Textdaten
<<< >>>
Autor: Elise Polko
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Prinzessin Champagner
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43 und 44, S. 673–676, 689–692
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[673]
Prinzessin Champagner.

Der Tag aller Seelen, der 2. November des Jahres 184*, neigte sich, der Abend nahte mit leichten Schritten. Ein dichter Nebel, der sich allmählich in eisige Tropfen auflöste, hing über der ruhelosen Riesenstadt London. Unaufhörlich wogte und strömte das Leben durch die Straßen, rollten die Wagen, kreischten die Stimmen der Verkäufer, klagte das Elend; es war ein athemloses Jagen und Rennen, Rufen und Drängen, Mühen und Sorgen, Ringen und Hasten um – ein Leichentuch, das Ende allen Strebens. Eine kurze Spanne Zeit und Andere beteten für Jene, die da eben vorübereilten, wie diese am Morgen für ihre Todten gebetet.

All diesen Lärm, sowie die melancholische Unbehaglichkeit der Atmosphäre, ahnte Niemand in jenem reizenden Salon der gefeierten Tänzerin Cyrilla, die von ihren Bewunderern „der Abendstern“ genannt wurde. Die dunkelrothen Seidengardinen waren zugezogen, es glühte und flackerte im Kamin, ein Meer von Licht ergoß sich von den Kronleuchtern und Girandolen auf die heitere Gesellschaft, die sich hier versammelt und in anmuthigen Gruppen auf den Sammetdivans und in den tiefen Fauteuils Platz genommen hatte. Im Nebensaal stand eine reichbesetzte Tafel, funkelnd von Silbergeschirr und geschmückt mit Blumen. Man wollte fröhlich sein und heut’ am Tag aller Seelen nicht der Todten gedenken, sondern sie vielmehr jetzt um jeden Preis vergessen. Heute Morgen in der Kirche hatte man seine Pflicht gegen sie erfüllt, der Rest des Tages gehörte den Lebenden. Etwa fünfzehn Personen, Schauspielerinnen vom Drurylane-Theater, Sänger von der italienischen Oper, einige junge Tänzerinnen, Schülerinnen der Cyrilla, mehrere der vornehmsten jungen Männer der Londoner Aristokratie, der alte Herzog von D., langjähriger Beschützer der gefeierten Tänzerin, und eine Cousine des Abendsterns, eine Pariserin, seit mehreren Wochen Cyrilla’s Gast – das war die Gesellschaft in dem eleganten Salon. Die Pariserin war die Sonne der Variétés, bekannt unter dem Namen Melusine. Ihre intimeren Freunde nannten sie Prinzessin Champagner. Es war eine Vereinigung von weiblichen Schönheiten, die sich in diesem Zimmer zusammengefunden, und auf den ersten Blick erschien Melusine die unbedeutendste. Die junonische Schönheit Cyrilla’s blendete besonders bei Kerzenlicht. Dies zarte Weiß und Roth erschien so echt, die Augen so leuchtend in dem Schmuck tiefschwarzer Wimpern und Brauen, das dunkle Haar so üppig, Arme und Hände so verführerisch, das ganze Wesen so bezaubernd im Glanz der ausgesuchtesten Toilette. Nach ihr fiel die blonde Arabella auf, die zweite Tänzerin mit dem holdseligsten Madonnengesicht und einer Fülle goldenen Haares, das wie ein Mantel um ihre vollendete Gestalt floß, wenn sie es, wie sie das zuweilen zu thun pflegte, löste. Die jungen Schülerinnen der Cyrilla waren blendend schöne Geschöpfe, und die drei Schauspielerinen von Drurylane hübsch und geistvoll. Alle plauderten und scherzten lebhaft durcheinander, nur Melusine war heut auffallend still. Sie saß auf einem Tabouret neben dem Kamin und hatte, wie das ihre Art, die Hände um ihre Kniee gefaltet. Es lag etwas Träumerisches in ihrer Haltung und in dem Ausdruck ihres Gesichts. Wie erloschen blickten die großen, in unbestimmter Farbe schillernden Augen vor sich hin. Ein klein wenig zusammengezogen hatten sich die fein gezeichneten Brauen über der Nasenwurzel, die Lippen waren fest geschlossen. Hellbraune Locken hingen an den Wangen nieder, das blasse Gesicht mit den feinen Zügen einrahmend. Die junge Schauspielerin trug tiefe Trauer, schweren Taffet und Krepp, im grellen Gegensatz dazu eine rothe Rose im Haar.

War das wirklich jene gaukelnde Sylphide der Variétés, die gefeierte Königin des Lustspiels, der Liebling der Pariser, dessen Erscheinung alle Sorgen verscheuchte und ein Lächeln selbst auf jene Lippen zauberte, die längst das Lachen verlernt; dies übermüthigste Geschöpf in ganz Paris, war das unsere Prinzessin Champagner?

„Sie hat wieder ihren dunkeln Tag,“ lächelte Cyrilla, „laßt sie gewähren!“

„Warum in Trauer, Melusine?“ fragte ein Mann von vornehmem Wesen und echt englischer Schönheit nachlässig, der ihr gegenüber in einem Fauteuil ausgestreckt lag. „Welche wunderliche Caprice!“

Melusine antwortete nicht, veränderte auch keinen Zug ihres Gesichts.

„Kind! bist Du zu Stein erstarrt?“ lachte Cyrilla. „Hörst Du nicht, daß Lord Francis mit Dir redet?“

Und der Herzog von D. warf eine Camellie nach ihr.

Melusine fuhr auf. Ihre Augen funkelten in seltsam grünem Licht, eine Röthe überflog einen Augenblick Wangen und Stirn. Verächtlich schleuderte sie die Blume von sich, wie ein widerliches Insect.

„O weh, die arme Blume!“ rief Arabella. Sie dachte daran, daß diese prächtige weiße Camellie sicherlich heut Morgen mit einem halben Sovereign bezahlt worden war.

„Warum thatet Ihr das, Herzog?“ fragte jetzt eine erregte Stimme, und von einem Kissen am Boden, zu den Füßen Melusine’s, erhob sich die Gestalt eines sehr jungen Mannes. Er lag halb auf den Knieen und sah drohend nach dem Angeredeten hin. Zugleich zerrissen seine Finger mit konvulsivischer Hast die weißen Blumenblätter. Es war Guy, der jüngste Bruder des Lord Francis.

[674] Der alte Edelmann lächelte. „Mein Knabe, es galt nicht ihr,“ sagte er besänftigend, „ich wollte Euch treffen, ich glaubte Euch eingeschlafen.“

Ein stolzer Blick war die Antwort, die Lippen des Jünglings zuckten.

„Was hast Du, Guy?“ fragte Francis sich zu ihm herabneigend. In demselben Augenblick berührte die Hand Melusine’s das dunkle Haar ihres jugendlichen Bewunderers, Fast unmerklich glitten sie darüber hin, die schmalen Finger, aber die Wirkung war eine zauberische. Guy zuckte zusammen und wendete den Kopf nach der Schauspielerin um.

„Seid ruhig!“ flüsterte sie mit halbem Lächeln und tauchte ihre Nixenaugen in die seinen. „Ich will, daß Ihr ruhig seid!“

Melusine war in diesem Augenblick die schönste Frau unter diesen blendenden Schönheiten, und nicht nur hier. Dies Lächeln, dies Aufleuchten der Augen war von dämonischem Zauber. Nichts reizt ja weniger, als die Schönheit allein, nur das Fremde, Wunderbare, Ungewöhnliche ist’s, was uns blendet und verwirrt und die Seele in jenen Strudel von Leidenschaft reißt, aus dem es kein Entrinnen giebt. Die Art der Haltung, der Gang, eine gewisse Bewegung, eine Falte zwischen den Augenbrauen, der Ton einer Stimme, der Blick, die Form eines Mundes – alle diese Einzelnheiten können einen Reiz ausüben, der zur Klippe wird, an welcher unser Herz wie unsere Sinne, Tugend und Ehre Schiffbruch leiden.

„Warum tragt Ihr nicht Weiß, wie immer, so oft ich Euch sah?“ fragte Guy jetzt.

