Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Vorkleisthenische Phyle Attikas
Band I,1 (1893) S. 958 (IA)–962 (IA)
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Aigikoreis (Αἰγικορεῖς, attisch Αἰγικορῆς), eine der vier vorkleisthenischen Phylen in Attika. Die antike Überlieferung über diese Phyle ist ebenso dunkel und unsicher, wie die Deutung ihres Namens. Da eine historische Erinnerung in die Zeiten ihrer Existenz nicht hinaufreicht, so ist alles, was wir über sie aus alter und neuerer Zeit hören, nur Combination und Vermutung. In der gewöhnlichen Phylenfolge (Γελέοντες Ἀργαδῆς Αἰγικορῆς Ὅπλητες) nehmen die Aigikoreis die dritte Stelle ein. Vgl. Meier de gentil. att. 4. Wie ihre Schwesterphylen, so gelten auch sie für eine Stiftung des Ion, der die Aigikoreis nach seinem Sohne Aigikores oder Aigikoreus benannt haben soll. Herod. V 66: μετὰ δὲ τετραφύλους ἐόντας Ἀθηναίους δεκαφύλους ἐποίησε (Κλεισθένης), τῶν Ἴωνος παίδων Γελέοντος καὶ Αἰγικόρεος καὶ Ἀργάδεω καὶ Ὅπλητος ἀπαλλάξας τὰς ἐπωνυμίας. Vgl. Eurip. Ion 1579ff. Aristot. Ἀθην. πολ. 41. Pollux VIII 109. Steph. Byz. s. Αἰγικόρεως. Gegenüber den auf dem Boden der Mythologie fussenden Angaben dieser Schriftsteller war bereits im Altertum die Ansicht vertreten, dass die Namen der vier ionischen Phylen dem Lebenslauf der Bewohner der einzelnen Landesteile entnommen und dementsprechend diese Phylen als Berufskasten aufzufassen seien. In diesem Sinne spricht sich namentlich Plutarch (Solon 23) aus: καὶ τὰς φυλὰς εἰσὶν οἱ λέγοντες οὐκ ἀπὸ τῶν Ἴωνος υἱῶν, ἀλλ’ ἀπὸ τῶν γενῶν, εἰς ἃ διῃρέθησαν οἱ βίοι τὸ πρῶτον, ὠνομάσθαι, τὸ μὲν μάχιμον Όπλίτας, τὸ δ’ ἐργατικὸν Ἐργαδεῖς. δυοῖν δὲ τῶν λοιπῶν Γελέοντας μὲν τοὺς γεωργούς, Αἰγικορεῖς δὲ τοὺς ἐπὶ νομαῖς καὶ προβατείαις διατρίβοντας. Neben Plutarch ist der Bericht des Strabon zu stellen (VIII 383): ὁ δὲ (Ἴων) πρῶτον μὲν εἰς τέτταρας φυλὰς διεῖλε τὸ πλῆθος, εἶτα εἰς τέτταρας βίους· τοὺς μὲν γὰρ γεωργοὺς ἀπέδειξε, τοὺς δὲ δημιουργούς, τοὺς δὲ ἱεροποιούς, τετάρτους δὲ τοὺς φύλακας. Vgl. Plat. Tim. 24 A; Kritias 110 C. Während sich die Kategorien der Geleontes, Argadeis und Hopletes bei Plutarch und Strabon decken, gehen die beiden Schriftsteller bezüglich der Deutung des Namens der Aigikoreis auseinander: Plutarch versteht unter ihnen das Viehzüchter- und Hirtenvolk, Strabon dagegen fasst sie als Priesterstand. Diese divergierenden Angaben lassen sich auf keine Weise in Einklang bringen. Der von Boeckh vorgeschlagene Ausweg, die Priester als die Lieferanten der Opfertiere aufzufassen und von dieser Function derselben den Namen der Phyle herzuleiten, ist ebensowenig überzeugend und ansprechend, wie die übrigen Erklärungsversuche der neueren Gelehrten. Vgl. A. Boeckh De tribubus ionicis (Berl. Progr.) 1812; CIG II p. 920ff. Meier De gentil. att. 5. Haase Athen. Stammverf. 77ff. 93ff. 101ff. M. Duncker G. d. A. V 84. Am nächsten liegt die Annahme, dass Strabon seine Quelle missverstanden oder bewusst oder unbewusst das orientalische Kastenwesen auf griechische Verhältnisse übertragen hat. Dieses wird um so wahrscheinlicher, als es weder in Attika, noch im übrigen Griechenland jemals [959] einen von den anderen Bevölkerungsklassen gesonderten Priesterstand gegeben hat. Vgl. O. Müller Prolegom. zu einer wiss. Mythol. 