Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Zuruf von Freude, Begrüssung, Bitten, Unwillen, Verwünschung
Band I,1 (1893) S. 147 (IA)–150 (IA)
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Acclamatio, das Zurufen, jede durch Zuruf, sei es einzelner oder einer Mehrheit, erfolgende Äusserung von Freude, Beifall, Begrüssung, Glückwünschen, Bitten, Unwillen, Missbilligung, Verwünschung u. dgl. Besondere Hervorhebung verdienen die mit gewissen Vorkommnissen oder [148] Veranstaltungen des privaten oder öffentlichen Lebens verbundenen Fälle oder Arten der A. für die sich zum Teil auch bestimmte, traditionelle Formen festgesetzt hatten.

So ertönte bei der deductio, der feierlichen Abholung der Braut aus dem elterlichen Hause in das des Bräutigams, der Ruf Talasse oder Talassio (Mart. XII 42, 4. I 35, 6. III 93, 25. Catull 61, 134. Liv. I 9, 12. Plut. q. R. 31; Rom. 15. Fest. 351b 27. Sid. Apoll. ep. I 5 extr. Servius Aen. 1 651. Hieron. bei Mommsen Abhdl. der Sächs. Ges. der Wiss. I 1850, 691) oder nach griechischer Weise io Hymen, Hymenaee (Plut. Rom. 15), wohl im Zusammenhang mit dem Refrain der dabei gesungenen versus Fescennini (vgl. Rossbach die röm. Ehe 341).

Io triumphe! jauchzten beim Festzuge des triumphierenden Feldherrn auf das Capitol die siegreich heimkehrenden Soldaten und die zuschauende. Volksmenge (Varro l. l. VI 68. Ovid. Trist. IV 2, 48. Horat. carm. IV 2, 49ff.; epod. 9, 21.)

Übliche Beifallrufe, häufig mit Beifallklatschen (plausus) verbunden, für den Redner in öffentlicher Versammlung, den Recitator, Schauspieler, Sänger u. s. w. waren bene et praeclare, belle et festive, non potest melius u. a. (Cic. de orat. III 101. Horat. ars poet. 428. Pers. sat. I 49. Mart. II 27). Von den Schauspielen und Concerten (vgl. Quint. VI 1, 52. Plut. Sert. 5. Senec. ep. 29, 12) verpflanzte sich die Sitte des Beifallrufens auch auf die von Asinius Pollio eingeführten Recitationen neuer Schriftstellerwerke vor grösseren, geladenen Kreisen (Mart. X 10, 9. 17, 48. Iuv. VII 43; vgl. Friedländer Darstell. aus der Sittengesch. Roms III 317ff. M. Hertz Schriftsteller und Publicum in Rom 1853. Lehrs populäre Aufsätze² 368ff.), und wie dort der freiwillige Beifall durch eine gedungene, organisierte Claque verstärkt oder ersetzt wurde, am auffallendsten durch Nero, der auch den Beifallrufen nach alexandrinischem Vorbild bestimmte, rhythmische Formen gab (Suet. Nero 20. 25. Tac. ann. XVI 4. Dio Cass. LXI 20. LXIII 18), so nahm Ähnliches auch hier überhand (Friedländer a. a. O. 320ff. Mart. II 74). Ein Abbild jener öffentlichen Recitationen im Kleinen boten auch in dieser Beziehung die während der cena und commissatio stattfindenden (Mart. III 44. 50. V 78. Iuv. XI 177ff. Plin. ep. VI 31. Hist. aug. Sev. Alex. 34. Sidon. Apoll, ep. I 2. Plut. Luc. 40). Von den Recitationen drang die Unsitte weiter auch in die Gerichtsverhandlungen ein (vgl. besonders Plin. ep. II 14).

Auch in den Schulen der Philosophen nahm in gleichem Mass, als sich ihre Vortragsweise der der Sophisten näherte, der Beifall der Zuhörer denselben lärmenden und affectierten Charakter an, wie bei den öffentlichen Schauspielen, Concerten, Recitationen (Epictet Diss. III 23; I 21. Gell. V 1. Plut. de audit. 15f.; vgl. Friedländer a. a. O. III 600ff.).

