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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

seiner Gemeinde und Familie, also die Organisation des sogenannten Mir und des Familienbesitzes, beseitigt worden sind. Mit einem Wort: durch diese gesetzgeberischen Massnahmen, die vor allem das Verdienst Stolypins sind, beginnt Russland nachzuholen, was wir als die zweite Hälfte der Bauernbefreiung in der Gemeinheitsteilungsordnung und Verkoppelungstätigkeit der Generalkommissionen kennen. Damit ist schon gesagt, dass eine ungeheure Arbeit begonnen worden ist, die seitdem in hunderten von sog. „Landorganisationskommissionen“ auf das lebhafteste durchgeführt wird. Man rechnet, dass in einem Menschenalter dieser Prozess zu Ende geführt sein wird. Auch wenn dies übertrieben ist und auch wenn möglicherweise Rückschläge eintreten, so hat doch unzweifelhaft Russland mit diesem durch die Revolution erzwungenen Reformwerke einen grossen Schritt vorwärts getan. Das russische Bauerntum wird dadurch nun völlig frei, individualistischer Eigentümer seines Grund und Bodens und kann, natürlich mit Hilfe des Staates, danach streben, sich immer mehr zu kapitalisieren und technisch zu heben. Damit wird die Produktionskraft des agrarischen Russlands ganz ausserordentlich wachsen und sich seine weltwirtschaftliche Stellung verschieben. Das letztere wohl weniger in der Richtung, dass Russland in noch stärkerem Masse als bisher Getreideausfuhrland wird – das ist nicht wahrscheinlich, weil mit diesem Fortschritte seines Bauerntumes, mit dem Fortschreiten des Kapitalismus überhaupt, auch die Konsumtionskraft im Lande wächst. Anzeichen dafür sind bereits deutlich vorhanden, wie etwa die Verschiebung der Anbaufläche von Roggen zugunsten der von Weizen oder die Einzahlungen in die Reichssparkassen und dergl. mehr. Ganz sicher aber wird Russland im weiteren Fortschreiten dieser Reformen immer mehr aufhören, ein Menschenexportland zu sein, wie es das für die Landwirtschaft des preussischen Ostens zu einem Teile war. Es vermag alle seine Kinder auf seinem Boden unterzubringen, die es nun nicht mehr nötig haben, um Nahrung zu finden, auszuwandern, umsomehr als für die doch noch überschiessenden Kräfte in Westsibirien ein grosses Gebiet freien Landes auch zur Besiedlung freigegeben worden ist.

Parallel mit dieser fundamentalen Umgestaltung seiner Urproduktion, die immer bedeutsamer werden wird, je weiter die Arbeit vorankommt, ging überhaupt die wirtschaftliche Erstarkung des Reiches. Als Witte im Jahre 1903 von seinem Posten als Finanzminister zurücktreten musste, prophezeite man in Europa vielfach seinem System den Zusammenbruch. Man nahm an, dass der forcierte Getreideexport, auf dem allein der Staatskredit und die Währung ruhten, einmal versagen müsste, und dass dann das ganze, künstlich nur auf Anleihen fundierte Gebäude zusammenbrechen müsse. Die Zeit seitdem hat gelehrt, dass dieser Pessimismus unberechtigt war und weit über das Ziel hinausschoss.

Zunächst vermochten die russischen Finanzen die Erschütterungen durch den Krieg und die Revolution glänzend zu überstehen. Auch in den schwärzesten Tagen ist der Staatskredit ernstlich nicht ins Wanken gekommen, während umgekehrt gerade die Siege Japans das Misstrauen des internationalen Kapitals gegen dieses vielfach wachriefen. Nach der Revolution setzte sich zwar eine Zeit lang noch die Depression fort – bis etwa Herbst 1909. Aber seitdem ist eine ununterbrochene Aufwärtsbewegung zu verzeichnen gewesen. Sie kam darin zum Ausdruck, dass Russland keine Anleihen aufzunehmen brauchte, dass die Zahlen der Reichseinnahmen ausserordentlich stiegen und dass ungeheure Summen für die Reorganisation der Flotte und den Ausbau des Eisenbahnnetzes bewilligt werden konnten. Ihren letzten Grund hatte diese ausserordentlich günstige Entwicklung freilich darin, dass eine Reihe guter, ja ausgezeichneter Ernten erlebt wurden, die gestatteten, den alten Zirkel: Getreideausfuhr und Geldeinfuhr weiter zu verfolgen. Wenn auch in dieser Beziehung Rückschläge eintreten können, – denn so schnell wird sich die Wirkung der Agrarreform nicht geltend machen, – so darf doch heute schon gesagt werden, dass jene pessimistische Kritik im allgemeinen unberechtigt war. Das System Witte, das sein Nachfolger, der nunmehr seit 10 Jahren den Posten des Finanzministers verwaltende Ministerpräsident Kokovcov, mit grossem Geschick und mit grosser Klugheit und Mässigung weitergeführt hat, hat sich im allgemeinen glänzend bewährt. Die Voraussetzung, dass das auch weiter der Fall ist und dass die günstige wirtschaftliche Gestaltung der letzten Jahre auch weiterhin und dauernd Frucht trägt, ist freilich dieselbe, von der auch Witte immer ausging. Das Land braucht eine längere Periode des äusseren Friedens, um sich der inneren Reformarbeit ungestört widmen zu können, und es

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/341&oldid=- (Version vom 14.9.2022)