„Weil heut’ mein Todestag ist,“ antwortete die Schauspielerin der Variétés.

„Theuerste, keine Gespenstergeschichten, sie sind nicht mehr guter Ton,“ warf Lord Francis hin.

Sie hob den Kopf, um ihn hochmüthig anzusehen. „Plaudert mit den Andern, wenn Ihr Euch fürchtet!“ sagte sie leichthin. „Ich habe eine Frage Eueres Bruders beantwortet. Ja, mein junger Freund,“ fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort, sich wieder zu ihrem jugendlichen Anbeter wendend, „ich werde sicherlich einstmals am 2. November sterben, glaubt es mir. Jedes menschliche Geschöpf fühlt durch viele Jahre seinen Sterbetag heraus aus den anderen Tagen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Habt Ihr nicht bemerkt, daß an irgend einem Tage Euch Alles ganz besonders schwer erscheint, daß es ohne alle äußere Veranlassung wie Bergeslasten auf Euch liegt; daß Euch nichts gelingt und Euch nichts zerstreut? Erinnert Ihr Euch nicht an Tage, wo Ihr Euch vor Euch selber fürchtet und nicht allein sein mögt? Die Kinder sind an solchen Tagen eigensinnig und trotzig oder weinen viel, die großen Menschen begehen in ihrer dumpfen Angst irgend eine Sünde oder thun einem Andern ein Herzeleid an und werden erst wieder ruhig, wenn jener bedeutungsvolle Tag vorüber. Aber er kommt wieder jedes Jahr, und immer schleicht jene seltsame Todesangst, jene schwere Mahnung durch Leib und Seele, doch wir vergessen, daß er schon einmal da war, denn es kommen oft graue, schwere Tage, und so wissen wir nicht mehr, welcher der graueste, schwerste. An solchen Tagen verräth ein Mann seine Geliebte und verleugnet seinen Freund. Und ein Weib? Nun, ein Weib zieht ein schwarzes Kleid an. Da habt Ihr die Erklärung.“

„Pfui, sei still!“ sagte Cyrilla zusammenschauernd.

„Wenn Ihr an solchen Gespenstertagen spielen solltet, wie dann?“ fragte Marino, der italienische Sänger, den alle Frauen anbeteten.

„Ich würde nie spielen, die Leute müßten sich dann vor ihrem eigenen Lachen fürchten. Aber so schwer, wie heute, war mir noch nie; ich bin wie ein Gespenst, das umherschleicht und jeden warmen Menschen mit aufgehobenen Händen bittet: erlöse mich!“

„Seid barmherzig, schöne Geisterseherin, und ringt Euch um unsertwillen aus Euren dunklen Gedanken. Wir wollen keine Kassandra sehen, wir wollen unsere Prinzessin Champagner bewundern,“ rief ein junger Douglas.

Diese Worte waren kaum verhallt, als ein helles Glockenspiel ertönte, das Zeichen zum Beginn der Tafel. Man erhob sich. Guy’s Blicke hingen an seinem Bruder, Blässe und Röthe wechselten auf seinem Gesicht. Ein schwermüthiges Lächeln zuckte um die Lippen des Lord Francis. „Laß es sein, mein Liebling,“ sagte er scherzend in leisem Ton, „Feuer verbrennt.“ Und er näherte sich Melusinen, um ihr den Arm zu bieten. Sie berührte ihn mit den Spitzen ihrer Finger, aber sie wendete sich, ehe sie ihrem Führer folgte, noch einmal zu dem jungen Guy um. Wieder dies wunderbare Lächeln – wieder dieser lange flimmernde Blick. „Mein Freund,“ sagte sie dann, „dort die blonde Ellinor verwendet keinen Blick von Euch – geht, macht sie glücklich und führt sie zu Tisch.“ Aber Guy schüttelte den Kopf und schlenderte allein in den Speisesaal.




Lord Francis hatte in einem Anfall von Ueberdruß an dem Londoner high life ein Jahr in Paris verlebt. Dort ging die Sonne der Variétés, Melusine mit den seegrünen Augen, vor ihm auf, und er gerieth in eine Leidenschaft für diese wunderbare Schauspielerin, die ihn beinah dazu gebracht hätte, ihr seine Hand und seinen altaristokratischen Namen zu Füßen zu legen. Daß es nicht leicht war, bei ihr Zutritt zu erlangen, steigerte nur sein Verlangen nach ihrer Bekanntschaft. Man erzählte von ihr, daß sie in die tiefste Trauer versunken sei um einen jungen, schönen Schauspieler, der vor wenigen Monaten in Folge eines Sturzes mit dem Pferde gestorben, als er mit ihr um die Wette ritt. Sie erschien zu keinem jener Feste, deren Krone sie sonst zu sein pflegte, und zeigte sich außer auf der Bühne nur in ihrem Wagen öffentlich. In die Polster ihres kleinen eleganten Coupés gedrückt, lag sie anscheinend theilnahmlos, umgeben von Wolken von schwarzem Flor und Seide. Der Wind hob zuweilen den langen schwarzen Kreppschleier ihres Hütchens und ließ das bleiche Gesicht und die halbgeschlossenen Augen erkennen. Es war ein anmuthiges Bild der Apathie. Melusine sah aus, als ob sie sich nicht geregt haben würde, selbst wenn es den Pferden beliebt hätte, mit ihr einem Abgrunde zuzujagen. Und am Abend eines solchen Tages, an dem sie so im Bois de Boulogne erschienen war, trat sie vielleicht in einem Molière’schen Lustspiele auf. War das dieselbe Melusine?

Wer dies wunderbare Geschöpf auf der Bühne sah, in einer classischen Schöpfung oder in irgend einem jener Ephemeridenstücke, denen sie erst Leben und Seele einhauchte, der mußte daran zweifeln. Das sprudelte und vibrirte, lächelte und flog, scherzte und kokettirte, wagte und gewann – als keckster, graziösester Uebermuth, der je über die Breter gegaukelt. Ihr Geist schuf jede Rolle – sie malte jede Gestalt nach ihrer Weise – und immer war sie lebens- und effectvoll. Die Lichter und Schatten waren oft frappirend, aber immer naturwahr. Ihre Frische der Auffassung entzückte und riß den kältesten Philosophen hin. Der blasirte Lord fühlte sich bald von ihr in einer Weise gefesselt, wie ihn nichts zuvor festgehalten. Er sah, dachte und träumte nichts mehr, als die junge Schauspielerin der Variétés. Daß seine prächtigen Bouquets zurückgeschickt wurden, seine kühnen Reiterkünste vor ihren Fenstern keine Beachtung fanden, entflammte ihn nur noch mehr. Er hatte aber Glück. Melusine’s Pferde gingen eines Tages durch und er warf sich ihnen entgegen, mit fester Hand in die Zügel greifend und die wilden Thiere bändigend. Da der Kutscher vor Schrecken unfähig geworden war zu fahren, so stieg Lord Francis auf den Bock und kutschirte die Angebetete seines Herzens nach Hause mit der äußersten Gewandtheit.

Die Art, wie er nach beendigter Fahrt sich ihr vorstellte, mußte ohne Zweifel piquant genannt werden, auch war der Fremde schön genug, einer Frau zu gefallen. Melusine dankte denn auch ihrem Retter durch ihr gefährlichstes Lächeln und erlaubte, daß er sich am nächsten Tage nach ihrem Befinden erkundigen dürfe. Ihre zarten Wangen waren bei diesem Unfalle aber nicht um einen Schein blässer geworden, kein Schrei war ihren Lippen entflohen, die junge Schauspielerin hatte nur die Augen geschlossen und den kleinen Fächer in ihren Händen in Stücken gebrochen – das war Alles. Sie zeigte ihn scherzend ihrem neuen Bewunderer; Lord Francis erbat sich das zertrümmerte Spielzeug zur Erinnerung an diese erste Begegnung und erhielt es auch. Seit jenem Tage kam Lord Francis häufig und immer häufiger, und allmählich versuchte sich die Pariser jeunesse dorée darein zu finden, daß ein Ausländer ihr in der Gunst der schönen Melusine den Rang abgelaufen. Nun, die Sonne hat das unbestrittene Recht, auf Gerechte und Ungerechte zu scheinen; jetzt trafen die glühenden Strahlen einen Ungerechten, man nahm sich vor, geduldig zu warten, bis ein Gerechter wieder dieses Glückes theilhaftig werden würde. Melusine war also die erklärte Freundin des Fremden, und nie [675] hatte er sich daheim, neben den wappengeschmückten Equipagen der vornehmsten Schönen Altenglands, in Hyde-Park oder in Kensington-Garden, so stolz gefühlt, wie hier in Paris, wenn die Schauspielerin der Variétés ihm gestattete, sie auf der Promenade des Bois de Boulogne zu begleiten.

