Rückblick und Ausblick (1914)
Beim Rückblick auf eine vollendete Zeitepoche pflegt man zu fragen, ob die Erwartungen sich erfüllt haben, die man beim Beginn der Epoche hegte. Am Ende des Vierteljahrhunderts, das wir seit dem Regierungsantritt unseres Kaisers durchlebt haben, fehlt es an allgemeinen, für jeden erkennbaren Merkmalen zur Beantwortung dieser Frage. Es war das Eigene und Große der Zeit Kaiser Wilhelms I., daß sie eine Vollendung schuf in unserer nationalen Entwicklung. Wir müssen in unserer Geschichte um ein volles Jahrhundert zurückgehen, um ähnliches zu finden. Als der große König die Augen schloß, da war auch ein großes Werk zu Ende geführt, dem preußischen Staat an innerer Kraft und äußerer Geltung die europäische Großmachtstellung errungen. Im Jahre 1888 war nicht nur Deutschland ein einiges Reich, im Schimmer seiner Siege nahezu unangreifbar geworden, es war zugleich die europäische Aufgabe Preußen-Deutschlands so voll erfüllt, daß der große Kanzler sagen durfte: Deutschland sei in Europa saturiert. Auf starkem Fundament aufgerichtet, war das deutsche Reichshaus in 18jähriger Arbeit im Innern eingerichtet worden und hatte seine Festigkeit und Wohnlichkeit bewiesen. Was das deutsche Volk zwei Menschenalter hindurch erhofft und ungeduldig erwartet hatte, das war ihm in Erfüllung gegangen.
Nicht diejenigen Herrscher stehen vor der schwersten Aufgabe, die sich bei Übernahme der Regierung vor zahlreichen und lauten Hoffnungen und Wünschen sehen. Die schwerere Herrscheraufgabe findet der Monarch vor, der Erbe ist großer Erfolge und Taten, der eingesetzt ist über ein Volk, das in seinen größten Erwartungen zufriedengestellt ist. Selten hat ein Monarch eine so schwierige und undankbare Regentenaufgabe vorgefunden, wie Kaiser Wilhelm II. Wie fest die Nation an der großen vergangenen Zeit hing, das zeigte sich mit elementarer Gewalt beim Rücktritt des Staatsmannes, der mit unvergleichbarer Kunst und mit nie geahntem Erfolge drei Jahrzehnte hindurch die Politik Preußen-Deutschlands geführt hatte. Es zeigte sich in dem kaum verhaltenen Argwohn, mit dem weite Kreise der Nation jeden Schritt auf neuem Wege ansahen. Im Jahre 1888 hatte die Mehrheit der Nation keinen dringenderen Wunsch als den, es möchte alles bleiben, wie es war, keine andere Überzeugung als die, daß alles künftige nationale Heil nur zu finden wäre in zähem Festhalten der Erfolge, die in der Zeit der Reichsgründung errungen waren, der Wege, die zu diesen Erfolgen geführt hatten. Langsam nur gewöhnte man sich an den Gedanken, daß die nationale Fortentwicklung vielfach auf neue Wege führen mußte, daß mit den großen Veränderungen in der Welt sich auch die Aufgaben [1698] Deutschlands ändern mußten, sollte das Deutsche Reich sich behaupten an dem Platze in der Sonne, der ihm durch Kaiser Wilhelm I. und seinen großen Kanzler errungen worden war. Heute hat die überwältigende Mehrheit der Nation verstanden, daß Deutschland seinen Fortschritt gerade deshalb auf neuen Wegen suchen mußte, well die alten fast überall zum Ziele geführt hatten.
Es ist noch nicht an der Zeit, ein abschließendes Urteil zu fällen über den jüngsten Abschnitt unserer nationalen Entwicklung. Denn wir stehen noch selbst inmitten dieser Entwicklung, deren letzte Ziele und Möglichkeiten wir noch kaum zu erkennen vermögen. Eins aber steht heute fest: Wir haben wieder große Hoffnungen und Erwartungen, die vorwärts gerichtet sind auf die Vollendung der seit mehr als zwei Jahrzehnten neu beschrittenen Wege. Das ist ein unschätzbarer nationaler Wert, ein Erfolg, der die Arbeit der letzten 25 Friedensjahre doch wohl lohnend macht. Erich Marcks sagte bei der Gedächtnisfeier der Universität Leipzig für den Fürsten Bismarck 1898: „Er hat uns sein Werk vererbt als das Edelste und Teuerste, was wir als Volk heute besitzen. − − − − Immer Neues werden wir von ihm erfahren und immer wandeln wird sich uns und unseren Nachkommen nach menschlicher Art sein Bild; erst eine ferne Zukunft wird ihm und seiner Schöpfung ihre Stelle im großen Zusammenhange der deutschen Geschichte endgültig anweisen. Wird sein Reich das letzte Wort deutscher Staatsbildung sein? Ist er der Vollender oder erst der Beginner der germanischen Größe?“ Hier die deutliche Ahnung, ja Überzeugung: trotz der gewaltigen Erfolge gibt es kein Ausruhen für uns, neue Ziele und neue Wege sind uns gesteckt. Wer ist der Führer?
