Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Marschheer des Kaisers als ab dem 3. Jh. n. Chr.
Band IV,1 (1900) S. 619622
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Comitatenses. 1) Schon seit dem Beginn der Kaiserzeit machte sich im römische Reiche der Mangel einer ausreichenden Armeereserve sehr fühlbar geltend. Fast die ganze Kriegsmacht stand an der Grenze aufgereiht, um die Raubzüge der barbarischen Nachbarn abzuwehren, und unter gewöhnlichen Umständen reichte ihre Grösse für diesen Zweck auch vollkommen aus. Brach aber irgendwo ein schwerer Krieg aus, so war derjenige Punkt, gegen den der erste Angriff sich richtete, zunächst immer ungenügend verteidigt, und es machte grosse Schwierigkeiten, die nötigen Verstärkungen herbeizuschaffen. Aushebungen nützten wenig; denn seit das Soldatentum zum Lebensberuf geworden war, in dem man erst durch lange Übung zur Vollkommenheit gelangte, galten Recruten kaum noch als militärisch brauchbar. An geschulten Truppen aber waren nur die 10 000 Praetorianer verfügbar, die den Kaiser begleiteten, wenn er persönlich ins Feld zog; doch ihre kleine Zahl genügte keineswegs den Bedürfnissen. War also eine Grenze ernster als gewöhnlich bedroht, so sah man sich immer gezwungen, zu ihrer Verteidigung die andern zu entblössen, was oft die schwersten Folgen hatte (Seeck Geschichte des Untergangs der antiken Welt I 243. 373). Dies war der Grund, warum man auf der Scheide des 3. und 4. Jhdts. neben dem Grenzheer, das seine Posten künftig nicht mehr verlassen sollte (milites limitanei oder riparienses), als ständige Reserve ein besonderes Marschheer schuf. Da gleichzeitig das Princip aufgestellt wurde, dass alle wichtigeren Kriege nur durch den Kaiser persönlich geführt werden dürften (Seeck I 20), so kämpften diese Truppen regelmässig unter seinem eigenen Commando und wurden daher als zu seiner Umgebung gehörig betrachtet. Hieraus erklärt sich der Name Comitatenses, der von comitatus, das Hoflager, abgeleitet ist (Dessau 2781 militavit – lectus in sacro comitatu lanciarius; vgl. CIL III 11026). Die Einführung der C. wird von Zosimus (II 34) erst Constantin dem Grossen zugeschrieben; doch kann dies nicht richtig sein. Denn CIL VI 2759 findet sich ein Soldat, der zuerst 5 Jahre im Grenzheer, dann 11 Jahre im Marschheer und zum Schlusse noch unter den Praetorianern gedient hat. Da nun die praetorischen Cohorten schon 312 aufgehoben wurden, so muss sein Eintritt in das Marschheer [620] frühestens in das J. 301 fallen. Auch begegnet uns ein praepositus equitibus Dalmatis Aquesianis comitatensibus zwischen den J. 311 und 313 in Noricum (Dessau 664), das erst Ende 314 in die Gewalt Constantins kam. Die Neuerung muss also schon auf Diocletian zurückgehen, wahrscheinlich wurde sie durch den Perserkrieg des Jahres 297 veranlasst. Denn damals wiederholte sich die alte Erfahrung, dass die schwachen Grenzheere einem grossen Kriege nicht gewachsen waren. Sie wurden anfangs geschlagen, und erst nachdem Galerius teils aus Recruten, teils aus wieder einberufenen Veteranen eine neue Armee gebildet hatte, gewann er den Sieg (Vict. Caes. 39, 34. Eutrop. IX 24. 25). Um die letzteren unter die Fahnen zurückzuführen, bedurfte es jedenfalls besonderer Ehren und Vorteile, wie sie das Marschheer im Gegensatze zu den limitanei besass. Wir dürfen also vermuten, dass diejenigen Soldaten, welche den Narses schlugen, die ersten C. waren.

Die Fusstruppen der C. heissen ausnahmslos legiones (Cod. Theod. V 4, 1. Not. dign. or. VII 38. VIII 33. IX 30; occ. V 223), die Abteilungen der Reiterei vexillationes (CIL III 405. Cod. Theod. V 4, 1. VII 4, 22. Not. dign. or. V 33. VI 34. VII 24. VIII 28. IX 18; occ. VI 53), später auch cunei (Not. dign. or. VII 34; occ. VI 85; in der Verordnung Cod. Theod. V 4, 1 scheint seu cunei Glossem zu sein). Ein Teil von beiden Truppengattungen ist später palatinae genannt worden (Cod. Theod. VII 1, 18. 4, 22. VIII 1, 10. Not. dign. or. V 27. 41. VI 27. 41. VIII 24. IX 21; occ. V 144. VI 42), was in ihrer Stellung wahrscheinlich keine wesentliche Veränderung herbeiführte, sondern ein blosser Ehrentitel war. Zuerst lässt er sich im J. 373 nachweisen (Cod. Theod. VIII 1, 10 datiert durch den Ort); doch kann man daraus nicht mit Sicherheit schliessen, dass er erst von Valentinian I. eingeführt ist. Denn wenn er auch in manchen früheren Verordnungen vermisst wird, wo man ihn zu finden erwarten sollte (Cod. Theod. V 4, 1. VII 20, 4), so lässt sich dies vielleicht daraus erklären, dass unter den Worten numeri comitatenses die palatini mitverstanden sind, wie es auch nach 373 oder kurz vorher erweislich vorkommt (Cod. Theod. VII 13, 7 § 3. 22, 8. VIII 4, 17). Die barbarischen Auxilia mussten sich, wie es scheint, auch damals noch mit den geringeren Rechten der Riparienses begnügen (Cod. Theod. VII 13, 7 § 3: qui in ripa per cuneos auxiliaque fuerint constituti im Gegensatze zu den besser gestellten comitatenses numeri genannt), obgleich es zum Teil die besten Soldaten waren (Ammian. XVI 12, 43. XX 4, 7. XXV 6, 3, wo die Iovii und Victores fälschlich legiones genannt werden, Iulian. ep. ad Ath. 280 D) und daher keineswegs an ihre Standlager gefesselt blieben. Als aber endlich ein Teil von ihnen officiell dem Marschheer einverleibt wurde, da ehrte man ihn sogleich mit dem Titel der palatini. Es giebt also nur auxilia palatina (Not. dign. or. V 48. VI 48. VII 35. IX 23; occ. V 157), nicht auch comitatensia. So gelangte das Übergewicht der Barbaren im römischen Heere, so sehr man sich dagegen sträubte, auch zum formellen Ausdruck.