Ein Jahr war vorüber und Lord Francis dachte an die Rückkehr nach London. Nicht, daß er des Lebens in Paris und der Sonnenstrahlen aus Melusinens Augen müde geworden wäre, das wunderbare Mädchen fesselte ihn noch wie am ersten Tage, und Paris war und blieb ein entzückender Aufenthalt für jeden reichen, schönen, unbeschäftigten Mann, aber man wünschte ihn seinen Sitz im Parlament einnehmen und verheirathet zu sehen. Zudem folgte seine Schwester jetzt ihrem Gatten nach Indien, und so blieb sein jüngster Bruder Guy ohne Halt und Stütze. Das letztere war es hauptsächlich, was ihn bestimmte abzureisen. Eine zärtliche, fast leidenschaftliche Liebe zu diesem Bruder erfüllte sein Herz, und Melusine hatte sich oft im Scherz eifersüchtig gezeigt über diese Zuneigung. Nie war Francis beredter, als im Lobe Guy’s. Seinen Schilderungen nach war dieser der schönste und geistvollste Jüngling Englands, der liebenswürdigste Idealist, das wunderbarste Gemisch von Feuer und Träumerei, Tollkühnheit und Zagen, Weichheit und unbeugsamstem Trotz.

„Ich fürchte für ihn, wenn die Liebe einst Besitz von seinem Herzen nimmt, die Flammen werden zu hoch emporschlagen, eine irdische Frau wird sich fürchten vor solcher helllodernder Gluth,“ sagte er einmal.

„Ich möchte ihn kennen lernen,“ antwortete Melusine.

„Nein, das darf nicht sein. Ihr würdet Euch hassen und das ertrüge ich nicht,“ gab Francis zur Erwiderung.

„Meint Ihr?! Es wäre interessant, zu untersuchen, ob Ihr Recht habt,“ sprach Melusine.

„Vielleicht bringe ich ihn Euch einmal, wenn ich ihn nach Italien führe. Er ist zart und seine Gesundheit macht mir oft Sorge.“

„Laßt ihn endlich ein wenig bei Seite, mein Freund, und sagt mir, wie ich Euch gestern als Lesbia gefiel.“




Der Abschied von Melusine fiel dem Scheidenden schwerer als er geahnt. Seine Leidenschaft für sie stand noch in voller Blüthe, als er sie zum letzten Mal an sein Herz zog. Sie war so ganz anders, als alle Frauen, die er bis zur Stunde gekannt, immer voller Räthsel, immer von einem dämonischen Zauber, immer unberechenbar. Ob sie ihn liebte? Trotz seines täglichen Verkehrs mit ihm hatte sie es ihm noch nie gestanden. Keine Bitte, keine Zärtlichkeit hatten ihr das magische Wort zu entreißen vermocht. „Verlangt kein Geständniß,“ sagte sie. „Unsere Trennung mag den Beweis liefern, welche Liebe die dauerhafteste, die des Wortes, oder die der That, die Eure oder die meine.“

Lord Francis überwand den Abschied nur durch das Versprechen Melusine’s, möglichst bald ihrer Cousine Cyrilla in London einen längeren Besuch abstatten zu wollen.

Ob die gefeierte Schauspielerin der Variétés dies Versprechen in dem Rausche ihres bewegten Lebens vergaß, oder ob man ihr den Urlaub verweigerte, wer konnte es sagen? Genug. es vergingen fast zwei Jahre, ehe Melusine nach London abreiste. Während dieser Zeit flogen anfänglich viele Briefe über den Canal herüber und hinüber zwischen den beiden Getrennten: allmählich wurden sie seltener, Lord Francis war so viel beschäftigt! Anfangs waren es Briefpakete, nach und nach wurden es Briefe und endlich Briefblätter, arme, durchsichtige Zettel. Er war wirklich viel beschäftigt, der schöne Freund Melusine’s. Seit sechs Monaten der Verlobte der stolzen Lady Geraldine und Mitglied des Parlaments, konnte man keine tagebuchähnlichen Berichte mehr an eine Schauspielerin der Variétés schicken! Melusine war thöricht, daß sie das erwartete, daß sie jene leichten, dünnen Enveloppen prüfend in der Hand wog, ehe sie das Siegel brach, daß ihr Gesicht todtenbleich wurde und ein Zug verzweifelten Schmerzes um ihre Lippen zuckte beim Anblick des armen, winzigen Blattes mit den kalten, kurzen Zeilen.

Lord Francis schrieb groß und fest! Sie fing an, die Worte, dann die Buchstaben zu zählen, die arme Prinzessin Champagner! Wenn sie nur begriffen hätte, wie man nicht Zeit finden konnte zu einem Briefe an die Frau, die man liebt! Von der Existenz einer Lady Geraldine wußte sie nichts. Francis nahm sich bei jedem Briefe vor, es ihr zu schreiben, und erst wenn er das Blatt abgesandt, fiel ihm ein, daß er es wiederum vergessen hatte. Als er im Herbst einige Wochen auf dem Landsitz seiner künftigen Schwiegereltern verlebte, ging gar kein Brief an die bekannte Adresse nach Paris. Da geschah es denn, daß Melusine plötzlich ohne alle Vorbereitung nach London abreiste. Nur der Director der Variétés erfuhr von ihrem Plane. Die Freunde der Schauspielerin fanden die Jalousien geschlossen, die Teppiche auf den Treppen aufgenommen, den reizenden kleinen Salon verödet; der niedliche Käfig war leer, der Wundervogel ausgeflogen. Als sie bei ihrer Cousine eintrat, fiel Cyrilla fast in Ohnmacht vor Schrecken.

„Du kommst wohl zur Hochzeit des Lord Francis?“ fragte sie dann scherzend. „Er heirathet im December!“

„Du hast mich errathen,“ sagte Melusine ruhig, „ich wollte mich vor allen Dingen überzeugen, ob die Braut mir ähnlich sieht.“

„Ganz und gar nicht, Schatz, sie ist groß wie ein Thürsteher, ganz blond und stolz wie eine morgenländische Sultanin,“ berichtete Cyrilla.

„Kommt er noch zu Dir?“

„Ja, aber selten. Sein Bruder ist häufiger bei uns. Du wirst ihn sehen, ein schöner, wunderlicher Träumer, ein Kind!“

Am nächsten Abend sah Melusine den Geliebten wieder in jenem kleinen Kreise, der sich so häufig in dem Salon der berühmten Tänzerin versammelte. Sie saß am Kamin, als die beiden Brüder eintraten. Ein Ausdruck fast des Entsetzens glitt bei ihrem Anblick über das Gesicht des Lords.

„Melusine, welche Thorheit!“ stammelte er völlig fassungslos.

Ihre Augen hielten die seinen fest, er konnte den Blick nicht abwenden; tief und lange sah sie ihn an, es war ein Abschied, welchen die Liebe nahm, der Haß zog in die Wohnung, die jene soeben verlassen.

„Thorheit?“ wiederholte sie dann in scherzendem Ton, „warum? Ich fühlte plötzlich das Verlangen, Cyrilla und London zu sehen und vor allen Eueren Bruder kennen zu lernen. Dies ist Guy, nicht wahr?“ und sie reichte dem Jüngling die Hand hin, wie eine langjährige Freundin es gethan haben würde.

