Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Werk mit Biographien d. Päpste von Petrus bis Stephan V. (gest. 891)
Band XIII,1 (1926) S. 7681
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Liber pontificalis der römischen Kirche heißt ein Werk, das Biographien der Päpste von Petrus bis - in allmählichen Erweiterungen - auf Stephan V. († 891) vereinigt und auch nach dieser Zeit noch mehrere Fortsetzungen erfahren hat. Die grundlegende Ausgabe mit reichem Kommentar und Prolegomena hat L. Duchesne geliefert: Le L. P., Texte, introduction et commentaire, par l’abbé L. Duchesne, 2 Bde., Paris 1886. 1892 = Bibliothèque des écoles françaises d’Athènes et de Rome, 2. sér.). Für die Monumenta Germaniae hat Mommsen eine gleichfalls reich mit Prolegomenen ausgestattete und die Überlieferung übersichtlich zur Anschauung bringende Ausgabe begonnen (Libri pontificales pars prior ed. Th. M.. Berlin 1898), die bis Constantinus († 715) reicht; die Fortsetzung hat W. Levison übernommen. Die in großer Zahl vorhandenen Handschriften zerfallen in drei Klassen: die erste und zweite sind voneinander unabhängig und gehen letztlich auf einen gemeinsamen Archetyp zurück, ihre Hss. reichen bis ins 8., ja sogar ins 7. Jhdt. hinauf; die dritte ist durch Kontamination der zweiten Klasse mit guten, uns sonst nur teilweise (in den Epitomae) faßbaren Überlieferungszeugen entstanden. Charakteristische Differenzen dieser Klassen sind bei Mommsen durch Paralleldruck im Texte gekennzeichnet.

