Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Skytobrachion, Grammatiker in Alexandria, aus Mytilene, auch Skytheus
Band V,1 (1903) S. 929932
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109) Dionysios Skytobrachion (Welcker Ep. Cyclus I² 76ff. FHG II 7–9. Schwartz De Dionysio Scytobrachione, Diss. Bonn 1880. Bethe Quaest. mythographae, Diss. Gött. 1887. Susemihl Gesch. d. gr. Litt. II 45–49), nach Suid. s. Διονύσιος Μυτιληναῖος auch Σκυτεύς genannt, muss als Grammatiker im 2. vorchristlichen Jhdt. in Alexandrien gewirkt haben: man bezweifelte aus chronologischen Gründen die Tradition, dass M. Antonius Gnipho in seinem Hause erzogen wäre (Suet. de gramm. 7). Schol. A Hom. Il. III 40. vollständiger Eustath. 380, 30, überliefern von ihm eine mythographische Schwindelei; Artemon von Kasandrea (Athen. XII 515 e) behauptete, er habe die Chronik des Xanthos gefälscht, was auf eine modernisierende Überarbeitung des echten Werks zu beziehen sein dürfte.

Nach Suidas führte den Beinamen Skytobrachion [930] der Epiker Dionysios von Mytilene. Ein D. von Mytilene wird zweimal in den Scholien zu Apollonios Argonautika (I 1289 = Apollod. bibl. I 118, wo einfach Διονύσιος steht; IV 177) citiert; das zweite Citat kehrt Ι 256. II 1144. IV 119 wieder und gehört zu dem zweiten Buch eines Werkes Ἀργοναυτικά oder Ἀργοναῦται. Ein solches wird aber an zwei Stellen (III 200. IV 1153) einem D. von Milet zugeschrieben, der ohne Titel für die Argonautensage noch Schol. I 1116. III 242. IV 223 = 228 angeführt wird; Διονύσιος ἐν τοῖς Ἀργοναύταις steht Schol. II 207. Unzweifelhaft ist überall dasselbe Buch und derselbe Verfasser gemeint; wie längst beobachtet ist, hat Diodor (IV 40–55) nach ihm die Argonautensage erzählt, mit Ausnahme der aus einem mythographischen Compendium eingelegten Varianten, die Bethe (a. a. O. 17ff.) der Hauptsache nach richtig ausgeschieden hat: die Citate aus D. von Mytilene (vgl. Diod. IV 41, 3. 49, 3. 53, 4. 47, 5) stimmen ebenso mit Diodor überein, wie die aus D. von Milet. Das Werk war ein mythologischer Roman, dessen die poetischen Originale witzig umbiegende Technik sich am besten am Vergleich der Geschichte Medeas mit der euripideischen Tragoedie studieren lässt; die Zauberei spielt wie in der alexandrinischen Romantik eine grosse Rolle, ferner das aetiologische Element (vgl. Diod. IV 43, 2. 48, 7. 54, 4ff.); endlich ist die Tendenz zu beachten, die Sagenkreise in einander zu verschlingen. Durch Herakles ilische Abenteuer, bei denen Priamos eine Rolle spielt (vgl. Diod. IV 49), und dadurch, dass Laertes Argonaut ist (ebd. 48, 5), rückt die Argonautensage an Ilias und Odyssee heran; die ,Theologie‘ des Herakles und der Dioskuren durch Glaukos, die Verbindung, in die Orpheus mit den samothrakischen Mysterien gesetzt wird (Diod. IV 43, 1. 48, 7, vgl. Ephoros bei Diod. V 64, 4), zeigen eine echt hellenistische Mischung einer die Weissagung als Mittel verwendenden Technik und des den Menschen vergötternden Pragmatismus mit einem Synkretismus von Mysterien, den man gemeiniglich in die Kaiserzeit zu setzen pflegt, der aber älter ist.