Francis hatte seine Fassung wieder gefunden. Er wurde gesprächig und fast heiter, als er sah, wie unbefangen Melusine sich ihm gegenüber zeigte, wie lebhaft sie augenscheinlich die Schönheit Guy’s bewunderte. Wie eine Bergeslast fiel es ihm vom Herzen, er hatte sich seit seinem Verhältniß zu Lady Geraldine so oft ein solches Begegnen ausgemalt, so oft mit banger Sorge daran gedacht, ohne den Muth zu finden, durch ein offenes Geständniß seiner Verlobung solch’ Zusammentreffen zu verhindern. Er hoffte, nach Männerart, auf die Gunst des Zufalls, auf die wunderbar bewegliche Natur Melusine’s, auf die Unbeständigkeit der Frauen, zu Zeiten sogar auf ein Wunder des Himmels. Es giebt Lebenslagen, in denen die Ungläubigsten zu kindlich Gläubigen werden und mit gefalteten Händen auf die Erscheinung eines helfenden Engels warten, welcher die Folgen ihrer Sünden von ihnen abwende. Die Beziehungen des Lords zu der reizenden Schauspielerin der Variétés ließen sich, das empfand er deutlich ihren Briefen gegenüber, nicht so leicht abstreifen wie jene leichtgeschürzten Verbindungen, die er früher eingegangen und gelöst, eine Melusine konnte man nicht vergessen und verlassen, wie eine andere hübsche Frau. Der Zauber ihres Wesens wirkte nicht nur Auge in Auge, er drang auch in die Ferne. Solche Grazie des Geistes, solche Gluth des Empfindens hatte Francis bei einem Weibe nie geahnt, sie waren von einem dämonischen Reiz für sein Herz wie für seine Sinne. Die wohl temperirte Liebe seiner Braut erschien ihm arm und kalt, ihr ganzes Sein so glanzlos, so gleichförmig, so nüchtern neben der Erscheinung einer Melusine! Und doch wollte und mußte dies verführerische Geschöpf aus seinem Leben gestrichen werden, Lady Geraldine duldete keine Nebenbuhlerin.

Er fing an sich zurückzuziehen, er schrieb weniger, kälter – endlich gar nicht mehr. Melusine sollte in ihren Briefen klagen, fragen, sich erzürnen, dann wollte er ihr die Wahrheit sagen: „Ich darf und will Dich nicht mehr lieben, ich gehöre einer Andern.“

Nichts von alledem, was er erwartete, geschah; es war eben keine Frau wie alle Anderen, deren Herzen er den Todesstreich versetzen wollte. Sie wehrte den Streich ab, er konnte ihr nicht nahe kommen. So ließ er sie denn das Unabwendbare errathen. Und nun war sie plötzlich in London, stand plötzlich vor seinen [676] Augen! Hatte sie es schon errathen? Kam sie, um ihn zu bestrafen oder ihm zu vergeben? Er beobachtete sie lange und immer vergebens. Sie schien ihm gegenüber völlig gleichgültig und vermied jedes Alleinsein mit ihm. Francis war ihr anfangs dankbar, daß sie sich mit Guy so angelegentlich beschäftigte, bald aber beschlich ihn ein Gefühl von eifersüchtiger Sorge und Furcht bei der wachsenden Vertraulichkeit Beider. Guy war eine Natur, die für Melusine einen Reiz haben mußte. Eine Künstlerseele schlief in dieser zarten und schönen Hülle, die sich in jener wunderlichen Welt, in welche sie sich geschleudert sah, offenbar so unbehaglich fühlte, wie ein Schmetterling an einem kalten Tage. Ein Dichtertalent schlummerte in Guy Howard, es trieb dann und wann eine Purpurblüthe, an deren Duft sich Tausende erquickt haben würden, wenn er sie nicht vor Aller Blicken verborgen hätte. Für seine Familie war er von Jugend auf der Gegenstand zärtlichster Sorge gewesen. Man beschränkte ihn in keiner Weise in seinen Studien und Neigungen und hoffte ihn dermaleinst die Stelle eines Geistlichen bekleiden zu sehen, die ihm Muße genug ließ, seinen Büchern zu leben. Lord Francis versuchte die ideale Richtung seines Wesens etwas der Wirklichkeit zuzuwenden, indem er ihm das Leben und – die Frauen zeigte, allein seine Bemühungen waren umsonst. Guy sah nur, glaubte nur, was er sehen und glauben wollte. An der Stelle jeder zerstörten Blüthe sproßte augenblicklich eine neue hervor. Seine Augen blickten tief wie echte Dichteraugen und entdeckten in jedem Wesen einen idealen Zug, unter jeder Maske das wahre Bild. Lüge und Berechnung, wo sie sich ihm enthüllten, machten ihn nur traurig, nicht bitter und hoffnungslos.

Und Guy sah und hörte Melusine. Wie elektrische Funken flog es von ihr zu ihm hin, als er zum ersten Mal vor ihr stand. Der eine Augenblick, als ihre seegrünen Augen unter dem Schleier der langen Wimpern ihn anstrahlten wie ein Meer, über dessen zitternden Spiegel Wolken hinfliegen, entschied über sein Geschick. Es giebt eine magnetische Wirkung der Seele auf die Seele, ein Verlorensein auf den ersten Blick, ein Gefühl der Rettungslosigkeit einem Augenpaar gegenüber, was auch die Skeptiker dagegen sagen mögen. Guy empfand dies Alles bei der ersten Begegnung mit Melusinen. Welch’ eine seltsame Frau! Und diese Frau hatte sein Bruder geliebt – liebte sie nicht mehr! Konnte man aufhören diese Frau zu lieben, wenn ihre Lippen einmal die Lippen eines Mannes berührt, wenn ihre Hand in der seinen gezittert? Aber hatte Melusine seinen Bruder je geliebt? So fragte er sich oft. Ihre Augen waren unergründlich wie das Meer, dessen Farbe sie trugen, ihre Hand legte sich so langsam, ohne alle bebende Hast in Francis’ Hand, ihre Stimme blieb so ruhig, als sie ihn begrüßte.

Melusine dachte nach jenem Wiedersehen den ganzen folgenden Tag an Guy, in dessen Antlitz kein Zug sie an den Geliebten erinnerte.

„Wie schön ist Guy und wie ähnlich seinem Bruder!“ sagte Cyrilla zu ihrer Cousine, als sie allein waren.

„Ich finde Francis häßlich und langweilig geworden,“ antwortete Melusine. Er hat rothe Wangen bekommen und wird stark. Wie kann man den blassen, dunkellockigen Knaben mit ihm vergleichen! Die Beiden stellen Tag und Nacht vor. Ich liebe den Mond mehr als die Sonne – Du weißt es!“

Seit jenem Tage begleitete Francis seinen Bruder stets zu Cyrilla und war Zeuge, wie sich allmählich ein wundersames Verhältniß bildete zwischen der Frau, die ihn einst um die Besinnung gebracht, und dem Jüngling, welchen er so sehr liebte.

[689] Man konnte Guy und Melusine allezeit in einem Winkel am Kamin in Cyrilla’s Salon sitzen sehen, abgesondert von den Andern, in tiefem, stundenlangem Gespräch. Es war ein kleines Tabouret von rothem Sammet da, es hieß Melusinens Thron, dort saß die Sonne der Variétés in ihrer eigenthümlichen Haltung, die linke Wange auf die Hand gestützt, in ihrem schmucklosen weißen Kleide, dem großen frischen Veilchenstrauß an der Brust, den ihr Guy jeden Tag brachte. Die irrenden Lichter des Kaminfeuers flogen über das zarte Gesicht, über die gelösten lang herabhängenden Locken, zwischen denen die schlanken Finger hervorleuchteten. Der junge Mann lag vor ihr auf dem Teppich, den Arm auf ein Kissen gestützt, und sah zu ihr auf. Sein Kopf mit dem dunkeln leicht gelockten Haar, der farblosen edlen Stirn, den tiefen Augen und den regelmäßigen Zügen erinnerte in seinem Ausdruck an die Heiligen und Märtyrer des Murillo und Ribera, halb ekstatische Verzückung, halb düstere Leidenschaft, wie sie der heilige Rodriguez zeigt. Die ganze Erscheinung hatte etwas Zartes, Hinfälliges, nur in der Form der Hand verrieth sich große Energie. Anfangs lächelten und spotteten die Andern über die Isolirung dieses Paares, allmählich ließ man es gewähren; es waren ja immer die unerquicklichsten Gespräche, an denen diese Beiden Gefallen fanden, sie sprachen über die ernsthaftesten Dinge im Himmel und auf Erden. Wunderliche Unterhaltung in dem Salon einer Cyrilla! Hätten die Spötter geahnt, wie oft Guy dann seine Verse citirte, Improvisationen vom Augenblick geboren, aber von wilder Schönheit, voll überwältigender Gluth und Schwermuth! Und leise, leise sprachen die Lippen Melusinens diese Verse nach.

