Schaltjahr in England
[287] Schaltjahr in England. Für das schöne Geschlecht in Großbritannien hat das Schaltjahr eine ganz andere Bedeutung, als bei uns und sonstwo. Einer uralten Ueberlieferung zufolge gehen in einem Schaltjahr (leap year) die Rechte der Herren der Welt und der Gesellschaft in die zarten Hände der Schönen über, und dieser alte Brauch wird in England oft mit vielem Humor zur Geltung gebracht. Man pflegt dann sogenannte „Schaltjahr-Gesellschaften“ zu veranstalten, bei denen in sehr ergötzlicher Weise die beiden Geschlechter ihre Rollen vertauschen.
Eine Einladung zu einer solchen Festlichkeit, wie sie mir am 29. Febr. d. J. zu Theil wurde, setzt darum Damen und Herren in nicht geringe Aufregung, namentlich die jüngere Generation der erstern. Da muß manche wichtige Konsultation mit den mitgebetenen Freundinnen und mit der Dame des Hauses gehalten werden; denn diesmal sind’s ja die Männer, die alle jene Aufmerksamkeiten erwarten, welche sie sonst zu erweisen gewöhnt sind. Wie reiflich ist das Alles zu bedenken, wie schwer jene kleinen Bevorzugungen zu verbergen, durch welche der Eine oder der Andere verstohlen beglückt werden soll! Selbstverständlich war eine Anzahl von Vätern und Müttern mit eingeladen, um die Sache würdig zu „chaperonniren“. – Als ich in den Gesellschaftssaal trat, bot sich mir ein ganz eigenthümlicher Anblick. Da war jeder Herr mit einem Bouquet belastet, das ihm von den Damen verehrt worden war, und einige besonders Begünstigte seufzten unter der Bürde von sechs großen Büscheln von exotischen Blüthen. Jetzt hatten sie einmal Gelegenheit, die ernste Wahrheit zu lernen, wie unbequem es ist, einen ganzen Abend hindurch auf Ball, Concert und Oper einen Wald von Blumen halten und regieren zu müssen! – Die Damen hatten sich im Gesellschaftszimmer ganz nach Art der Herren an die Thüre postirt, in denselben nachlässig eleganten Attitüden, wie es ihnen so oft an den jungen Löwen der Gesellschaft zu bewundern vergönnt war. Auch die Unterhaltung bewegte sich völlig in der den Gebietern der Schöpfung abgelauschten Manier und Sprache, mit allen den recipirten, zum Theil recht kräftigen und gewissermaßen burschikosen Ausdrücken, wie sie gegenwärtig der „gute Ton“ in England erfordert. Ueberaus possirlich waren die Versuche der Schönen über Wettrennen, Wettrudern, Fuchsjagden und andern Sport zu sprechen, über Oxford und Cambridge, über Oberhaus und Unterhaus, über Actien und Fondsbörse. Während dem plauderten die Herren am Ende des Zimmers im Damenstyle und medisirten und kritisirten, wie es der Moment nur gestatten wollte. Dies mußte den armen Harrenden, so gut es gehen wollte, die Zeit vertreiben, nicht ohne daß sie indeß ab und zu einen um Erlösung flehenden Blick zu den streng dreinschauenden Damen hinüber warfen, die denn auch endlich zu ihnen herangeschwebt kamen als milde, versöhnende Engel, aber ach! nur um ihre Rollen weiter zu spielen. Nicht Jede schien sich leicht in diesen Maskenscherz zu finden, so daß ich aus dem Eckchen, in das ich mich zu eclipsiren gewußt hatte, manches ganz allerliebste und bedeutungsvolle Erröthen belauschen konnte.