Neben den palatini und comitatenses stehen in geringerem Range die pseudocomitatenses [621] (Cod. Theod. VII 1, 18. Not. dign. or. VI 68. VII 48. IX 39; occ. V 256), zuerst erwähnt im J. 373 (Cod. Theod. VIII 1, 10 datiert durch den Ort). Es sind Grenztruppen, die zum Dienst im Marschheer abcommandiert sind, ohne doch aller Privilegien desselben teilhaft zu werden (Mommsen Herm. XXIV 209). Wenn in der Notitia dignitatum legiones und auxilia sonst immer streng gesondert erscheinen, dagegen unter den Überschriften: Item pseudocomitatenses bunt durcheinander gemischt sind, so verrät sich in dieser unordentlichen Eintragung, dass diese Truppen nur als vorübergehende Bestandteile des Marschheeres galten, obgleich das Provisorium wohl oft lange Jahre dauern mochte. Übrigens lässt sich durch Vergleichung von Not. occ. V und VII aus der Reihenfolge der Namen, die sich immer streng nach dem Range richtet, mehrfach nachweisen, dass numeri pseudocomitatenses zu legiones comitatenses (VII 35. 138) oder zu auxilia palatina (VII 37. 38. 61) erhoben worden sind, wie auch legiones und vexillationes comitatenses zu palatinae aufrücken (VII 28. 29. 82. 145. 165–170). Wahrscheinlich wurden diese Rangerhöhungen als Belohnung für hervorragende Kriegsthaten verliehen.

Vielfach findet sich der Name derselben Legion einerseits unter den riparienses, anderseits unter den comitatenses oder palatinae vertreten (Not. dign. or. VII 39 = XXVIII 14. XLII 31–33. 39; or. VII 41 = occ. XLII 26; or. VII 42 = occ. XXXIV 25. 27; or. VIII 36. 37 = XXXI 37. 31. 33. 38; or. VIII 38 = XLII 34–38; or. VIII 39 = occ. XXXIV 26. 27; occ. V 235 = XXXIV 37–39; occ. V 237 = XXXV 17–22; occ. V 241 = XXVIII 19). Oft erscheinen die letzteren auch in doppelter Gestalt mit dem Beinamen seniores und iuniores (or. XXXIX 29–35 = V 43. 44; occ. V 145. 146; or. XXXVII 22 = VII 40; occ. V 265; occ. XXVIII 19 = VII 156; occ. XLII 26 = VII 132. 103) oder ohne dieselben (or. XL 33–35 = VI 46; occ. V 234). Vermutlich ist diese Dreiteilung anfangs ganz allgemein gewesen, womit es wohl auch zusammenhängt, dass die Normalzahl der Legion in der früheren Kaiserzeit 6000 Mann, nach Diocletian wahrscheinlich 2000 beträgt (Seeck Forsch. z. deutsch. Gesch. XXIV 187). Danach dürfen wir uns die erste Bildung der legiones comitatenses folgendermassen denken: Man las aus den alten Legionen zwei Drittel ihrer Mannschaften aus und schuf daraus je zwei neue für das Marschheer, die man meist durch die Beinamen seniores und iuniores unterschied. Das übrigbleibende Drittel, das aus den schlechtesten Leuten bestand, liess man dann als legio ripariensis in dem früheren Standlager der Truppe zur Grenzbewachung zurück.

Auch später ist es Brauch geblieben, dass man Leute, die sich ausgezeichnet hatten, aus dem Grenzheer in das Marschheer versetzte (Dessau 2781. 2782. CIL VI 2759), bis Honorius es verbot (Cod. Theod. VII 1, 18). In der Hauptsache aber wurde auch das letztere durch directe Aushebungen gebildet; doch nahm man dazu die kräftigsten und bestgewachsenen Recruten, während die geringeren unter die Riparienses eingestellt wurden (Cod. Theod. VII 22, 8). Die C. galten daher als die besseren Soldaten (Ammian. [622] XXIX 5, 4. Cod. Iust. I 27, 2 § 8) und genossen mannigfacher Privilegien (Cod. Theod. V 4, 1. VII 13, 7 § 3. 20, 4. VIII 1, 10. 4, 17. XII 1, 38). Ihre Standquartiere waren meist nicht an der Grenze, sondern im Innern des Landes (Zosim. II 34, 2. Mommsen Herm. XXIV 227, 3). Anfangs standen sie wahrscheinlich unter dem directen Oberbefehl der Kaiser, seit Constantin der Magistri Militum (Cod. Theod. V 4, 1. VIII 1, 10. Not. dig. or. V–IX; occ. V–VII), während die riparienses von den duces commandiert werden (s. Limitanei). Mommsen Herm. XXIV 225.