RE:Calpurnius 119
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Siculus, T. Dichter z. Zt. Neros | |||
Band III,1 (1897) S. 1401–1406 | |||
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119) T. Calpurnius Siculus – der volle Name ist uns nur durch die alte Collation der Hs. des Ugoleto (s. u.) erhalten – schrieb im Anfang der Regierung Neros Hirtengedichte. Die älteren Ausgaben schreiben ihm ausser seinen sieben eigenen meist auch die vier bukolischen Gedichte des Nemesianus (s. d.) zu, die in der hsl. Überlieferung von alters her damit verbunden sind. Die endgültige Sonderung des Eigentums der beiden Dichter ist erst durch M. Haupts klassische Abhandlung De carminibus bucolicis Calpurnii et Nemesiani (Berlin 1854 = Opusc. I 358ff.) vollzogen. [1402] Die Bewahrung der Länge des auslautenden o, die Ängstlichkeit bei der Elision (nur kurze Vocale werden elidiert und fast nur im ersten Fuss, im ganzen höchstens elfmal in 758 Hexametern), andere metrische Eigentümlichkeiten (Birt Ad histor. hexam. lat. symbol., Bonn 1877, 63) unterscheiden die Erzeugnisse des C. von denen Nemesians, der sich ausserdem zuweilen als ungeschickter Nachtreter jenes verrät (Nemes. II 44ff. ∼ Calp. III 51ff. Nemes. II 1ff. ∼ Calp. II 1ff. Nemes. III 2 = Calp. V 2). Zu diesen inneren Gründen tritt das ausdrückliche Zeugnis des Codex Gaddianus und besonders der Hs. des Ugoleto, in der am Schlusse der siebenten Ecloge stand finis bucolicorum Calphurnii Aurelii Nemesiani poetae Carthaginensis egloga prima. Auch in die schlechteren Hss. hinein haben sich Überschriften gerettet der des Ugoletischen Codex ähnlich T. Calpurnii Siculi bucolicum carmen ad Nemesianum Karthaginensem incipit, was aus einem Doppeltitel wie etwa T. Calpurnii Siculi et Nemesiani Carthaginiensis bucolica verderbt sein wird.
Die sieben Gedichte, die sonach allein Eigentum des C. sind, sind zum Teil reine Hirtenpoesie: [1403] II nach erzählender Einleitung ein Wettgesang von Schafhirt und Gärtner in vierzeiligen Strophen zu Ehren der Geliebten; III nach dialogischer Einleitung Lied an die untreue Geliebte (vgl. namentlich Theokr. id. III. XIV. Verg. ecl. II); V Vorschriften über Schafzucht, inhaltlich mit Vergil Georg. III 295–456 sich nahe berührend; VI Vorbereitungen zum Wettstreit im Gesange, die aber nicht zum Ziele führen, weil sie in heftigen Zank ausarten (erinnernd an Theokr. V. Verg. ecl. III). Dieser Gruppe steht eine zweite gegenüber, I, IV und VII umfassend, die also vielleicht mit Bedacht an Anfang, Ende und in die Mitte gestellt sind (daneben mag für die Anordnung der Gedichte in Betracht kommen, dass I, III, V und VII je einen längeren Einzelvortrag enthalten, die andern durchgehends Dialogform haben). Die drei durch diese Stellung ausgezeichneten Gedichte sind γρῖφοι, deren Lösung, die vor Haupt in wesentlichen Punkten schon Gustav Sarpe (Quaestiones philologicae, Rostock 1819) gelungen war, einige Aufklärung über die Person des Dichters, volle Sicherheit über seine Lebenszeit giebt. Alle drei Gedichte feiern einen jugendlichen Herrscher (I 44. IV 85. VII 6). Mit seiner Regierung – so stellt eine Prophezeiung des Faunus in Aussicht, die in I ein Hirt dem andern vorliest – beginnt ein neues goldenes Zeitalter; dessen