Welche Erleichterung daher für Alle, als die Musik zum Tanze rief! Daß am Schaltjahrfeste die Damen ihre Tänzer wählen, versteht sich von selbst. Langsam schlenderten sie auf die glücklich Erkorenen zu, um mit einem mattgedehnten höflichen „Kann ich die Ehre haben?“ sie zur Quadrille fortzuführen. Der Aerger und die Täuschung, den die Uebergangenen empfanden, prägte sich, trotz der angenommenen Nonchalance, lebhafter aus ihren Gesichtern aus, als ich’s je an den weiblichen „Mauerblümchen“ bemerkt hatte, die’s besser verstehen, ihren Verdruß unter sanftem Lächeln zu verstecken. Es war mir eine gewisse Genugthuung, daß ich die „Tyrannen der Gesellschaft“ für einmal wenigstens ganz in den Händen meiner Mitschwestern wußte und manche kokette Nichtbeachtung gerächt sah. Die schönsten der anwesenden jungen Damen blieben an der Thür stehen und lorgnettirten die Vernachlässigten in kühler Manier, oder ließen sich ganz nahe bei ihnen nieder, ohne weder zu sprechen, noch zu tanzen. – O, ihr jungen Herren von heute, dachte ich, wenn solche Gesellschaften zur stehenden Mode würden, wie bald würdet ihr eure blasirte Trägheit verlernen, die auf die freundliche Aufforderung der liebenswürdigen Wirthin immer nur die halb gezähnte Antwort hat: „Ich mache mir gar nichts aus dem Tanzen!“
Ganz besondern amüsant war es, zu beobachten, wie oft die heutigen Pseudodamen ihre Bouquets und Taschentücher fallen ließen und mit welchem Eifer die wirklichen Schönen sich bückten, das Verlorene aufzuheben und zu überreichen. Und wenn ein Herr zu seinem Sitz zurückgebracht war, wie schien er da dem Verschmachten nahe, wie keuchend bat er um „ein Glas Wasser“, wie dringend um etwas Eis! Manche der Herren trieben das Spiel etwas allzuweit und folterten ihre schönen Dienerinnen, capriciös bald Dies, bald Jenes begehrend. – „Wünschen Sie ein Glas Zuckerwasser?“ – „Ja – nein – Limonade – nein, lieber Negus – oder besser ja, ein Glas Wein.“ So waren die jungen Dämchen in unaufhörlicher Bewegung, um, ihrer Rolle getreu, jedes Winkes ihrer heutigen Regenten gewärtig zu sein. Auch an den bekannten, bewußten und unbewußten Tanzaufforderungsconfusionen fehlte es nicht. Zwei Damen hatten den nämlichen Herrn engagirt. „Thut mir leid, ich bin schon engagirt,“ sagte der Herr, als die zweite Huldin heranschwebte. „Ich bitte sehr, wenn Sie nur auf Ihre Tanzkarte sehen wollen, so werden Sie finden, daß Sie mit mir zu diesem Walzer engagirt sind,“ erwiderte die Schöne, mit finstern Blicken ihre Rivalin messend. – Der doppelt Begehrte bemühte sich, zu erröthen, suchte scheinbar in der Tanzkarte und zerrupfte endlich sein Bouquet in „lieblicher Verwirrung“. – Und er copirte getreu, – er zog sich mit einer hübschen kleinen Lüge aus der Verlegenheit und gab der bevorzugten Dame die „schöne Hand“.
Der aufregendste Moment des Abends war ohne Zweifel der, als sich die Stimme des Hausherrn vernehmen ließ: „Meine Damen, führen Sie die Herren zum Souper!“ – Im Speisesaal angekommen, begab sich jede Dame sofort hinter den Stuhl ihres Herrn, und wahrlich, die lieblichen Hebes zeigten sich über alles Lob erhaben, in dem rühmlichen Eifer ihre hungrigen Tänzer zu bedienen. Sie flogen hierhin und dorthin, und die Herren fanden kein Ende in ihren Bedürfnissen von Champagner und Sherry, die ihnen geholt und credenzt werden mußten.
