Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Romanschriftsteller
Band IX,1 (1914) S. 681683
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Iambulos. Diodor gibt, wo er die südlich von Arabien liegenden Gegenden beschreiben will, ein Exzerpt aus dem Romane des I. (II 55–60). Dieser kommt auf einer Handelsreise über Arabien nach der Aromatophoros d. h. der Somaliküste (s. Tomaschek o. Bd. II S. 1210) und wird von Räubern zu einem Stamme der ostafrikanischen Küste gebracht, bei dem die Sitte herrscht, alle 600 Jahre zwei Pharmakoi auszusenden Höfer Myth. Lex. III 2276). Ihn und seinen Gefährten trifft dieses Schicksal: sie fahren auf einem Boote vier Monate nach Süden und gelangen zu einer Insel, die 5000 Stadien im Umkreise mißt und zu einer Gruppe von sieben gehört. Sie finden dort ein wunderbar schönes, starkes, gerechtes und glückliches Volk mit unerhörten körperlichen Eigenschaften; z. B. hat es eine gespaltene Zunge und kann alle Sprachen reden. Es ist hoch gebildet, treibt vor allem Astronomie und hat eine Schrift von 28 Zeichen, die aus sieben einfachen Grundtypen durch Umgestaltung abgeleitet werden; damit schreibt man von oben nach unten. Die Kinder werden einer Mutprobe unterzogen, indem man sie auf einen großen Vogel setzt, der mit ihnen in die Luft fliegt: benehmen sie sich dabei feige, so werden sie ausgesetzt (unklare Vorstellungen vom Strauße mögen hineinspielen). Dazu vgl. Onesikr. frg. 18, der von dem indischen Stamme der Vathaeer Ahnliches berichtet. Sie werden fast alle bei voller Kraft und Gesundheit 150 Jahre alt; wer vorher gebrechlich wird, den bringen sie um. Auch die Greise von 150 Jahren töten sich freiwillig, indem sie sich unter einem Baume zum Schlafen legen, dessen Duft den Tod bringt. Es herrseht Weiber- und Kindergemeinschaft; sie leben in Stämmen oder Gruppen von höchstens 400 Köpfen zusammen, über deren jede der Älteste wie ein König gebietet. Die Beschäftigungen wechseln ab, indem immer eine Gruppe auf den Fischfang ausgeht oder Handwerk treibt oder die Bedienung besorgt usw. Als Götter verehren sie das Firmament und die Gestirne, namentlich die Sonne, auf die sie bei ihren Festen Hymnen singen. Obwohl die Inseln unter dem Äquator liegen, haben sie doch ein [682] gleichmäßiges Klima und bringen das ganze Jahr hindurch Früchte hervor; auch das Meerwasser ist süß. Trotz des Überflusses leben die Bewohner doch einfach und verstehen sich zwar auf Kochen und Braten, aber nicht auf raffinierte Kochkünste; der Speisezettel ist so geregelt, daß an bestimmten Tagen nur Fische, an anderen nur Geflügel, dann wieder nur Oliven genossen werden. So verfließt ihnen das Leben in ungestörter Eintracht.

Nachdem I. und sein Begleiter sieben Jahre in diesem Paradies zugebracht haben, werden sie vertrieben, weil sie die schlechten Gewohnheiten ihres früheren Lebens nicht ablegen können. Sie kommen auf einer Fahrt von mehr als vier Monaten nach Indien, und da der Gefährte bei der Landung ertrinkt, so gelangt I. allein zu dem griechenfreundlichen König von Palibothra, der ihn nach längerem Aufenthalt an seinem Hofe über Persien nach Hellas zurücksendet.