Diodor (s. oben S. 673f.) hat diesem D. nicht nur die Argonautensage nacherzählt, sondern auch die Geschichten von dem in Libyen geborenen Dionysos (III 66, 4–73, 8), den Atlantiern (III 56. 57. 60. 61) und den Amazonen (III 52, 3–55). Dabei bemerkt er über seinen Gewährsmann folgendes (III 52, 3): οὐ μὴν ἀλλ’ ἡμεῖς εὑρίσκοντες πολλοὺς μὲν τῶν ἀρχαίων ποιητῶν τε καὶ συγγραφέων, οὐκ ὀλίγους δὲ καὶ τῶν μεταγενεστέρων μνήμην πεποιημένους αὐτῶν (der Amazonen), ἀναγράφειν τὰς πράξεις πειρασόμεθα ἐν κεφαλαίοις ἀκολούθως Διονυσίωι τῶι συντεταγμένωι τὰ περὶ τοὺς Ἀργοναύτας καὶ τὸν Διόνυσον καὶ ἕτερα πολλὰ τῶν ἐν τοῖς παλαιοτάτοις χρόνοις πραχθέντων und (III 66, 5. 6) διέξιμεν ἐν κεφαλαίοις τὰ παρὰ τοῖς Λίβυσι λεγόμενα καὶ τῶν Ἑλληνικῶν σιγγραφέων ὅσοι τούτοις σύμφωνα γεγράφασι καὶ Διονζσίωι τῶι συνταξαμένωι τὰς παλαιὰς μυθοποιίας· οὗτος γὰρ τά τε περὶ τὸν Διόνυσον καὶ τὰς Ἀμαζόνας, ἔτι δὲ τοὺς Ἀργοναθτας καὶ τὰ κατὰ τὸν Ἰλιακὸν πόλεμον πραχθέντα καὶ πόλλ’ ἕτερα συντέτακται, παρατιθεὶς τὰ ποιήματα τῶν ἀρχαίων, τῶν τε μυθολόγων καὶ τῶν ποιητῶν.

Die Ἀργοναῦται oder Ἀργοναυτικά werden, wie [931] schon gesagt, in den Scholien zu Apollonios Argonautika (ἐν πρώτωι τῶν Ἀργοναυτικῶν III 200. ἐν δευτέρωι τῶν Ἀργοναυτικῶν IV 1153. I 256) angeführt, das Citat Διονύσιος ἐν β II 965 wird auf das Werk über die Amazonen gehen. Mit den Materien, welche Diodor an den ausgeschriebenen Stellen aufführt, stimmt genau eine Reihe von Titeln überein, die Suidas unter D. von Milet (Τρωικῶν βιβλία γ) und von Mytilene (τὴν Διονύσου καὶ Ἀθηνᾶς στρατείαν, womit Bethe a. a. O. 29 Diod. III 71, 4 vergleicht; Ἀργοναῦται ἐν βιβλίοις ς) verteilt; es sind offenbar die mythographischen Romane des von Diodor excerpierten D., der auch hier bald Milesier, bald Mytilenaeer heisst. Titel und Citate beweisen, dass die Werke gesondert umliefen; dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass sie Teile eines Ganzen bilden sollten, wie sie ja auch von Diodor zusammengestellt werden. Thatsächlich hängen auch Dionysos, die Atlantier, die Amazonen dadurch zusammen, dass sie alle in den äusersten Westen von Libyen, an den Fluss und See Triton und das Atlasgebirge versetzt werden (vgl. Diod. III 53. 60. 68, 5), und sind ferner mit den Argonautika und Troika dadurch in Verbindung gebracht, dass ein Enkel des Laomedon, Zeitgenosse des Orpheus, in einer ,phrygischen‘ Dichtung die Thaten des libyschen Dionysos erzählt (Diod. III 67). Die Verquickung pragmatischer Theologie mit der ἱστορίη ist alt und schon von den Ioniern vollzogen, aus welchen Herodots aegyptische Theologie entlehnt ist; nach Alexander bildete sich aus dieser Verquickung der Romantypus aus, dessen berühmtestes Beispiel Euhemeros Ἱερὰ ἀναγραφή wurde und der bei D. unverkennbar vorliegt, wie, um von der Rückspiegelung der civilisierenden Weltmonarchie in die Theogonie zu schweigen, schon die landschaftliche Schilderung Diod. IV 68. 69 zeigt, in der sogar noch ein Fetzen echt hellenistischer Rhetorik stehen geblieben ist (IV 69, 2 a. E.); nach den nüchternen Excerpten Diodors dürfen diese wahrscheinlich sehr grellfarbigen Romane nicht beurteilt werden. Es besagt nicht viel, dass hier das Götterland nicht im Osten, nach Arabien und Indien zu, liegt, sondern im Westen, denn die Farben werden darum nicht geändert; aber es mag immerhin daran erinnert werden, dass am Ende des 2. Jhdts. das Problem der Umschiffung Africas in Alexandrien auftauchte (Poseidonios bei Strab. II 