Wenn wir der Zeit seit dem Tode Kaiser Friedrichs den Namen Kaiser Wilhelms II. geben, so bedeutet das mehr als nur die äußere Benennung eines Zeitabschnittes nach dem Monarchen. Gerade das erste Vierteljahrhundert der Regierung unseres Kaisers straft jene politische Theorie Lügen, die den Einfluß des Herrschers auf den Charakter und die Ziele seiner Zeit nicht mehr anerkennen will. Dieser Einfluß wird gewiß gesichert durch die Summe der Regentenrechte, die die Verfassungen Preußens und Deutschlands dem König und Kaiser zuweisen. Aber unabhängig von allem Staatsrechte werden monarchisch empfindende Völker dem Geist und Willen ihrer Herrscher immer mehr folgen als es ihnen selbst und der Umwelt zum Bewußtsein kommt. Und das um so mehr, wenn der Geist eines Monarchen stark und der Wille fest ist. Das deutsche Volk, dieses am innerlichsten und tiefsten monarchische der Völker Europas ist von 1888–1913 aus dem Volke Kaiser Wilhelms I. geworden zum Volk Kaiser Wilhelms II. In unserm Kaiser drückt sich der Geist der neuen Zeit aus und in unserer Zeit der Geist unseres Kaisers. Wie schroff auch immer die Gegensätze in der Nation sein mögen, wie hart in Parlament und öffentlicher Meinung auch die Ansichten aufeinanderstoßen, die Tatsache steht fest, daß der Kaiser und die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes eins geworden sind in den nationalen Zielen. Und auf vielen und vielleicht den wichtigsten Gebieten war es der Kaiser, der die Nation seinen Überzeugungen gewonnen, an seine Ideen glauben gelehrt hat. Gerade die Ereignisse von epochaler Bedeutung: die Wendung von der reinen Kontinentalpolitik zur Weltpolitik und im unmittelbaren Zusammenhange [1699] hiermit: die Ergänzung der deutschen Waffenrüstung zu Lande durch die Herstellung des Seepanzers beruhen auf Gedanken und Entschluß Kaiser Wilhelms II. Das Gesetzgebungswerk von der weittragendsten Bedeutung, die soziale Versicherung, ward von 1890 an bis zum heutigen Tage getragen von dem persönlichen Willen des Kaisers. Die Landwirtschaft sieht in dem Kaiser ihren verständnisvollen Förderer und Beschützer. Dem Handel und der Industrie bereitet er die Wege. Für alle Fragen des Verkehrs zeigt er das eindringendste Verständnis, von hoher Warte ruft er der Nation zu: „Navigare necesse est“ , in der bildenden Kunst, in der Archäologie und Naturwissenschaft, in allen Fragen der Technik, in der Medizin und dem Schulwesen, überall sehen wir anregend und führend den Kaiser.
Unverkennbar weisen diejenigen Gebiete des nationalen Lebens, des praktischen wie des geistigen, die sicherste Aufwärtsentwicklung auf, die sich des persönlichen Interesses und Schutzes des Kaisers erfreuen durften. Will man einwenden, daß umgekehrt sich vielfach das Interesse des Monarchen den zeitgemäßen, den entwicklungsfähigsten Gebieten zugewendet habe, so zeigt das gerade, wie sehr die Zeit mit dem Kaiser und der Kaiser mit der Zeit gelebt hat. Es läßt sich schwer feststellen, wo die Grenzen liegen zwischen der Selbsttätigkeit einer besonderen Entwicklung und der Wirkung ihrer Förderung von außen her. Man wird meist der Wahrheit am nächsten kommen, wenn man erwägt, wie eine Entwicklung sich vollzogen hätte, wenn ihr die führenden Männer nicht freie Bahn geschaffen hätten, sondern ihr hemmend entgegengetreten wären. Keineswegs kann geleugnet werden, daß sich kräftige Strömungen auch gegen den staatlichen Willen durchzusetzen vermögen, daß es immer Gebiete des nationalen Lebens gibt und geben muß, auf denen auch ohne Schutz und Förderung Tüchtiges, ja Großes geleistet wird. In unserer modernen Zeit, in der die soziale Bindung der Volkskräfte nur eine sehr lose ist, wird das häufiger und sichtbarer der Fall sein, als in jener Vergangenheit, die unter starren staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen stand. Aber wenn wir auch dieser Tatsache uns wohl bewußt bleiben wollen, so wird doch gerade in unserer Zeit der obrigkeitliche Einfluß auf diejenigen Gebiete des nationalen Lebens, die nicht unmittelbar von politischen Entscheidungen erfaßt werden, leicht zu gering angeschlagen. Nichts ist vielleicht so sehr geeignet, ein richtiges und gerechtes Verständnis zu erwecken für den tief hinab ins Einzelne reichende Einfluß des an der Spitze des Staatslebens tätigen Willens und Geistes, wie ein Blick auf die nationale Gesamtentwicklung in diesem vergangenen Vierteljahrhundert, das nirgends unterbrochen war von den tiefen nationalen Erschütterungen im Innern und den großen Eruptionen nach Außen, nach denen wir in der Geschichte gewohnt sind, den Charakter einer Zeit zu bestimmen. Die letzten 25 Jahre, so mannigfaltig die Leistungen auf den einzelnen Gebieten nationaler Betätigung auch sein mögen, haben ihr besonderes Charakteristikum, und dies wird man kaum prägnanter bezeichnen können, als mit dem Namen Kaiser Wilhelms II.
