Textdaten
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Autor: Eberhard Rimbach
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Titel: Physikalische Chemie
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 177–185
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1321]
Physikalische Chemie
Von Dr. E. Rimbach, Prof. ord. hon. der Chemie an der Universität Bonn


Wenn, im Anschluß an die vorhergehenden Ausführungen, noch über die Fortschritte der physikalischen Chemie im letzten Vierteljahrhundert berichtet werden soll, so erscheint Vollständigkeit oder näheres Eingehen auf Einzelheiten hierbei ausgeschlossen. Bei der Fülle des Stoffes und seiner vorwiegend theoretischen Natur verbietet dies die Knappheit des zugemessenen Raumes und die Absicht des Werkes. Ein kurzes Hervorheben der wichtigsten Ergebnisse muß daher genügen.

Beim Beginn der Berichtsperiode waren in großen Gebieten der physikalischen Chemie einschneidende Umwandlungen in die Erscheinung getreten, van’t Hoff in Amsterdam hatte gefunden (1885), daß der „osmotische Druck“ in Lösungen, die eigentümliche Druckerscheinung, die jedesmal meßbar sich beobachten läßt, wenn man eine Lösung eines Stoffes einerseits, das reine Lösungsmittel andererseits durch eine „halbdurchlässige“ Scheidewand miteinander in Berührung bringt, genau den allgemeinen Gesetzen des Gasdruckes, dem Gesetz von Mariotte und dem Gesetze von Gay Lussac folgt. Damit war die Übertragung der Hypothese Avogadros vom Gaszustande auf den gelösten Zustand unmittelbar gegeben. Und als dann weiter van’t Hoff (1887) auf thermodynamischem Wege, durch Betrachtung reversibler, mit Hilfe halbdurchlässiger Wände durchführbarer Kreisprozesse, auch die empirischen Ergebnisse des französischen Chemikers Raoult (1886) über die Beziehungen zwischen Dampfdruck- und Gefrierpunktsänderungen in Lösungen und deren Molekelzahl als unmittelbaren Ausfluß der Lehre vom osmotischen Druck darzustellen vermochte, da schloß sich der Kreis der Analogien. Das große Gebiet der Lösungen war einer eingehenden theoretischen Behandlung zugängig gemacht, wie man sie bis dahin nur bei gasförmigen Körpern kannte; an Stelle des Gasdrucks bei letzteren trat bei den Lösungen der osmotische Druck.

Weiter hatte Arrhenius in Upsala (1887) seine Theorie von der elektrolytischen Dissoziation aufgestellt. Nach ihr bestehen die Molekeln eines gelösten Elektrolyten – einer Säure, einer Base, eines Salzes – in der Lösung nicht mehr als solche, sie sind vielmehr, durch den Lösungsakt, zum kleineren oder größeren Teile in Teilmolekeln gespalten. Diese Teilmolekeln sind die Faradayschen Ionen, d. h. die Spaltstücke des Elektrolyten, die beim Hindurchsenden eines elektrischen Stromes durch ihn zu den Eintrittsstellen des Stromes, den Elektroden, hinwandern. Nach Arrhenius’ Theorie befinden sich diese Ionen in der Lösung in gewissem Sinne frei, voneinander unabhängig; jedes abgespaltene Ion fungiert als neue, selbständige Molekel. Der Akt der Auflösung [1322] bedingt also gleichzeitig eine Erhöhung der Molekelzahl des Elektrolyten in der Lösung gegenüber der Zahl seiner Molekeln im ungelösten Zustande.

Die Arrheniussche Hypothese wirkte, wenngleich ihr Grundgedanke, allerdings nur andeutungsweise, von Clausius (1857) bereits ausgesprochen war, durch ihre revolutionäre Kühnheit auf die Chemiker zunächst überraschend, ja abstoßend. Aber ihre Leistungen, die geniale Art, wie ihr Urheber, obgleich er die Hypothese ursprünglich auf Beobachtungen elektrischer Leitfähigkeiten gegründet hatte, durch sie die verschiedensten bis dahin streng gesonderten Erscheinungsgebiete ungezwungen miteinander verknüpfte, so die Erscheinungen der Leitfähigkeit, des osmotischen Druckes, der spezifischen chemischen Reaktionsfähigkeit der Säuren und Basen, weiter dann die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe bis dahin unerklärliche Phänomene, wie die Unabhängigkeit der Neutralisationswärmen von der chemischen Natur der Reaktionsstoffe einleuchtend zu deuten, die glatte Aufklärung der Anomalien beim Kohlrauschschen Summationsgesetz der Leitfähigkeit usf., brachten der Hypothese in den ihrer Aufstellung folgenden Jahren allmählich uneingeschränkte Anerkennung.

