß sie es beschwören könne; beim Cotillon brachte er ihr Blumen; immer stand er und sah ihrem Tanze zu; stets suchten ihre Augen ihn. Außerdem war Sebold heute morgen noch bei Frau Leermann vorgewesen, um es sich bestätigen zu lassen, daß Susanne Osterroth den Leutnant von Körlegg besucht habe; Frau Leermann, unter der Bedingung, daß ihr keine Fatalitäten erwüchsen, gab es zu; wie oft Susanne dagewesen, könne sie nicht sagen, gesehen habe sie sie einmal …

Ein Zweifel war nicht mehr möglich; und das mußte man doch zugeben: wenn es sich dabei um ein ehrliches, anständiges Einvernehmen handele, würde das Fräulein sich dem Oberamtmann schon anvertraut haben, oder Körlegg würde um sie anhalten. Wenn da thatsächlich Heiratspläne vorlägen – dann allerdings nähme er alles zurück. Aber das scheine doch leider nicht.

Weinend sagte die Oberamtmännin:

„Welch eine Schlange hat meine arme, ahnungslose Sabine da am Busen genährt!“

„Hör’ mal,“ sprach der Oberamtmann, „das darfst du nicht so schlankweg sagen. Wer weiß, wie alles zusammenhängt! Und wenn sie sich nun wirklich schon geliebt haben, ehe Körlegg die unselige Sache mit unserem Schwiegersohn hatte, so ist das doch sehr traurig für die jungen Leute.“

„Unser Schwiegersohn war auch Susannens leiblicher Vetter,“ betonte sie stark.

„Nu … wir leben doch nicht in einem Land, wo Blutrache ist!“

„Du nimmst Susannen immer in Schutz. Du hast ein ausgesprochenes Faible für sie!“ rief die Oberamtmännin gereizt, „natürlich – der blonde Haarschopf hat es dir wieder angethan!“

Aus der Tiefe der Zeiten tauchte die Gestalt einer blonden Wirtschafterin auf, der Deuben einmal in die Wangen gekniffen. Das hatte ihn damals viel gekostet.

„Am besten ist es wohl, wir hören mal, was Sabine von der Sache meint,“ sagte er ablenkend.

„Ja, Ihre Frau Tochter, als beste Freundin des Mädchens, müßte eingeweiht sein oder wenigstens Beobachtungen gemacht haben. Gab ihr Susanne nicht einmal dazu Gelegenheit, dann deutete das allerdings auf einen Grund von …“

Sebold zuckte die Achseln.

„Von unerhörter Verderbnis,“ schloß die Oberamtmännin.

„Sabine!“ rief der Oberamtmann aus der Thür.

Seine Stimme scholl durch die ganze Wohnung, das wußte er.

Richtig steckte Sabine auch den Kopf aus der Thür ihres Zimmers und rief über den Flur: „Ja, Papa. Was soll ich?“

„Herkommen. Aber bitte allein.“

Befremdet durch diesen Befehl, der Susannen und die Kinder ausschloß, erschien Sabine.

Sie sah Sebold stehen, das Fenster im Rücken, wie er immer gern stand, den Gesichtern der andern das Licht, seinem eigenen den Schatten lassend.

„Sebold bringt uns unangenehme Nachrichten,“ sagte der Oberamtmann. „Bitte, Doktor, erzählen Sie alles noch einmal genau.“

Und mit klagender Stimme, die Hände bedauernd reibend, fing er von vorn an.

Sabine hörte – unwillkürlich schritt sie näher – nah’ – mit den schleichenden Schritten einer, die sich in rasendem Zorn auf jemand stürzen will. Ihre Finger bogen sich, ihr Atem keuchte.

Vor ihren funkelnden Augen erschrak der salbadernde Mann und versprach sich, verwickelte sich, entschuldigte bei jeder Anklage. Er zog sich zurück, er stotterte, daß es ihm ja selbst sehr leid sei …..

„Welche Gemeinheit!“ schrie Sabine.

Ihre Mutter zitterte.

„Rege dich nicht so auf, mein Kind! Es schadet dir. Ja, es ist gemein von ihr. Deine beste Freundin! Und so hast du sie geliebt,“ sagte sie weinend.

„Unerhört!“ rief Sabine wieder. „Du glaubst es – du glaubst, daß Susanne etwas thun könnte, dessen sie sich zu schämen hätte?“

Sie ging mit großen Schritten und Gebärden im Zimmer hin und her.

„Mit welchem Recht unterstehen diese elenden Klatschbasen sich, das Thun und Lassen ihres Nächsten zu belauern und zu begeifern!“ rief sie in loderndem Zorn. „Kümmere ich mich darum, ob Nachbar Hinz seine Straße rechts und Nachbar Kunz seine Straße links hinaufgeht?! Wie arm, wie klein … o, könnte man sie fassen und strafen! Schlagen möcht’ ich sie. Schlagen!“

Sie blieb stehen, wo sie gerade war, und legte ihre Stirn gegen die Wand. Sie machte den Eindruck einer völlig Fassungslosen.

Der Doktor und die Eltern sahen sie angstvoll an.

„Gewiß, mein Kind, du hast im Princip ja ganz recht,“ begütigte der Oberamtmann, „aber an den Thatsachen können wir nichts ändern. Das ist nun mal in der ganzen Welt so: einer bespricht den andern. Und wer was Ungewöhnliches thut, muß besonders herhalten. Jetzt, in dieser Sache, müssen wir nun doch feststellen, was dran ist. Mir scheint, du weißt nichts davon. Soll’n wir mal Susannen rufen und sie zur Rede stellen?“

Sabine richtete sich wieder auf. Sie strich mit harten Händen ihr Haar aus der Stirn.

„Was geht es dich an, was Susanne thut? Du bist nicht ihr Vormund. Sie ist dein Gast, du darfst sie nicht kränken, indem du ihr den Verdacht aussprichst, sie könne Unweibliches gethan haben!“ sprach sie mühsam.

„Sie ist ein junges Mädchen und steht unter meinem Schutz. Solange sie bei uns ist, ist mein Haus für sie verantwortlich!“ sprach der Oberamtmann ernst.

Er wartete, daß Sabine sich weiter äußern werde.

Aber sie stand mit verschränkten Armen und starrte düster vor sich hin.

Sie würde die Wahrheit sagen! Das war ihr Entschluß! Sofort und gleich würde sie sie ihren Eltern kühn ins Gesicht schleudern. Nur nicht in Gegenwart dieses schleichenden, [551] neugierigen Mannes, der, kaum die Schwelle hinter sich, aller Welt mit rohen Worten von ihrem schmerzlichen, heiligen Geheimnis erzählen würde.

Von dem Geheimnis ihrer großen, unseligen, hoffnungslosen Liebe.

Nein, das um keinen Preis.

Schrecklich schon, daß sie es ihren Eltern sagen mußte. Mit Worten das Unsagbare klarlegen – das, was nur in keuschem Schweigen wahrhaft groß bleiben konnte. So groß, daß es sie noch erhob in all ihrem Elend. – – –

Ihr Vater mußte und würde dann Mittel und Wege finden, der Verleumdung den Mund zu stopfen.

Und hinter diesen Gedanken standen noch andere, quälend, unbestimmt, drohend.

Die Eifersucht regte sich und wollte Sabinens Herz angstvoll umklammern.

