Der alte Birnbaum
Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.
Wo, seit am Fluß der Ort entstand,
Ein Obstwald schirmte Wiesenland,
Wo vor den Thoren sonst die Saat
Gekeimt, gegrünt, gereift zur Mahd,
Wo Tannenwald das Feld umschlossen —
Da drängte sich die Stadt hinaus,
Und wo sonst Gärten Geißblattlauben
Mit ihrer Büsche Grün umhegt,
Wo am Spalier vorm Haus die Trauben
Des Hausherrn treue Hand gepflegt,
Des Amts in sanfter Ruh’ verschlief,
Bis heller Amselgruß am Morgen
Hervor ihn zu den Blumen rief —
Da wütet mörderisch das Eisen,
Die Sträucher, Bäume hinzuraffen:
Für Steinkolosse Platz zu schaffen.
Ein Haus tritt auf des andern Saum,
Da bleibt für keinen Garten Raum!
Die grüne Welt, die sie umringt.
Jetzt, wenn der Lenz mit Blütenduft
Uns auf zur Daseinsfreude ruft,
Da heißt es, lange Straßenzeilen
Bis uns bewillkommt Wiesengrün,
Auf Baum und Strauch das lichte Blüh’n.
Doch siehe — dort, wo jenen hohen
Gebäuden, die schon unter Dach,
Gerüsten, andre wachsen nach,
Da grüßt der Rest von einem Garten,
Da ragt in stolzem Blütenflor,
Mit Aesten, schmuck wie Feststandarten,
Ein letztes Mal sich zu entfalten
In Lenzespracht war ihm gewährt,
Bald wird auch ihn die Axt zerspalten —
Bevor den Blüten Frucht beschert!
Umweben ihn mit lichtem Schein,
Es hüllen seines Duftes Fluten
Ihn sanft in Lenzesträume ein.
Noch steht die Bank, auf der sein Schatten
Auf der am Abend Kinder, Gatten
In seinem Duft sich wohlgefühlt.
Und sieh, zum Sitz, dem morschen, kommen
Zwei alte Leute, Arm in Arm —
Sie blicken traurig und voll Harm,
Indes sie Platz am Baume nehmen,
Der bebend seine Zweige wiegt,
Als schau’re ihn vor einem Schemen,
Es wächst die Stadt, ihr Wuchs verschlingt
Die grüne Welt, die sie umringt.
Das m[uß] ein liebeselig Wandern
Hinaus [z]um altvertrauten Ort,
Des kü[n]ft’gen Glückes sich’ren Hort!
Doch al[s] sie kamen her zur Stelle,
Da zäu[n]ten Hecken ein den Baum,
Und ne[b]en ihm da grüßte helle
Die Th[ü]r des Gartens fand sich offen,
Der W[e]g zum Freunde dicht umrankt,
Dort h[a]ben sie ihr höchstes Hoffen
Ihm a[n]vertraut und ihm gedankt!
Ein Vorgefühl vom jähen Tod,
Der hier inmitten Grabesmauern
Dem Baume über ihnen droht.
Dem Baum, der ihnen Freund gewesen
Dess’ Gruß stets aufgefrischt ihr Wesen,
Auch dann, da längst ihr Haar gebleicht …
Als einst um ihre Stirnen flogen
Die Kinderlocken, blond und braun,
Durch offne weite Wiesenau’n;
In seiner Zweige dichter Krone
Da war ihr herrlichstes Asyl,
Dort brach er Früchte ihr zum Lohne
In seines Laubes trautem Schatten
Ward dann der erste Kuß getauscht,
Hat sie als Braut des künft’gen Gatten
Begeist’rungsworten froh gelauscht.
Voll Hochzeitsglück sich wiedersah’n,
War’s ihnen, als müßt’ Segen spenden
Der Baum für ihre Lebensbahn …
Als sie sich dann zum Rückweg wandten
Mit seinen Giebeln und Veranden
Ein lauschig Nest für stilles Glück —
Als eben sich, noch frei vom Neide,
Der Wunsch in ihrer Brust geregt:
Bald auch so traut, so grünumhegt! —
Da durften sie — o frohes Staunen! —
Erkennen, daß das Häuschen frei,
Und von den Zweigen klang ein Raunen:
Nun ganz und gar ward zum Genossen
Des eignen Lebens, frisch und jung,
Der starke Baum — sein Grünen, Sprossen
Gab ihren Kräften Trieb und Schwung.
Der goldnen Früchte Herrlichkeit,
Wie regte mächtig sich ihr Glaube
An ihres Fleißes Erntezeit.
Wenn aber gar in seine Aeste
Hinauf das Hoch des Vaters scholl,
Da gab’s ein Rauschen in den Zweigen —
Er segnete mit sanftem Neigen
Den kleinen Paten liebevoll!
Längst sind vom Kummer sie befreit,
Längst wich der Todesahnung Schaudern
Lichtbildern der Vergangenheit.
Der Duft des todgeweihten Baumes
Das Eden ihres Lebenstraumes
Ist ganz zur Wirklichkeit erwacht!
Das ist ein Leben und ein Weben,
Es blüht und duftet um sie her,
An dieser Stätte, wüst und leer.
Sie hören ihre Kinder singen,
Und seh’n sie springen hell im Chor,
Die kleinen Stimmen jauchzend dringen
Der Alten Herzen froh sich weiten —
Die einst hier klein, jetzt sind sie groß —
Was auch vernichtet all die Zeiten,
Gesegnet blieb ihr Elternlos!
Das hier nun stolzrem Baue wich —
Bei jedem ihrer Kinder wissen
Sie traut ein Heim bereitet sich …
Da rauscht’s im Baum und weckt die Alten,
Sie aber ihre Hände falten
Und geh’n vom Ort mit festem Schritt.
Doch ehe sie ihn ganz verlassen,
Da machen sie noch einmal Halt;
Des Baumes mächtige Gestalt.
Ja — so in lichter Blüten Hülle,
Mit seines Wipfels sanftem Weh’n —
Wann auch sein Schicksal sich erfülle —
Johannes Proelß.