Zurufe und Siegeswünsche empfingen und begleiteten auch die Wagenlenker in der Rennbahn (Mart. X 50. 53; vgl. Friedländer a. a. O. II³ 300), und auch sie pflegten diesen Beifall [149] teilweise zu erkaufen (Hieron. ep. 83. Symmach. ep. VI 42). Den Beifallrufen standen natürlich auch Äusserungen des Missfallens (a. adversa Cic. de orat. II 339; pro Rab. 18) gegenüber.

Die Acclamation des Publicums im Theater und Circus erstreckte sich aber nicht nur auf die daselbst auftretenden Schauspieler, Sänger, Wagenlenker, Fechter u. s. w., sondern das Volk hatte da auch überhaupt die ihm in der Kaiserzeit sonst nicht gebotene, wichtige Gelegenheit und Freiheit seine Stimmungen, Abneigungen und Zuneigungen, Wünsche, Bitten und Beschwerden in Gegenwart der Kaiser öffentlich kund zu geben, bezw. diesen selber auszusprechen. Dies geschah erstens durch die Begrüssung der Kaiser und anderer hoher Personen. Schon die Staatsmänner der Republik hatten ihrem Empfang im Theater und Circus grossen Wert beigelegt (Cic. ad Att. I 16, 11 ludis et spectaculis mirandas ἐπισημασίας sine ulla pastoricia fistula auferebamus. II 19, 3. XIV 2; pro Sest. 115ff. Prop. III 18, 18). Auch ein Dichter, Vergil, ist ausnahmsweise der Ehre einer solchen Begrüssung teilhaftig geworden (Tac. dial. 13). In der Kaiserzeit beschränkte sie sich gewöhnlich auf die Mitglieder des Kaiserhauses und die diesem nächststehenden, höchstgestellten Personen (Horat. carm. I 20, 3). Unter Erheben von den Sitzen, Händeklatschen und Tücherschwenken überbot man sich in Zurufen von Ehrennamen und Glückwünschen, die zum Teil stehend waren und in bestimmten Melodien taktmässig abgesungen wurden (Plut. Oth. 3. Tac. Hist. I 72. Dio LXXIII 2. Cassiod. Varia I 31; vgl. Friedländer a. a. Ο. ΙΙ³ 267). In der späteren Zeit wurde den höchsten Würdenträgern des Reichs das Privilegium dieser Begrüssung durchs Volk mit bestimmten Beschränkungen ausdrücklich erteilt (Cod. Theod. VI 9, 2. Procop. Goth. I 6. Johann. Chrys. hom. in Eutrop. init.). Auch Wünsche und Bitten richtete das Volk durch Zuruf an die Kaiser, die sich teils und hauptsächlich auf die Schauspiele selbst bezogen (Tac. Hist. I 32. Suet. Calig. 30. Mart. spect. 29, 3. Gell. V 14, 29. Fronto ad M. Caes. II 4, 4. Dio Cass. LVII 11. LXIX 16. Suet. Tib. 47), aber auch andere Dinge betrafen (Dio LVI 1. Tac. ann. VI 13. Plin. h. n. XXXIV 62. Joseph. antiq. J. XIX 24f. Suet. Domit. 13; Tit. 6. Plut. Galba 17). Auch Spott, Schmähungen und Verwünschungen wurden hier häufig wie gegen andere Personen, so auch gegen den Kaiser laut (Dig. XLVII 10, 7. 8; vgl. 9, 1. Tac. ann. XI 13. Tertull. spect. 16; ad nat. I 17. Hist. aug. Macrin. 14. Lact. de mortib. persec. 17. Amm. Marc. XVI 10, 13). Endlich auch zu politischen Demonstrationen wurde diese Freiheit nicht selten benutzt (Friedländer a. a. O. II³ 273f.).

