Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Mittelraum des altitalischen Hauses
Band II,2 (1896) S. 21462148
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Atrium, der Mittelraum des altitalischen Hauses, welcher ursprünglich den Herd enthielt (Cato bei Serv. Aen. I 726. Ovid fast. VI 301; der Name von dem die Decke schwärzenden Rauch Isid. orig. XV 3, 4. Serv. a. O.) und als Speiseraum (Serv. a. O. und IX 648), Arbeitsraum der Frauen (Liv. I 57. Ascon. p. 38 K.-S.), überhaupt als gemeinsamer Aufenthalt der Hausgenossen (Varro de. l. l. V 161) diente. Dass auch das Ehebett (lectus genialis) ursprünglich seinen Platz im A., dem Eingang gegenüber, hatte, ist wohl zu schliessen aus dem noch später als Platz der Hausfrau erwähnten lectus adversus (Laberius bei Gell. XVI 9, 4. Procop. V 11, 85. Ascon. a. O.), welcher zwar, wie es scheint, mehr zum Sitzen dient (Laber. und Prop. a. O.), aber doch wohl mit dem lectus genialis in aula (= in atrio), Hor. ep. I 1, 87, identisch und eine symbolische Andeutung des Ehebettes ist; jene Sitte konnte nur dauern, so lange die Zustände sehr primitiv und das A. ein ganz bedeckter Raum war. Ein solcher war das A. in dem ältesten, durch die alten Aschenurnen in Hausform (s. Hüttenurnen) dargestellten Hause. Für die spätere Zeit kennt Vitruv VI 3 fünf Formen des A., nämlich:

1) Schon früh, wie durch einen alten religiösen Brauch bezeugt wird (Gell. X 15, 8. Serv. Aen. II 57), wurde eine andere Form des A. üblich, mit grosser, viereckiger Öffnung (compluvium) in der Mitte der Decke, gegen welche das Dach von allen Seiten sich neigte und durch welche das Regenwasser in ein flaches Bassin (impluvium) fiel, aus dem es durch bedeckte Canäle auf die Strasse oder in die Cisterne geleitet wurde. Das Dach wurde getragen von zwei das A. der Breite nach überspannende Balken; durch zwei sie verbindende Querbalken wurde die Öffnung des Compluvium hergestellt. Diese Form nannte man, weil von den Etruskern entlehnt, a. tuscanicum, Varro de l. l. V 161, ob man mit Recht den, wie es scheint, unbedeckten Mittelraum eines in Marzabotto ausgegrabenen Hauses hiermit zusammengebracht hat (Mon. dei Lincei I 317), ist sehr zweifelhaft.

2) Eine Abart des a. tuscanicum ist das a. tetrastylum, in welchem das Compluvium an jeder Ecke durch eine Säule gestützt ist.

3) Beim a. corinthium ruht das Compluvium nicht auf vier, sondern auf mehr Säulen, so dass dies A. einem Peristyl ähnlich wird. Diese drei A. kommen in Pompeii vor, weitaus am häufigsten das tuscanische, tetrastyle Overbeck Pompeji⁴ 272. 344. 347 Taf. bei S. 29; korinthische ebd. 298. 335.

4) Beim a. displuviatum senkt sich das Dach nicht gegen das Compluvium, sondern von diesem nach aussen. Über ein irrtümlich in Pompeii angenommenes a. displuviatum s. Overbeck⁴ 274.

5) Das a. testudinatum, ganz mit einem Zeltdach bedeckt, war nur bei geringerer Ausdehnung üblich. Kleine bedeckte A. kommen in Pompeii vor, Overbeck⁴ 358.

[2147] Der Grundriss des A. mit den umliegenden Räumen erhellt aus den Häusern Pompeiis, auf welche die Vorschriften Vitruvs VI 3ff. vollkommen passen. In nebenstehender Figur ist 1 A. mit Impluvium, 2 Fauces (Prothyron), 3 Alae, 4 Tablinum: s. diese Artikel. Bei beschränktem Raum fallen die Alae, oder eine derselben, seltener das Tablinum fort. Das Verhältnis der Breite zur Länge soll nach Vitruv 2 : 3, 4 : 5 oder 2 : √8 sein; in Pompeii sind diese Vorschriften nicht eingehalten: zwar ist in der Regel das A. mehr lang als breit, doch kommt namentlich das viersäulige auch annähernd quadratisch vor. Die Grösse schwankt in Pompeii von 6 × 8 bis 12 × 17 m.; doch kennt Vitruv A. von 100′ = 29,60 m. Länge.