Endlich erhoben sich die Herren von der Tafel, die Damen öffneten die Thür, sich tief verbeugend, und ließen ihre Tänzer allein in das Gesellschaftszimmer wandern. Die Diener kamen herein, neue Speisen wurden gebracht und die Damen setzten sich zum Mahle nieder. Bald langweilten sich die Herren unbeschreiblich im Salon, wie sie später gestanden. Ueber die neuen „Moden“, über Hauben und Hüte konnten sie ja nicht sprechen, und Politik wäre wider die Rolle gewesen. Mit einem Male tönt Lärm und Applaus aus dem Speisesaale zu ihnen heraus: die Damen bringen Toaste aus. Das war zuviel für die Ungeduld der Verlassenen! Leise schlichen sie die Treppe hinab, die Thür war halb geöffnet, und gruppirten sich um sie herum und – horchten. Ja wahrlich – sie hielten Reden, die Damen! Ein dunkeläugiges Mädchen brachte in wohlgesetzten Worten die Gesundheit des Wirthes und der Wirthin aus, und die Dame des Hauses erhob sich demgemäß, um gebührend zu erwidern. Zwar stockte der Fluß der Rede bald wieder, wie das schon manchem berühmten Sprecher begegnet sein soll; allein rasch fand sie sich wieder zurecht und dankte ihren jungen Freunden für die Bereitwilligkeit, in ihren Scherz einzugehen und (in diesem Augenblicke waren einige schwarze Fracks der Thür zu nahe gekommen) den andern Theil ihrer Gäste zu unterhalten, eine schwere Aufgabe, fürwahr, da diese ja weder singen noch tanzen könnten, überhaupt gar wenig nützlich und angenehm wären; doch da man sie als „unvermeidliches Uebel“ einmal behalten müsse, so fordere sie die jungen Damen auf, das Wohl der „Herren“ zu trinken. Mit Begeisterung wurde der Aufforderung Genüge geleistet, zum Entzücken der Schwarzfräcke draußen. Sodann stand die blonde junge Tochter des Hauses auf, um den Dank der Herren für den Toast der Damen zu bringen. Mit heller Stimme ersuchte sie ihre „lieben, jungen Freunde“, der Wahrheit das Recht zu geben und zu gestehen, ob nicht die schönste Herrschaft des Weibes im Gehorsam zu finden sei! (Lachen und Nein nein von einigen verheiratheten Frauen.) „O ja!“ fuhr die jugendliche Sprecherin mit warmer Begeisterung fort, „ist’s nicht süß, denen zu dienen, die man liebt?“ (Hier gab es die größte Mühe, die schwarzen Fracks von der Thüre zurückzuhalten, so groß war die Bewegung: sie wollten Alle hereinstürzen.) „Für uns,“ fuhr die holde Sprecherin fort, „für uns ertragen sie die Gluth der Tropen und die Eisregionen von Spitzbergen, um unsertwillen essen sie Schneckensuppen in China und Cannibalen in Neuseeland (Zeichen von Unbehaglichkeit unter den Schönen). Um unsertwillen langweilen sie sich in Blumenausstellungen, Concerten und Opern (deren Musik sie nicht würdigen können), und in Gemäldegalerien (deren Werth sie nicht verstehen). Freilich sind nur Wenige unter ihnen in der Gesellschaft nützlich, nur Wenige verstehen gut zu walzen, die Meisten begnügen sich damit, ihren Damen die Kleider zu zerreißen; aber, meine Damen, je hülfloser und ungeschickter sie sind, um so gütiger und mitleidiger müssen wir sein. Lassen Sie uns denn fortfahren, diesen von der Natur vernachlässigten Geschöpfen Mitleid zu erzeigen!“ Der Beifallssturm von den schwarzen Fracks an der Thüre ließ sich nicht länger zügeln. „Meine Damen,“ schloß die junge Rednerin, „die ‚Geschöpfe‘ haben Ihnen selbst gedankt, Sie haben es gehört!“
Damit schloß das eigenthümliche Fest, das in allen seinen Einzelheiten seinen humoristischen Charakter treu bewahrt hatte und trefflich gelungen war. Wer weiß, ob nicht manche junge Leserin der Gartenlaube sich auch in Deutschland eine solche Feier des Schalttags wünschen möchte?