Ein Rückblick, wie ihn diese Bände geben, würde geringen Wert haben, wenn er nichts anderes erreichte, als prüfend die Aufmerksamkeit hinzulenken auf Dinge, die geschehen sind, auf Ereignisse und Wendungen, die sich unabänderlich vollzogen haben. Einer solchen rein historischen Betrachtung fügt sich diese nahe Vergangenheit noch nicht. Und es [1700] würde der lebenden Generation schlecht anstehen, die Rolle des kühlen Beobachters zu beanspruchen angesichts einer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist, an der jeder Lebende im Großen oder im Kleinen seinen Anteil hat. Die zurückliegenden Jahrzehnte waren Bewegung überall, und es ist kaum ein Gebiet, auf dem die Bewegung nicht in neue, bisher unbekannte Richtungen gelenkt ist, es ist kein Gebiet, auf dem die Bewegung so zur Ruhe gekommen ist, daß wir sie in allen Folgen beurteilen können. Eins aber wissen wir, daß wir vorwärts und zum Ziele müssen auf den Wegen, die wir heute gehen, die wir bisher gegangen sind. Unendlich viel wichtiger, als die doch immer individuelle (und darum parteiische) Antwort auf die Frage, ob das Getane gut war oder schlecht, ist das mannhafte Bewußtsein der Tatsache, das dies Deutschland, wie es auf Grund großer Vergangenheit geworden ist unter der Regierung Kaiser Wilhelms II., der Stoff und der Boden ist für alle unsere künftige nationale Arbeit. Die nahe Vergangenheit ist zugleich unsere nächste Zukunft. Wir können auf die Entwicklung des letzten Vierteljahrhunderts nicht zurückblicken, ohne gleichzeitig gezwungen zu sein vorwärts zu schauen auf die Entschließungen und Ereignisse, die durch die Leistungen der jüngsten Zeit vorbereitet und notwendig geworden sind. Die Geschichte unserer Zeit in diesem Werke zeigt, was gestern geschehen ist, um hinzuweisen auf das, was morgen getan werden muß. Sie ist Rückblick und Ausblick zugleich.
Lange, selbst fruchtbar und reichbewegte Friedenszeiten, in denen die letzte große Probe auf die Tüchtigkeit der neuen Zeit, auf die Brauchbarkeit der neuen Ordnungen und Errungenschaften nicht erlebt wird, sind nicht dazu angetan, eine fest bejahende, zuversichtliche nationale Stimmung zu erzeugen. Der leidenschaftliche, vorwärts drängende Patriotismus entbehrt schmerzlich die Gelegenheit zu großzügiger Einsetzung der nationalen Kräfte und des nationalen Willens, findet an den Kämpfen des Tages im Innern immer weniger Genügen, hängt sich mit wachsender Liebe an die großen Erinnerungen und sieht im Vergleich mit der tatenreichen Vergangenheit die arbeitsreiche Gegenwart kleiner an, als sie verdient. Die an sich oppositionellen Strömungen können den Hebel der Kritik um so wirksamer an das Bestehende setzen, je länger ein großes Ereignis auf sich warten läßt, das im Erfolg den Wert erweist dessen, was geworden ist. Diese beiden Quellen des nationalen Skeptizismus und Kritizismus sehen wir auch heute nach 44 Friedensjahren reichlich fließen. Unbewußt arbeitet der beste patriotische Wille, der sich gehemmt fühlt und nach Entfaltung sehnt, den Elementen in die Hände, die den nationalen Aufschwung hemmen wollen. Der Erfolg ist am Ende jenes Mißtrauen in den Wert der eigenen Zeit und Leistung, das, so oft es auch in einem Volke mächtig war, noch immer untüchtig gemacht hat zu großer nationaler Kraftentfaltung. So unberechtigt und gefährlich nationale Selbstüberhebung ist, so berechtigt und heilsam ist ein festes nationales Selbstvertrauen. Und solches Selbstvertrauen kann immer nur eine Generation besitzen, die weiß, daß sie Tüchtiges geleistet hat. In diesem Sinne ist auch der Kaiser nicht müde geworden, einem gesunden Optimismus das Wort zu reden. Denn ein in verzagenden Pessimismus versinkendes Volk wird matt und leer in der Seele, und allmählich unvermögend die hohen Ideale seines geschichtlichen und geistigen Lebens zu erfassen. „Alle Machtentfaltung nach außen hin, alle Erfolge der Technik und Industrie [1701] können nicht ein Sinken verhüten, wenn unsere Seele ermattet und leer wird.“ So sagt Rudolf Eucken mit Recht im Schlußwort seines Buches „Zur Sammlung der Geister“.