Das A. wird auch cavum aedium (Vitr. a. O. Varro de l. l. V 161) oder cavaedium (Plin. ep. II 17, 5) genannt; die namentlich von W. A. Becker im Gallus vertretene Ansicht, als sei cavaedium etwas vom A. Verschiedenes, ist jetzt allgemein aufgegeben, s. besonders Göll zum Gallus II 238ff. Es scheint jedoch, dass Varro a. O. (vielleicht auch Vitruv) der Meinung ist, der Name A. komme nur dem tuscanischen A. und etwa seinen Abarten zu; ein wohl nur durch falsche Etymologie (von Atria) veranlasster, mit der richtigen Etymologie nicht verträglicher Irrtum. Aber cavum aedium ist wohl ein weiterer und weniger technischer Ausdruck; so konnte Vergil Aen. II 487 unter cavae aedes einer weiter rückwärts (penitus) liegenden Teil des Hauses, also das Peristyl, verstehen.

Hauptwohnraum konnte das A., wenigstens im Winter, nicht bleiben, seit es grosse Deckenöffnungen hatte. Schon die ältesten pompeianischen Häuser (casa del chirurgo, Overbeck⁴ 279), die mindestens ins 3. Jhdt. v. Chr. hinaufreichen, haben Speisezimmer, und vom Herd im A. ist in ihnen keine Spur (Mau Pomp. Beitr. 89). Doch blieb hier, und auch später in kleineren Häusern das A. der Mittelpunkt, um den die Wohnräume angeordnet waren. Als man aber später (in Pompeii wohl seit dem 2. Jhdt. v. Chr.) anfing, das Haus durch einen hinteren Säulenhof (Peristylium) und umliegende Räume zu erweitern, und das Leben der Familie sich mehr und mehr in diese zurückzog, wurde das A. zu einem Vorraum, wo z. B. der Hausherr seine Clienten empfing (Hor. ep. I 5, 31. Iuv. 7, 91. Mart. III 38, 11. IX 100, 2). Vornehme Römer hielten darauf, dass das A. ein schöner und stattlicher Repräsentationsraum war (Hor. od. III 1, 46); doch bemerkt man in Pompeii vielfach die Vernachlässigung des A. zu Gunsten der Peristyle; so namentlich in der grossen casa del Citarista, Overbeck⁴ 359.

An der Rückseite des Impluvium, wo in älterer Zeit der Herd stand (Varro bei Non. 55, 14), steht häufig der von Varro de l. l. V 125 gartibulum (s. d.) genannte viereckige steinerne Tisch (Overbeck[2148] 298. 302. 308. 311. 422), manchmal ausserdem noch, zwischen Tisch und Impluvium, oder in diesem, eine Basis mit einer Brunnenfigur, die einen Wasserstrahl in das Impluvium oder in ein dort stehendes Marmorbecken (Overbeck⁴ 324) fallen lässt. Im A. hat auch die Geldkiste (area) ihren Platz und wird dort oft gefunden: Overbeck Register u. Geldkiste; vgl. Appian. b. c. IV 22. Serv. Aen. I 726. IX 648. Oft steht im A. die Larenkapelle, Overbeck⁴ 268. 315.

Das A. der ältesten Zeit, als der den Herd enthaltende Hauptraum der Wohnung, erhielt sich in der villa rustica unter dem Namen culina Vitr. VI 9. Colum. I 6. Varro r. r. I 13, 2; vgl. Hor. sat. II 6, 65.

Ohne Zweifel hatte ursprünglich jedes Haus nur ein A.; doch kam später – in Pompeii seit dem 2. Jhdt. v. Chr. – die Sitte auf, zwei A. neben einander anzulegen (casa del Fauno, del Laberinto, del Centenario u. a., Overbeck⁴ 342. 346. 353), von denen das eine, stattlichere, als Repräsentations- und Empfangsraum, das andere als Vorraum der Wirtschaftsräume diente. Seltener liegt ein kleines Neben-A. nicht neben dem Haupt-A., sondern ist von einer anderen Seite des Hauses zugänglich: a. O. 329. 358. Vermutlich kommt allen diesen Neben-A. der Name atriolum zu, Cic. Qu. fr. III 1, 2; Att. I 10, 3; vgl. auch das cavaedium hilare, Plin. ep. II 17, 5, wenn auch dies nicht an der Strasse lag.

Becker-Göll Gallus II 238. Marquardt Privatl.² 216. Overbeck Pompeji⁴ 255. Nissen Pompej. Stud. 607. 625.

[Mau.]