Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Die Kriegserklärung

Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution
von Oskar Grosberg
Panik
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Die Kriegserklärung

Über Petersburg brütete die unerträgliche Glut der nordischen Julihitze; infolge der seit Wochen anhaltenden Dürre waren die Wälder und Torfmoore der Umgegend der Residenz in Brand geraten, und die Rauchwolken verhüllten schon seit Wochen die Sonne, die wie eine rotglühende Kupferscheibe am Himmel hing. Wenn der Abend nahte, und von der Newa ein kühler Hauch wehte, dann legte sich der bituminöse Rauch ganz besonders schwer auf die Lungen und man hatte zeitweilig Mühe zu atmen.

Wenn sonst um diese Jahreszeit „kein anständiger Mensch“ in der Residenz zu sein pflegt, sondern die Freuden des Landlebens auf den Gütern, in den Bädern, im Auslande oder schlechtweg auf der Datsche genießt, so war im Jahre 1914 Petersburg ungewöhnlich belebt. Am politischen Himmel waren schwere Wolken aufgestiegen, und man mußte jeden Augenblick gewärtig sein, daß ein Unwetter von unerhörter Gewalt losbrechen würde. Einmal mußte sich ja doch die angesammelte Elektrizität entladen.

In den Ressorts herrschte bis spät in die Nacht reges Leben. Wenn der Petersburger, der sich eine der sündigen „weißen“ Nächte um die Ohren geschlagen hatte, bei grauendem Morgen aus einem der Tingeltangel heimkehrte, um zu Hause in bleischweren und doch unruhigen Schlaf zu sinken, dann konnte er beobachten, daß in den Ministerien noch gearbeitet wurde, daß Kuriere und Feldjäger auf leichten Gefährten mit schweren Aktenmappen irgend wohin verschwanden, oder er sah wohl auch arbeitsmatte Beamte aus [6] einem der Ministerien treten, fröstelnd den Rockkragen hochschlagen und dem Rauch ihrer Papiros sinnend nachschauen.

Es war klar, daß wichtige Dinge im Gange waren, aber man wollte nur zu gern annehmen, daß die Verwicklungen schließlich doch beigelegt würden. Das mußte doch wohl geschehen, denn andernfalls drohte nicht etwa der Zusammenstoß einer oder zweier Mächte, sondern das, was die Presse seit bald einem Jahrzehnt als Teufel an die Wand gemalt hatte, der Weltkrieg.

Der Weltkrieg! Etwas ganz Ungeheuerliches, ein Kampf, bei dem die neuesten Errungenschaften der Technik in Anwendung kommen würden. Er würde vielleicht in der Luft zum Austrag kommen, oder unter Wasser, — wer mochte das wissen. Jedenfalls mußte der Weltkrieg furchtbar werden, denn einerseits würde niemand klein beigeben wollen, andererseits aber kamen da eben die Errungenschaften der Technik in Betracht, die Flugzeuge, die Tauchkähne, die Sprengstoffe usw.

Freilich glaubte man sich damit trösten zu können, daß der Krieg nicht von langer Dauer sein würde, denn man mußte doch vernünftigerweise mit den eminenten, ganz unermeßlichen, wirtschaftlichen Interessen, die auf dem Spiele standen, rechnen. Man mochte da reden, was man wollte, darüber, daß als Angelpunkt der modernen Weltordnung die wirtschaftlichen Dinge zu betrachten waren, mußte sich doch jeder nüchtern denkende Mensch klar sein. Man mochte zerstören, was man wollte, aber die wirtschaftlichen Interessen durften in keiner Weise geschädigt werden. Gott, die Fäden liefen ja von hüben nach drüben, nur die ganz Eingeweihten konnten das Gewirr übersehen, und diese ganz Eingeweihten wußten eben, daß Gott Mammon lächelnd auf den vielleicht ausbrechenden Trubel herabschauen, und wenn einige Milliarden verpulvert, ruhig, aber bestimmt sagen würde: nun ist es genug, jetzt Schluß, denn Werte sind gefährdet, die höher stehen und mehr gelten, als internationale Zwistigkeiten [7] und Unstimmigkeiten. Im übrigen würde aber Gott Mammon durchaus auf seine Rechnung kommen, denn nach jedem Kriege tritt bekanntlich eine Hochkonjunktur ein, die man gerade gebrauchen konnte.

Also, wenn es hoch kommt, dann könnte der Krieg drei Monate, allenfalls ein halbes Jahr dauern. Man durfte eben nicht vergessen, daß ein moderner Krieg drei Dinge erheischt: Geld, Geld und nochmals Geld. Geld ließ sich aber gewiß zu vernünftigeren Dingen verwenden, als zum Kriegführen. War man doch so schön im Zuge: die Industrie stand im Zeichen der Hochkonjunktur, die Neugründungen schossen wie Pilze aus der Erde, man schloß sich zu Syndikaten und Trusts zusammen; der Handel blühte, die Landwirtschaft gedieh und verhieß der Industrie und dem Handel neue unerschöpfliche Ressourcen, kurzum, es war eine Lust zu leben, und nun sollte all die Herrlichkeit ein jähes Ende finden, weil irgend ein Serbe den österreichischen Thronfolger ermordet, und England, oder Gott weiß wer, dabei die Hand im Spiele gehabt haben soll? Das wäre doch unsinnig gewesen!