Wirkungen auf Vieh und Feld schildert in IV ein Wechselgesang zweier Hirten in fünfteiligen Strophen drastisch genug; in VII endlich beschreibt ein Hirt aus der Stadt zurückgekehrt einem andern die Spiele, die er dort gesehen hat, und den Kaiser, der sie veranstaltete. Die Farbe dieser überschwenglichen Verherrlichung ist dieselbe, mit der z. B. die Einsiedler Eclogen, deren Vorbild oder Nachahmer C. gewesen sein muss (Bücheler Rh. Mus. XXVI 239), und Senecas Apocolocyntosis die Herrlichkeit des neronischen Reiches schildern. Auf dieses weisen auch die Einzelheiten aufs allerbestimmteste. Es wird zur Herbstzeit (I 1ff.) durch einen Kometen (77ff.) angekündigt, offenbar denselben, der beim Tode des Kaisers Claudius (13. October) leuchtete (Plin. n. h. II 26. Suet. Claud. 46. Cass. Dio LX 35). Dass der Fürst maternis causam vicit Iulis (so die gute Überlieferung I 45, vgl. Schenkl p. LXI), bezieht sich auf die griechische Rede, die Nero in seinem sechzehnten Lebensjahr für die Ilier hielt (Suet. Nero 7. Tac. ann. XII 58). Die Versprechungen, die Nero im Gegensatz zu den juristischen Liebhabereien und Willkürlichkeiten seines Vorgängers gab (Tac. ann. XIII 4), lassen sich I 69ff. erkennen. VII 23f. meinen vermutlich das hölzerne Amphitheater, das Nero 57 erbaute (Suet. 12. Tac. a. O. 31). Noch anderes bei Sarpe 31ff. 40ff. Haupt 385ff. Wertlos sind die Einwände von Kraffert Beitr. z. Krit. u. Erklärg. lat. Autoren, Aurich 1883, 151 und Garnett Journ. of Phil. XVI 216ff.
Durch die Maske des Hirten Corydon hindurch, der sich in allen drei γρῖφοι an der Verherrlichung Neros beteiligt, ist der Dichter selber deutlich zu erkennen. Er steht noch im Frühling seines Lebens, als er die siebente Ecloge schreibt (v. 74f., vgl. IV 34). An Anerkennung und Behaglichkeit hat es ihm gefehlt, ja die Notwendigkeit nach Spanien auszuwandern drohte ihm, bevor sich [1404] Meliboeus als Gönner seiner annahm (IV 29ff.). Von diesem hofft er nun gar, dass er seinem Gesange Gehör beim Kaiser verschaffen werde (I 94. IV 157ff.), und nach IV 47f. scheint sich die Hoffnung erfüllt zu haben; jetzt ist Haus und Landgut das Ziel seiner Wünsche (IV 152ff.). Auch die sonstigen Figuren der drei γρῖφοι, Corydons lang aufgeschossener Bruder Ornytus I 8. 24ff., Amyntas IV 78 ein anderer (?) Bruder des Dichters (nicht des Meliboeus, wie Sarpe meinte), der doctus Iollas IV 59, der dem Dichter die Rohrpfeife des Tityrus d. h. Vergils (vgl. Verg. buc. I) geschenkt, also wohl ihn zur bukolischen Dichtung veranlasst hat, sie alle werden nicht der Phantasie entsprungen sein, sondern, wie schon die individuellen Züge bekunden, mit denen der Dichter sie ausstattet, Fleisch und Blut gehabt haben. Aber nur bei Meliboeus scheint sich die Maske noch lüften zu lassen. Auf Grund der Äusserungen über ihn I 94. IV 53ff. 72. 