Es liegt auf der Hand, daß ein gleichzeitiges Auftreten zweier so einschneidender neuer Theoreme der Forschung die weitgehendsten Aufgaben stellte. In der Tat läßt sich ein großer Teil der physikalisch-chemischen Arbeit des letzten Vierteljahrhunderts auf experimentelle Prüfung, Ausbau und Weiterentwicklung der in der Lehre vom osmotischen Druck und der Theorie der elektrolytischen Dissoziation ruhenden Gedanken zurückführen. Die weiteren Ausführungen werden dies dartun.

Molekulargewichte gelöster Stoffe.

Die auf Grund der Lehre vom osmotischen Druck erfolgte Übertragung der Avogadroschen Regel auf den gelösten Zustand eröffnete zunächst der Chemie die lang ersehnte Möglichkeit, die Molekulargewichte auch der zahlreichen Stoffe festzustellen, die sich nicht vergasen, wohl aber lösen lassen. Es genügten hierzu die Bestimmung des osmotischen Druckes einer Lösung oder bequemer der dem osmotischen Druck proportionalen Änderungen des Dampfdruckes, Gefrierpunktes oder Siedepunktes. Hauptsächlich durch die jahrelangen Bemühungen Beckmanns wurde der Wissenschaft das zunächst nötige Rüstzeug in Form einer zuverlässigen, unschwer zu handhabenden Apparatur zur Ausführung dieser Messungen zugeführt und nachdem weiter, durch Untersuchungen von Beckmann, Eykman u. a. der Einfluß der Natur der verschiedenen Lösungsmittel klargelegt war, konnten alle Zweige der Chemie von diesem neuen Mittel der Molekulargewichtsbestimmung zu ihren Zwecken in weitestem Umfange praktischen Gebrauch machen. Ebenso ermöglichten solche Bestimmungen, unter Umständen in Kombination mit Messungen anderer Eigenschaften, der physikalischen Chemie theoretisch bedeutsame, weitgehende Schlüsse über den Molekularzustand der Körper in Lösungen.

Erfolge der Dissoziationstheorie.

Entsprechend reich sind die Früchte der Arrheniusschen Theorie der elektrolytischen Dissoziation während des letzten Vierteljahrhunderts. Ihre Anschauungen und Ergebnisse [1323] wirkten im Gesamtgebiet hauptsächlich der anorganischen und der analytischen Chemie teilweise fundamental umgestaltend; eine Anzahl bekannter, aber allgemein nicht recht deutbarer Erscheinungen wurden aufgeklärt und sogar quantitativer Berechnung zugänglich. So gab, um nur ein Beispiel anzuführen, Arrhenius (1890), ausgehend von der durch Kohlrauschs Arbeiten festgestellten Tatsache, daß das Wasser selbst ein allerdings sehr schwach zerfallener Elektrolyt ist, eine die Erscheinungen der Salzhydrolyse vollständig erklärende umfassende Theorie. Die grundlegende Zahlenkonstante dieser Theorie, der Dissoziationsgrad des Wassers, fand sich im Experiment auf den verschiedensten ganz unabhängigen Wegen, aus der direkt gemessenen Leitfähigkeit des Wassers (Kohlrausch und Heydweiller 1894), aus der Esterifikationsgeschwindigkeit im reinen Wasser (Wijs 1893), aus der elektromotorischen Kraft der Säure-Alkalikette (Ostwald 1893) und aus der Salzhydrolyse selbst (Arrhenius 1893, Kanolt 1907) der Höhe nach vollständig übereinstimmend. Eine überraschend glänzende Bestätigung der ganzen Theorie der elektrolytischen Dissoziation.

Affinitätskonstante und Körperkonstitution.

Wie die eingehenden Untersuchungen Ostwalds (1888) ergaben, erhält man aus den an schwächeren Säuren in verschiedenen Verdünnungen experimentell ermittelten Dissoziationsgraden, unter gleichzeitiger Anwendung des Massenwirkungsgesetzes von Guldberg und Waage auf das in den Säurelösungen bestehende elektrolytische Gleichgewicht, auf rechnerischem Wege eine Konstante, deren von der wechselnden Verdünnung unabhängiger Zahlenwert die betreffende Säure ihrer Stärke und Reaktionsfähigkeit nach völlig charakterisiert. Diese „Affinitätskonstante“ der Säure – und das gleiche hat Bredig 1894 für Basen dargetan – hängt ihrer Größe nach enge zusammen mit dem Aufbau der Elektrolytmolekel. Die Arbeiten Ostwalds und später Wegscheiders (1902) erweisen die Zahlenwerte dieser Konstante als so unveränderlich verknüpft mit der Art der in den betreffenden Körpern vorkommenden Atomgruppen, daß von Säuren oder Basen, die nicht experimentell gemessen, unter Umständen sogar nicht einmal dargestellt sind, wofern man nur Einblick in ihren chemischen Aufbau hat, ohne weiteres chemische Stärke und Reaktionsfähigkeit, und zwar ziffermäßig ausgedrückt, mit Hilfe jener Zahlenwerte sicher sich voraussagen lassen.