249. Meier De gentil. attica 5. Dittenberger Hermes XX 1. Nach der heutzutage verbreitetsten Ansicht sind die Aigikoreis ‚Ziegenzüchter‘, die ἐπὶ νομαῖς καὶ προβατείαις διατρίβοντες, wie sie Plutarch (Solon 23) nennt. Diese Auffassung stützt sich auf die sprachliche Erwägung, dass das Wort aus αἴξ (Ziege) und κορέννυμι (sättige) zusammengesetzt sei. Αἰγίκορος erscheint als Beiname des Pan bei Nonnos Dionys. XXIV 18. Eine andere Etymologie bei G. Curtius Grundz. d. griech. Etymol. 412. Der Wohnsitz dieser ‚Ziegensättiger‘ wird meist in das innere Bergland (Diakria) oder in den südlichen Teil der Landschaft verlegt. Vgl. Welcker Nachtrag zur Aesch. Tril. Prom. 186; Griech. Götterl. II 604 (‚die Ziegenzucht hatte in Attika der ganzen Phyle der A. den Namen abgegeben‘). Boeckh De tribubus ionicis, Berlin 1812. Boeckh-Fränkel Staatshaush. d. Athener I 56. 578. P. Buttmann Mythol. II 304ff. Wachsmuth De tribuum quatuor atticarum triplici partitione, Kiel 1825. G. Meier De gentil. attica 5. Schoemann Griech. Alterth. I 330. Koutorga Abhandl. d. Petersb. Ak. d. Wiss. 1850, 87. Philippi Beiträge zur Geschichte des att. Bürgerrechts 248ff. Hermann Griech. Staatsaltertümer I⁵ 352. Gilbert Griech. Staatsaltertümer I 109; Jahrb. f. Philol. Suppl. VII (1874) 238 (‚Der Name muss in einer Gegend entstanden sein, wo die Viehzucht sich hauptsächlich auf Ziegenzucht beschränkt‘). Duncker G. d. A. V 84 (‚Die Herdenbesitzer des Südlandes‘). Droysen (Zeitschr. f. Geschichtsw. VIII 305) sieht in dem Worte Αἰγικορεῖς einen Parteinamen, der wie ein Schimpfname (Ziegenfütterer) klinge. Dagegen spricht A. Mommsen (Heortol. 317) im Gegensatz zu der gewöhnlichen Ansicht die Vermutung aus, ob die Αἰγικορεῖς nicht ein ‚Scherzname für Seeleute sind, von αἶγες (Wellen), qui caerula verrunt‘. O. Crusius (Philol. N. F. II [1889] 213) spricht sich für eine Vereinigung dieser beiden Auffassungen aus, was von E. Maass (Gött. Anz. 1889, 805) mit Recht zurückgewiesen wird. Gegen die Auffassung, die in den vier Adelsphylen, welche vor Kleisthenes den regierenden Stand geteilt hatten, Kasten oder Landschaften sehen will, richtet sich v. Wilamowitz Kydathen 122: ‚Alles Grübeln über die Urbedeutung der Γελέοντες u. s. w. erachte ich für müssiges Spiel; oder wenigstens es geht nur die Heraldik an. … Ἀργαδῆς und Αἰγικορῆς klingen bedeutsam, werden auch einmal etwas bedeutet haben: aber wer garantiert, dass der Sinn ein tieferer war, als bei Ὑᾶται und Χοιρεᾶται, oder bei Schnuck Puckelig Schimmelsumpf und Schnuck Puckelig Erbsenscheucher?‘ Auf denselben Standpunkt hat sich G. Busolt gestellt, Griech. Gesch. I 392. Kürzlich hat E. Maass (Gött. Anz. 1889, 803ff.) den Versuch gemacht ‚das Problem der Geschlechterphylen aufzuhellen‘. Er geht von dem Kultus des Dionysos Μελάναιγις aus, der neben Zeus Φράτριος und Athena Φρατρία bei der Apaturienfeier der Athener eine Rolle spielte. Dieser Gott wird von Maass im Gegensatz zu den in verschiedenen [960] Brechungen und Fassungen erhaltenen Kultlegenden, die alle den Namen des Gottes mit einem schwarzen Ziegenfell in Verbindung bringen, als πελάγιος oder schwarzer Wogengott gedeutet, unter Hinweis, dass nach Artemidor (Oneirocrit. II 12) αἶγες = Wellen sei, und dass die Hermioneer diesem Gott zu Ehren ein Wetttauchen zu veranstalten pflegten (Paus. II 35, 1). Mit Hülfe dieser Combination wird der Name der alten Geschlechtsphyle gedeutet. Der Eponymos derselben, Αἰγικόρης (oder *Αἰγίκορος) bedeute nach Analogie von Διόπαις, Διόςκορος, Λεώκορος den Sohn des *Αἶγις, der seinerseits wiederum nur eine Kurzform von Μελάναιγις und formell gleich