Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Pflanze, ein verbreitetes südeuropäisches hohes weidenartiges Gewächs
Band I,1 (1893) S. 832 (IA)–834 (IA)
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Agnos, ἄγνος oder λύγος im engeren Sinne (letztere Bezeichnung ist die ältere; dagegen war ἄγνος die eigentliche attische Form nach Ael. Dion. bei Eustath. Od. IX 427 p. 1638, 10), neugriechisch λυγιά oder λυγαρηά, vitex, Keuschlammstrauch, Müllen, Abrahamstrauch, Mönchspfeffer (Vitex agnus castus L.), ein sehr verbreitetes südeuropäisches 1–4, selbst 8 m. hohes weidenartiges Gewächs mit schmal-lanzettlichen Blättern und sehr biegsamen langen Zweigen. Theophr. h. pl. III 12, 1. Der Same, von den heutigen Italienern piperella genannt (vgl. Murr Die Pflanzenw. i. d. griech. Myth. 100, 4), sieht aus wie Pfeffer. Diosc. I 134. Der Strauch erreicht zuweilen die Stärke eines Baumes (Theophr. h. pl. I 3, 2. Neumann-Partsch Physik. Geogr. v. Griechenl. 396, 3), ist von angenehmem Geruch (Plin. n. h. XXIV 59) und gewährt besonders reichlichen Schatten (Plat. Phaedr. 230B); über die (späte) Blütezeit vgl. Plut. quaest. sympos. II 7. An Flussufern und in feuchten Niederungen (Plin. n. h. XXIV 60. XXXI 44) war der A. schon im alten Griechenland sehr häufig, in der Ebene sowohl als auch in Thälern, Schluchten und an Bergabhängen. Vgl. Fraas Synops. plant. fl. cl. 186. Chloros Waldverhältn. Griechenlands 38 nr. 63. von Heldreich Pflanzen d. att. Ebene (= A. Mommmsen Griech. Jahresz. 5. Heft) 559. Leunis Synops. d. Pflanzenk.³ II § 656, 6. Plinius (n. h. XXIV 59) und Dioskorides (I 134) unterscheiden zwei Arten: vitex candida und vitex nigra, jene mit rötlich-weissen, diese mit roten Blüten. Weitere Beschreibung s. bei Dierbach Flora mythol. 183. Theophr. ed. Schneider III p. 91ff. Niclas zu Geopon. II 4, 1. Koch Bäume und Sträucher d. a. Griech. 112. Kerner v. Marilaun Pflanzenleben II 31. Ob [833] οἶσος (οἰσύα) mit A. gleichbedeutend ist (Schol. Il. XI 105. Poll. VII 176), lässt sich bei der Unsicherheit der antiken Nomenclatur nicht mehr entscheiden. Vgl. Neumann-Partsch a. a. O. 394, 5. Über den Ähnlichkeiten mit A. aufweisenden ἐλαί-αγνος vgl. Theophr. h. pl. IV 10, 2. Schon in frühester Zeit wird das Lygosgebüsch erwähnt, z. B. Il. XI 105. Od. IX 427. X 166. Hymn. in Bacch. 13. Seine Zweige eigneten sich nach Art der Weidenruten besonders zum Fesseln, Binden und Flechten. Hom. l. l. Hymn. l. l. Plin. l. l. Eur. Cycl. 225. Lykophr. 213. Athen. XV 671f. Die Karer machten Kränze davon. Nicaenet. bei Athen. XV 672f. und 673c. Murr a. a. O. 104. Über den Lygoskranz des Megistes vgl. Athen. XV 674a und das Anakreon-Fragment bei Athen. XV 671f. = 673d (frg. 41 Bgk.). Bei Athen. XV 672a heisst er ἀγροίκων στεφάνωμα. Selbst eine Art Schneeschuhe scheint daraus verfertigt worden zu sein. Arrian (Appian?) bei Suid. s. λύγος. Über die Verwendung baumartiger A.-Exemplare in der Baukunst (Vitr. II 9, 9. X 11, 2) und Bildschnitzerei (Paus. III 14, 7) vgl. Blümner Technol. II 279.

