Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Panik
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Man lebte still und friedlich in der Sommerfrische, in Finnland, in Peterhof, am Rigaschen Strande oder auf seinen Gütern, wie stets um diese Jahreszeit und genoß die bescheidenen Freuden des Datschenlebens, das den Berufsmenschen für die Strapazen des Winters stärken muß. Aber wenn man früher die einlaufenden Zeitungen gewöhnlich bei Seite gelegt hatte, um sie „später“ zu lesen, so konnte man nun das Eintreffen der Post nicht erwarten und man studierte die Blätter mit großem Eifer, um auf dem Laufenden zu bleiben, denn es sah verflucht ernst aus.
Und da hatte man dann schließlich auch die Bescherung, — der Krieg war erklärt worden! Man stand vor unbegrenzten Möglichkeiten. Die Leute, die aus der Stadt in den Sommerfrischen eintrafen, brachten die neuesten Nachrichten aus der Residenz mit, sie lauteten aufregend genug. Vor allen Dingen wußte man doch nicht, auf welche Seite sich das trügerische Albion schlagen würde, davon hing aber unendlich viel ab. Konnte man einen Überfall der deutschen Flotte auf Petersburg gewärtigen? Höchst wahrscheinlich, denn Menschikow hatte doch in der „Nowoje Wremja“ oft genug über die Möglichkeit eines solchen Überfalles gesprochen, und wenn nun noch die Engländer sich auf die Seite der Deutschen schlugen!
In der Stadt schwirrten in dieser Beziehung die verwegensten Gerüchte. Man glaubte zu wissen, daß die deutsche Flotte bereits in der Ostsee sei und mit Volldampf voraus [12] Petersburg zustrebe. Man hatte in Erfahrung gebracht, daß einzelne Institutionen sich für den Fall einer Belagerung verproviantierten, und daß man beabsichtige, die Schätze der kaiserlichen Eremitage und der Paläste in Sicherheit zu bringen. Ein Gerücht überbot das andere, und bald befand sich auch die stillste Sommerfrische im Brodelzustande hochgradiger Erregtheit. Man fühlte sich nicht mehr sicher, obgleich niemand sagen konnte, welche Gefahren eigentlich zu gewärtigen gewesen wären. Ganz besonders aufgeregt waren die Dienstboten, von denen viele ihre Stellungen aufgaben und sich in ihre Heimatdörfer begaben. „Wenn man schon sterben muß,“ sagten sie, „dann stirbt man doch wenigstens mit den Seinigen!“
Unter sotanen Umständen war es jedenfalls besser, daß man den Penaten zustrebte und die Sommerfrische abbrach. Man packte also in fliegender Eile, oder man packte auch nicht, ließ alles liegen und eilte fluchtartig in die Stadt. Man zahlte Hunderte von Rubeln für eine Fuhre, die die Habseligkeiten auf 30 Werst zu befördern hatte, man ließ Habseligkeiten einfach im Stich, im Landhause, auf den Eisenbahnstationen oder sonst irgendwo und machte, daß man davonkam. Ganz besonders vorsichtige Menschen flohen der Sicherheit wegen gleich nach Moskau oder noch weiter landeinwärts. Auf den Eisenbahnen spielten sich unglaubliche Szenen ab; man saß nicht nur in drangvoll fürchterlicher Enge in den überfüllten Abteilen, sondern auch in den Korridoren, stand auf den Plattformen, hockte auf den Dächern und Trittbrettern, und hielt selbst die intimen Abteile, die stillberühmten Klausen der Waggons, besetzt. Auf den Stationen türmte sich die Bagage zu wahren Tschimborassos, und niemand konnte sagen, wann und ob sie je an ihren Bestimmungsorten eintreffen würde.
Ich lebte auf meinem Landhause in Finnland und mußte bei meinen täglichen Fahrten nach Petersburg bald auf die Eisenbahn verzichten und statt deren entweder Fahrzeug [13] oder ein Boot benutzen, wobei es sich dann nur zu oft ergab, daß die Reise, die per Eisenbahn etwa eine Stunde erfordert hatte, nun fünf oder auch mehr Stunden währte, von den Kosten dieser phantastischen Expeditionen will ich nicht reden.
Der Wirrwarr wurde noch größer, als plötzlich aus irgend einem unerfindlichen Grunde ganz Petersburg nach der Seeseite hin von Trancheen umzingelt wurde; Zehntausende Menschen arbeiteten an diesen Trancheen oder sie fällten Bäume und legten ganze Waldstrecken nieder. Als das bekannt wurde, da flohen auch die Tapfersten aus den Sommerfrischen, und bald standen diese mitten im Sommer vollständig verödet, — Hunderttausende strömten im Laufe einer Woche in die Residenz zurück, und zwar nicht nur aus der nächsten Umgebung der Residenz, sondern auch vom Rigaschen Strande, aus dem Kaukasus und der Krim, wo sich ähnliche Szenen, wie in Finnland, abgespielt hatten.
