Russland (Handbuch der Politik 1914)

Textdaten
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Autor: Otto Hoetzsch
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Titel: Russland
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aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Achtzehntes Hauptstück: Die politischen Ziele der Mächte in der Gegenwart, 101. Abschnitt, S. 322−327
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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101. Abschnitt.


Russland.
Von
Dr. Otto Hoetzsch,
a. o. Professor der osteuropäischen Geschichte und Landeskunde an der Universität Berlin.


I.

Der Versuch, die politischen Ziele Russlands und die wirtschaftlichen und sozialen Tendenzen seiner heutigen Volksentwicklung darzustellen, muss seinen Ausgang vom Jahre 1905 nehmen.[1] Denn mit diesem Jahre beginnt, wie immer deutlicher hervortritt, je weiter wir uns davon entfernen, die neueste Zeit in der russischen Geschichte und beginnt eine Veränderung im Aufbau des russischen Staates, die seine Fundamente umbildet . Als der Krieg mit Japan im Februar 1904 ausbrach, war wohl bekannt, dass eine gewaltige Masse von Unzufriedenheit und Gärung im Innern vorhanden war, aber nur wenige hatten eine bestimmte Vorstellung davon, dass Fehlschläge dieses Krieges den russischen Staat so stark erschüttern könnten. Der Krieg brach aus als Abschluss einer seit über einem Jahrzehnt ununterbrochen nach dem fernen Osten gerichteten Expansion, in der man mit Japan zusammenstiess. In hochmütiger Unterschätzung des Gegners glaubte man, dass Japan vor dem Rasseln mit dem Säbel zurückweichen würde und dass dann sowohl die Mandschurei wie Korea zu dem russischen Kolonialbesitz in Ostasien endgültig hinzugefügt werden würden, auf diese Weise die Erwerbungen des 19. Jahrhunderts günstig abrundend. Aber der Gang des Krieges enttäuschte diesen Übermut sehr bald und sehr gründlich. Japan erwies sich auf dem Gebiete der Marine als unbedingt überlegen und vernichtete bei Tsushima (27./28.Mai 1905) die russische Seemacht. Und wenn auch völlig entscheidende und vernichtende Schläge der japanischen Landmacht nicht in dem gleichen Masse gelangen, so wurde Russland doch zu Lande aus Korea und der Mandschurei auf das entschiedenste zurückgedrängt. In jeder Weise erwies sich Russlands Strategie und Taktik, Intendantur und Organisation dem japanischen Gegner als unterlegen. Der Rückschlag dieser Niederlagen auf das innere Leben Russlands wurde nun deshalb umso stärker, als einmal die Vorbedingungen für einen Ausbruch der Unzufriedenheit jetzt viel weiter entwickelt waren, als seinerzeit während des Krimkrieges, und als andererseits dieser Feldzug sich fünf Vierteljahre lang hinzog, immer neue Massen von Soldaten aus der Heimat auf den fernen Kriegsschauplatz ziehend und so das europäische Reich immer stärker von militärischem Schutze entblössend.

Die Vorbedingungen für einen revolutionären Ausbruch waren 1. die Folgen der Reformen Alexanders II., 2. die Bewegung, die wir unter dem Namen Nihilismus kennen, 3. die fortgeschrittenere Kapitalisierung des Landes, die vor allem mit dem Regime des Finanzministers Witte verbunden war, und schliesslich 4. die Verbindung der nihilistischen Intelligenz mit dem Sozialismus, der als eine Folgeerscheinung der Industrialisierung naturnotwendig auch hier entstanden war.