Wie – so vertraut, so innig hatten die beiden verkehrt, daß die Gesellschaft Liebende in ihnen zu sehen glaubte …

„Sabine, sollen wir sie rufen?“ fragte die Oberamtmännin.

„Nein. Ich werde erst selbst und allein mit ihr sprechen, wenn Herr Doktor Sebold fort ist!“ sagte sie hart.

„Ich gehe schon, meine beste gnädige Frau,“ beeilte er sich zu sagen. Denn er fühlte wohl: sie wies ihn hinaus.

In diesem Augenblick kam Guste in das Zimmer gestürzt, eine Visitenkarte in der Linken.

„Da ist ’n Offizier draußen. Er möchte mit Ihnen allein sprechen, Herr Oberamtmann,“ sagte sie.

Der Oberamtmann nahm die Karte.

„Es ist Herr von Körlegg,“ sprach er ernst.

Sabine wurde weiß wie der Kalk an der Wand.

Eine kurze Pause entstand.

„Ich lasse bitten. Guste, laß den Herrn ins Wohnzimmer! Na, Adieu, Sebold.“

Er schüttelte dem Doktor die Hand, und der fühlte sich zu sehr „entlassen“, um noch einen Augenblick bleiben zu können.

Der Oberamtmann rückte sich ein bißchen zurecht. Er fühlte, daß er einem wichtigen Augenblick entgegenging.

Hoch richtete er sich auf, in seiner ganzen, schwerfälligen Würde fast imposant anzuseh’n.

„Papa,“ sagte Sabine mit tonloser Flüsterstimme, „laß die Thür auf, daß wir hören können. Nur einen Spalt. Wir rühren uns nicht. Es ist ja kein Geheimnis für uns, wovon die Rede sein wird!“

Er nickte Gewähr und ging mit wuchtigen Schritten in das andere Zimmer.

Ein wahnsinniger Gedanke hatte sich Sabinens bemächtigt. Sie horchte mit allen Sinnen. Ihr war, als könnte sie durch die Mauer sehen und sähe den alten, selbstbewußten, würdigen Mann und ihm gegenüber ernst und nicht minder würdig den jungen. Und er gestand alles. Und er sagte, daß er und Sabine sich liebten, daß er geglaubt habe, des Toten wegen verzichten zu müssen, daß er aber nun eingesehen habe, welches Unheil auch für eine Unschuldige daraus entstanden sei, und daß er nun komme, um Sabinens Hand zu werben – – –

Sie horchte mit gierig vorgeneigtem Leib. Und sie hörte:

„Verzeihen Sie, Herr Oberamtmann, daß ich in Ihr Haus dringe. Sie werden annehmen, daß nur eine außerordentliche Angelegenheit mich bestimmen konnte, Ihnen zuzumuten, mich zu empfangen.“

„Ich bitte Sie, Herr von Körlegg, mich nicht für so kleinlich zu halten, daß ich nicht imstande wäre, den Thäter von der ungewollten That zu trennen. Lassen wir die Vergangenheit.“

Sabine hätte ihren alten Vater küssen mögen für diese verständigen, fast entgegenkommenden, vornehmen Worte.

„Sie haben ohne Zweifel, Herr Oberamtmann, von den geschäftigen Gerüchten gehört, die den Namen des Fräulein Susanne Osterroth mit dem meinen verbinden.“

„Allerdings, Herr Leutnant. Ihr Besuch fällt, wie ich offen sagen will, mitten in unsere Beratung hinein. Wir erwogen, ob wir den Gerüchten Glauben schenken sollten – wir sind dazu gezwungen, sie zu glauben.“

„Diese Gerüchte verbinden Wahrheit und Lügen.“

„Das pflegt so zu sein. Aber schlimm genug, wenn hier überhaupt nur etwas wahr ist.“

„Herr Oberamtmann!“ – Sabine hörte, wie die redende Stimme einen sehr energischen Ton annahm – „Herr Oberamtmann, die Angelegenheit, welche Fräulein Susanne Osterroth einmal in meine Wohnung geführt hat, ist ein absolutes Geheimnis zwischen ihr und mir. Der einzige, dem ich, im Interesse auch des Fräuleins, darüber Rechenschaft abzulegen mich gezwungen fühle, ist Herr Fritz Osterroth. Ein Brief mit den vollständigen Erklärungen an den Onkel und Vormund Fräulein Susannens ist unterwegs.“

Es schien ihren Vater zu reizen, daß Fritz Osterroth in dieser Sache der Vertraute und die Instanz sein sollte, wo man ihn ausschloß. Seine Rede klang erregt: „Daran haben Sie ohne Zweifel sehr recht gethan, Herr von Körlegg. Nur weiß ich dann nicht, weshalb Sie zu mir gekommen sind. Und überdies: Onkel Fritz ist in Berlin. Mag der da zehnmal alles begreifen und verzeihen. Damit ist die Geschichte hier in Mühlau nicht glatt gemacht.“

„Eben deshalb komme ich zu Ihnen. Ich bitte Sie, hochverehrter Herr Oberamtmann, mir in Ihrer Gegenwart eine kurze Unterredung mit Fräulein Susanne Osterroth zu gewähren.“

„Zu welchem Zweck?“

„Ich möchte um sie anhalten.“

Sabine schrie nicht.

Sie stand erstarrt. Schwarz war es vor ihren Augen. Die ganze Welt ringsum schien von brausenden Glockentönen durchflutet. Die Schallwellen tobten in ihrem Kopf und raubten ihr die Besinnung.

Halb ohnmächtig fiel sie in die Knie und sank mit ihrem Kopf vornüber auf einen Stuhlsitz.

Tödlich erschrocken kauerte die Mutter neben ihr nieder.

Achim nebenan hörte einen dumpfen Ton, und die Dielen zitterten leise. Unwillkürlich richtete er seinen Blick auf die Thür, hinter welcher der Laut und die Erschütterung gewesen zu sein schienen. Diese Thür war nur angelehnt. – – –

Er ahnte, wer da horchen mochte. Und dies Gefühl erleichterte ihm nicht die ohnehin so schwere Stunde.

Um seinen Mund zuckte es herbe.

Der Oberamtmann aber verbarg mit Mühe sein plötzliches, schmunzelndes Behagen. Es that ihm sehr wohl, daß das entscheidendste und wichtigste Wort in der Sache denn doch in seiner autoritativen Gegenwart gesprochen werden sollte.

Mit seinen schweren Schritten ging er hinaus, um Susannen zu holen; er hielt es diesmal nicht für schicklich, über den Flur zu rufen.

Hinten saß Susanne vor Aufregung fiebernd. Man hatte erst Sabinen so sonderbar gerufen. Und dann war eben Lisbeth hereingestürzt gekommen, mit der Flüsterkunde: „Eben ist der Leutnant von Körlegg vorn ’reingelassen!“

Er – was wollte er in diesem Hause? Was ging vor?

Sekundenlang blitzte dieselbe Idee durch ihr Hirn, die Sabinen verwirrt hatte: wenn er doch noch zu Sabine zurückkehrte und jetzt um sie anhielte! – – –

Aber nein, das war unmöglich. Er hatte es so klar, so mit harter Deutlichkeit gesagt: er liebte Sabine nicht! Und er hatte sie auch nie geliebt, wenigstens nicht mit dem Gefühl, das für Susanne Liebe hieß.