158ff. hat man ihn mit verschiedenen in der litterarischen Welt und bei Hofe angesehenen Männern der neronischen Zeit identificiert. Sarpe 34ff. wollte in ihm den Philosophen Seneca, Chytil (Der Eklogendichter T. C. Sic. u. seine Vorbilder, Jahresber. d. Gymn. in Znaim 1893/94, 4) Columella erkennen. Aber was über die Schriftstellerei des Meliboeus IV 53ff. gesagt wird, passt auf letzteren gar nicht, auf den Verfasser der naturales quaestiones nur, wenn man auf die nächstliegende Deutung der Worte tibi non tantum venturos dicere ventos agricolis qualemque ferat sol aureus ortum ,Du treibst prognostische Schriftstellerei zu Nutz und Frommen der Landwirtschaft‘ verzichtet. Zwar auch von C. Calpurnius Piso (o. Nr. 65), den Haupt 391ff. im Meliboeus finden will, ist uns dergl. Schriftstellerei nicht bezeugt. Aber alles Übrige trifft zu, Freigebigkeit, Umgang mit Nero, Beschäftigung mit tragischer Poesie (Tac. ann. XV 48. 52. 65. Probus des Valla zu Iuv. V 109), und vor allem findet Haupts Annahme eine kräftige Stütze in einer weiteren Vermutung. Wir besitzen ein Lobgedicht auf diesen Piso in 261 Hexametern, in den Parisern Excerpten (Meyncke Rh. Mus. XXV 378) de laude Pisonis betitelt, zuerst von Joh. Sichard in seinem Ovid (Basel 1527, Bd. II fol. 546ff.) aus einer nachher verlorenen Lorscher Hs. herausgegeben, zum grösseren Teile auch in dem erwähnten Pariser Florilegium erhalten, mit dessen einer Hs. sich des Hadr. Iunius (Animadversorum libri VI, Basel 1556, 249ff.) verschollener Codex Atrebatensis nahe berührt (Bährens PLM I 221ff.). Das Gedicht, das den Piso als Redner, Hausherrn, Dichter und Sportsmann feiert, schrieb der Laurissensis dem Vergil, der Atrebatensis in Übereinstimmung mit den Seitenköpfen der einen Excerpt-Hs. dem Lucan (und zwar in catalecton oder ex libro catalecton) zu, beides so undenkbar wie die Zuteilung an Ovid oder Statius (dagegen Lehrs Quaest. epic. 305) oder Saleius Bassus, welche moderne Philologen versucht haben (Zusammenstellung und Widerlegung der Versuche bei C. F. Weber Commentat. de carmine panegyr. in Calp. Pis., Index lect. Marburg 1859. 7ff.). Dagegen finden sich in dem Gedichte merkwürdige Übereinstimmungen mit den Eklogen des C. sowohl formell in Metrik (unbedeutende Einwände bei Weber 14f., vgl. dagegen [1405] Birt a. a. O. 64 Anm.) und Sprache (vgl. namentlich de laude 246ff. mea vota si mentem subiere tuam, memorabilis olim tu mihi Maecenas tereti cantabere versu mit buc. IV 152ff. olim quae tereti decurrent carmina versu tunc, Meliboee, mihi wenn sich mein Wunsch nach einem Gut erfüllt haben wird) als inhaltlich: auch der Dichter der Laus ist jung, noch nicht zwanzig Jahr (v. 261), stammt aus bescheidenem Hause (254), möchte, dass Piso sein Maecen wird, wie es C. von Meliboeus wünscht. Dazu kommt als äusserer Beweis, dass in den Pariser Excerpten auf de laude Pisonis unmittelbar die C.-Excerpte folgen. Zieht man all dies in Betracht, so wird man schwerlich geneigt sein, die Namensgleichheit zwischen dem Dichter der Eclogen und dem Helden des Panegyricus als blossen Zufall anzusehn. Freilich sind für dieselbe mehrere Erklärungen möglich. Der junge Dichter, der den Hofmann um Aufnahme in sein Haus gebeten hat (de laude 218), könnte von ihm, wie Haupt vermutete, adoptiert worden sein. Er könnte aber auch, was wohl wahrscheinlicher ist, der Sohn eines Freigelassenen Pisos sein (vgl. Schenkl p. IXf.). Zu letzterer Annahme stimmt das Cognomen Siculus, das als eine Anspielung auf Theokrit anzusehen minder wahrscheinlich ist, als es einfach von Herkunft aus Sicilien zu verstehen; nennt doch auch der Dichter stets nur Vergil als sein bewundertes Vorbild.