So brach in der Folge dieses unglücklichen Krieges eine Bewegung los, die man während des Jahres 1905 geradezu als eine Revolution bezeichnete. Später erwies sich, dass diese Bezeichnung übertrieben war; von einer Revolution, wie sie Frankreich 1789 durchgemacht hat, ist auch in den schlimmsten Tagen des Jahres 1905 niemals die Rede gewiesen. So sehr alle Bande der Ordnung und Zucht rissen, so gefährlich die Streiks der Verkehrsbeamten, die Meutereien in Marine und Heer, [323] die Bauernunruhen und Strassenputsche waren, so hat doch alles dieses den Thron der Romanows ernstlich nicht erschüttern können. Schon im Laufe des Jahres 1906 zeigte sich ganz deutlich, dass die Autorität des alten Absolutismus längst nicht so geschwächt war, wie man etwa im Oktober 1905, überhaupt im Winter 1905/06 angenommen hatte. Der Grund dafür ist, dass die Revolutionierung der Bauern und der (aus Bauern bestehenden) Armee in dem ungeheuer ausgedehnten und an Verkehrsmitteln doch noch armen Lande nicht in dem Masse gelang, wie es nötig gewesen wäre. Die Revolution blieb eine zusammenhanglose Stadt-Revolution, und als die Regierung endlich in festem Entschluss weitere agrarische Reformen begann, flaute die Erhebung unter den Bauern verhältnismässig rasch wieder ab. Dann blieben die Revolutionäre in der Arbeiterschaft und Intelligenz isoliert und konnte ein fest zufassender Staatsmann, wie das Stolypin war, verhältnismässig rasch wieder Ordnung schaffen.

Aber die Erschütterung, die der russische Staat vom Winter 1904 bis Frühling 1906 durchzumachen hatte, war doch die stärkste, die bisher in seiner Geschichte erlebt worden ist. Zum ersten Male in dieser Geschichte trat mit dem Zuge am sogenannten „roten Sonntag“ (22. Januar 1905) die Masse gegen den Zaren und den Absolutismus auf, während bisher nur einzelne die Hand im Ernst dagegen erhoben hatten. Und das Staatsgefüge Peters des Grossen krachte in allen Fugen, als die revolutionäre Bewegung die nichtrussischen Nationalitäten ergriff und Letten und Litauer, Polen und Kleinrussen, Tataren und Finnen mit ihren nationalen Selbständigkeitsforderungen an das Tor des Staates pochten. Die Folge dieser Erschütterungen, die mit der Ermordung Plehwes eingeleitet wurden und mit dem Zusammentritt der ersten Duma ein vorläufiges Ende fanden, war, dass nun auch Russland in die Reihe der konstitutionell regierten Staaten eintrat. In der Forderung nach einer Konstitution fanden sich alle die Wünsche nach Reformen zusammen, die in den letzten Menschenalter erörtert worden waren, und schrittweise, mit dem Manifest vom 3. März 1905, mit der Bulyginschen Verfassung vom 19. August 1905, mit dem Oktobermanifest vom 30. Oktober 1905 und mit dem Erlass der Reichsgrundgesetze vom 6. Mai 1906, wich der Absolutismus vor dieser Forderung zurück. Seitdem ist Russland ein konstitutioneller Staat. In diesen Kämpfen hat es die besondere monarchisch-konstitutionelle Staatsform gefunden, die zwar das Volk in Form des Reichstages, des Steuerbewilligungsrechts usw. zur Mitbestimmung der Staatsgeschäfte heranruft, aber der Krone noch ein weites Feld der Selbständigkeit und der Vorrechte lässt. Begreiflicherweise ist bis heute, da das konstitutionelle Leben dieses Staates knapp 8 Jahre alt ist, noch nicht ein vollständig klarer Zustand geschaffen. Die Krone und die Verwaltung haben sich an den neuen Zustand noch nicht durchaus gewöhnt und die konstitutionellen Strömungen begreiflicherweise auch noch nicht überall gelernt, ihre Doktrinen den Notwendigkeiten ihres eigenen Staates durchaus anzupassen. Es bedurfte einer zweimaligen Auflösung des Reichstages 1906 und 1907 und der Oktroiierung eines neuen Wahlrechts (16. Juli 1907), um überhaupt die Bahn für ein geordnetes parlamentarisches Leben zu eröffnen. Dieses ist dann in der 3. Duma von 1907 bis 1912 vorangegangen und spielt sich gegenwärtig in der 4. Duma, die von 1912 bis 1917 dauern soll, weiter ab.