„Ihr seid viel mehr zur Tragödin geboren, als zur Königin des Lustspiels,“ sagte Guy oft. Schauer des Entzückens kamen über ihn, wenn er ihren Worten, dem Tonfall ihrer Stimme, den überraschenden und leidenschaftlichen Accenten lauschte, und es waren seine Verse, die so klangen!

Wenige Minuten später erhob sie sich oft mit der hastigen Bitte: „Nun laßt’s genug sein des Ernstes!“ und trat zu den Andern. Er blieb dann ruhig neben dem Kaminfeuer liegen und folgte ihr nur mit den Augen und hörte wie im Traume zu, wie sie lachte und scherzte und über nichtige Dinge mit demselben Eifer redete, wie mit ihm über die wichtigsten Fragen des Lebens. Dann brach ihr wundervoller geistsprühender Humor wie in tausend Funken hervor, dann leuchtete Witz auf Witz, Scherz auf Scherz, dann strahlte ein seltsames Licht aus den Augen, dann glühten die rothen Lippen, dann erschienen die schönsten Frauen plump und arm neben ihr und die geistreichsten Männer schwerfällig und matt. Ein Wort, ein Blick vermochte diese hinreißende Erregung hervorzurufen, sie war dann Champagner, sprudelnder, brausender Champagner und wirkte sorgenvergessend wie Champagner. Sie schien wie im Taumel und zog die Herzen und Sinne ihrer Umgebung mit in diesen Taumel hinein.

Lord Francis lag nach wenigen Tagen wieder in den alten Banden, vielleicht fester, als je zuvor, denn zwei Dinge waren es, die hinzukamen, ihn noch mehr zu reizen: die unverhohlene Leidenschaft, welche in dem Herzen seines Bruders aufglühte für das wunderbare Geschöpf mit den seegrünen Augen, und die Gleichgültigkeit Melusine’s gegen ihn selber, der sich von ihr geliebt geglaubt.

„Wie weit denkst Du es mit dieser gefährlichen Frau zu treiben?“ fragte Francis eines Morgens seinen Bruder in einer Aufwallung von Eifersucht und Sorge zugleich. „Habe ich Dich nicht genugsam vor ihr gewarnt? Und sie spielt nur mit Dir, wie sie mit unzähligen Andern spielte! Wann wirst Du von ihr lassen?“

„Ich verstehe diese Frage nicht!“ antwortete Guy mit zusammengezogener Stirn.

„Gedenkst Du die Circe zu heirathen?“

„Sie würde weder mich noch Dich heirathen, selbst wenn wir sie auf den Knieen darum bäten, Francis, also frage lieber, wie weit sie es mit mir treiben will, oder mit uns, denn Du liebst sie noch. Und ich werde nie aufhören sie zu lieben.“

„Das ist Wahnsinn! Ich darf das nicht dulden! Begreifst Du nicht, daß wir diese Frau fliehen müssen, daß wir zu Grunde gehen, wenn wir nicht ihren Zauberkreis meiden?“

„Ich begreife nur Eins: daß ich diese Frau nie lassen werde, so lange ich athme, bis sie mich selber von sich stößt.“

„Und sie wird es thun; sie wird Dich mit der Spitze ihres Fußes von sich stoßen, wie sie schon manchen Andern von sich gestoßen hat. Meinst Du, Deine philosophischen Gespräche über die Liebe würden sie ewig fesseln? Du bist ihr noch neu, sie liebt den Wechsel und die Emotionen. Ich sorge mich um Dich, Guy, denn ich liebe Dich!“

Und Francis legte seinen Arm um den Nacken seines Bruders.

Guy löste sich sanft von ihm und sagte: „Habe Geduld mit mir, ich kann nicht anders. Vielleicht kommt ein schnelleres Ende, als wir meinen. Und in zwei Monaten schicken mich die unerbittlichen Aerzte ja doch nach Italien. Laß mich noch träumen!“




Dies Gespräch war am Tage vor Allerseelen zwischen den Brüdern geführt worden, aber am nächsten Abend war Guy entzückter als je von der seltsamen Frau. Sie war gegen ihn allein sanft und freundlich, gegen alle Andern düster und schweigsam. Und die Stunden glitten vorüber, bis in dem hellerleuchteten [690] Speisesaal plötzlich eine erhöhte Stimmung den kleinen Kreis überfluthete. Man reihte sich scherzend und lachend an die reichbesetzte Tafel. Die Diners der Cyrilla waren berühmt; man speiste vorzüglich bei ihr, der Herzog war ein Feinschmecker ersten Ranges. Melusine saß zwischen den Brüdern. Sie war jetzt eine Andere. Ihr Gesicht strahlte, von ihren Lippen strömte Scherz und reizendes Geplauder. Für Jeden fand sie ein passendes, anregendes Wort, sie setzte jede Erscheinung in die passende Beleuchtung. Man sprach von Paris.

„Ich habe Heimweh nach Paris,“ sagte Melusine. „O meine glänzende Heimath, wie liebe ich Dich! Hier ist’s so schwer, fröhlich zu sein, hier ist und bleibt im Grunde der heiterste Platz die Schreckenskammer der Madame Tussaud.“

Man lachte.

„Melusine hat eine seltsame Vorliebe für jene Räume,“ erzählte Cyrilla. „Sie besuchte sie jeden Tag, die Wachsmenschen waren ihr eine angenehmere Gesellschaft als wir. Ich selbst gehe nur hin, um die schönste Frau Frankreichs zu bewundern, die bezaubernde Madame St. Amaranthe, die kein Mann, als sie noch lebte, ungestraft anschauen konnte.“

„Man sagt, daß sie auch nach ihrem Tode einen dämonischen Zauber ausübe,“ bemerkte hier der Herzog von D. „Keine Braut erlaubt ihrem Verlobten einen Besuch bei Madame St. Amaranthe ohne ihre schützende Begleitung. Es soll allen liebenden Gefahr bringen, jenes hinreißende Gebilde von Wachs.“

„Still, redet nicht von den häßlichen Wachsfiguren,“ bat die blonde Arabella, „ich fürchte mich vor ihnen! Melusine erzählt uns eine lustige Geschichte aus Paris.“

Und Melnsine erzählte mit ihrer süßen Stimme, das Champagnerglas in der Hand, eine ihrer pikanten Theaterplaudereien aus den Foyers der Variétés. Niemand konnte graziöser erzählen. Ihre glühenden Wangen, ihre funkelnden Augen, ihr Lächeln rissen hin und brachten um alle Besinnung. Eben war ihre kleine Geschichte beendet, sie wendete sich zu Guy und wie ein blendender Lichtstrahl traf ihn ihr Blick aus den halbgeschlossenen Augen. Er sprang auf, hob sein Glas und rief in leidenschaftlichster Erregung: „Es lebe Prinzessin Champagner!“ lauter Jubel begrüßte diesen Toast. Man wiederholte ihn, die Gläser klangen, man rief und lachte durcheinander. Melusine nahm ihre Rose aus dem Haar, tauchte sie leicht in den Schaum ihres Glases und befestigte sie an der Brust Guy’s. Sie neigte ihren reizenden Kopf zu ihm hin, ihre schlanken weißen Finger spielten vor seinen Augen, und es war in dieser Stellung, als der Jüngling ihr bebend zuflüsterte: „Ich liebe Euch!“

„Für heut’ Abend!“ antwortete sie leicht hin – die Rose hatte ihren Platz gefunden.