„Ich komme, ich komme!“ sagte sie bebend, als der Oberamtmann den Kopf zur Thür hereinsteckte und ihr sagte, daß sie vorn erscheinen müsse.

Ihre Füße trugen sie kaum, schwankend ging sie hinter dem alten Manne.

Bei ihrem Eintritt verbeugte Achim sich sehr feierlich.

Vor Verlegenheit grüßte sie kaum – sie staunte ihn an, und ihre bangen Blicke quälten ihn sehr.

„Herr von Körlegg hat Ihnen etwas zu sagen, mein liebes Kind,“ hob der Oberamtmann an.

„Mir? Mir .....“

Sie faltete die Hände und stand vor Achim wie ein flehendes Kind.

„Mein gnädiges Fräulein!“ sprach er, während seine Mienen in ehernem Ernst zu erstarren schienen, „die Thatsache, daß Sie [554] mir vor einigen Nachmittagen die Ehre Ihres Besuches schenkten, in einer Angelegenheit, die, wie ich bereits Herrn Oberamtmann gegenüber betonte, durchaus unser Geheimnis ist und bleibt, diese Thatsache ist bekannt geworden, ist häßlich ausgedeutet. Geben Sie mir das offizielle Recht, jeden zur Verantwortung zu ziehen, der an Ihren guten Namen tasten will. Ich nehme mir die höchste Ehre, die sich ein Mann Ihnen gegenüber nehmen kann: ich gestatte mir, mein gnädiges Fräulein, Ihnen meinen Namen, meinen Schutz, mein Leben zu Füßen zu legen. Fräulein Susanne: werden Sie mein Weib!“

Es riß ihn fort. In unerbittlichem Ernst begann er. Die zurechtgelegten Worte kamen wohlgeordnet von seinen Lippen. Und dann quoll eine Erschütterung in ihm auf … seine Augen wurden ihm feucht …

Susanne aber wich von ihm zurück.

„O mein Gott!“ rief sie, „o mein Gott!“

Sie begriff alles, ganz und gar.

Weil ein Dutzend fremder, elender Menschen schlecht von ihr gesprochen hatte, kam er, ritterlich und aufopfernd, und bot ihr seine Hand – – –

Nur darum – nur darum!

Was lag an den Menschen! Was daran, wie die von ihr dachten!

Und korrekt und kalt, einem Ehrgebot folgend, oder einer Aufwallung von Beschützergroßmut, kam er und hielt um sie an.

Ohne Liebe. Ganz ohne Liebe – – –

„O mein Gott!“ stöhnte sie noch einmal.

Für den Oberamtmann hatte diese ihre Aufregung den begreiflichsten Grund. Daß Körlegg so steif und verzweifelt ernst war, fiel ihm nicht auf. Er liebte es selbst, daß es bei feierlichen Anlässen auch feierlich zugehe.

„Trösten Sie sich, mein gutes Kind,“ sagte er voll väterlichen Wohlwollens, „Sie sind nicht die Erste und werden nicht die Letzte sein, die unschuldig in den Mund der Leute kommt. Es klärt sich ja nun alles auf. Wenn Sie sich verloben, ist ja alles gut. Daß junge Liebesleute vor ihrer öffentlichen Verlobung heimlich zu einander laufen, das kommt ja vor. Das haben wir alle gemacht, wie wir jung waren!“

„Ach, das ist mir ganz egal – was die Leute sagen!“ sprach Susanne.

Achim hörte – das war wie ein Klang aus fernen Tagen … gerade dasselbe hatte eine andere auch einst gesagt. War das der kühne, vornehme Mut stolzer Frauenherzen? Oder die Unerfahrenheit des Weibes? …

Der Oberamtmann lächelte nachsichtig.

„Nun, mein liebes Kind – was haben Sie zu antworten?“ mahnte er, „nehmen Sie auf mich und mein Haus keine Rücksicht. Sie stehen meiner Tochter sehr nahe. Aber über Freundschaft geht Liebe. Sie werden meiner Tochter ja nicht abverlangen, sich mit Ihrem Verlobten zu begegnen. Was dazwischen liegt, das wissen wir ja.“

Susanne sah vor sich nieder. Sie hatte nicht den Mut, dem Mann, zu dem sie jetzt sprach, ins Gesicht zu sehen.

Und weinen wollte sie nicht vor ihm, nur das nicht.

„Ich danke Ihnen, Herr von Körlegg,“ sprach sie sehr leise, „aber ich kann Ihren Antrag nicht annehmen!“

„Sie sagen Nein?“ rief der Oberamtmann ganz verdutzt.

Sie neigte das Haupt.

„Ich sage Nein.“

Achim von Körlegg verneigte sich sehr tief, erst vor Susanne, dann vor dem alten Herrn.

An der Thür machte er noch eine dritte, letzte Verbeugung und ging hinaus.

Susanne aber setzte sich an den Tisch, versteckte ihr Gesicht auf ihren auf der Tischplatte verschränkten Armen und fing an zu schluchzen, ganz fassungslos und ganz verzweifelt.

„Was ist denn dies? Was ist das alles?“ fragte der Oberamtmann, sich aus tiefstem Erstaunen aufraffend. Er klopfte ihr väterlich auf die Schultern. „Weinen Sie doch nicht so, mein Kind! Mögen Sie ihn denn nicht?“

„Ach ja – ach ja,“ schluchzte sie.

„Ja, dann versteh’ ich die ganze Geschichte nicht!“ sprach er.

„Nicht fragen – nicht fragen. Ach, ich mag nicht mehr leben!“

Sie weinte fort.

Er stand ratlos. Allerlei Gedanken kamen ihm. Vielleicht konnte Susanne, trotzdem sie den Mann liebte, doch nicht darüber weg, daß er ein Menschenleben vernichtet hatte – noch dazu dasjenige eines ihrer Blutsverwandten. Hm? Das arme Kind! Aber solch’ Gefühl ließ sich verstehen …..

Der alten Klatschbase, dem Sebold, und allen andern Mühlauern wollte er es aber eintränken, daß hier von keinem Leichtsinn und keiner bloßen Liebelei die Rede war. Er hatte es mit seinen eigenen Ohren gehört, daß ein Körlegg alles, was er war und hatte, dem Mädchen zu Füßen legte.

Die Oberamtmännin kam mit verstörten Mienen herein.

„Nun?“ fragte sie, auf die weinende Susanne blickend.

„Sie will nicht!“ Und dazu machte der Oberamtmann heftig abwinkende Gebärden: seine Frau solle nicht mit undelikaten Fragen kommen.

„Bitte, Susanne – wenn es möglich ist – fassen Sie sich – Sabine verlangt nach Ihnen. Guste und ich haben sie nach hinten auf ihr Bett gebracht. Sie wurde mir nebenan ohnmächtig,“ sagte sie.

„Was sind das alles für Geschichten!“ seufzte der Oberamtmann.

Langsam, das Taschentuch vor dem Gesicht, ging Susanne hinaus.

Hinten im Zimmer, auf dem Bett ausgestreckt, gegen das Versiegen der Kräfte gewaltsam ankämpfend, lag Sabine, bleich und matt.

Sie versuchte sich bei Susannens Eintritt ein wenig aufzurichten.

„Was hast du gethan?“ rief sie fieberhaft.