Verhältnismässig sehr rasch hat sich, nachdem die ersten Erschütterungen überwunden worden waren, Russland in die Formen des politisch-parlamentarischen Lebens überhaupt eingewöhnt. Das Wahlrecht sichert allerdings auch den Elementen des Besitzes und der Ordnung die Mehrheit in seinem Reichstag und schliesst die proletarische Masse durchaus aus. Das Reichsbudget wird regelmässig rasch und pünktlich durchberaten, wenngleich bisher eine bis ins einzelne eindringende Budgetkritik und Etatberatung noch nicht erreicht werden konnte, nicht aus Schuld der Duma, sondern aus Schuld der Regierung, die von ihren alten Gewohnheiten nur mühsam loszulösen ist.

Die Parteibildung schloss sich den Vorbildern Westeuropas an, wenigstens in den äusseren Formen. Es gab schnell eine ganze Reihe von Parteien und Klubs, die Gegensätze von konservativ und liberal, die sozialistischen und reaktionären Elemente. Dabei trat freilich, was den sozialen Inhalt dieser Parteien betraf, ein tiefgreifender Unterschied Russlands gegen Westeuropa hervor. Es gibt keine zahlenmässig grosse Bourgeoisie in diesem immer noch kapitalarmen Lande, infolgedessen auch nicht eine politische Partei, die an ihr ihren starken Rückhalt findet. Da es aber auch infolge einer Entwicklung, die hier nicht geschildert werden kann, einen unabhängigen und selbständigen [324] Grundadel nur noch in geringem Masse gibt, tragen auch die konservativen Richtungen in der Duma ein anderes Gepräge als sonst. Die Rechte in ihr ist agrarisch ihren wirtschaftlichen Forderungen nach und demokratisch, d. h. bäuerlich nach ihrer sozialen Zusammensetzung und wird geführt von Priestern und Bürokraten. Die äusserste Linke kann sich infolge des Wahlrechts naturgemäss wenig betätigen, wie ja auch trotz aller kapitalistischen Entwicklung die Zahl der industriellen Proletarier im Lande im Verhältnis zur bäuerlichen Hauptmasse noch gering ist.

Durchkreuzt werden die politischen Parteiunterschiede, die auf solchem sozialen Untergrunde beruhen, nun dadurch, dass Russland nicht der Staat eines einheitlichen Volkstumes, sondern ein Nationalitätenstaat ist. Zwar ist die Gefahr, die oben angedeutet wurde, beschworen worden, dass durch die Revolution der russische Staat in einen Bund lose zusammenhängender Autonomien aufgelöst werden konnte, und zwar ist durch das jetzt geltende Wahlrecht die Masse der nichtrussischen Nationalitäten gleichfalls des politischen Einflusses beraubt. Aber die Tatsache, dass Russland ein Nationalitätenstaat ist, bleibt nach wie vor; die Duma zählt eine ganze Reihe nichtgrossrussischer Abgeordneten und Parteiklubs. Gegen diese Tatsache und die darin ruhende Gefahr hat bei der Regierung wie in der Duma immer stärker seit 1910 eine Reaktion eingesetzt, die man als Nationalismus bezeichnet. Unter Nationalismus wird dabei verstanden der entschiedene Entschluss, die nichtrussischen Elemente des Reiches auch im konstitutionellen Russland zu russifizieren. Man setzt mithin in anderen Formen die bekannte alte Politik der 80er Jahre fort gegen Kleinrussen und Polen, gegen Tataren und Armenier, gegen Deutsche und, nun ganz besonders aggressiv werdend, gegen die Finnen. Dadurch dass der Ministerpräsident Stolypin sich diesem Nationalismus ganz anschloss, wurden die politischen Verhältnisse von ihm sehr entschieden berührt und wurden auch die Parteiunterschiede umgestaltet. Ganz besonders empfand das die Mittelpartei der Oktobristen, die, um sich in ihrer Stellung zu erhalten, immer mehr Zugeständnisse an den Nationalismus machen mussten und darüber an Boden bei den liberalen und nichtgrossrussischen Elementen einbüssten. Auch in der 4. Duma geht diese Entwicklung weiter und hindert ein gedeihliches Wirken des Parlaments, wie eine klare Parteigliederung nach westeuropäischen Begriffen.