So dachten Tausende und Hunderttausende, immerhin konnte man sich aber eines unbehaglichen Gefühls nicht erwehren, denn wenn der Krieg auch nur drei Monate oder ein halbes Jahr dauerte, so würden Verluste doch nicht zu vermeiden sein, — man mußte sich also vorsehen. Andererseits konnte man aber nur zu leicht einberufen werden, wenngleich man doch ein Hintertürchen finden konnte; so etwas läßt sich eben mit einigen Hundertern, oder schlimmsten Falles, Tausendern erledigen. Man kennt das ja. Man mußte eben die Dinge an sich herantreten lassen und die Fassung bewahren, man war ohnehin nervös geworden und das Geschäft begann auch einen zappeligen Gang anzunehmen …

Schon seit Wochen und Monaten gärte es in der Arbeiterschaft, in deren Köpfen allerlei wirtschaftliche und politische [8] Phantome herumspukten. Die Kerls waren schließlich rabiat geworden und sie waren in den Ausstand getreten. Daß sie gerade zur Ankunft Poincarés Barrikaden zu errichten begonnen hatten, war ein übler politischer Witz, wer aber mochte wissen, was aus der ganzen Aktion noch erwachsen konnte!

Am 17. Juli erfuhr man, daß dieser und jener Reichsdeutsche oder Österreicher in aller Stille abgereist sei. Man lächelte über die Bangbüxigkeit gewisser Leute. Am 18. spät abends wollte man noch ganz genau wissen, daß es doch nicht zum Kriege kommen werde, und dann war mit einem Male die Kriegserklärung da, und sie wirkte trotz allem wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Kriegserklärung, Mobilisation, Gottesdienste, Manifeste, patriotische Demonstrationen! Die Arbeiterunruhen, die einen bedrohlichen Charakter angenommen hatten, fanden mit einem Schlage ein Ende; die dienstpflichtigen Mannschaften melden sich bei den Stellungsbehörden, die Kontore und Bureaus leeren sich, jeder Zeitungsfetzen findet reißenden Absatz.

Alle anderen Interessen sind ausgeschaltet, der beginnende Krieg verschlingt sie restlos. Handel und Wandel werden aus dem eingefahrenen Geleise geworfen, der riesige Verkehr mit Deutschland hat mit einem Schlage aufgehört, die „traditionelle Freundschaft“ ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Man kommt erst allmählich zur Erkenntnis, daß Ungeheueres anhebt.

Die Kammern treten zusammen und sie votieren einstimmig die erforderlichen Kredite. Die unversöhnlichsten Oppositionsmänner sind regierungsfromm geworden, — die schwere Gefahr, die das Vaterland bedroht, zerbricht die Parteischranken, es gibt weder Kadetten, noch Oktobristen, noch Arbeitsgruppler, Sozis und Rechte, sondern nur noch russische Patrioten, die das parteipolitische Kriegsbeil begraben, [9] denn nun gibt es nur ein Ziel, das anzustreben ist: den Sieg.

Den Sieg über den „vermessenen“ Feind, der es gewagt hat, dem heiligen Rußland den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Der Zar erklärt in dem Kriegsmanifest, daß er den Krieg nicht gewollt, daß er aber das Schwert nicht in die Scheide stecken werde, solange ein feindlicher Soldat auf russischer Erde stehe.

Herr Menschikow hatte bereits mit seiner Artikelserie „Wir müssen siegen!“ begonnen, kurzum, man war, wie das ja nicht anders sein konnte, voller Zuversicht und hoffte „Wassili Fedorowitsch“ /– Wilhelm II. –/ gründlich heimleuchten zu können. Die Armee hatte sich nach dem fatalen japanischen Kriege reorganisieren können, und Ssuchomlinow hatte strikt erklärt, daß man ausreichend gerüstet sei und allen Eventualitäten ruhig entgegensehen könne.

Der in Rußland stets prompt arbeitende Apparat der Vorschriften und Verbote setzte mit Verve ein, und von nun an verschwanden diese Verbote nicht mehr aus den Zeitungen und von den Straßenecken, sie schossen wie Pilze aus der Erde, und bald konnte sich niemand mehr in ihnen zurechtfinden, man wußte nur, daß unzählige Dinge verboten waren, – bei 3000 Rubel Strafe, – billiger machte man es nicht.

Und dann die erste große Unbequemlichkeit: das Branntweinverbot. Man tröstete sich damit, daß dieses Verbot nur ein paar Wochen bestehen würde, d. h. während der Mobilisation, die in musterhafter Ordnung verlief. Der Staat konnte doch nicht die drei Milliarden missen, die das Branntweinmonopol einbrachte. Jetzt weniger als je, denn der Krieg würde eine Unmenge Geld verschlingen. Und im übrigen war die Maßnahme nur zu begrüßen, denn wenn es Branntwein gegeben hätte, dann hätte man unangenehme Dinge erleben können.

[10] Doch man grollte nicht, wenigstens anfänglich nicht, denn es war klar: man mußte Opfer bringen. Und man brachte sie voll patriotischer Begeisterung.

Die Wellen der Begeisterung gingen in der Tat hoch, denn man fühlte gleich von der ersten Stunde an, daß der Krieg populär war. Die unheilschwangere Stimmung, die in Petersburg geherrscht hatte, war zerstoben, die Reichsduma hatte allen Zwist und Hader mit der Regierung, die sie en canaille traktiert hatte, vergessen, und Zar Nikolaus, der in den letzten Jahren sich seinem Volke immer mehr entfremdet hatte, war nie populärer gewesen als in den ersten Kriegstagen und -monaten. Man jubelte selbst dem zum Oberfeldherrn ernannten Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch zu, den man bisher nicht mit Unrecht als den hervorragendsten Träger der reaktionären Regierungspolitik betrachtet hatte. Wenn die patriotischen Demonstrationen, die von der Polizei nicht ohne Geschick inszeniert wurden, durch die Straßen zogen, dann wurde neben dem Bilde des Zaren stets das des „Erlauchten Höchstkommandierenden“ getragen.