„Für die Ewigkeit!“

„So sagen alle Männer und ich glaube keinem mehr!“

„Ihr müßt mir glauben!“

„Gebt mir eine Probe!“

„Welche Ihr wollt! Sprecht nur, sprecht – ich bin bereit Alles für Euch zu thun!“

„Die Damen der Liebeshöfe erhörten ihre Ritter allezeit nur nach einer siegreich bestandenen Liebesprobe.“

„Soll ich für Euch sterben?“

„Nein, nur Madame St. Amaranthe, die unwiderstehliche Frau von Wachs, in dieser Stunde besuchen und ihr meine Rose bringen.“

Guy wurde todtenbleich.

„Wählt etwas Anderes!“ stammelte er. „Ich muß Euch ein Geständniß ablegen, ich war nie in der Schreckenskammer der Madame Tussaud, nie in dieser schauerlichen Ausstellung menschlicher Gebilde, die das Leben nachäffen und doch todt sind. Als Kind hatte man mich dazu zwingen wollen: man trug mich ohnmächtig nach Hause.“

„Und jetzt?! Und Ihr sagt, Ihr liebtet mich? Geht, Guy, Ihr seid ein –“

„Haltet ein, still! Ich gehe! Aber, daß Keiner hier erfährt, wohin,“ sagte jetzt der junge Mann mit fliegendem Athem und düsterm Blick. „Ihr sollt in mir keinen Feigling finden. Wie aber komme ich zu dieser Stunde dort hinein?“

„Hier ist ein kleiner Schlüssel, er schließt die Seitenthür des ersten Saales. Nennt dem Portier im Hause meinen Namen und er wird Euch einlassen. Ich kenne den Sohn der Tussaud. Wir haben jetzt kaum zehn Uhr. Ein Wagen bringt Euch rasch nach Kensington-Garden. Ihr wißt, das Museum liegt in der Bakerstreet. Verschafft Euch eine kleine Laterne vom Diener der Cyrilla. Am Eingang der schwarz ausgeschlagenen Schreckenskammer, die alle Schauer der Guillotine und alle großen Verbrecher Englands vereinigt, steht eine Girandole mit Kerzen. Ihr werdet sie anzünden und dann Madame St. Amaranthe in dem vollsten Lichtglanz erblicken. Schaut sie wohl an, legt diese Rose in ihre Hand und erzählt mir, ob sie Euch erlaubt hat, mich ferner zu lieben. Ich erwarte Euch hier, noch diese Nacht, Guy! Geht, besiegt sie Alle, die je von Liebe zu mir geredet.“

Er fühlte einen kleinen Schlüssel in seiner Hand und erhob sich wie im Traume.

„Wohin gehst Du?“ fragte Francis, der mit wachsender Unruhe das leise Geflüster beobachtet.

„Er wird mir einen Ritterdienst erweisen und ein Buch holen, von dem wir geredet,“ antwortete die Schauspielerin der Variétés ruhig.

„Schicke doch den Diener, mein Liebling, die Nacht ist kalt und rauh und Du fieberst.“

„Ich nehme einen Wagen und bin in einer Stunde wieder hier. Lebt wohl, Francis!“ Er reichte dem Bruder die Hand, grüßte die Gesellschaft und ging. Francis machte Miene ihm zu folgen, ein lächelnder Blick Melusine’s ließ ihn bleiben. Sie rückte ihren Sessel nahe an den seinen.

„Ihr liebt ihn wohl sehr, den schönen Knaben?“ fragte sie.

„Sehr, Ihr wißt es ja längst.“

„Mehr als Lady Geraldine?“

Eine glühende Röthe schoß in sein Gesicht. Er hielt ihren grausamen Blick nicht aus.

„Viel mehr!“ stammelte er endlich, kaum hörbar.

„Singt, Marino!“ befahl Melusine jetzt sich an den schönen Italiener wendend. „Ich höre sie so gern, Eure lügenhaften Lieder von ewiger Liebe und unauslöschlicher Gluth!“

Man schlug den Flügel auf, Marino sang.

„Die Kerzen brennen heut so dunkel und Eure Lieder klingen matt und traurig,“ sagte Prinzessin Champagner nach einiger Zeit, „laßt mich singen!“ Und sie sang, das gefüllte Glas in der Hand, das Trinklied Orsino’s aus der Lucrezia Borgia. Wie reizend klang diese verschleierte Stimme, wie bezaubernd war der Vortrag der Sängerin, wie durchzuckte es die Hörer, dies übermüthige Lied; mit welchem Feuer fielen sie ein in den Refrain! Darauf folgte ein keckes Couplet dem andern; es war gesungener, sprudelnder Champagner. Ausgelassenste Heiterkeit verbreitete sich am Tage Allerseelen unter den Gästen der Cyrilla. Man stimmte mit ein, man jubelte dazwischen, man warf sich mit Blumen, man bewunderte einander, und vor Allen bewunderte man Prinzessin Champagner.

O, wie schön sie war, wie verführerisch! Wie sie glühte und leuchtete! Francis vergaß bei ihrem Anblick seinen jungen Bruder und alle Sorgen – Lady Geraldine hatte er längst vergessen.




Das weltberühmte Cabinet der Französin Madame Tussaud, der Freundin des Scharfrichters Sanson, liegt in der Bakerstreet in nicht allzugroßer Entfernung von Kensington-Garden. Jeder Fremde besucht unter seltsamen Schauern jene schweigende Versammlung von Todten, die sich mit dem Schein des Lebens geschmückt haben. Alle Berühmtheiten der Welt sind hier in täuschender Nachbildung gleichsam versteinert aufbewahrt für eine neugierige, schaulustige Nachwelt. Könige und Königinnen. Lebende und Gestorbene, Künstler, Gelehrte und Dichter, sowie Giftmischer, Mörder und Räuber haben sich hier zusammengefunden, die Letzteren freilich in jenem dunklen Raume, den man „Schreckenskammer“ nennt. Ein Besuch bei Madame Tussaud verwandelt den heitersten Tag in einen nebelvollen, die froheste Laune in ein schwermüthiges Sinnen; diese Räume haben einen Reiz ähnlich jenem süßen Grauen, dessen wir uns aus unserer Kinderzeit erinnern, wenn die Mutter uns im halbdunkeln Zimmer Märchen erzählte. Da hätten wir auch lieber um Licht, helles Licht gebeten, und doch hielt es uns im Dunkeln fest, wir wollten nicht in die Ecke am Ofen hinschauen, denn es war sicher, daß sich dort etwas Schattenhaftes regte und bewegte, und wir wendeten trotzdem unsere Augen wieder und wieder dahin. Genau so ist’s mit der Schreckenskammer, sie zieht uns mächtig an und unser Herz klopft doch so wild, wenn wir sie betreten. Eine Nacht in einer Kirche verlebt, die Mitternachtsstunde [691] bei den stillen Todten auf dem Friedhofe ist einem Aufenthalt an diesem furchtbaren Orte zu solcher Zeit kaum zu vergleichen; dort glauben wir nur Entsetzliches zu sehen – hier sehen wir es wirklich, fühlen es, wenn wir die Hand ausstrecken.