Ohne weiteres war klar, dass die Konstitution, die 1905 auf 6 durch eine Volksbewegung erzwungen wurde, nur eine äussere Form bleiben musste, wenn nicht mit ihr die Bahn für eine grosse Reihe von Reformen eröffnet wurde. Mit diesen Reformen hat sich seit 1907 die politische Arbeit beschäftigt. Sie gingen zunächst auf die Beseitigung der agrarischen Missstände, wovon nachher zu sprechen ist, demnächst auf Reformen in Verwaltung und Gericht und die Begründung eines durchgreifenden Erziehungs- und Schulwesens. Auf allen Gebieten ist erhebliches geleistet worden, wenn auch nicht soviel, als erwartet worden war. Denn die nationalistische Welle sowohl wie die eigentliche, immer mehr erstarkende, Reaktion, die in dem auch umgestalteten Reichsrat ihren Hort fand, haben bewirkt, dass von der grossen Reformtätigkeit der Duma verhältnismässig nur wenig Gesetz geworden ist. Davon ist in erster Linie zu nennen das Gesetz über das lokale Gericht vom 28. Juni 1912, das nun auch an der untersten Stelle Verwaltung und Gericht trennt und den Beginn einer gut arbeitenden Gerichtsbarkeit an der Lokalstelle für das Land bedeutet.

II.

Das Wichtigste aber auf dem Gebiete der materiellen Reformen war die Agrarreform, war doch die aktive Beteiligung der Bauern an der Revolution das eigentlich Gefährliche gewesen. Es ist hier nicht der Raum, die russische Agrarfrage im einzelnen zu schildern. Die Reformen Alexanders II. hatten lediglich die Leibeigenschaft, die Gebundenheit des Bauern an seinen Herrn, beseitigt und hatten im übrigen den Bauern mit einem zu geringen Land-Anteile ausgestattet. Da die Notwendigkeit für den Staat, Getreide zu exportieren, in den folgenden Jahrzehnten immer mehr gestiegen war und die mangelhafte landwirtschaftliche Technik den Boden ausgesaugt hatte, begann seit Anfang der 90er Jahre jene Zeit chronischer Hungersnöte, die die moderne russische Agrarfrage begründeten.