Man war also wieder glücklich in der Stadt, wo man die eingemotteten Möbel von ihren Überzügen befreite, die Teppiche auspackte, die Beleuchtungskörper enthüllte und sich dabei leise fragte, warum man eigentlich geflohen war. Da man aber nun einmal da war, so mußte man die Konsequenzen aus dem jähen Dekorationswechsel ziehen, — man verproviantierte sich „für alle Fälle“. Man kaufte Mehl, Grützen, Tabak, Schinken, Würste, Zucker, Tee, Kaffee und tausend andere Dinge, deren man zu seines Leibes Notdurft und Nahrung bedarf. Die Warenvorräte nahmen reißend schnell ab, die Preise kletterten flott in die Höhe und bald waren verschiedene Waren überhaupt nicht mehr zu haben. Man erhielt auf diese Weise einen kleinen Vorgeschmack von den im weiteren Verlaufe des Krieges einsetzenden und schließlich katastrophal sich verdichtenden Verpflegungsschwierigkeiten.
Man saß nun in der Stadt und ärgerte sich. Man ärgerte sich über die unterbrochene Sommerfrische, über verloren [14] gegangenes Umzugsgut, über die enormen Ausgaben für die Verproviantierung und über die Ungewißheit der Lage. Und alle diese Dinge hatte wer verschuldet? „Karl Iwanowitsch“, der Deutsche!
Derselbe blonde, behäbige, trinkfeste und geschäftstüchtige Karl Iwanowitsch, mit dem man von jeher Schulter an Schulter gelebt und Geschäfte gemacht und diese je nach der Abschlußsumme mehr oder weniger gründlich „begossen“ hatte. Dem guten Karl Iwanowitsch juckte also das Fell. Da hatte er nun seit Gott weiß wie langer Zeit in Rußland gesessen, hatte russisches Brot gegessen, war reich, oder doch zum mindesten wohlhabend geworden, und nun macht er solche Geschichten!
Das war nicht hübsch von Karl Iwanowitsch. Man hatte ja von jeher mit ihm Schulter an Schulter gelebt, aber schließlich wußte man doch kaum mehr von ihm und von seinem Dichten und Trachten, als daß er unglaublich umgänglich war, jedes Geschäft deichselte und Akkuratesse und Ordnung über alles schätzte, aber sonst war er doch für den Russen ein Buch mit sieben Siegeln. Na, jedenfalls hatte er die Suppe eingebrockt, die man nun auszulöffeln hatte!
Das Ergebnis solcher nachdenklicher Spekulationen war ein leise anwachsender Groll gegen Karl Iwanowitsch, den man, streng genommen, nie geliebt, allenfalls wegen seiner Arbeitsliebe und Zuverlässigkeit geachtet, aber letzten Endes doch stets nicht nur wesensfremd, sondern auch von der Aureole einer philiströsen Lächerlichkeit umgeben gefunden hatte.
Der Groll gegen die Deutschen begann leise zu keimen, und bald sollte er mächtig ins Kraut schießen. Gleich in den ersten Tagen nach erfolgter Kriegserklärung kehrten aus Deutschland und Österreich die vielen Zehntausende Russen zurück, die den Sommer in den genannten Ländern zu verbringen pflegten. Diese Touristen wußten beweglich von [15] den Unbilden zu erzählen, die ihnen namentlich in Deutschland widerfahren waren. Ganz abgesehen davon, daß sie um ihre Erholung oder um ihre Brunnenkur gekommen waren, hatten sie auch Dinge erleben müssen, die als deutsche Greuel in Wort und Schrift in alle Welt hinausposaunt wurden.
Da hatte man mit einem Billet erster Klasse die außerordentlich unbequeme Reise in der vierten Klasse oder gar im Güterwaggon zurücklegen müssen, da waren Bankguthaben nicht ausgezahlt worden, Offiziere und Beamte waren kurz angebunden oder gar barsch gewesen, man hatte allerlei polizeiliche Scherereien zu bestehen gehabt, kurz, man war in den Strudel der deutschen Mobilisation geraten und fand es empörend, daß man in Deutschland mit der Mobilisation nicht so lange gewartet hatte, bis der letzte russische Tourist deutschen Boden mit allem Komfort verlassen hatte.
Ganz besonders effektvoll war eine Reihe von Feuilletons, die der bekannte Rechtsanwalt Karabtschewski in der „Nowoje Wremja“ veröffentlichte. Karabtschewski beklagte sich über die Greuel, die ihm in Wiesbaden widerfahren waren, doch ließ sich beim besten Willen aus seinen spitzfindigen Auslassungen nichts anderes herauslesen, als daß der Besitzer des Wiesbadener Hotels, in dem Karabtschewski gelebt hatte, ihn in jeder Weise, soweit solches in seinen Kräften gestanden, unterstützt und den Herrn Rechtsanwalt mit reichlichen Geldmitteln versorgt hatte. Zum Danke dafür verunglimpfte Karabtschewski die Familie des Hotelbesitzers in einer wenig gentlemanliken Weise.
Ähnliche Machwerke erschienen bald in verschiedenen anderen Blättern und sie verdichteten die Mißstimmung gegen die Deutschen immer mehr. Insbesondere konnte die „Nowoje Wremja“ und namentlich ihr Ableger, die „Wetscherneje Wremja“ sich gar nicht genug tun in derartigen „Enthüllungen“. Die Ssuworinschen Blätter sahen nun Wasser [16] in ungeahnter Fülle auf die Mühlen der nationalen Verhetzung und Brunnenvergiftung, die sie von jeher hatten lustig klappern lassen, fließen.
Sie waren es, die die ersten Samenkörner des Deutschenhasses in einen wohl vorbereiteten Boden streuten, und sie gingen bald auf und trugen Frucht tausendfältig.