Während die Gläser an Cyrilla’s Tafel klangen und Melusine sang, an jenem Abend des Allerseelentages, trat Guy mit zögernden Schritten in die Gesellschaft der Todten mit den täuschenden Larven des Lebens. Ein betäubender Duft schlug ihm entgegen und verwirrte seine Sinne, ein kühler, fremder Hauch, wie aus Särgen, wehte ihn an. Er durchwanderte eine Reihe von Sälen, ohne seine eigenen Schritte zu hören. Todesschweigen überall. Und doch schienen alle diese Menschen miteinander zu reden und zu lächeln, und doch drängten sie sich in seinen Weg, doch standen sie in dichten Reihen zu beiden Seiten und ließen ihn gleichsam Musterung passiren, und die Fernerstehenden hoben sich, wie es ihm schien, auf den Zehen und reckten sich lang und immer länger, um mit eisigen Blicken zu ihm herüberzustarren. Die Laterne in seiner leise bebenden Hand warf blitzartige Lichtstreifen auf alle diese Gestalten. Schwere Sammet- und Seidengewänder fielen in tiefen Falten herab, königlicher Purpur wallte von stolzen Schultern, die längst in Staub zerfallen; eine vornehme Gesellschaft gekrönter Häupter folgte dem kühnen Fremdling mit fragenden Blicken. Es war ihm jetzt, als ginge hinter ihm her ein leises Rauschen und Flüstern durch die Reihen. Sein irrender Blick streifte manche sorgenvolle, müde Stirn, manches schwermüthige, edle Frauengesicht, manche Züge, die ihm aus Bildern bekannt und vertraut waren.

Vorüber, vorüber; immer eisiger wehte es ihn an. Da stand das Sterbebett des großen Kaisers. Auf dem weißen Kissen lag das imposante Haupt in der Starrheit des Todes und auf der Decke ein Spielzeug des Königs von Rom, der im Garten zu Schönbrunnen schlief. In den Fensterscheiben jenes Kaiserwagens, dessen Räder nach der Schlacht von Waterloo den großen Feldherrn forttrugen, blitzte das Licht der Laterne wieder. Alles, Alles regungslos rings umher. Gruppe an Gruppe schien sich zusammengedrängt zu haben, um ihn anzuschauen, zürnend und drohend. Es war ihm, als erstarre er selber allmählich zu Eis. Schwer und schwerer wurde sein Schritt. Die alte, lähmende Furcht der Kinderzeit, jenes Entsetzen vor der täuschenden Nachahmung des warmen Lebens, der nichts fehlte, als die Bewegung, schlich durch seine Adern. Weiter, weiter, er mußte vollenden. Wie Feuer brannte die Rose Melusine’s in seiner Hand. Es war ihm, als nähme diese furchtbare Wanderung nimmer ein Ende, als dehnten sich die Räume gespensterhaft in unabsehbare Ferne aus, als rausche und dränge es sich ihm jetzt langsam nach in endlosem Zuge. Schneller und schneller hastete er sich und kam doch nicht von der Stelle. Endlich, endlich öffnete sie sich vor ihm, schwarz, wie das Grab selber, jene dunkle Kammer, das Ziel seiner Wanderung, von der er seit seiner Kindheit so viel Grauenhaftes gehört. Beim Eintritt über ihre Schwelle klangen die Worte Dante’s in sein Ohr:

„Laßt alle Hoffnung, die hier ein Ihr tretet.“

Hatte sie ihm eine fremde Stimme in’s Ohr geflüstert, hatte er sie selber laut ausgesprochen? Er hob die Laterne – da stand die Girandole, seine Hand zündete die Kerzen an. Barmherziger Gott, ihr erster Lichtstrahl fiel auf die blutige Brust Marat’s, erloschene Augen hoben sich zu ihm auf; das Wasser des Badebeckens, in dem der Körper lag, war blutig gefärbt. Guy wendete sich schaudernd ab, aber nur um neues Entsetzen zu empfinden. Das Haupt Maria Antoinette’s in der furchtbaren Blässe des Todes starrte ihm entgegen. Die schönen Augen waren geschlossen, die feinen Lippen zusammengepreßt, das ergraute Haar hing wirr um die eingesunkenen Schläfe, die so oft Rosen umkränzt hatten. Unfern von ihnen tauchte das Hyänengesicht Bacon’s, des grausamen Giftmischers, auf, nicht weit von ihm standen die gräßlichen Leichenräuber Burke und Hare in ihren zerlumpten Kleidern. Warfen sie ihm nicht gierige Blicke zu? Flüsterten sie nicht miteinander, als er sich eben schaudernd wegwandte, streckten sie nicht ihre langen Hände nach ihm aus, fühlte er nicht schon ihre eisigen Finger an seinem Nacken? Dicht daneben grinste das Schreckensantlitz des scheußlichen James Bloomfield Rush, jenes Mörders, der sich an den Todesqualen seiner Opfer weidete und mit Lust Kinder, Weiber und zahllose junge Mädchen auf die grausamste Weise tödtete.

Halb bewußtlos taumelte er weiter. Ein Holzgerüst hemmte seinen Weg. Die rothgefärbten Balken hoben sich gespenstisch von dem schwarzen Grunde der Wand. Es war die Guillotine, neben ihr zu beiden Seiten standen zwei Körbe mit blutigen Sägespähnen, bestimmt, Kopf und Rumpf der Hingerichteten aufzunehmen. Ueber ihr hing dasselbe furchtbare Messer, dessen Stahl das Blut Maria Antoinette’s und zweiundzwanzigtausend anderer Opfer der französischen Revolution getrunken, jenes haarscharfe Instrument, das so manchen stolzen Hals, so manchen blendenden Nacken erbarmungslos durchschnitten.

Das Maß des Schreckens war erfüllt, Guy sank zusammen. Allerlei Hände langten aus dem Dunkel nach ihm, um ihn nach der Guillotine zu zerren, ihn zu binden und auf jenes schmale Bret dort zu schnallen; das Messer zuckte über ihm, allerlei Gesichter und Gestalten erschienen an der Thür, um zuzuschauen. Seine Hände falteten sich, die Laterne stürzte zu Boden. Wie ein verlassenes Kind nannte er jetzt den Namen des Engels seiner hülflosen Jugend, der ihn schon einmal vor dem Schrecken dieser Räume rettete, den Namen seiner Mutter, die schon längst bei den Todten schlief. „Mutter, Mutter, hilf mir fort! Sende mir einen Engel, der mich erlöse!“ rief er, mit irren Blicken umherschauend.

Da stieß es plötzlich einen Schrei aus. Was war das? Warmes, wirkliches Leben unter den Larven, ein menschliches Wesen unter den Todten? Er war nicht mehr allein! Der volle Lichtschein fiel auf eine Frauengestalt, die auf einem Ruhebett ausgestreckt lag. Das schönste Antlitz, das seine Augen je erblickt, lächelte ihm entgegen. Ein schwarzes Gewand umschloß den herrlichen Körper, Hals und Schultern waren unbedeckt, in sanften Athemzügen hob und senkte sich die Brust. Die geöffneten, thaufrischen Lippen hauchten Liebe, die strahlenden blauen Augen mit den langen Wimpern hoben sich, um ihn zärtlich anzuschauen. Die reizende Hand reckte sich empor, um ihm zu winken. „Wer bist Du?“ fragte Guy aufstehend, um neben ihrem Lager niederzuknieen.

„Ich bin Madame St. Amaranthe,“ antwortete sie leise, „dort, jenes Ungeheuer im dunkeln Winkel, Robespierre nannten sie ihn, ließ meinen schönen Hals von dem kalten Messer hier durchschneiden, weil ich mich weigerte, den Furchtbaren zu lieben. Löse nicht das schwarze Band von meinem Nacken, Du würdest den blutigen Streifen sehen; o, er ist so häßlich! Sieh, ich lebe – höre, wie ich athme; schau her, lege Deine Hand auf meine Brust – ich athme, wie Du. Ich warte lange, lange auf Dich, um Dich zu lieben. Jetzt bist Du da und wirst bei mir bleiben! Warum zögertest Du so viele, viele Nächte?“

„Bist Du die schönste Frau Frankreichs?“ flüsterte er, in ihrem Anschauen verloren; „nein, Du bist die schönste Frau der Schöpfung. Und Du willst mich lieben?! Sag’ es noch einmal!“