Das vergangene Vierteljahrhundert hat Tüchtiges vor sich gebracht. Es hat gewiß noch mehr begonnen, als vollendet, es hat unter vielen Problemen auch das große soziale politisch noch nicht zur Lösung gebracht, aber es hat reichlich das Seine getan, die Voraussetzungen zu schaffen für eine würdige, vielleicht für eine große nationale Zukunft. Ein unerhörter wirtschaftlicher Aufschwung stellt der kommenden Zeit Mittel zur Verfügung, über die auch nur annähernd noch niemals eine deutsche Vergangenheit verfügt hat. Eine gewaltige Rüstung, getragen von einer Volksmasse, die Deutschland nie zuvor in seinen Grenzen gefaßt hat, macht uns zu einem kaum überwindlichen Gegner auch für die stärkste Macht. Auf dem Weltmeer weht die deutsche Flagge ebenbürtig neben denen der alten Seemächte, und die deutsche Kriegsflotte ist die zweite der Welt. Auf allen Gebieten wirtschaftlicher und geistiger Betätigung hat das deutsche Volk seine alte Schaffenskraft behauptet, sich nirgends, auch nicht im Praktischen, wie so oft in früheren Jahrhunderten, überflügeln lassen. Reicher ausgestattet mit allen Mitteln, die ein Volk bereit stellen kann, sind wir Deutsche nie vor unsere Zukunft getreten. Wenn es schwere und große Aufgaben sind, die unser warten, so sind wir selten besser für sie vorbereitet worden als während der ersten 25 Jahre der Regierung unseres Kaisers. Nicht auf Vollendetes dürfen wir jetzt schon stolz sein, denn es ist alles im Werden. Aber auf das Vollbrachte dürfen wir immerhin mit Zuversicht unsere Zukunft bauen. Wir haben kein anderes Fundament als dieses, und auch der, der vielleicht ein besseres wünscht, kann praktisch doch nichts anderes tun, als mit seiner Arbeit und seinem Streben da einzusetzen, wo die jüngste Vergangenheit aufgehört hat, zu schaffen. Die großen Ziele künftiger nationaler Entwicklung müssen erreicht werden auf den Wegen, die wir bereitet finden. Und die lebenden Deutschen können keinen größeren Wunsch hegen, als den, daß sie zu diesen Zielen geführt werden von Kaiser Wilhelm II.
Ein deutscher Geistlicher[1] beschreibt in einer Hamburger Zeitschrift ein Gespräch mit einem Amerikaner, der ihm sagte: „Es gibt in der ganzen Welt kein so gut regiertes Land wie Deutschland, aber kein Volk der Welt ist zugleich so wenig zufrieden. Kein Land hat so unparteiische Gerichte, während bei uns der reichste Prozeßführer selbstverständlich immer gewinnt, wenn er auch ein Räuber oder Mörder ist, und nirgends wird soviel über das Gericht räsoniert, wie bei Ihnen. Kein Land der Welt hat eine solche Armee wie Deutschland und wie wird in jedem Reichstag über sie hergezogen. Kein Land der Welt hat einen solchen Kaiser, wie Sie, mit steigender Achtung und Bewunderung sieht die ganze Welt auf ihn und wie kleinlich wird er im eigenen Lande bekrittelt. − − − Wenn Ihr Kaiser einmal gestorben ist, dann werden wahrscheinlich dem Lande die Augen darüber aufgehen, was es an ihm gehabt hat, aber natürlich zu spät!“ Mögen wir Deutschen die Worte des Fremden beherzigen.
- ↑ Pastor Schneller.