Das Wesen der Agrarreform der Gegenwart besteht darin, dass durch den Ukas vom 22. November 1906 und das Gesetz vom 27. Juni 1910 nun auch die Gebundenheit des Bauern innerhalb [325] seiner Gemeinde und Familie, also die Organisation des sogenannten Mir und des Familienbesitzes, beseitigt worden sind. Mit einem Wort: durch diese gesetzgeberischen Massnahmen, die vor allem das Verdienst Stolypins sind, beginnt Russland nachzuholen, was wir als die zweite Hälfte der Bauernbefreiung in der Gemeinheitsteilungsordnung und Verkoppelungstätigkeit der Generalkommissionen kennen. Damit ist schon gesagt, dass eine ungeheure Arbeit begonnen worden ist, die seitdem in hunderten von sog. „Landorganisationskommissionen“ auf das lebhafteste durchgeführt wird. Man rechnet, dass in einem Menschenalter dieser Prozess zu Ende geführt sein wird. Auch wenn dies übertrieben ist und auch wenn möglicherweise Rückschläge eintreten, so hat doch unzweifelhaft Russland mit diesem durch die Revolution erzwungenen Reformwerke einen grossen Schritt vorwärts getan. Das russische Bauerntum wird dadurch nun völlig frei, individualistischer Eigentümer seines Grund und Bodens und kann, natürlich mit Hilfe des Staates, danach streben, sich immer mehr zu kapitalisieren und technisch zu heben. Damit wird die Produktionskraft des agrarischen Russlands ganz ausserordentlich wachsen und sich seine weltwirtschaftliche Stellung verschieben. Das letztere wohl weniger in der Richtung, dass Russland in noch stärkerem Masse als bisher Getreideausfuhrland wird – das ist nicht wahrscheinlich, weil mit diesem Fortschritte seines Bauerntumes, mit dem Fortschreiten des Kapitalismus überhaupt, auch die Konsumtionskraft im Lande wächst. Anzeichen dafür sind bereits deutlich vorhanden, wie etwa die Verschiebung der Anbaufläche von Roggen zugunsten der von Weizen oder die Einzahlungen in die Reichssparkassen und dergl. mehr. Ganz sicher aber wird Russland im weiteren Fortschreiten dieser Reformen immer mehr aufhören, ein Menschenexportland zu sein, wie es das für die Landwirtschaft des preussischen Ostens zu einem Teile war. Es vermag alle seine Kinder auf seinem Boden unterzubringen, die es nun nicht mehr nötig haben, um Nahrung zu finden, auszuwandern, umsomehr als für die doch noch überschiessenden Kräfte in Westsibirien ein grosses Gebiet freien Landes auch zur Besiedlung freigegeben worden ist.

Parallel mit dieser fundamentalen Umgestaltung seiner Urproduktion, die immer bedeutsamer werden wird, je weiter die Arbeit vorankommt, ging überhaupt die wirtschaftliche Erstarkung des Reiches. Als Witte im Jahre 1903 von seinem Posten als Finanzminister zurücktreten musste, prophezeite man in Europa vielfach seinem System den Zusammenbruch. Man nahm an, dass der forcierte Getreideexport, auf dem allein der Staatskredit und die Währung ruhten, einmal versagen müsste, und dass dann das ganze, künstlich nur auf Anleihen fundierte Gebäude zusammenbrechen müsse. Die Zeit seitdem hat gelehrt, dass dieser Pessimismus unberechtigt war und weit über das Ziel hinausschoss.

Zunächst vermochten die russischen Finanzen die Erschütterungen durch den Krieg und die Revolution glänzend zu überstehen. Auch in den schwärzesten Tagen ist der Staatskredit ernstlich nicht ins Wanken gekommen, während umgekehrt gerade die Siege Japans das Misstrauen des internationalen Kapitals gegen dieses vielfach wachriefen. Nach der Revolution setzte sich zwar eine Zeit lang noch die Depression fort – bis etwa Herbst 1909. Aber seitdem ist eine ununterbrochene Aufwärtsbewegung zu verzeichnen gewesen. Sie kam darin zum Ausdruck, dass Russland keine Anleihen aufzunehmen brauchte, dass die Zahlen der Reichseinnahmen ausserordentlich stiegen und dass ungeheure Summen für die Reorganisation der Flotte und den Ausbau des Eisenbahnnetzes bewilligt werden konnten. Ihren letzten Grund hatte diese ausserordentlich günstige Entwicklung freilich darin, dass eine Reihe guter, ja ausgezeichneter Ernten erlebt wurden, die gestatteten, den alten Zirkel: Getreideausfuhr und Geldeinfuhr weiter zu verfolgen. Wenn auch in dieser Beziehung Rückschläge eintreten können, – denn so schnell wird sich die Wirkung der Agrarreform nicht geltend machen, – so darf doch heute schon gesagt werden, dass jene pessimistische Kritik im allgemeinen unberechtigt war. Das System Witte, das sein Nachfolger, der nunmehr seit 10 Jahren den Posten des Finanzministers verwaltende Ministerpräsident Kokovcov, mit grossem Geschick und mit grosser Klugheit und Mässigung weitergeführt hat, hat sich im allgemeinen glänzend bewährt. Die Voraussetzung, dass das auch weiter der Fall ist und dass die günstige wirtschaftliche Gestaltung der letzten Jahre auch weiterhin und dauernd Frucht trägt, ist freilich dieselbe, von der auch Witte immer ausging. Das Land braucht eine längere Periode des äusseren Friedens, um sich der inneren Reformarbeit ungestört widmen zu können, und es [326] braucht zweitens eine grosse Einfuhr von fremdem Kapital, um den Frühkapitalismus, der seit Mitte der 80er Jahre in ihm entstanden ist, zum reifen Kapitalismus nach westeuropäischem Vorbilde weiter ausgestalten zu können. Gegen diese Vorbedingungen wenden sich einmal die alten aggressiv panslawistischen Strömungen, die Russland in einen Krieg treiben möchten, und sodann der oben schon charakterisierte Nationalismus, der das ganze Gebiet des Reiches durchaus dem russischen Wesen und Volk ausschliesslich reservieren will. Aus dem Gegeneinander dieser verschiedenen Tendenzen ergibt sich die politische Lage der Gegenwart, in der die augenblicklich führenden Staatsmänner, insonderheit der Ministerpräsident, sowohl ehrlich konstitutionell wie bewusst und absichtlich friedlich gestimmt sind.