„Nein gesagt!“

„Ach – du konntest nicht anders, nein, du konntest auch nicht anders!“ flüsterte Sabine wie erlöst und sank zurück.

Die andere warf sich über sie, das Gesicht an ihrer Brust, weinend rief sie laut: „Aber ich liebe ihn! Jetzt will ich es dir sagen! Ich liebe ihn, seit ich ihn sah!“

Lange weinte sie fort.

Mit unsicherer Hand tastete Sabine nach dem Haupt der Weinenden.

„Armes Kind!“

Und dann flüsterte sie: „Ich habe mich bezwingen müssen – du mußt es auch!“

Sie vergaß, daß nicht sie sich, sondern daß das Schicksal sie bezwungen hatte.


13.

Nun wollte Susanne keinen Tag mehr dableiben. Sie wollte zu ihrer Mutter, zu Onkel Fritz, und Sabine widerstand nicht.

„Ich hörte ihn sagen, daß er Onkel Fritz alles geschrieben habe. Teile mir mit, was er ihm antwortete – du kannst es sicher erfahren!“ drängte sie. „Und schreibe mir auch, wie es ihm gehen mag, wenn er wieder in Berlin ist; wenn du auch selbst ihn nicht siehst, so kannst du durch Benno von Zeuthern doch immer etwas hören.“

Und als sie Abschied voneinander nahmen, da sagte Sabine das Höchste, was sie sagen konnte, um dem Herzen des treuen Mädchens wohlzuthun: „Dir allein hätte ich ihn gegönnt. Keiner Frau auf der Welt sonst!“

Sie hatte es leicht, sich in diesen Gedanken hineinzusteigern, denn ihre Seele war ruhig in der Gewißheit, daß der geliebte Mann Susannen niemals zu eigen sein werde und nach all diesen Ereignissen auch wohl niemals einer andern.

Susanne schrieb gleich. Sie hatte den „lieben einzigen herrlichen Onkel Fritz“ offen gefragt, was er „ihm“ wohl geantwortet habe.

„Er hat ungefähr folgendes geschrieben: Die Ehre einer Frau stände gottlob höher und fester, als daß der Klatsch sie ihr nehmen könne. Immerhin begreife er, daß Achim, als Offizier und Ehrenmann, mir die Genugthuung eines Antrages glaubte geben zu müssen. Im übrigen sei es ihm erwünscht, einmal eine [555] Unterredung mit Achim zu haben, sobald derselbe wieder in Berlin sei.“

Dies war das letzte Zeichen, das an die stürmische Zeit, die hinter Sabine lag, mahnte.

Dann sank eine große Stille über ihr Leben. Sie wandelte hindurch wie eine, die wachend träumt, an allem nur äußerlich mechanisch teilnehmend.

Das Weihnachtsfest ging so an ihr vorüber. Es blitzte Lichterglanz in ihre Augen. Kinderlachen scholl an ihr Ohr. Breite Festfreude that sich ringsum behäbig gütlich am Wohlleben der Feierzeit. Kirchenglocken hallten durch die Winterluft. Und auf den Fluren lag der stille, weiße Schnee.

Dann kam Reinalds Hochzeit. Wie nah’ war ihr einst dies Fest gegangen, wenn sie es in ihrer Phantasie im voraus erlebte. Dann war es ihr gewesen, als würde die Vermählung des einzigen geliebten Bruders ihre Seele tief erschüttern; heiße Wünsche und Sorgen für sein Glück ließen sie dann schon im voraus Thränen weinen.

Was ging sie dieser behaglich fröhliche, wichtig auftrumpfende Mann eigentlich an, der infolge der Anbetung seiner Braut ein unfehlbarer Sittenrichter geworden war, dem sich der Horizont langsam und ständig mehr eingeengt hatte, so daß er nur noch eine ganz kleine Welt voll zufriedenem Glück und ausschließlich landwirtschaftlichen Interessen einschränkte? Was ging er sie an?! Es war ihr Bruder! Ja.

Aus einer Wiege waren sie entsprossen. Ach, wie man im Leben auseinander wächst! Eigentlich war es zum Weinen.

Aber wozu weinen?

Sabinens Augen waren trocken.

Sie blieben es auch, als auf der Trauung alle Damen in Thränen schwammen und selbst die Herren sich heimlich die Augen wischten.

Warum weinten alle diese Leute? Reinald und Martha gingen ja einem fraglosen, sicher fundamentierten Glück entgegen. Es konnten einmal ein paar Mißernten kommen. Ihre Kinder konnten erkranken, oder sie bekamen keine Kinder und wünschten sich vergebens welche. Die kleinen Opferungen an das Schicksal würden ja auch ihnen nicht erspart bleiben. Aber was war das?

Ach, Alltagsleid und Alltagsglück.

Martha hing nachher an ihrem Halse, rot und gedunsen im Gesicht vom Weinen, und schwor ihr, Reinald glücklich zu machen.

Welch ein überflüssiger Schwur! Diese beiden mußten ja geradezu Kunst aufwenden, sich nicht glücklich zu machen.

Benno von Zeuthern war zu der Hochzeit eingeladen und auch gekommen. Er glaubte, Sabinen diese Rücksicht auf ihre Familie schuldig zu sein. Sie hatte darüber vorher eine kleine, blasse Freude gehabt. Sie konnte ihn nach Achim fragen. Endlich, endlich wieder etwas von ihm hören.

Aber als sie den jungen Schwager vor sich sah, nett, fröhlich, mit lauter Redensarten, die gerade im Regiment aufgekommen waren, da mochte sie den einen Namen doch nicht über ihre Lippen bringen.

Und der Schwager wunderte sich nicht wenig, Sabine so schweigsam, so drückend ernst und so abgemagert zu finden. So ganz heimlich hatte er früher seine Gedanken über seines Bruders Ehe gehabt, die er nicht für glücklich hielt. Und nun schien es, als verzehre sich Sabine im stummen Gram?! Das genierte ihn beinah’. Denn er hatte seinen Bruder schon längst verschmerzt. Aber die Witwe – na, das war am Ende ja auch was anderes.

Nach Reinalds Hochzeit ging die Zeit in ungestörter Ordnung weiter. Alle vierzehn Tage, Sonntags, aßen Reinald und Martha in Mühlau bei den Eltern. Es wurde dann vom Wirtschaftsbetrieb, der Küche und den Leuten auf Heinsdorf gesprochen. Sabine war naturgemäß von der Unterhaltung ausgeschlossen.

Ich bin ein fremder Gast am Tische meiner Eltern, dachte sie. Zuweilen regte sich im Untergrund der Seele ihr ein Gefühl, das mahnend fragen wollte: Liegt es nicht an dir? Was nicht in den Dingen ist, kann man hineintragen. Und trägst du höheren Gehalt hinein in deine Umgebung – mit jenem leisen, feinen Wirken, dessen eine kluge Frau fähig sein sollte? Thust du das?

Ich will nicht, antwortete sie trotzig der mahnenden Stimme.

Nein, sie wollte nichts. Kein Leben, keine Freude, kein Vergessen. Sie wollte leiden!

Jeden Tag stand sie vor ihrem Wandkalender und sah die Stelle an, wo der erste März verzeichnet stand. Das war der Erlösungstag. Dann würde sie, so war es ja schon im November bei ihrer Rückkehr aus Italien bestimmt, nach Berlin reisen.