98ff.) und darum möglicherweise das actuelle Interesse des Publicums der Reiseromane sich von dem Osten nach dem Westen drehte. Der ältere Typus der mythographischen Theologie und Heroologie, der einem weisen Mann oder Seher die Offenbarung über die Vorzeit in den Mund legt (Epimenides, Pherekydes; vgl. v. Wilamowitz Euripides Hippolytos 244), ist bei Euhemeros und Genossen ersetzt durch die Erfindung der uralten Urkunde, auf der die vergotteten Monarchen ähnlich den Königen der Ägypter und der asiatischen Weltreiche ihre Thaten aufgezeichnet haben. Zu dieser Sorte von Erfindungen stellt sich bei D. der Zug, dass er uralte Schriften benützt haben will, die in pelasgischem Alphabet aufgezeichnet gewesen seien (vgl. Diod. III 67, 1. 5); im übrigen will er seine unterhaltsame Weisheit nicht wie ein Reisender aus abgeschriebenen Urkunden, sondern wie ein Mythograph, [932] aus ,alten poetischen und prosaischen Gedichten‘ (Diod. III 66, 6) geschöpft haben. Es genügt nicht, diese Citate damit abzuthun, dass sie nach der einen Probe, die Diodor (III 67) über die Φρυγία ποίησις des Thymoitas, eines Enkels des Laomedon, erhalten hat, erschwindelt sind und, wie man wohl sagen darf, sich offen für erschwindelt ausgeben. Die Manier, nach alten Gedichten, unter Umständen auch Mythographen, die ja regelmässig mit den Dichtern zusammengestellt werden, Theogonie und Heldensage zu erzählen, ist die der κύκλοι (vgl. Bd. I S. 2882ff.), und zum κύκλος ἐπικός, wie ihn Proklos beschreibt, gehören litterargeschichtliche Notizen über die Verfasser der einzelnen Epen. Bei D. findet sich alles wieder, der kyklische Zusammenhang, der, wie im epischen Kyklos, den ganzen Kreis von der Theogonie bis zum troischen Krieg umspannt, die Epen als Quellen der Erzählung, das Litterargeschichtliche; nur ist alles geschwindelt. Aber geschwindelt nach Mustern, die das Publicum kannte; der Romancyclus ist das Spiegelbild einer oder mehrerer, episch-mythographischen Cyclen, die als ältere Erscheinungsformen des sog. ἀπικὸς κύκλος vorausgesetzt werden müssen. Ob diese Romane eine geschmacklose Nachäffung oder eine freche Parodie hellenistischer Mythographie sein sollten, ob D. ein ehrbarer Pedant oder ein frivoler Witzbold war, darüber liesse sich nur urteilen, wenn längere Bruchstücke Diodors faden Excerpten zur Seite träten. Wahrscheinlich aber ist, dass das Schwanken zwischen Μιλήσιος und Μυτιληναῖος auf den Schwindel zurückläuft, den D. mit ,alten‘ Citaten trieb. Es muss wenigstens sehr auffallen, dass Suidas den Mytilenaeer ἐποποιός nennt und dann, in offenbarem Zusammenhange damit, zu dem Titel Ἀργοναῦται ἐν βιβλίοις ς hinzufügt: ταῦτα δέ ἐστι πεζά. Von ‚Gedichten‘ der Mythologen im Gegensatz zu denen der Dichter redet ja D. bei Diodor. III 66, 6; die Vermutung ist wohl gestattet, dass dieser ‚prosaische Epiker‘ D. von Mytilene derselben Region angehört wie Thymoitas, der Enkel des Laomedon, und von D. als uralter Gewährsmann für die wahre und echte Geschichte der Argonauten angeführt war. Dann wäre ὁ Μιλήσιος das Ethnikon des wirklichen D., ὁ Μυτιληναῖος das, was er einem von ihm erfundenen Autor gegeben hatte. Wenn man nun aber – ich auch – seit Welcker den D., den Diodor und die Apolloniosscholien excerpieren, nicht nur den Mytilenaeer – er heisst öfter Milesier –, sondern auch Skytobrachion nennt, so ist das eine Combination, die richtig sein kann, die aber nur auf einer Zurechtschiebung der arg verwirrten Suidasartikel beruht.