Will man den Roman des I. richtig würdigen, so darf man nicht vergessen, daß Diodor ungleichmäßig exzerpiert und, da er Indien schon vorher behandelt hatte, die auf dieses Land bezüglichen Abschnitte nicht berücksichtigt; er verrät uns aber, daß I. über Indien vieles erzählte, wovon andere nichts wußten. Klar ist aber, daß der Roman ein Gemisch von Reisefabulistik und politischer Utopie darstellt, also auf die Nachwirkung des Euemeros (Jacoby o. Bd. VI S. 957) zurückzuführen ist, nur macht sich die stoisch-kynische Tendenz stärker geltend, während das Interesse für die Religion zurückzutreten scheint. Für das Geographische ist kaum eine bestimmte Insel das Vorbild gewesen, und Lassens Versuch (Ind. Altertumsk. III 253), diese in der Sundainsel Bali wiederzufinden, ist schon von Rohde und Richter eingehend widerlegt. Daß auf die damals umlaufenden Vorstellungen von Ceylon manches paßt, ist richtig, beweist aber nur, daß I. u. a. auch die Schilderungen des Onesikritos und Megasthenes und die kynisierende Idealisierung der Inder kannte. Kazarow (Journ. d. russ. Minist. 1909, mir nur bekannt durch Münscher Bursians Jahresb. 149, 183) hat manche Züge aus der Bekanntschaft mit dem syrischen Heliopolis herleiten wollen, schwerlich mit Recht. Die Schilderung der weißen Rohrfrucht c. 57, 2 erinnert an den Reis, und mit dem aus einer Pflanze gewonnenen Kleiderstoff c. 59, 4 ist die Baumwolle gemeint. Vgl. auch 57, 5 mit Megasth. frg. 33. Unschwer erkennt man neben lokal bedingten Zügen die Märchenvoretellungen von seligen Inseln, die eigentlich an keinen Ort gebunden waren, und gerade die Herrschaft des Helios erinnert an den alten Glauben von den Gärten des Sonnengottes (Dieterich Nekyia 21). Schon die Wiederkehr der meisten Motive in den hellenistischen Erzählungen von den Hyperboreern (Däbritz o. S. 274: auch der Selbstmord kehrt dort wieder) sollte vor dem Versuche warnen, zu vieles aus geographischer Kenntnis abzuleiten. Dagegen ist ganz deutlich der Einfluß stoischer, besser vielleicht kynischer Lehren, ohne das man deshalb I. zu einem Philosophen machen und ihn gar mit Susemihl (Alex. Lit.-Gesch. I 324) nach der Beschaffenheit seines Stoizismus [683] datieren dürfte. Richter a. O. 67 leugnet diese philosophischen Einflüsse mit unrecht. Erscheint die ganze Weltflucht und die Schwärmerei für die λιτὴ δίαιτα kynisch, so mutet die Beschränkung der Götterverehrung auf περιέχον und Gestirne stoisch an; die von Zenon und Chrysipp vertretene Weibergemeinschaft konnte wohl auch ein Kyniker billigen. Dazu paßt auch, daß er sich den Staat ohne Sklaven denkt. Merkwürdiger ist jedenfalls sein Gedanke eines durchgeführten Kommunismus, dem auch die Teilung des (kaum von einer gesamtstaatlichen Organisation umfaßten) Volkes in einzelne Stämme dient. Ob diese sozialpolitischen Gedanken aus eigenen Erlebnissen des I. erwachsen waren – etwa solchen wie dem Aufstande des Aristonikos (o. Bd. II S. 962) – oder sich ihm aus dem Weiterdenken populärphilosophischer Lehren ergaben, läßt sich heute nicht mehr erkennen.

Ob I. der wirkliche Name des Verfassers ist oder ein etwa mit Anlehnung an Iamblichos fingierter, ist kaum auszumachen. Nachzuweisen ist er (nach Mitteilung von Meißner) in semitischen Dialekten nicht, doch wäre die Ableitung von einer semitischen Wurzel möglich. ,Es müßte dieselbe Wurzel sein, woher die hebr. Namen Jābāl und Jūbāl kommen. Eine Form Jabbūl würde in griechischer Umschrift als Iambulos erscheinen, da gerade bei verdoppeltem b häufig die Verdoppelung durch Nasalierung aufgehoben wird, wie z. B. bei Habbāqūq gr. Ἀμβακουμ’. Genannt wird I. nur noch von Lukian ver. hist. I 3, der ihn neben Ktesias zu den Erzschwindlern rechnet, ihm aber das Lob einer amüsanten Darstellung zubilligt. Er mag ihn öfters da, wo es für uns nicht mehr kenntlich ist, parodieren, einige übereinstimmende Züge hat Rohde zusammengestellt (vgl. I 25 56, 4; II 1259, 4). Für seine Zeit gibt Diodor einen Terminus ante, die (wohl durch Megasthenes vermittelte) Kenntnis der griechenfreundlichen Könige von Pataliputra einen solchen post quem. Das Interesse für naturgeschichtliche Kuriositäten paßt gut in diese Zeit. Das mit dem Monde ab- und zunehmende Rohr, das 23 cm dick wird, soll wohl das indische Rohr sein. Ferner ist die Rede von einem spinnenartigen Tiere, dessen Blut abgeschlagene Glieder sofort anheilen läßt (58, 2), und von großen harmlosen Schlangen, deren Fleisch überaus wohlschmeckend war (vgl. Plin. n. h. VII 27); andere absonderliche Tiere hat Diodor in seinem Exzerpt übergangen. Das Fortwirken der alten hellenischen Anschauung, daß nur kräftige Kinder existenzberechtigt seien, kann vor zu spätem Ansatz warnen.

Rohde Griech. Roman 241. W. Richter Progr. Schaffhausen 1888. Pöhlmann Gesch. der sozialen Frage II 387.

[Kroll. ]