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Rückblick und Ausblick
Von Wirklichem Geheimem Rat, Oberpräsidenten a.D. von Loebell


Beim Rückblick auf eine vollendete Zeitepoche pflegt man zu fragen, ob die Erwartungen sich erfüllt haben, die man beim Beginn der Epoche hegte. Am Ende des Vierteljahrhunderts, das wir seit dem Regierungsantritt unseres Kaisers durchlebt haben, fehlt es an allgemeinen, für jeden erkennbaren Merkmalen zur Beantwortung dieser Frage. Es war das Eigene und Große der Zeit Kaiser Wilhelms I., daß sie eine Vollendung schuf in unserer nationalen Entwicklung. Wir müssen in unserer Geschichte um ein volles Jahrhundert zurückgehen, um ähnliches zu finden. Als der große König die Augen schloß, da war auch ein großes Werk zu Ende geführt, dem preußischen Staat an innerer Kraft und äußerer Geltung die europäische Großmachtstellung errungen. Im Jahre 1888 war nicht nur Deutschland ein einiges Reich, im Schimmer seiner Siege nahezu unangreifbar geworden, es war zugleich die europäische Aufgabe Preußen-Deutschlands so voll erfüllt, daß der große Kanzler sagen durfte: Deutschland sei in Europa saturiert. Auf starkem Fundament aufgerichtet, war das deutsche Reichshaus in 18jähriger Arbeit im Innern eingerichtet worden und hatte seine Festigkeit und Wohnlichkeit bewiesen. Was das deutsche Volk zwei Menschenalter hindurch erhofft und ungeduldig erwartet hatte, das war ihm in Erfüllung gegangen.

Nicht diejenigen Herrscher stehen vor der schwersten Aufgabe, die sich bei Übernahme der Regierung vor zahlreichen und lauten Hoffnungen und Wünschen sehen. Die schwerere Herrscheraufgabe findet der Monarch vor, der Erbe ist großer Erfolge und Taten, der eingesetzt ist über ein Volk, das in seinen größten Erwartungen zufriedengestellt ist. Selten hat ein Monarch eine so schwierige und undankbare Regentenaufgabe vorgefunden, wie Kaiser Wilhelm II. Wie fest die Nation an der großen vergangenen Zeit hing, das zeigte sich mit elementarer Gewalt beim Rücktritt des Staatsmannes, der mit unvergleichbarer Kunst und mit nie geahntem Erfolge drei Jahrzehnte hindurch die Politik Preußen-Deutschlands geführt hatte. Es zeigte sich in dem kaum verhaltenen Argwohn, mit dem weite Kreise der Nation jeden Schritt auf neuem Wege ansahen. Im Jahre 1888 hatte die Mehrheit der Nation keinen dringenderen Wunsch als den, es möchte alles bleiben, wie es war, keine andere Überzeugung als die, daß alles künftige nationale Heil nur zu finden wäre in zähem Festhalten der Erfolge, die in der Zeit der Reichsgründung errungen waren, der Wege, die zu diesen Erfolgen geführt hatten. Langsam nur gewöhnte man sich an den Gedanken, daß die nationale Fortentwicklung vielfach auf neue Wege führen mußte, daß mit den großen Veränderungen in der Welt sich auch die Aufgaben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1697. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/568&oldid=- (Version vom 14.2.2021)