Außer diesen vollständigen Texten besitzen wir noch zwei alte Auszüge, die auf eine andere, vielfach bessere Textform zurückgehen, als sie der Archetyp unserer vollständigen Überlieferung bietet. Die Epitome Feliciana reicht bis auf Felix IV. († 530) und ist in drei Hss. des 8. und 9. Jhdts. erhalten: abgedruckt bei Mommsen S. 229-263, Duchesne S. 48-106. Die Epitome Cononiana führt bis Conon († 687): sie ist nach zwei Hss. des 9. Jhdts. an den gleichen Stellen neben die Feliciana gedruckt; bei Mommsen nur bis Felix, d. h. soweit der Vergleich möglich ist. Aus beiden Epitomae läßt sich unschwer eine gemeinsame Quelle rekonstruieren, ein bis Felix reichender, wenig ausführlicherer Auszug: Duchesne hat diesen auf den gegenüberliegenden Seiten neben die beiden Einzelzeugen gestellt, während bei Mommsen im [77] Text des L. p. die in den Exzerpten erhaltenen Stellen gekennzeichnet sind. Schon die Tatsache des Vorhandenseins einer bis Felix IV. reichenden Epitome macht es wahrscheinlich, daß ihre Vorlage, der Gesamttext, auch nur bis zu diesem Papst reichte, also kurz nach 530 abgeschlossen war; mit anderen Worten, daß die älteste uns erreichbare Redaktion des L. p. aus der Zeit um 535 stammt. Diese Vermutung wird bestärkt durch die Tatsache, daß die Darstellung der Ereignisse für die Zeit bis auf Gelasius († 496) einschließlich so starke historische Irrtümer aufweist, daß der Verfasser nicht ganz nahe an diese Zeit herangerückt werden kann. Dagegen beginnt mit Anastasius II. (496) der Bericht zuverlässig zu werden und behält diesen Charakter bei; in der Biographie des Silverius (536 -537) sind deutlich Eindrücke eines Zeitgenossen wiedergegeben (Duchesne p. XXXVff.). Das alles führt zu dem Schluß, daß der L. p. um 535 erstmalig abgefaßt worden ist: so die Argumentation Duchesne’s, die er in der Rezension der Mommsenschen Ausgabe (Mélanges d’arch. et d’histoire XVIII 1898, 400ff.) aufrecht erhält und weiter begründet. Dagegen hat sich Mommsen gewendet, indem er zum Teil die bereits von Waitz (Neues Archiv f. ält. deutsche Gesch. IV 224ff. IX 469ff.) vorgetragenen Bedenken sich aneignet und ergänzt. Er leugnet zunächst die Existenz einer bis Felix IV. reichenden Urepitome. Die uns erhaltene Epitome Feliciana steht als Beigabe vor einer kirchenrechtlichen Sammlung (s. o. Bd. XI S. 496), die nach der Hs. von St. Maur genannt wird (Maassen Gesch. d. Quell. u. d. Lit. d. canon. Rechts I 613ff.) und außer Konzilskanones einige päpstliche Dekretalien enthält, die bis auf Bonifaz II. (530-532) reichen. Dem entsprechend exzerpierte der Kompilator der Sammlung den ihm vorliegenden Auszug aus dem L. p. nur soweit, als zur Illustrierung der Sammlung nötig war: so gelangte er auf Felix IV., den Vorgänger Bonifaz’ II. Aber diese Argumentation trifft nicht zu. Denn das im Verhältnis zur ganzen Sammlung nur geringfügige, 10 Briefe umfassende Dekretaliencorpus reicht von Siricius (384-399) bis Leo (440-461) - der Brief Bonifaz’ II. per filium nostrum gehört zu dem Konzil von Orange 529, wo er auch steht - das wird durch die Sammlung der Hs. von Lorsch bestätigt (Maassen Quellen 588 n. XX. XXI). Und die Konzilien der Sammlung in ihrer ältesten Gestalt reichen auf jeden Fall bis 549 (Maassen Quellen 623): es hätte also der Kompilator seinen Auszug aus dem L. p. bis auf Silverius († 537) oder Vigilius (537-555) exzerpieren müssen. Daß er den Wunsch gehabt hat, uber Felix hinauszukommen, ersehen wir aber klar daraus, daß in allen 3 Hss., also im Archetyp, die ,Epitome Feliciana` durch ein Verzeichnis der folgenden Päpste von Bonifatius II. bis auf Pelagius († 590) mit Angabe ihrer Regierungszeiten nach Tag und Jahr ergänzt ist. Hätte der Verfasser auch für diese Periode den Auszug aus dem L. p. zur Verfügung gehabt, so hätte er ihn zweifellos benutzt. Gewichtiger erscheint das zweite Argument Mommsens, daß nämlich alle Schriftsteller bis einschließlich Gregor I. keine Kenntnis des L. p. verraten, auch nicht [78] an Stellen, wo man eine solche zu erwarten berechtigt wäre, wenn das Werk bereits existierte. Doch bleiben auch hier erhebliche Bedenken zurück, und die angebliche Entlehnung der sieben antiochenischen Pontifikatsjahre des Petrus (Lib. pont. 1, 2) aus Greg. epist. 7, 37 ist nicht überzeugend. Auffällig ist freilich die Behauptung des L. p. 9, 2, Telesphorus habe ein siebenwöchentliches Fasten vor Ostern angeordnet (ut septem ebdomadas ante pascha ieiunium celebretur), da zur Zeit Gregors noch die amtliche Fastenzeit sechs Wochen umfaßt (hom. in Evang. XVI 5 t. I p. 1494 d ed. Bened.). Aber man kann nicht daraus mit Mommsen einfach schließen, der Verfasser des L. p. habe nach Gregor geschrieben: denn die römische Kirche hat niemals sieben Wochen gefastet. Die wohl gegen Ende des 7. Jhdts. erstandene Sitte, das Fasten am Mittwoch nach Quinquagesimae zu beginnen, ergibt 61/2, nicht 7 Fastenwochen. Erst seit dem 9. Jhdt. wird dafür Propaganda gemacht, daß die Kleriker volle 7 Wochen fasten sollen - und dabei wird unsere Stelle des L. p. gern zitiert (Cabrol et Leclercq Diction. d’arch. chrét. II 2 S. 2145). Wenn also der Autor des L. p. von einem siebenwöchentlichen Fasten spricht, so kann er dabei nichts anderes im Auge haben, als die bereits seit dem 4. Jhdt. bezeugte Sitte des Orientes (vgl. Holl S.-Ber. Akad. Berl. 1916, 855), die er als nachahmenswert zu betrachten scheint. Dann ist aber ein chronologisches Argument nicht aus der Stelle zu gewinnen. Und da auch Mommsen nicht bestreitet, daß von Anastasius II an die Berichte zuverlässig werden, so ist Duchesne’s Annahme, daß eben mit dieser Zeit der Verfasser aus eigener Kenntnis zu schreiben beginnt, erheblich wahrscheinlicher als die Mommsensche Hypothese einer guten Quelle, die er benutzen soll: das wäre dann doch eben auch eine Art L. p. gewesen.