Die A. hat aber auch in officiellen, staatlichen Einrichtungen eine bedeutende Rolle gespielt. So wurde in der republicanischen Zeit der Imperatortitel von dem siegreichen Feldherrn entweder durch Senatsbeschluss oder aber durch die ihn mit demselben begrüssende Acclamation seiner Truppen erworben (vgl. Mommsen St.-R. I³ 124). Und da man die Imperatorenbezeichnung der Kaiser als mit jener republicanischen identisch betrachtete, so konnten auch [150] die Kaiser, vorbehaltlich der Anerkennung durch den Senat, durch die Acclamation der Truppe ernannt werden (Mommsen II³ 841ff.).

Ferner ersetzte der anonyme Zuruf im römischen Senat in gewissem Masse das dem einzelnen Senator mangelnde Recht der Antragstellung, sofern auf diesem Wege im Anschluss an in der Vorverhandlung gemachte Mitteilungen die Magistrate zur Einbringung einer Vorlage aufgefordert werden konnten (Mommsen III 949ff.). In der Kaiserzeit entwickelte sich diese Acclamation der Senatoren, indem sie, wie die Mitteilungen, an die sie sich anschloss, die relatio, so ihrerseits die Beschlussfassung anticipierte oder vertrat, zu einer zweiten Beschlussform neben dem förmlichen Beschlussverfahren, das schliesslich durch jene völlig verdrängt wurde (Plin. paneg. 73ff. Hist. aug. Claud. 4; Tacit. 4. Cod. Theod. init. Mommsen a. a. O. 951. 1019). Zahlreiche derartige, auf Glückwünsche oder Ehrendecrete für die Kaiser bezügliche Acclamationen sind uns protokollarisch (?) bei den Scriptores hist. Aug. erhalten (Anton. Pius 3; Maxim. duo 16. 26; Gord. tres 5; Max. et Balb. 6–12; Avid. Cass. 13; Anton. 1; Alex. Sev. 6–12; Valer. 1; Claud. 4. 18; Tacit. 4. 5. 7, Prob. 11), ebenso verwünschende nach dem Tode des Domitian bei Suet. Dom. 13 und nach dem des Commodus Hist. aug. Comm. 18. 20. Dass dieses neue, einfachere Beschlussverfahren auch in den Ratsversammlungen der übrigen Städte des Reiches Aufnahme fand, beweist z. Β. für Tyros die puteolanische Inschrift Kaibel IGI 830, 36ff. Das Verfahren des Senats ahmten in ihren Beglückwünschungen der Kaiser die Arvalen nach, sowohl im allgemeinen als insbesondere auch in Hinsicht auf die darüber aufgenommenen Protokolle (CIL VI 2086 p. 551, 16–19. 2104 p. 571, 36. 37; vgl. Marini Atti 652). Auch auf die Versammlungen kirchlicher Würdenträger ist, wie Casaubonus zu Avid. Cass. 13 beweist, diese Sitte frühzeitig übergegangen. Der Zuruf diente übrigens den Senatoren auch dazu, einen nicht zur Sache redenden oder sich in Abschweifungen verlierenden Collegen zur Sache zu rufen, in welcher Hinsicht es an praktischen Zwangsmitteln fehlte (vgl. Mommsen St.-R. III 938ff.). Ein besonders interessantes Beispiel hiefür bietet die Rede des Claudius von Lyon (vgl. Mommsen Eph. epigr. VII p. 394).

Die Acclamation der anwesenden Bürger scheint auch in den Wahlcomitien der Kaiserzeit bald die Aufrufung der einzelnen Stimmkörper ersetzt zu haben (Mommsen St.-R. III 349). Und denselben Weg wird schon im 1. Jhdt. der Kaiserzeit auch das Wahlrecht der Municipalstädte genommen haben (Mommsen III 350).

Schliesslich ist noch der verschiedenen Gattungen von Acclamationen zu gedenken, die die Inschriften aufweisen. Unter ihnen nehmen an Häufigkeit die sepulcralen wohl die erste Stelle ein, die besonders Begrüssungen, Wünsche, Aufforderungen u. dgl. des Denkmalstifters (bezw. des Lesers) an den Toten oder des Toten an den Leser der Grabschrift enthalten; s. die auch die sonstigen inschriftlichen Acclamationen umfassende Sammlung bei Ruggiero diz. epigraf. I 73–76.