Αἰγεύς sei. So sei Αἰγικόρης gleich Αἰγείδης, Αἰγεύς mit Μελάναιγις gleichgesetzt. Trotzdem sich gegen diese auf unbewiesener Gleichsetzung von Lang- und Kurznamen gegründete Namenserklärung nicht geringe Bedenken formeller und sachlicher Art erheben lassen, sind durch Maass’ Ausführungen doch wichtige neue Gesichtspunkte und richtige Beobachtungen in die Discussion der Frage eingeführt worden. Leider wird Maass’ Untersuchung dadurch beeinträchtigt, dass er den an den Namen des Gottes sich knüpfenden Kultlegenden keineswegs gerecht geworden ist. Er setzt dieselben völlig ausser Spiel, da sie das Wesen des Gottes ‚gründlich missverstanden‘ hätten. Das schwarze Ziegenfell, mit dem die Sage operiere, sei ein ‚zufälliges und äusserliches Element, das des Wesens Kern in keiner Weise träfe‘. Diese Behauptungen lassen sich durch nichts rechtfertigen. Warum soll die alte Kultsage den Gott missverstanden haben? Gerade sie weist uns den Weg, sein Wesen zu erkennen. Nun stimmen aber alle Fassungen der Sage darin überein, dass der Gott seinen Beinamen von dem schwarzen Ziegenfell erhalten habe, das als Attribut desselben in allen Legenden eine Rolle spielt. Die Etymologie des Wortes Μελάναιγις steht dieser Auffassung nicht im Wege, sondern bestätigt sie nur: denn αἰγίς bedeutet im griechischen Sprachgebrauch das Ziegenfell (Eurip. Kykl. 360. Herod. IV 189). Neben diese Thatsache ist eine andere für unser modernes Gefühl vielleicht nicht ganz verständliche, aber dennoch unbezweifelbare Thatsache zu stellen, nämlich die, dass das schwarze Ziegenfell in der Auffassung und demgemäss in der Sprache des griechischen Volkes zum Symbol der dunkeln Wetterwolke geworden ist (vgl. Aischylos Choeph. 578 κότος ἀνεμοέντων αἰγίδων). Die Zusammensetzungen κατάιξ, καταιγίς, καταιγίζειν sind die geläufigen Ausdrücke für den plötzlichen Wettersturm und Regenschauer (Preller-Robert Griech. Mythol. I 119, 4), während αἴξ das Sternbild des Sturmes und der Plural dieses Wortes (αἶγες) die sturmbewegten Meereswogen bezeichnet (vgl. ausser der Artemidorstelle Hesych. s. αἶγες· τὰ κύματα, Δωριεῖς). So sieht man, wie der Gott mit dem schwarzen Ziegenfell und der schwarze Wogengott sich in dem Dionysos Μελάναιγις aufs nächste und engste berühren, sich völlig decken, und dass das Ziegenfell, mit dem die Kultlegende operiert, keineswegs als ein zufälliges und äusserliches Element zu betrachten ist. Das schwarze Ziegenfell, mit dem die Sage die concrete Erscheinung des Gottes ausstattet, ist das [961] Symbol, welches die Volksphantasie zur Charakterisierung der Beziehungen des Apaturiengottes zu Sturm und Meereswogen geschaffen hat. Auf diese Seite seines Wesens zuerst hingewiesen und auch den Namen der Αἰγικορῆς in diesen Kreis hineingezogen zu haben, ist Maass’ Verdienst, das auch diejenigen, welche seinen weiteren Schlussfolgerungen nicht beistimmen, anerkennen werden. Die Genealogie Αἰγεὺς Αἰγικόρεω (Schol. Demosth. XXIV 18) lehrt nur, dass auch Aigeus, den man von dem Wogenbeherrscher Αἰγαῖος schwerlich trennen kann (vgl. Pherekydes in Müllers FHG I 99) in denselben mythologischen Vorstellungskreis gehört, während das Parentelverhältnis, das Maass zwischen ihm und den Aigikoreis construiert, gerade durch die überlieferte Genealogie umgestossen wird. Überhaupt ergiebt es sich, wenn man die bei der Apaturienfeier beteiligten Gottheiten näher ins Auge fasst, dass der Kreis, innerhalb dessen die Erklärung für den Namen