„Noch liegt es wie ein schwerer Bann auf mir, noch kann ich mich nicht erheben, um Dich an mein Herz zu ziehen, Du mußt mich erst küssen! Komm, fürchte Dich nicht. Meine Lippen sind jetzt kalt, aber sie werden aufglühen, wenn Du sie berührst. Viele waren es einst, die um meine Liebe warben. Ganz Paris lag zu meinen Füßen. Ich habe viele Herzen von mir gestoßen, mit vielen gespielt, bis jene grauenvolle Zeit kam, wo mein Gatte beim Sturm der Bastille fiel und Robespierre mich bei der Leiche des Helden erblickte. Von jenem Augenblick an verfolgte er mich, er lag zu meinen Füßen, er schwur, mich zu lieben, ich wendete mich mit Abscheu von ihm. Mit einem lächelnden Blick hätte ich das Leben vieler meiner Freunde erkaufen können, ich that es nicht. Die Liebe des Schrecklichen wurde zum Wahnsinn, endlich zum Haß. Er drang einst in mein Zimmer und ließ mir nur eine Wahl, sein Haus oder – das Schaffot. Mein armer, schöner Hals! Hättet Ihr den Muth gefunden, ihn zu durchschneiden, und wenn hundert Robespierre Euch gedroht? Kommt, küßt seine Narbe, daß sie wieder heile.“ Und das Band verschob sich, ein feiner, rother Streif ward sichtbar. „Bin ich nicht trotzdem schöner, als jene Frau, die Dich hierher sandte?“ fragte sie mit süßem Lächeln. „Gebt mir die Rose, die Ihr so fest in Eurer Hand haltet und bleibt bei mir. Sie liebte Euch nicht, aber ich, ich will Dich lieben. Ich schütze Dich vor allen Gespenstern. Sei ruhig, lege Deine müde, heiße Stirn an mein Herz.“

Noch einmal schaute er zu ihr auf, wie ein rosiges Licht [692] strahlte ihre unvergleichliche Schönheit ihm entgegen, sein Haupt sank an ihre Brust. Wie im Traume empfand er noch das Wehen ihres Athems, eine entzückende Ruhe kam über ihn, ein Gefühl, als läge er gerettet in den Armen seiner Mutter.




Wenige Augenblicke später durchdrang ein greller Lichtschein die Säle, laute Schritte kamen hastig näher und näher, Lord Francis, von zwei Dienern gefolgt, suchte in unbeschreiblicher Aufregung den Bruder. Melusine hatte ihm gestanden, wohin sie ihn gesandt.

Mit einem Schrei stürzte er auf den Zusammengesunkenen zu. Eine tiefe Ohnmacht hatte Guy umfangen, er lag am Boden ausgestreckt neben dem Ruhebett der Madame St. Amaranthe. Die champagnerfeuchte Rose lag auf der Brust der wunderschönen Frau, sie hob und senkte sich leise unter ihrem Athem.

Die Diener nahmen den Bewußtlosen in ihre Arme, um ihn hinwegzutragen. Lord Francis löschte die Kerzen und folgte. Seufzte es nicht tief auf hinter ihm? Rauschte es nicht wie seidene Gewänder? Er wagte nicht, rückwärts zu schauen. Hatte sich die schöne Madame St. Amaranthe erhoben, um ihnen zu folgen? Während der Fahrt hielt Lord Francis mit einem Schmerzensgefühl ohne Gleichen den Regungslosen in seinen Armen und nannte ihn mit den zärtlichsten Namen. Vergebens, Guy verblieb in todtenähnlicher Erstarrung.




Als der Wagen an dem Hause der Brüder in das Thor einfuhr und vor dem Portal hielt, trat eine verschleierte Frau an den Wagenschlag, die hier gewartet zu haben schien.

„Wie ist’s mit ihm?“ fragte sie hastig.

„Seht Euer Werk,“ antwortete Francis verzweiflungsvoll, als der Schein der Lichter auf das bleiche Antlitz seines Lieblings fiel.

Man trug den jungen Mann in das nächste Zimmer, den Speisesaal; Melusine folgte. Wie der Todesbote selber, starr und mit düsterem Blick, stand sie zu Füßen des Divans, auf den man ihn gebettet. Ein Arzt war bald zur Stelle und seinen Bemühungen gelang es, den Regungslosen in’s Leben zurückzurufen. Guy schlug langsam die Augen auf. Mit irren Blicken schaute er suchend umher. „Amaranthe, wo bist Du?“ rief er mit herzzerschneidendem Klageton. „Ich will zu Dir! Laßt mich fort, ihr Larven! Ihr seid doch Alle todt, sie allein lebt!“

Und mit ungewöhnlicher Kraft aufspringend, versuchte er zu entfliehen. Francis hielt ihn fest. Melusine neigte sich zitternd zu ihm nieder. „Guy, komm zu Dir!“ flüsterte sie in sein Ohr, „ich sterbe vor Angst und Reue. Hier bin ich, Dein auf ewig, ich will Dich lieben! Kennst Du Melusine nicht mehr?!“

„Du bist nicht Amaranthe,“ sagte er schmerzlich nach einem langen Blick in ihr thränenüberströmtes Gesicht. „Melusine ist todt, wie alle Frauen. Amaranthe lebt und athmet, meine Hand hat auf ihrem Herzen geruht. Sie hat ein Herz, sie allein von allen Frauen der Welt!“

Mit einem Jammerruf wandte sich Melusine ab. Der Arzt befahl Ruhe für seinen Patienten. „Hoffen wir, daß nur eine vorübergehende Störung eintrat,“ sagte er, „ich allein werde heut’ Nacht bei dem Kranken wachen!“




Warum Alles schildern, was nun folgte? Thatsache war und blieb der Wahnsinn Guy’s. Keinen Augenblick kehrte das Bewußtsein des Unglücklichen zurück. Aber sein Wahnsinn hatte eine milde, fast schöne Gestalt angenommen. Die Besucher der Madame Tussaud in der letzten Hälfte der vierziger Jahre werden sich ohne Zweifel eines auffallend schönen Mannes erinnern, der in Begleitung eines alten Dieners zur bestimmten Stunde, wenn das Museum geöffnet wurde, vor der Eingangsthür erschien, leichten, schnellen Schrittes durch die Säle eilte, um in dem letzten der Räume vor der schlummernden Madame St. Amaranthe Platz zu nehmen. Hier saß er in ihren Anblick vertieft stundenlang unbeweglich, bis ihn der Diener leise an der Schulter berührte, wenn der Schließer mit dem Schlüsselbund über die Schwelle der Schreckenskammer trat. Die bewundernde Menge, die sich so oft vor der herrlichen Gestalt versammelte, um sie athmen zu sehen, das einzige Kunstwerk dieser Art in den Sälen der Madame Tussaud, störte ihn nicht, er sah und hörte Niemand. Tag für Tag hielt sein kleines, elegantes Coupé in Bakerstreet, weder Regen noch Sturm verhinderte sein Erscheinen. Sein trauernder Bruder und seine Schwägerin ließen ihn gewähren, seit er einmal, als man versucht hatte, ihn gewaltsam zurückzuhalten, in Raserei gefallen war.

In der Zeit, die er daheim verlebte, beschäftigte er sich damit das Ideal seines irren Geistes in den verschiedensten Haltungen zu zeichnen. Jahrelang wurde dieser seltsame Besucher des Museums von den Fremden mit Interesse betrachtet. Allmählich ging er langsamer. Sein Schritt wurde müde und schwer und eines Morgens blieb der regelmäßige Gast zur größten Verwunderung des Thürstehers aus. Er war in der Nacht gestorben.




Und Prinzessin Champagner? Sie kehrte nach Paris zurück und bezauberte nach wie vor die Männerwelt und brachte sie durch ihre unberechenbaren Capricen in Verzweiflung. Außer dem Theater erschien sie nur in tiefer Trauer und in ihrem reizenden Schlafzimmer stand, ihrem Lager gegenüber, ein offener Sarg, der einstigen Bewohnerin wartend. Bei den Festen ihrer Freunde und Bewunderer war und blieb sie die unvergleichliche Königin, aber sie konnte mitten in der übermüthigsten Lust in Thränen ausbrechen und sich in die Einsamkeit zurückziehen. Jetzt ist Prinzessin Champagner längst verflogen und vergessen und lebt nur noch in der Erinnerung einiger alter Theaterbesucher der Variétés. Sie starb am Allerseelentage, drei Jahre nach jenem Abend bei Cyrilla.

Elise Polko.