Sie war zu erschlafft in ihrem brütenden Leid, um selbst Briefe zu schreiben. Das Rot stieg ihr in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie dem alten Herrn wohl einmal schreiben müsse. Aber er, der alles verstand, würde auch ihr Schweigen verstehen.

An Susanne ging zuweilen eine Karte ab. Gewöhnlich stand nur darauf: ich habe deinen Brief empfangen, schreibe bald wieder.

Und Susanne schrieb oft. Gierig durchforschte Sabine die Zeilen nach dem einen Namen. Er kam nicht vor. Susanne hatte ihr fest versprochen gehabt, ihr von ihm zu berichten, sobald sie nur von ihm höre, oder ihn von weitem sähe, was ja immer im Schauspiel- oder Opernhaus noch am ehesten möglich sein konnte. Demnach sah sie ihn nie. Berlin war ja auch zu groß. Dort konnte man jahrelang leben, ohne einen Bekannten zu treffen.

Was aber Sabine nicht begriff, das war der lebensfrohe Ton in den Briefen der Freundin. Susanne schrieb befriedigt von ihren Studien; zum Ostertermin hatte sie sogar schon eine Stellung, worüber Onkel Fritz beinahe böse sei, und die Donnerstagabende bei Onkel Fritz seien immer bezaubernd.

Sie liebt nicht so wie ich, dachte Sabine dann. Oft aber war noch ein großes Erstaunen in ihr, daß Susanne Achims Antrag abgewiesen. Erst lange nachher, als Susanne schon wieder in Berlin war, begriff Sabine plötzlich, daß das eine furchtbare Versuchung gewesen war: Susanne liebte ihn und sagte dennoch Nein!

Gewiß, er hielt nur aus äußeren Gründen um sie an, nicht aus innerstem Herzenszwang. Aber konnte Susanne nicht hoffen, sich als Frau sein Herz noch zu erobern? Zitternd fragte sich Sabine, wie sie in solcher Lage gehandelt haben würde, und – wagte nicht, sich die Frage zu beantworten.

Wie sehr auch die Tage schlichen, endlich kamen sie doch bis an den ersten März.

Eigentlich ließen der Oberamtmann und seine Frau Sabine auch jetzt ungern reisen. Sie gefiel ihnen noch immer nicht. Die Eisenpillen, die Sebold ihr verordnet hatte und die sonst großartig wirkten, waren bei ihr ohne Erfolg geblieben. Sicherlich, dies alte Berlin würde ihr schaden.

Ueber die kahlen, vom aufgetauten Schnee nassen und schwarzen Felder brauste ein kräftiger Sturm. Sabine sah vom Coupéfenster aus, wie die Gipfel einzelstehender kahler Bäume niedergestrichen wurden. Alles, was vom Erdboden aufragte, schien eine Richtung nach Osten bekommen zu haben. Am Himmel jagten vor einem grellen, silbergrauen Lichtgrund regenschwere, dunkle Wolken dahin.

Gegen die vierte Stunde kam Sabine in Berlin an. Gleich sah sie den alten Herrn stehen. Vor Freude wurden ihr die Augen naß. Sie eilte ihm entgegen und nahm dankbar die schönen Rosen aus seiner Hand.

„Wo ist denn Susanne?“ fragte sie.

„Beschäftigt. Sie kommt später zu mir, um ihre liebe Sabine zu begrüßen.“

Er reichte ihr den Arm und führte sie hinab an einen Wagen.

Es war ihr lieb, daß er erst noch allerlei mit ihrem Gepäck zu thun hatte. Sie fühlte sich doch ein wenig beklemmt. Was sollten sie zusammen sprechen? Was vermeiden, was berühren?

Zu viel war geschehen, als daß sie noch mit Schweigen über das Vergangene hinwegzugehen vermochten.

Aber der alte Herr schien keine verlegenen und befangenen Gedanken zu kennen. Er war so lebhaft, ja geradezu munter, wie Sabine ihn noch nie gesehen hatte.

Während ihr Wagen vom Anhalter Bahnhof durch die Königgrätzer und Potsdamer Straße fuhr, drückte er ihr nur wiederholt herzlich die Hand.

Aber dann, als sie in die stillere Königin Augusta-Straße bogen und am Kanal entlang kamen, sagte er gleich:

„Während dieser langen Zeit, liebe Sabine, die ich Sie entbehren mußte, ist mir doch klar geworden, daß Ihre Eltern, sie mögen nun wollen oder nicht, Sie und Ihre Kleinen mir alljährlich einige Monate gönnen müssen. Schließlich, Sie sind ja [556] Ihr eigener Herr und mündig genug. Und ich denke auch so: Ihre Eltern werden gut daran haben. Jetzt haben sie eine Tochter, die sich müde flattert wie ein Vogel an den Käfigstäben des dortigen Lebens, der Verhältnisse. Später werden sie eine haben, die mit frischer Anregung und neugestählten Kräften immer gern wiederkehrt, liebe Pflichten freudig zu erfüllen. Was meinen Sie?“

Mit einem melancholischen Lächeln sprach sie: „Wie gern. Wenn Sie glauben, daß ich je wieder frisch werden kann – je wieder mit Mut das Leben zu tragen vermöchte …“

„O ja. Mit dem stolzen Mut des Ueberwinders!“ rief er.

Sie schüttelte den Kopf, bitter zuckte es um ihren Mund.

Er sah sie herzlich an. Aber er schwieg.

Sie kamen über die Herkulesbrücke.

„Da sind wir gleich. Haben Sie Nachsicht mit meiner Wohnung und mit meiner alten Meyerwisch. Sie wissen, wir wohnen erst seit zwei Jahren in Berlin, und die gute Frau hat ein wenig die Manieren einer ländlichen Schloßverwalterin behalten. Für meinen schönen stolzen Gast paßt das wenig!“

„Aber ich bitte Sie,“ sagte Sabine verlegen, „Sie kennen doch die bescheidenen Formen, in denen meine Eltern zu leben lieben!“

„Ja, ja. Aber da wandeln Sie immer ein bißchen herum wie eine verkleidete Fürstin,“ scherzte er.

„Thue ich das?“ fragte sie bestürzt. In seinem Scherz schien ihr eine Mahnung zu stecken …

Der Wagen hielt vor einem kleinen eleganten Hause, das nur vier Fenster im ersten Stock aufwies und im Erdgeschoß deren drei neben einer Hausthür. Auch hatte das Haus nur zwei Stockwerke.

„Oben bin ich Alleinherrscher,“ erklärte er, „unten wohnt die Eigentümerin des Hauses, ein altes Fräulein, das mich für einen leichtsinnigen Jüngling hält, woraus Sie auf ihren Taufschein schließen mögen, Und da meine Meyerwisch auch schon längst ihre fünfzig mit Ehren trägt, bekommen wir mit Ihnen so viel Jugend ins Haus, wie diese Mauern lange nicht sahen.“

Oben empfing Frau Meyerwisch schon auf der Treppe den Gast mit freudigen Lamentationen.