der Phyle zu suchen ist, noch weiter gezogen werden muss. Der einzige Zeuge aus dem Altertum, der uns einen Versuch hinterlassen hat, den Namen der Aigikoreis zu erklären, ist Euripides, dessen Bericht von Maass sehr mit Unrecht ignoriert wird. Euripides leitet im Ion den Namen der alten Geschlechterphyle von der Aigis der Athena ab (1580 ἐμῆς τ’ ἀπ’ αἰγίδος ἓν φῦλον ἓξουσ’ Αἰγικορῆς). Erwägt man nun, dass die Aigis ursprünglich nichts anderes als ein Ziegenschild ist, dem in der Götterhand die furchtbaren Wirkungen der Sturm- und Wetterwolke zugeschrieben wurden, so wird man die Angaben des Euripides in betreff der Aigikoreis nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Ausser Athene ist es nur noch Zeus, ihr himmlischer Vater, der diesen verderbenbringenden Schild führt. Er hat von diesem Attribut den Beinamen Αἰγίοχος erhalten. Wir werden dieselbe mythologische Vorstellung, die diesem Wort zu Grunde liegt, auch in dem Namen der alten Geschlechtsphyle der Αἰγικορῆς suchen dürfen, eine Vermutung, die um so wahrscheinlicher wird, wenn man bedenkt, dass es gerade Zeus und Athene sind, die neben dem Μελάναιγις als officielle Apaturiengottheiten der Athener fungieren.

Wie die drei anderen Geschlechterphylen, so lassen sich auch die A. in den ionischen Städten Kleinasiens nachweisen, wo ihr Name auf zahlreichen Steinen zum Vorschein gekommen ist. In Kyzikos, einer Gründung der Milesier, haben sich alle vier Phylen gefunden, woraus wir schliessen dürfen, dass dieselben auch in der Mutterstadt Milet existiert haben. Die A. werden auf kyzikenischen Steinen mehrfach erwähnt. CIG II 3657. 3663A. 3664. 3665. Vgl. Boeckhs Bemerkungen dazu II p. 920ff. G. Gilbert Griech. Staatsaltert. II 197. E. Curtius Monatsb. d. Berl. Akad. 1874, 18. Mordtmann Athen. Mitt. VI (1881) 45ff. S. Reinach Bull. hell. VI (1882) 613 (Παυσανίας Εὐμ[ένους Α]ἰγικορεύς). Lolling Athen. Mitt. XIII (1888) 305. Der Name der Phyle lautete Αἰγικορίς, wie durch eine von Lolling Athen. Mitt. IX (1885) 27 veröffentlichte Inschrift aus Katatoko bei Kyzikos erwiesen wird (… Κυζικη]νὸς φυλῆς Αἰγικορίδος). In Tomoi, einer anderen Colonie [962] der Milesier, treffen wir die φυλὴ Ἀργαδέων (Desjardins Ann. d. Inst. 1868, 97. G. Perrot Rev. arch. XXVIII 1874, 22). Unter den Phylen von Ephesos lassen sich die Αἰγικορεῖς nicht nachweisen (die fünf Phylen hiessen hier Βεμβιναῖοι Εὐώνυμοι Ἐφεσεῖς Καρηναῖοι Τήιοι), dagegen treffen wir die Ἀργαδεῖς unter den Chiliastyen der Stadt, wodurch auch das ehemalige Vorhandensein der Αἰγικορεῖς wahrscheinlich wird. Vgl. Wood Discoveries at Ephesos (London 1877) S. 28. 32 (Inscriptions nr. 18. 19). Busolt Griech. Gesch. I 217. Dittenberger Syll. 134. 315. Newton-Hicks Ancient Greek inscriptions in the British Museum III (Oxford 1890) nr. 449. 460 (vgl. S. 69). Als Phyle finden sich die Αἰγικορεῖς in der samischen Colonie Perinthos an der Nordküste der Propontis, haben also auch auf Samos als solche existiert. Vgl. Dumont Inscriptions et monuments figurés de la Thrace (Archives de missions scientifiques III Paris 1876) nr. 72 e. f (S. 151ff.) mit den Lesungen von Mordtmann Revue archéologique XXXVI (1878) 302ff. Busolt Gr. G. I 325. Da sich auf einer delischen Inschrift der Name der Ἀργαδίς gefunden hat, so dürfen wir auch auf Delos das Vorhandensein der übrigen ionischen Phylen annehmen. Vgl. Homolle Bull. hell. X (1886) 473, 2. V. v. Schöffer De Deli insulae rebus (Berlin 1889) 109.