Jedenfalls sind die einzelnen Biographien der Päpste des 7. Jhdts. jeweils von Zeitgenossen geschrieben und bis Konon († 687) durchgeführt: bald danach hat eine weit sich auswirkende Publikation des L. p stattgefunden, denn nicht nur die Epitome Cononiana, sondern auch die ältesten Hss. aller drei Klassen gehen auf eine mit Konon abschließende Redaktion zurück (Mommsen S. XIVf ). Auch in der Folgezeit ist das offiziöse Papstbuch in Rom weitergeführt worden: an einigen Viten kann man noch sehen, wie sie schichtweise bei Lebzeiten des jeweiligen Papstes komponiert wurden. So bei der Gregors II. (715-731), die in ihrem ersten Teil bereits um 724 von Beda Chron. min. J. 720, ausgeschrieben wird (Duchesne I p. CCXXIIf.): in derselben Vita ist auch der ursprüngliche Text von einem Zeitgenossen einer durchgreifenden Umarbeitung unterzogen (Duchesne I p. CCXXff. p. 396ff., vgl. auch die folgenden Viten). Die späteren Fortsetzungen des 9.-14. Jhdts., welche den zweiten Band der Ausgabe Duchesne’s füllen, können hier außer Betracht bleiben.

Wir können noch mehrere Vorarbeiten oder Vorstufen des L. p. feststellen:

1. Papstlisten. Die älteste Liste römischer Bischöfe finden wir Ende des 2. Jhdts. bei Irenaeus III 3, 3, sie ist eine einfache Aufzählung [79] der Namen. Eine mit Angabe der Regierungsjahre versehene Liste hat Iulius Africanus im J. 220 aufgestellt: auf ihr beruht, was Euseb in seiner Kirchengeschichte mitteilt (Zusammenstellung von Ed. Schwartz in seiner Ausgabe Bd. III 6). Die meisten dieser chronologischen Angaben dürften ohne Wert sein (Schwartz S. CCXXVIII): unser vollverläßliches Wissen um die Papstchronologie beginnt mit der Abdankung des Pontian am 28. Sept. 235. Die Annahme, daß Hegesipp und später Hippolyt bezifferte Papstlisten aufgestellt hätten ist unwahrscheinlich (Lietzmann Petrus und Paulus in Rom 18f.). Eine vorzügliche Liste ist im endenden 5. Jhdt. redigiert worden und uns in zahlreichen Hss. seit dem 6. Jhdt erhalten: Mommsen hat sie den ‚Index‘ genannt und sie S. XXXIII–XL ediert; bei Duchesne sind p. 14-33 die einzelnen Hss. abgedruckt. Dieser ‚Index‘ gibt die Namen in der chronologischen Reihenfolge und fügt bei jedem die Regierungsdauer nach Jahren, Monaten und Tagen hinzu; natürlich können auch diese Zahlen erst vom 3. Jhdt. an Anspruch auf historische Zuverlässigkeit machen, werden diesem Anspruch aber auch tatsächlich in weitem Umfang gerecht.

Der Chronograph von 354 (o. Bd. III S. 2479) bringt als nr. XI seines mannigfaltigen Inhalts eine Depositio episcoporum (ed. Mommsen in Chron. min. I 70 = Mon. Germ. Auct. Ant. IX 1892. Auch bei Lietzmann Die 3 ältesten Martyrologien² S. 2 = Kl. Texte nr. 2): d. h. eine nach dem Kalender geordnete Liste der Todestage für die Päpste von 254-352 nebst Angabe ihrer Begräbnisplätze. Sodann als nr. XII eine Depositio Martyrum, in der u. a. die gleichen Angaben für Kallist, Hippolyt, Pontian, Fabian und Xystus († 258) geboten werden.