„Nein, daß die liebe gnädige Frau endlich da sind! Den ganzen Winter haben wir von nichts anderem gesprochen. Meyerwisch, sagte der Herr, wenn die gnädige Frau da ist, machen wir dies, wenn die gnädige Frau kommt, thun wir das!“

„Wollen Sie wohl schweigen! Nach solchen Reden wird die gnädige Frau mehr von uns erwarten, als wir ihr bieten können,“ sagte der alte Herr. „Und nun, liebe Sabine, vertrauen Sie sich der Führung dieser, wie sie bemerken, etwas aufschneiderischen Dame Meyerwisch an!“

„Die Fremdenzimmer sind oben neben meiner Stube,“ sprach die Frau, „wenn ich also bitten darf …“

Sie ging voran und sah sich dabei manchmal nach Sabine um, wie man sonst wohl als Pfadfinder sich vergewissert, ob der Weggenosse auch folge.

Frau Meyerwisch war groß und alles in ihren Zügen war groß: die fleischigen Wangen, die breite Stirn, die runden, braunen Kirschenaugen. Nur das feine Falkennäschen stand so fremd in dem Gesicht.

Und so war es auch mit ihrem Anzug bestellt. Zu einem würdigen, schweren schwarzen Wollkleid, dessen Schnitt von jeder Mode unabhängig schien, trug sie eine kleine schwarze Atlasschürze, die mit einem schwarzen Kreppvolant verziert war, auf welchem sich Rosen und Vergißmeinnicht in frühlingsfrohen Farben rankten.

Oben fand Sabine ein Zimmer, das so reizvoll ausgestattet war, daß ihr der Verdacht kommen mußte, der alte Herr habe erst ihretwegen diese heiteren grün-weißen Stoffe, die weißen zierlichen Möbel angeschafft.

„In einer halben Stunde bitte ich zu Tische,“ sagte die Frau, nachdem sie sich in freundlich eifrigen Fragen erschöpft hatte, ob auch alles so recht sei.

Zum erstenmal seit Monaten zog Sabine sich mit dem Bemühen an, gefällig und vorteilhaft auszusehen. Sie wußte, der alte Herr hatte ein Auge dafür.

Eigentlich hatte sie gedacht, daß sie niemals wieder ein Interesse daran haben würde, sich im Spiegel zu betrachten, ob auch ihr Anzug wohl geraten sei. Bei Tische fand sie sich dem alten Herrn allein gegenüber; ein Diener servierte.

„Ißt Frau Meyerwisch nicht mit uns?“ fragte sie.

„Sonst ja, wenn es Ihnen genehm ist. Heute bestand sie darauf, uns allein zu lassen.“

Von den beiden großen Zimmern, die Onkel Fritz’ Wohnung darstellten, war Sabine entzückt. Beide gingen auf die Straße, das eine diente zum Speisen. Und beide waren mit Kunstwerken aller Art harmonisch ausgestattet.

Obgleich es erst halb Sechs sein konnte, herrschte schon beinahe Dämmerung. Die kahlen Lindenwipfel der Kanaluferallee mochten das Licht nehmen, auch hingen dunkelfarbige Gardinen an den Fenstern.

Sabine war froh, daß der alte Herr Beleuchtung befahl. So lange sich hinzögernde Dämmerstunden beklemmten ihr die Seele. Auch schien es ihr, als sei er wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit zurückgefallen, die immer so etwas Bedeutungsvolles hatte.

Vielleicht liebt er es auch nicht, dachte sie, sich in Gegenwart des Dieners eingehend zu unterhalten.

Sabine bildete sich ein, daß er sie manchmal sorgenvoll ansähe. Er legte auch zuweilen die Finger der Linken gegen seine Schläfe. Das war bei ihm ein Zeichen innerer Unruhe.

Was mochte er haben?

Sie wurde sehr nervös. Ein qualvolles Vorgefühl bemächtigte sich ihrer. Sie bildete sich ein, es warte etwas auf sie. Das Schicksal sei im Begriff, einen neuen vernichtenden Schlag gegen sie zu führen – –

Vielleicht war auch alles nur Einbildung – Stimmung – –

Sie fühlte sich erlöst, als die Tischzeit zu Ende ging und der alte Herr sie bat, mit in den Salon zu treten.

„Wo aber nur Susanne bleibt?“ fragte Sabine beinahe ärgerlich.

„Sie wird kommen, gewiß,“ versicherte er. Er führte sie zu einem besonders gemütlichen Eckplatz, wo man in tiefen Lehnstühlen um ein rundes Tischchen sitzen konnte und gerade den Blick auf ein großes, altes Oelgemälde hatte, von dem man beim Lampenschein zwar wenig zu erkennen vermochte, das aber als wohlthuender ruhiger Farbenfleck schön wirkte.

Nur um etwas zu sprechen, fragte Sabine nach dem Meister und nach der Erwerbungsgeschichte. Onkel Fritz erzählte sonst gern, wie und wo er so nach und nach seine Schätze gesammelt hatte. Aber heute schien er doch sehr zerstreut, horchte nach draußen, und wenn einmal die Glocke der Wohnungsthür anschlug, schwieg er erwartend.

Und einmal, bald nachdem der Glockenton erklang, steckte Frau Meyerwisch den Kopf zur Thür herein und nickte.

Der alte Herr erhob sich rasch und schien diese stumme Benachrichtigung zu verstehen. Er ging hinaus.

Sabine war es, als ob nebenan im Eßzimmer hinter der Portiere dann geflüstert würde. Aber sie konnte sich auch getäuscht haben, denn Onkel Fritz kam nicht daher, sondern vom Flur wieder ins Zimmer zurück. Er schien sehr blaß.

„Ich störe Sie,“ sagte Sabine rasch, „Sie sind irgendwie beansprucht? – Ich bitte, ganz ungeniert zu sein, sonst würde es mich bedrücken.“

Er setzte sich zu ihr. Er nahm ihre Hand.

„Nein, mein teures Kind!“ begann er herzlich. „Sie sind an Ihrem rechten Platz und sind es zur rechten Stunde. Ich habe Ihnen etwas zu sagen!“

„Mir …?“ brachte Sabine heraus.

Ihre Gedanken irrten umher: was? was?

„Gestatten Sie mir, zu Ihnen von Achim von Körlegg und der Vergangenheit zu sprechen?“ fragte er leise.

„Wenn es sein muß!“ sagte sie und begann heftiger zu atmen.

„Ja,“ fuhr er mit sanfter, trauriger Stimme fort, „es muß sein. Dies eine Mal muß es sein. Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.“

Er kam nicht weiter. Mit klammernder Hand packte sie seinen Arm an. Ihre dunklen Augen sahen ihm flammend ins Gesicht. „Er ist tot!“ keuchte sie.

[558] „Aber nein – mein liebes Kind! Welch ein Gedanke!“ sprach er.

„Ah ...“ Erleichtert, beruhigt seufzte sie auf. Ihre verzerrten Züge ebneten sich, ihre Hand fiel herab.

„Nicht wahr – das hätte Sie und uns alle, die wir ihn schätzen, hart getroffen? Auch Sie, ich weiß es, wünschen wie wir ihm Leben und – – Glück.“

„Glück?“ murmelte Sabine. Der alte Herr hatte das Wort so zögernd, so sonderbar gesprochen ….

„Ja, das Glück einer Ehe, die auf dem Fundament reinster Neigung, der völligen Zusammengehörigkeit zweier Charaktere beruht. Ein Weib, das ihn liebt, ehrt und versteht. Das seiner etwas schwergrüblerischen Art heitersten Lebensmut beigesellt.“

„Wie sollte er ein solches Weib finden?“ sprach sie tonlos.