III.

Gemäss der Aufgabe dieses Teiles unseres Handbuches ist noch ein Überblick über politische Stellung und Ziele Russlands in der Gegenwart hinzuzufügen.

Nachdem die Expansion nach Ostasien durch den unglücklichen Krieg mit Japan zum Stillstand gekommen war, hat sich Russland wieder dem nahen Osten zugewendet. Zwar ist jene keineswegs völlig gescheitert: im Mandschureiabkommen von 1910 hat Russland mit Japan in der Hauptsache doch das für die Mandschurei erreicht, was es brauchte und nötig hat, und daneben ist es, seitdem die Revolution in China die Möglichkeit dazu bot, in der Mongolei immer entschiedener vorangegangen, dort seinen Einfluss auszudehnen. (Vertrag vom 3. Nov. 1912.) Aber diese Ausdehnung vollzieht sich geräuschlos, unbemerkt, von der öffentlichen Meinung des russischen Volkes nicht getragen. Für diese ist, soweit sie sich überhaupt für die äussere Politik interessiert, die Zukunft, die man von der Gestaltung der orientalischen Frage erhofft, viel wichtiger. Der zweimalige Vorstoss Österreich-Ungarns 1908 und 1911, der zweimal diese Frage ins Rollen brachte, hat in Russland alle alten panslawistischen und aggressiven Tendenzen auf das stärkste neu erweckt. Das Gefühl der Gemeinsamkeit mit den Balkanslawen suchte beide Male Russland in den Krieg hinein zu treiben, der mit Österreich um die Vorherrschaft auf der Balkanhalbinsel zu führen gewesen wäre. In beiden Fällen blieb die friedliche Tendenz des Zaren und seiner Staatsmänner siegreich, für die die innere Weiterentwicklung wichtiger und notwendiger erschien, als die Jagd nach einer Herrschaft über die Balkanhalbinsel, die doch nur ein Traum bleiben musste. Inzwischen hat sich auf der Balkanhalbinsel eine neue Gliederung durchgesetzt, die sich nun selbständig zwischen Österreich und Russland legt und die den Panslawismus als ein Programm russischer Vorherrschaft über die Balkanhalbinsel endgültig erledigt; auf diesem Gebiete ist für ihn nichts mehr zu hoffen.