Sieht man nach all diesem in dem Lobgedicht auf Piso ein Werk des C., so hat man es vermutlich vor die Bucolica zu setzen, wenigstens vor die γρῖφοι unter ihnen. Denn de laude Pisonis, das Neros aesthetische Liebhabereien und Versuche neben denen des Höflings nicht mit einem Wort erwähnt, muss eben darum wohl noch unter Claudius geschrieben sein (Teuffel R. L.-G.⁵ § 306, 6), wie sich denn C. nach Ausweis von IV 30 thatsächlich schon unter einer andern Regierung als der Neros dichterisch beschäftigt hat. Zudem macht das Lobgedicht den Eindruck eines ersten Annäherungsversuches an Piso (v. 216ff., besonders 218. 253ff.), während schon das erste bukolische Gedicht die Hoffnung auf Vermittlung beim Kaiser aussprechen darf (94) und das vierte von erfolgter Förderung zu reden weiss (36ff.). Im übrigen ist über die relative Chronologie der Gedichte des C., soweit sie sich nicht aus früher Gesagtem ergiebt, wenig zu ermitteln. Jedenfalls sind die Schlüsse über ihre Zeitfolge, die man aus der Sprache und Metrik (Schenkl p. XIIff.) oder der grösseren oder geringeren Abhängigkeit von Theokrit (Chytil 24) gezogen hat, höchst unsicher. Dagegen wird durch IV 10f. wahrscheinlich, dass wenigstens ein Teil der rein pastoralen Gedichte, insbesondere wohl V, vor die Verherrlichung Neros in IV fällt.
Originales hat C. dem Leser wenig zu bieten. Aber er weiss die seinen Vorgängern entlehnten Stiftchen doch nicht ohne Geschick zum neuen Mosaik zusammenzufügen. Als sein Vorbild nennt er selbst den Vergil und feiert ihn in Tönen überschwenglicher Begeisterung (IV 62ff., vgl. de laude 230ff.). Was er diesem und in zweiter Linie andern römischen Vorgängern, insbesondere Ovid, verdankt, hat Schenkl in seiner Ausgabe (besonders S. 73ff.), freilich nicht wählerisch genug, zusammengestellt; [1406] fast seinen ganzen Namenvorrat hat C. aus römischen Quellen zusammengestoppelt (v. Wilamowitz Ind. lect. Gotting. 1884, 6). Aber C. hat sich auch bei Theokrit Motive und Wendungen geborgt; die Andeutungen Schenkls p. XXI u. 76 haben Leo Ztschr. f. öst. Gymn. 1885, 613f. und Chytil 9ff. erweitert und vertieft. Von späteren Dichtern scheinen Statius und Claudian den C. gelesen zu haben; eifrig nachgeahmt hat ihn im 3. Jhdt. Nemesianus (s. o.). Mit dessen Eclogen zusammen sind die seinigen dann fortgepflanzt worden. In dieser Verbindung haben sie dem Bischof Modoin von Autun (Naso) vorgelegen, der sie in seinen Gedichten an Karl den Grossen (beste Ausgabe von E. Dümmler Neues Arch. f. ält. deutsche Gesch. XI 1886, 77ff.) viel benutzt hat (Bährens Rh. Mus. XXX 628), und stehen sie auch, wie eingangs bemerkt, in unseren Hss. Diese sondern sich in zwei Klassen. Die erstere zeigt reinere Überlieferung und ist repräsentiert durch zwei erhaltene Hss., Neapolitanus (380, um 1400 geschrieben) und Gaddianus (90, 12; saec. XV), und zwei verlorene, den vetustissimus Codex, den Thadeus Ugoletus aus Deutschland nach Italien gebracht haben soll und Nic. Angelius mit dem Riccardianus 363 collationiert hat, und eine Hs. Boccaccios, aus der sich Lesarten im Harleianus 2578 erhalten haben. Die weitaus besten Vertreter der zweiten mehr oder weniger interpolierten Hss.-Klasse sind der nur bis Calp. IV 12 reichende Parisinus 8049 (saec. XII) und jener Codex, den der Urheber des Pariser Florilegiums (s. o.) zu Grunde legte; der Rest, stark interpoliert, zerfällt in zwei Gruppen. Vgl. H. Schenkl Wiener Stud. V 281ff. VI 73ff. und in seiner Ausgabe p. XXXVIIff. Gebührend verwertet ist diese Überlieferung erst in der eben genannten Ausgabe (Calpurnii et Nemesiani bucolica rec. H. Schenkl, Leipzig-Prag 1885, mit ausführlicher literarhistorischer und kritischer Einleitung und Index verborum); die früheren Ausgaben sind wertlos, auch die von Bährens (PLM III 65ff.) ruht auf ungenügendem Fundament. Vgl. Teuffel a. a. O. Ribbeck R. Dicht. III 47ff.