Eine furchtbare Ahnung stieg langsam und mit grausamer Drohung vor ihr auf. Aber sie wollte nicht glauben … Und sie wollte auch Haltung bewahren …. stolze Haltung – lieber Verachtung zeigen als Gram …. lieber schlagen als wieder und immer wieder geschlagen werden.

„Er hat es gefunden!“ sagte der alte Herr langsam.

Sie saß wie von Stein.

„Achim ist seit vierzehn Tagen mit Susanne verlobt. Sie wollen der Welt erst ihr Glück zeigen, wenn es Ihren Segen, teure Sabine, erhalten hat,“ vollendete er.

Sie schwieg, sie rührte sich nicht. Sie sah vor sich hin mit starren, blöden Blicken.

„Mein Kind,“ rief der alte Mann, dem das Weh das Gemüt durchzitterte, „weinen Sie! Schreien Sie! Ich weine mit Ihnen. Besinnen Sie sich! Es ist eine Thatsache, auf die Sie immer einmal gefaßt sein mußten. Sie und Er – Sie konnten nicht zusammenkommen – nie! Das wußten Sie doch!“

Er nahm ihre Hand. Sie war kalt.

Schwer klopfte ihm das Herz, und eine große Angst erwuchs in ihm. Wenn sie nur nicht so still und starr und bleich dasitzen wollte … Wenn er doch ihre Thränen hervorlocken könnte! Wenn der Mosesstab doch sein wäre, diesen heiligen Quell fließen zu lassen, der das sengendste Leid kühlt!

Er neigte sich zu ihr.

„Sabine,“ sprach er, „soll ich Ihnen erzählen, wie es ward?“

Sie nickte nicht.

Aber er dachte: Vielleicht hört sie es doch. Und er nahm ihre Hand wärmer noch und inniger zwischen seine beiden. Seine Blicke, feucht von einer unendlichen Zärtlichkeit, innig von einer reinen Güte, hefteten sich eindringlich auf ihr lebloses Angesicht.

„Als er mir damals schrieb, er würde ihre Hand begehren, da, mein liebes Kind, da war ich ganz gefaßt darauf, die Nachricht zu bekommen, daß Susanne ihm jubelnd um den Hals gefallen sei. Es wäre vielleicht nicht sehr stolz gewesen. Vielleicht auch nicht sehr klug. Aber doch sehr menschlich und verzeihlich. Denn sie liebte ihn! Das hatte ich schon gemerkt von der ersten Begegnung her. Das lautere Herz meiner Susanne habe ich gekannt und beobachtet, seit ihren frühesten Kindheitstagen. Wie hätte mir die erste Beunruhigung dieses Herzens entgehen sollen!“

Sabine gab kein Zeichen, daß sie höre.

Er aber sprach fort. Er fühlte, daß Gerechtigkeit und Notwendigkeit ihn zwangen, zu sprechen.

„Lassen Sie mich es Ihnen frei eingestehen: daß dies tapfere, gesunde, ehrliche Kind den Mut und den Takt gehabt hat, so ohne Besinnen, so ohne Kampf und nachträgliche Reue Nein zu sagen, das hat meine Liebe zu ihr erhöht. Ich ließ mir dies ‚Nein‘ nachher von ihr begründen. ‚Onkel,‘ sagte sie, ‚wenn er mich liebte, so wie ich ihn, dann hätte ich Ja gesagt. Dann mußte ich Ja sagen, denn zweier Menschen Lebensglück durfte nicht aufgegeben werden, weil vielleicht die arme Sabine noch mehr gelitten hätte. Aber da er nicht aus Liebe um mich warb, mußte ich wohl Nein sagen – auf mein Glück allein kam es nicht an.‘ Nicht wahr, Sabine, das war eine gerade und gute Empfindung?“

Ihm schien’s, als zuckte die kalte Hand zwischen seinen umschließenden Fingern.

„Das waren nun Susannens Ansichten von der Sache, und ich erfuhr sie unter Thränen. Ach, diese jungen, leichtfließenden Thränen der Jugend, die selbst im schwersten Gram noch unbewußt in tausend Hoffnungen steckt! Auch ich hatte meine Ansicht von der Sache gewonnen, und zwar aus Achims Brief. Ich fühlte, daß auch in seinem Herzen eine noch zaghafte, aber unabweisbare Stimme für meine Susanne sprach. Ich sah zwei junge, mir teure Menschen, wie füreinander von der Natur bestimmt! Und ich sollte nicht das meine dazu thun, sie zusammenzuführen? Ja, meine teure Sabine, ich habe es gethan. Ich habe ihr und ihm vorgeredet, daß man sich nicht zu meiden braucht, nach solchem Antrag und solchem Korb. Ich habe sie zusammen eingeladen und meine innige Freude gehabt, wie die zarten Keime wuchsen, wie die zaghaften Stimmen lauter sprachen und wie endlich die innige Erkenntnis: ‚Wir gehören zusammen für Leben und Tod!‘ ihnen leuchtend aus den Augen brach. Und wenn ich Ihrer gedachte, liebe Sabine – und wann wäre eine Stunde vergangen, ohne daß ich nicht Ihrer gedacht? – dann sagte ich mir: Sie sind groß und gut! Und so werden Sie sich bewähren, auch diesem Bunde gegenüber. Susanne aber will sich ihres Glücks nicht freuen ohne Ihren Segenswunsch.“

Ein zitternder Seufzer kam von Sabinens Lippen. Das erste Lebenszeichen. Und es schien, als spräche sie etwas. Unhörbar …. Ihre Lippen bewegten sich. Ein bitteres Lächeln blieb auf ihnen zurück.

Er aber streichelte ihr liebevoll die Hände und sah sie immerfort an. Mit geduldigem Herzen wartete er. Er kannte den Schmerz. Er hatte in stillen Leiden gestanden, seit vielen, vielen Jahren. Er sah es … sie war wie betäubt von dem Schlage …

Wenn sie nur nicht daran zu Grunde gehen wollte! Nur ein bißchen Kraft und Stolz heraus retten aus dem Jammer dieser Stunde … Dann traute er sich’s schon zu, mit schonenden, geduldigen, leisen Händen sie langsam wieder aufzurichten ….

„Mit … Susanne …,“ kam es jetzt heiser aus ihrem Munde. Es war wie eine Frage. Wie ein Laut noch völligen Unglaubens.

„Mein Kind,“ begann der alte Mann fast feierlich, „es mag Ihnen als etwas Unbegreifliches scheinen: nach dem hohen, rasenden Flug der Leidenschaft, die sonnenwärts fuhr und sich die Flügel brach, nun den Mann sich zu denken als einen, der gleichsam durch friedliche Blütengärten wandelt. Sie sahen sich ergriffen von einer überlebensgroßen Liebe und verloren die fühlende Verbindung mit dem bürgerlichen Dasein. Ach! mein liebes Kind: es giebt nichts Ueberlebensgroßes zu zweien, im Gedränge der Wirklichkeit! Wer so fühlt, wie Ihnen ein Gott gab, empfinden zu können, der steht einsam! Sehr einsam, und ist vielleicht verurteilt, es für immer zu bleiben.“

Seine Stimme schien zu brechen. Sein Auge war naß.

Nie Vergessenes trat vor ihn hin. Himmelstürmende Freuden und Leiden vergangener Jahre erschütterten ihn neu.