Die politische Stellung Russlands zu dieser Frage wurde dadurch so verstärkt, dass sich vom Kriege mit Japan an bis 1908 hin eine Umkehrung seines Verhältnisses zu England vollzog. Es gelang nicht nur, das Verhältnis zu Frankreich in der alten Festigkeit aufrecht zu erhalten, das durch Frankreichs Nichtbeteiligung am japanischen Kriege getrübt war, sondern der Gegensatz Englands gegen Deutschland trieb die englische Politik dazu, die viel grösseren Gegensätze zwischen Russland und England in den Hintergrund zu schieben und eine Entente mit ihm anzubahnen. Das Abkommen über Persien vom 31. August 1907 und die Zusammenkunft Edwards VII. mit dem Zaren in Reval am 9./10. Juni 1908 waren die beiden hauptsächlichsten Etappen dazu. Das gemeinsame Vorgehen in Mazedonien 1908 brachte das zum äusseren Ausdruck.

So beruht die politische Stellung Russlands heute auf seinem festen Bunde mit Frankreich und dieser freundschaftlichen Entente mit England, die durch die Anglophilie weiter russischer Kreise gefördert wird. Andererseits sind die Fäden mit Deutschland nicht völlig zerrissen worden. Die Beziehungen zwischen den Monarchen sind durch eine ganze Reihe von persönlichen Zusammenkünften immer aufrecht erhalten geblieben. Daneben sind persönliche Berührungen der beiderseitigen Staatsmänner getreten, die vor allem in dem sogenannten Potsdamer Abkommen vom 19. Mai 1911 ihren Abschluss gefunden haben. Es ist kein Zweifel darüber, dass ein grosser Teil der öffentlichen Meinung und politischen Kreise in Russland die alte panslawistische Deutschfeindlichkeit noch bewahrt und sich deshalb gern in das gegen Deutschland gerichtete System Edwards VII. ziehen liess. Aber ebenso ist kein Zweifel, dass sowohl der Zar wie die verantwortlichen [327] Staatsmänner in der Zeit von 1905 bis zur Gegenwart immer an guten Beziehungen zu Deutschland festgehalten haben und nicht daran gedacht haben, sich vollständig in den Dienst des französisch-englischen Gegensatzes gegen Deutschland zu stellen. Seitdem der Gegensatz zwischen England und Deutschland an Spannung nachgelassen hat, hat infolgedessen auch die enge Beziehung Englands zu Russland nachgelassen, die überhaupt sofort als anormal erscheint, sobald in Türkisch-Asien, Persien, Zentralasien und Ostasien die russischen Interessen entschieden betont werden. Denn damit tritt sofort überall England als der gegebene Feind hervor. Diese Betonung der grossen asiatischen Interessen aber, auf denen vor allem die Weltmachtstellung Russlands ruht, gehört besonders zu der politischen Überzeugung des Zaren, der schon als Grossfürst durch seine Reise in Asien sich persönlich mit all diesen Gedanken durchtränkt hat.

So ist die politische Stellung Russlands ziemlich kompliziert. Mit der Freundschaft zu Frankreich und den Rüstungen und Eisenbahnbauten an seiner Westgrenze gegen Deutschland und Österreich verträgt sich ein politisch gutes Verhältnis zum deutschen Reich und vertragen sich immer enger werdende wirtschaftliche Beziehungen – steht doch Deutschland heute an erster Stelle unter den nach Russland einführenden Ländern. Und mit der Freundschaft zu England verträgt sich der entschiedene Gegensatz der russischen Asien-Politik zu diesem. Die Tendenzen aber der ganzen russischen Politik bleiben die alten, einfachen, die Peter der Grosse vorgezeichnet hat: das Streben nach Abrundung des Machtgebietes und nach dem Besitze von Flussmündungen und Häfen, die eine dauernde Verbindung mit der Weltwirtschaft und Weltkultur, wie wir nun heute sagen müssen, garantieren.





  1. Eine ausführliche Darstellung aller in der folgenden Skizze berührten Fragen findet sich in meinem „Russland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912.“ (Berlin, G. Reimer 1913, 566 S.)