Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Im Kriminalprozeß
Band II,1 (1895) S. 208210
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2) Im Criminalprocess.

A. Appellation um Intercession. Sie kann eintreten sowohl im eigentlichen Process- wie im Coercitionsverfahren (Cic. de leg. III 6) nach der [209] allgemeinen Regel, dass jedes magistratische Decret der Intercession durch die par maiorve potestas unterliegt (Mommsen St.-R. I 276); am häufigsten sind in unserer Überlieferung die Fälle des Einschreitens der Volkstribunen, z. B. gegen eine von den Quaestoren vor das Volk zu bringende Anklage (Liv. III 24); gegen eine solche Anklage durch den curulischen Aedilen (Gell. IV 14) oder durch die Volkstribunen selbst (Liv. XXV 3); ferner gegen nomen recipere (Liv. IX 26), diem dici (Liv. III 59); gegen die Verhaftung (Liv. III 13 u. ö.); gegen den Strafantrag des anklagenden Magistrates (Liv. XXVI 3); auch gegen die Execution der vom Magistrate verhängten Strafe (Liv. II 55. Tac. ann. XIV 48) u. s. w. Aus dem Stadtrechte von Salpensa c. 27 schliesst Mommsen (a. a. O. 279), dass dem angerufenen Magistrate schon in früher Zeit eine dreitägige Frist eingeräumt wurde, innerhalb welcher er über die Intercession schlüssig werden musste. Während dieser Zeit konnte eine Art Verhandlung vor dem angerufenen Magistrate zu dessen Orientierung stattfinden (Liv. XXXVIII 58ff. Gell. VI [VII] 19). Von Intercession in irgend einem Stadium der Processe, die vor Geschworenengerichten anhängig waren, hören wir nichts (Cic. in Vatin. 33); Mommsen (a. a. O. 275, dazu lex Rubria I 51. lex Acil. repetund. 70. lex Iul. munic. 162. lex Lat. tab. Bant. 18) vermutet daher, dass die Intercession durch die Gesetze, durch welche die einzelnen Quaestiones eingesetzt wurden, ausdrücklich verboten wurde. Vgl. auch die Artikel Provocatio und Intercessio.

B. Die reformatorische Appellation findet sich während des Principates, während die Appellation um Intercession ihre Bedeutung verliert, obwohl noch unter Nero eine Intercession der Consuln gegen tribunicische Multen geregelt wurde (Tac. ann. XIII 28. Mommsen a. a. O. II 101), und obwohl dem Kaiser das Intercessionsrecht immer zustand. Der Kaiser, der das Recht hatte über Leben und Tod des römischen Bürgers zu entscheiden, konnte das ius gladii auch auf andere, namentlich die Statthalter, übertragen, und zwar nicht nur in den kaiserlichen, sondern auch in den senatorischen Provinzen. Bei der Ausdehnung des römischen Bürgerrechts ist es nicht zu verwundern, dass im Anfang des 3. Jhdts. schon alle Statthalter im Besitz desselben sind (Dig. I 18, 6, 8). Von diesen Delegataren konnte nun natürlich an den Deleganten, den Kaiser, appelliert werden, wenn sie kraft ihres ius gladii römische Bürger abgeurteilt hatten und wenn der Kaiser die Berufung nicht ablehnte (Dio LII 33. Mommsen a. a. O. II 967ff.). Anders, gestützt auf Paul. sent. V 26, 1, Fadda im Digesto Italiano s. Appello penale (romans) p. 52. Ebenso ging von den übrigen Behörden, denen der Kaiser criminalistische Befugnisse delegierte, die Appellation an den Kaiser, also vom Praefectus annonae, vom Praefectus vigilum, auch vom Praefectus urbi und Praefectus praetorio. Die Appellation brauchte vom Magistrate nicht angenommen zu werden, wenn die sofortige Bestrafung im Interesse der öffentlichen Sicherheit lag (Dig. XLIX 1, 16) oder der Verurteilte zur Klasse derer gehörte, qui artem ludicram faciunt, oder geständig war (Paul. sent. V 26, 2. Fadda a. a. O. 56). Gegen Urteile [210] der Officiere (d. h. der Tribuni militum, Praefecti classium oder alarum) war keine Appellation zulässig (Paul. sent. V 26, 2). Wenn in einem anderen Falle der in erster Instanz richtende Magistrat die Annahme der Appellation verweigerte, war er nach einer Interpretation der Lex Iulia de vi strafbar (Paul. sent. V 26, 1). Indes konnte der Kaiser auch seine Befugnisse als Appellationsrichter durch specielle oder allgemeine Delegierung weiterübertragen. Letzteres war wohl schon im 3. Jhdt. die Regel, und die Praefecti praetorio urteilten vice imperatoris über die Berufungen aus den Provinzen (Cod. Iust. IX 2, 6 von Gordian III.). Ihren Abschluss aber fand diese Entwicklung durch ein Gesetz Constantins vom J. 331 (Cod. Just. VII 62, 19. Dig. I 11, 1, 1), durch das ausdrücklich das an Kaisers Statt erkennende Gericht des Praefectus praetorio als inappellabel anerkannt wurde (Mommsen a. a. O. 974). Nicht eigentlich Appellation zu nennen ist der Fall, wenn der beklagte römische Bürger das Provincialgericht als incompetent zurückweist und verlangt, vom Kaiser gerichtet zu werden, wie dies z. B. noch der Apostel Paulus that (Acta ap. 25, 11ff.).

Ein vollständiger Instanzenzug wurde eigentlich erst durch die diocletianisch-constantinische Verfassung hergestellt. Es gab nun die 3 Instanzen der Provinzbeamten, der Beamten der Dioecesen und des obersten kaiserlichen Gerichtes. Die Appellation im Criminalprocesse war also entsprechend der Appellation im Civilprocesse geordnet (vgl. o. S. 200ff.). Für den Soldaten war der Officier Richter (Cod. Th. II 1, 2); die Appellation an den Kaiser ist für die Grenztruppen durch nov. Theod. II 4 ausdrücklich verboten, dagegen später (Cod. Iust. VII 67, 2; vgl. Cod. Theod. XI 30, 30) von den Magistri militum und dem Magister officiorum gestattet worden. Im Westreiche ist die höhere Instanz auch für die Grenztruppen der Magister utriusque militiae (s. d.); im Ostreiche geht die Appellation vom Dux an den seinem Bezirke übergeordneten Magister militum (Cod. Iust. XII 35, 18), seit Iustinian (Cod. Iust. VII 62, 38) an ein aus dem Magister officiorum und dem Quaestor sacri palatii bestehendes Gericht (Mommsen Herm. XXIV 259ff.).

Vgl. für das Fehlende den Artikel Appellation im Civilprocesse (oben Nr. 1), da die Quellen criminelle und civilrechtliche Appellation meist zusammen behandeln. Dazu Geib Gesch. d. röm. Criminalproc. 675ff. und von den oben citierten Werken und den Darstellungen der Rechtsgeschichte und Rechtsaltertümer namentlich J. Merkel a. a. O., dessen Ansichten von der herrschenden vielfach abweichen.