Hier war eine, die litt, wie er einst gelitten, die staunte, wie er einst gestaunt – – – Und diese Eine hatte in den Winter seines alten Herzens noch einmal ein keusches, verborgenes Leben zurückgebracht ……

„Wir alle, meine Sabine, wir alle sind nur Menschen! Auch er, den Sie so sehr geliebt, war nur ein Mensch. Nicht kühn und hart genug, um über Gräber zu schreiten! Nicht kalt und eisern genug, die Schönheit zu fliehen, die mit tausend Zaubern der Liebe in seinen Weg sich stellte. Aber daß er nicht so hart und daß er nicht so kühn war, ehrt sein Herz. Und daß er nicht kalt und nicht eisern war – wer will ihn deswegen richten?! Er war ein Mensch von Fleisch und Blut! – Und Sie selbst, mein Kind, haben nicht auch Sie sehr menschlich gehandelt?! Und glauben Sie, wenn sich wirklich Ihre Wünsche erfüllt, wenn Sie den so leidenschaftlich Geliebten für immer sich zu eigen gewonnen hätten, daß Sie ein wahres Glück mit ihm finden konnten?! Auf den wilden Sturmesflügeln der Leidenschaft kann man nicht zu zweien durch dies Leben rasen. Ihr Wesen ist Unruhe, ihre Macht zu herrisch, ihr Atem kurz!“

Er schwieg. Er wartete wieder. Was er sagen konnte, es war gesagt.

Als sie zum zweitenmal seufzte, war es wie ein Erwachen. Sie entzog ihm die Hände und bewegte sie unruhig, gleichsam suchend auf ihrer Brust, auf ihrem Herzen.

Dann stieß sie den Tisch zurück und machte den Versuch, aufzustehen. Der alte Mann half ihr sanft.

[559] Sie stand und sah ihn an …. wie weh ihm der entgeisterte Blick that.

Da rührte es sich – die Falten des Thürvorhanges thaten sich auseinander, Susanne kam herein.

Die andere schrie auf. „Nein! Nein! Nein ...“

Aber schon war das Mädchen ihr nahe und schlang beide Arme um die Widerstrebende.

Ihr Gesicht war thränenüberströmt, mit flehenden Augen schaute sie Sabine an. „Ich kann nicht mehr warten!“ rief sie, „ich kann nicht mehr! Ich sollte erst kommen, wenn ich gerufen würde. Auf den Knien habe ich da drinnen gelegen und gewartet. Sabine, verzeih’ mir – aber siehst du, ich liebe ihn so sehr! Ich kann nicht von ihm lassen. Und auch er – siehst du – auch er nicht von mir. Wir haben uns lieb, Sabine. Wir gehören zusammen. Sage mir’s, daß du mir nicht zürnst, daß du uns nicht hassen willst! Das wäre wie ein Fluch. Wir wagten nicht glücklich zu sein!“

Sabine stieß sie von sich. Ihre Augen blitzten. Ihr ganzes Wesen bäumte sich auf in der alten, ungebrochenen Kraft ihrer leidenschaftlichen Natur. Sie rief:

„Das kannst du?! Das? Ihn heiraten – glücklich sein?! Und sagst, daß du mich lieb hast?! Und trittst Freundschaft und Liebe mit Füßen! Ueber mich hinweg willst du gehen … zu ihm, zu ihm? O mein Gott –“

Aber da flammte auch Susanne auf.

„Und was wolltest du?!“ fragte sie trotzig entgegen. „Ueber das Grab deines Mannes, über das Vorurteil der Welt, über das Herz deiner Eltern, ja über deine eigenen Kinder hinweg wärest du geschritten, in seine Arme. In meinem Weg’ steh’n keine solchen Hindernisse. Da stehst nur du! Und du hast kein Recht und keine Hoffnung – auch wenn ich nicht wäre. Sollen wir beide unglücklich sein, er und ich – nur deinetwegen … “

Da ging ein Zucken und Zittern durch die Gestalt der unglücklichen Frau.

„Meine liebe Tochter!“ sagte der alte Mann sanft und trat zu ihr, seinen Arm um ihre Schultern legend.

Sabine schloß die Augen. Ihr war, als müsse sie sich wehren, das nicht zu sehen, was drohend vor sie hinzutreten schien.

War es nicht das Schicksal, das kam und sagte: Mit denselben Waffen, mit denen du mich bezwingen wolltest, komme ich und besiege dich!

Rücksichtslos vorwärts getrieben von der Gewalt der Liebe, war sie bereit gewesen, sich zu ihrem Ziel emporzukämpfen – selbst über Leichen … Wenn er nicht ihr in den Arm gefallen wäre und gerufen hätte: Nein!

Und nun wollte sie an dieser richten und hassen, was sie selbst in hundertfach blinderer Selbstsucht zu thun bereit gewesen war ….

Schon bereute Susanne die hart mahnenden Worte.

Sie glitt neben der anderen nieder und umklammerte mit beiden Armen ihren Leib. „Sabine,“ flehte sie, „vergiß, was ich eben sagte! Ach, wir wollen doch keinen Unfrieden! Ich weiß es ja, du bist groß und gut und gerecht! Und einst hast du es mir gesagt: mir allein gönntest du ihn vor allen Frauen auf der Welt. Hast du es nur gesagt, weil du dachtest, er würde niemals mein? Sieh’, hier liege ich und bettle …“

Sabine stand und sah in unbestimmte Fernen hinaus ….

Ihre Zukunft lag vor ihr ausgebreitet ….

Was würde sie sein in dieser Zukunft?

Eine gute, liebende Mutter – eine bessere und liebevollere gewiß als vordem; eine treue, aufopfernde Tochter – hingebender und geduldiger als vordem.

Und doch: das Tiefste und Geheimste in ihrem Wesen würde einem ungehobenen Schatze gleichen. Es war wie ein Acker, von dem niemand Frucht begehrt. Alle Fragen, die das Weib an das Leben hat – sie würden unbeantwortet bleiben. Alles Sehnen ihrer Seele nach einer anderen Seele, der ihren zum Genossen gesellt – es würde ungestillt bleiben!

Wie bei tausend und aber tausend Frauen. Sie war nur eine mehr! Nur eine mehr?

Nein, sie war reicher als Tausende …. Eine große Leidenschaft war leuchtend durch ihr Leben gegangen und hatte ihre Seele erhoben, auf den Thron eines königlichen Glücks …

Sabine richtete sich stolz auf. Ein wunderbarer Glanz ging über ihr Angesicht. Sie fühlte es tief: es war wert, zu leben und zu leiden, wenn man liebte wie sie …

Ihre tastenden Hände suchten den blonden Kopf, der noch immer flehend zu ihr emporgerichtet war.

Mühsam, mit kalten Fingern, strich sie dem Mädchen das Haar aus der heißen Stirn und sah ihr lange, lange tief in die Augen.

Und dann, ein Lächeln erzwingend, das schmerzlich um ihre Lippen ging, sprach sie tonlos:

„Mache ihn glücklich … sehr, sehr glücklich …“

Ihre Stimme brach. Sie neigte das Haupt auf die Schulter des alten Mannes.

Und während ihre Thränen flössen, bedeckte Susanne in stillem Jubel die arme, liebe, blasse Hand mit Küssen.

Ihr war, als habe sie aus dieser Hand nun erst wirklich ihr Glück empfangen.



Anmerkungen (Wikisource)