2. Der Catalogus Liberianus kann als der erste Versuch eines L. p. bezeichnet werden: er ist gleichfalls als nr. XIII Bestandteil des Chronographen von 354 (Chron. min. I p. 73-76, aber auch im L. p. ed. Mommsen jeder Biographie beigedruckt; bei Duchesne p. 2-9, auch bei Harnack Chronologie I 144-149). Hier finden wir von Petrus bis Liberius, von dem nur der Amtsantritt (17. Mai 352) notiert ist, die Reihe der Päpste mit Angabe der Regierungsdauer, der Jahresdaten des Amtsantritts und des Todes und zwar von Anteros an meist auch mit Beifügung der Tagesdaten. Sodann sind bei einigen Päpsten wichtige Ereignisse ihrer Regierungszeit kurz angegeben; aus der Zeit vor 200 nur die Abfassung des Pastor Hermae unter Pius, eine Notiz, die aus dem Muratorischen Kanonfragment (s. den Art.) stammen dürfte. Eine Zusammenstellung der Fristangaben über die Regierungszeiten im ‚Index‘ und im Catalogus Liberianus (s. Mommsen S. XLIII–XLVII. Duchesne p. LXXXff.) zeigt nun sofort, daß für die Zeit bis 230 die Jahreszahlen in beiden Listen völlig differieren, also von jeder Quelle selbständig erfunden sind, während die Tages-und Monatsdaten stimmen, d. h. von dem Verfasser des Catalogus Liberianus aus dem Index entlehnt sind (Mommsen S. XLI, vgl. auch Ed. Schwartz in Eusebs Kirchengesch. III 6). Für die Zeit von 230-352 sind Index und Catalogus Liberianus [80] in den Fristzahlen voneinander unabhängig (vgl. Lietzmann Petrus u. Paulus in Rom 7ff.); und auch seine Tagesdaten für Amtsantritt und Tod hat der Catalogus selbständiger und guter Tradition entnommen. Dagegen sind die Kaisersynchronismen und Konsulatsdaten vom Redaktor selbst nach den entsprechenden Listen des Chronographen von 354 berechnet und nicht als Überlieferung anzusprechen (vgl. Mommsen über d. Chronogr. v. 354 = Abh. Sächs. Ak. II 582ff. = Ges. Schr. VII 553ff.; und jetzt C. H. Turner im Journ. of Theol. Stud. 1916, 338ff. und 1917, 117ff.).

3. Das Fragmentum Laurentianum. In einem Veroneser Codex des 6. Jhdts. sind uns die drei letzten Blätter eines Papstbuches erhalten, nämlich das Ende der Vita Anastasius’ II. (496-498) und mit der nr. LII versehen die Vita des Symmachus (498-514); es folgen als nr. LIII–LX die Namen des Hormisdas bis Vigilius mit Angabe der Regierungszeit; nur bei Vigilius ist noch weiter notiert, daß er in Syrakus am Montag dem 7. Juni 555 gestorben sei. Dies Corpus von Papstbiographien ist gleich nach 514 von einem Anhänger des Laurentius, also einem Gegner des Symmachus, zum Abschluß gebracht; die nr. LIII–LX sind Nachträge, vielleicht des Schreibers der Hs. Abdruck des Textes bei Mommsen S. IX–XI. Duchesne 44-46. Der L. p. verrät keine Bekanntschaft mit diesem Fragment.

Der L. p. hat für die ältere Zeit dem Index die Fristzahlen der Päpste entnommen, während er sonst den Catalogus Liberianus ziemlich vollständig seinem Texte einverleibt, einschließlich der Kaiser- und Konsulsynchronisnaen (Übersicht bei Duchesne 2–9). Ziemlich sorglos gibt er darüber hinaus noch die Intervalle der Sedisvakanzen an. Der L. p. fügt ferner die Heimat jedes Papstes hinzu, wir wissen nicht, aus welcher Art Quelle. Zur Angabe der Todestage scheint ihm eine vollständige Liste dieser Daten vorgelegen zu haben, für welche die Depositio episcoporum des Chronographen von 354 ein Vorbild gewesen sein mag. Jedenfalls hat er die Begräbnisstätten der Päpste einer solchen Liste entnommen, wie sie uns noch handschriftlich erhalten und bei Mommsen S. LXIIIf. ediert ist. Auch für die Angaben über die von jedem Papst vorgenommenen Ordinationen hat der Verfasser wohl ein Verzeichnis benutzt: freilich ist dessen historischer Wert sehr gering (Duchesne I p. CLIV) und trifft überhaupt nur die Zeit von Johannes I. bis Silverius (= 523–537; vgl. Harnack S.-Ber. Akad. Berl. 1897, 761). Von größter Bedeutung sind dagegen die zahlreichen Angaben über den Bau oder Umbau kirchlicher Gebäude und die ihnen gestifteten Kirchengeräte: hier liegen meist authentische Nachrichten und Inventarverzeichnisse zugrunde: Duchesne hat p. CXLff. darüber eingehend gehandelt und im Kommentar zu den betreffenden Stellen weiteres Material zur Würdigung der Nachrichten beigebracht. Im übrigen sind, soweit nicht zeitgenössische Kunde verwertet ist, literarische Quellen herangezogen: Märtyrerakten, Synodalcanones, Papstbriefe, aber auch die symmachianischen Fälschungen, die italische Chronik, Hieronymus [81] de viris inlustribus u. a. m. (s. Mommsen S. XVIIIff.).

Zum ganzen vgl. Brackmann in Haucks Realencykl. f. prot. Theol. n. Kirche³ XI 439-446, wo auch weitere Literatur.