29) Verginius Flavus, Rhetor, Lehrer des Dichters Persius. – Sein Leben fällt in die Zeit der Claudier, seine Wirkungsstätte war Rom. Galt sein Zeitgenosse Remmius Palaemon (s. o. Bd. I A S. 596f.) als der hervorragendste Grammatiker jener Epoche, so nahm V. damals den ersten Rang unter den römischen Lehrern der Rhetorik ein. In der Musterlese der Rhetoren, die der Abhandlung Suetons De grammaticis et rhetoribus vorangeht, erscheint auch V.’ Name: Suet. ed. Reifferscheid 99; danach ist anzunehmen, daß sich Sueton in dieser Schrift mit V.’ Persönlichkeit und literarischem Schaffen befaßt hatte. V. schrieb ein uns nicht erhaltenes Werk über die Redekunst (Quintil. inst. III 1, 21), vielleicht De arte rhetorica betitelt, das als Lehrbuch für Rhetorenschulen gedacht war und von keinem Geringeren als Quintilian hoch bewertet wurde: inst. VII 4, 40 hoc tamen admiror Flavum, cuius apud me summa est auctoritas, cum artem scholae tantum componeret, tam anguste materiam qualitatis terminasse; auch an anderen Stellen erwähnt Quintilian des V. rhetorisches Schulbuch und gedenkt des Verfassers mit Anerkennung: vgl. inst. III 6, 45, wo V. als Autorität angeführt wird. Daß er bei der Abfassung seiner Schrift auf den Schultern der Griechen stand, kann keine Frage sein: vgl. inst. IV 1, 23; s. auch VII 4, 24, wo bei orbarum nuptias indicentium ein Seitenblick auf attisches Recht vorliegt. Über die gefällig-witzige Art seiner Kritik unterrichtet uns ein von Quintil. XI 3, 126 (wo von der körperlichen Haltung und dem Hin-und-her-Gehen des Rhetors die Rede ist) mitgeteiltes Scherzwort; er fragte nämlich einmal einen bei seinem Vortrag lebhaft auf und ab laufenden sophistischen Gegner, wie viel tausend Schritte er deklamiert habe.
V. hatte großen Lehrerfolg und war von einer stattlichen Schar von Schülern und Verehrern umringt. Auch der junge A. Persius Flaccus zählte zu ihnen, der, als unmündiger Knabe bis zum zwölften Lebensjahre in seiner Vaterstadt Volaterrae erzogen, sodann nach der Reichshauptstadt kam, um Palaemons und V.’ Unterricht zu genießen (Vita Pers. 4): studuit Flaccus ... Romae apud grammaticum Remmium Palaemonem
[1544]
et apud rhetorem Verg. Flavum. Quintilians wohlwollende Beurteilung der bescheidenen Schöpfungen des Persius (inst. X 1, 94) dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß der Satiriker ein Schüler dieser von dem großen römischen Rhetor hochgeachteten Männer gewesen ist: Kappelmacher-Schuster Lit. der Römer, Potsdam 1935, 322. Der gefeierte Name des V. und sein tiefgehender Einfluß auf die Jugend machte ihn Nero verdächtig, den der Gedanke beunruhigte, daß ihr V.’ Kunst geschärfte Waffen gegen seine Person und Regierungsweise liefern könnte. So erhielt denn V. im J. 65 gelegentlich der Aufdeckung der pisonischen Verschwörung den Ausweisungsbefehl: Tac. ann. XV 17 Verginium ⟨Flavum et Musonium⟩ Rufum (s. o. Bd. XVI S. 893ff.) claritudo nominis expulit: nam Verginius studia iuvenum eloquentia, Musonius praeceptis sapientiae fovebat; vgl. auch Philostrat, vita Apoll. IV 35. 46. V 19, 2. VII 16, 2. – Lit.: Pros. Imp. Rom. III 403 nr. 283. Teuffel-Kroll-Skutsch Gesch. röm. Lit. II7 (1920) 245. Schanz-Hosius Gesch. röm. Lit. II4 (1935) 744.