Die Anwendung des A. in der Heilkunde. Der A. wirkt milcherzeugend (Plin. n. h. XXIV 61), ist von heilsamer Wirkung bei krankhafter Menstruation (Plin. XXIV 59. Diosc. I 134) und hilft gegen den Biss von Spinnen, Skorpionen und giftigen Schlangen. Plin. XXIV 61. Nic. Ther. 63. 71. 530. 946. Ael. nat. an. IX 26. Bei Kopfschmerz infolge von Unmässigkeit im Trinken sollen die Blüten und zarten Stengel gute Dienste leisten. Plin. XXIV 62. Der Samen wirkt eingenommen schweisserzeugend und fieberstillend. Wassersüchtige und Milzkranke können danach gut urinieren, was zur Hebung ihres Leidens viel beiträgt. Schol. Nic. Ther. 71. Plin. n. h. XXIV 60. Auch reinigt ein Samendekokt die Gebärmutter. Plin. XXIV 62. Über sonstige Anwendung des übrigens noch jetzt in Griechenland officinellen A. in der Medicin s. Plin. n. h. XXIV 60–63. XXXII 29. Diosc. I 134. Gal. XI 807ff. Sonstiger Aberglaube: Wer eine Keuschlammrute in der Hand oder im Gürtel trägt, ist vor dem Wundreiten oder Wundlaufen (sogenanntem Wolf) geschützt. Plin. n. h. XXIV 63. Diosc. I 134. Die Alten assen oder tranken den A. irriger Weise zur Abstumpfung des Geschlechtstriebes. Während des Thesmophorienfestes legten die athenischen Frauen Zweige dieses Strauches in ihr Bett oder bestreuten ihr Lager mit den Blättern, um die Keuschheit leichter und unangefochten zu wahren. Ael. nat. an. IX 26. Plin. n. h. XXIV 59. Schol. Nic. Ther. 71. Diosc. I 134 a. E. Gal. XI 808. Eustath. Od. IX 453 (p. 1639, 2). Bötticher Baumkult. 334. Zorn Botanologia medica 594. Das Gleiche thaten die Priester. Schol. Ven. A und Eustath. Il. XI 105 (p. 834, 35). Im Zusammenhange hiermit leiteten die Alten ἄγνος von ἄγονος ab (z. B. Schol. Nic. l. l. Eustath. l. l. Lobeck Parerg. 346) oder stellten es mit ἁγνός, ἁγνεύειν auf eine Stufe (z. B. Diosc. l. l. Etym. M.). Vgl. Vaniček Etym. W. 755. In der Mythologie spielt der Keuschlammstrauch eine bedeutsame Rolle. Nach Pausanias (III 16, 11) hatte Artemis Ὀρθία in Sparta den Beinamen [834] Λυγοδέσμα (vgl. W. H. Roscher Iuno und Hera 87 A. 274 und Lex. I 587, 49ff.), und Hera sollte nach samischer Legende unter einem Lygosstrauch geboren sein (Paus. VII 4, 4), dem ältesten aller zu des Pausanias Zeit noch vorhandenen heiligen Baumexemplare (Paus. VIII 23, 5). Beider Göttinnen Kultbilder pflegten zu gewissen Zeiten mit A.-Zweigen umflochten oder verhüllt zu werden. Diesen auf nahen Zusammenhang der beiden für die Menstruationsverhältnisse in Betracht kommenden Gottheiten hinweisenden Gebrauch zu erklären, bildeten sich nachträglich ebenso umständliche als naive Sagen. Vgl. Athen. XV 672a–f. Roscher Lex. I 2104, 23ff. Murr Die Pflanzenw. i. d. griech. Mythol. 101. Bötticher Baumkult. 29. In seiner Eigenschaft als Heilmittel gegen die verschiedensten Krankheiten war der A. auch dem Asklepios heilig, der davon den Beinamen Ἀγνίτας führte (s. d). Ob der Name des attischen Demos Ἀγνοῦς oder Ἁγνοῦς (z. B. Plut. Thes. 13. Aeschin. II 13. 155. III 54 u. ö.) mit A. zusammenhängt oder mit ἁγνός, gilt meist als unsicher; doch verdient bei dem Reichtum jener Gegend an A.-Sträuchern die erstere Ableitung ohne Zweifel den Vorzug.

[Wagler. ]