Osmotische Theorie der galvanischen Stromerzeugung.

Unmittelbar mit der Lehre vom osmotischen Druck und der Dissoziationstheorie hängt eine andere Theorie zusammen. die auf ihrem Sondergebiete, der Umwandlung chemischer Energie in elektrische, einschneidenden Einfluß geübt hat, die von Nernst 1889 aufgestellte osmotische Theorie des galvanischen Elementes. Allerdings verfügte die Wissenschaft bereits über die Helmholtzsche thermodynamische Theorie; diese lehrte, wie aus einem thermischen Werte, der Wärmetönung des in der galvanischen Kette sich abspielenden chemischen Vorgangs, und aus dem Temperaturkoeffizient der Elementspannung die elektromotorische Gesamtkraft des Elementes, also seine verfügbare elektrische Energie, sich berechnen läßt. Es fehlte aber eine speziell chemische Theorie, die unter Zerlegung [1324] der Gesamtvorgänge, die Vorgänge an den Einzelelektroden mit der chemischen Natur der dort wirkenden Stoffe in Zusammenhang gebracht hätte. Nernst leitete nun auf Grund der Dissoziationstheorie, unter gleichzeitiger Anwendung der Lehre vom osmotischen Druck auf die im Element wirksame Ionenlösung, aus thermodynamischen Betrachtungen eine Formel ab, die die zwischen Metall und Elektrolyt auftretende Spannung einerseits zur Ionenkonzentration des Elektrolyten, andererseits zu einer den verschiedenen Metallen eigentümlichen Konstante in zahlenmäßige Beziehung bringt. Kennt man zwei der betreffenden Werte, so wird der dritte der Berechnung zugänglich. Diese Theorie umfaßt, wenn man die gleichfalls von Nernst (1889) gegebene Theorie der Flüssigkeitsketten hinzuzieht, alle aus Metallen und Elektrolyten zusammengesetzten Elemente und gewährt gleichzeitig in den ganzen Mechanismus der Stromerzeugung auf chemischem Wege einen höchst anschaulichen Einblick. Auch die Konzentrations- und Gasketten zieht sie in ihren Bereich, durch sie erklärt sich das Phänomen der anomalen Spannungen, sie erhellt die komplizierten Erscheinungen der galvanischen Polarisation. Zahlreiche Experimente bestätigten die Folgerungen der Theorie durchweg; diese fand immer mehr Anwendung zur Lösung chemischer Fragen, so zum Studium der Verhältnisse der Elektrolytlösungen, zur Erforschung der Bildung und des Zerfalls von Komplexkörpern, zur Messung der Löslichkeit äußerst schwerlöslicher Salze, als zuverlässiger Wegweiser bei elektrochemischen Arbeiten analytischer und synthetischer Art: kurz sie entwickelte sich im Laufe der Berichtszeit zu einem festen Grundpfeiler der heutigen Elektrochemie.

Wenden wir uns nunmehr zu den Fortschritten in anderen Gebieten der physikalischen Chemie.

Allgemeinste Eigenschaften der Materie.

Ein besonders für die Chemie wichtiges Grundgesetz, das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes, wurde in der Berichtsperiode einer experimentellen Prüfung unterzogen. Außer Heydweiller (1901) u. a. hat vorzugsweise H. Landolt diese Frage behandelt. In mühevollsten, neun Jahre (1899–1908) beanspruchenden Arbeiten stellte er fest, daß die bei chemischen Umsetzungen etwa eintretenden Änderungen des Gesamtgewichts ein Zehnmilliontel des Gewichts der umgesetzten Substanz nicht übersteigen. Damit sind die äußersten, dem direkten Versuche gesteckten Grenzen erreicht; Stoffverluste noch kleinerer Größenordnung, die nach den neuesten Anschauungen bei von Elektronenaussendungen begleiteten chemischen Vorgängen auftreten müssen, liegen weit unterhalb dieser Grenzen und entziehen sich der direkten Messung. Kein anderes Naturgesetz, angenähert vielleicht das Gesetz von Faraday, hat bis jetzt eine so scharfe unmittelbare experimentelle Prüfung erfahren und in so weitem Umfang bestanden wie der Satz von der Beständigkeit der Materie.

Die alte Streitfrage, ob die Materie kontinuierlich zusammenhängend oder aber diskret verteilt sei, also aus kleinsten Teilchen, Atomen und Molekeln, bestehe, ist in der Berichtszeit durch experimentelle Nachweise physikalischer Art, auf verschiedenen hier nicht auseinanderzusetzenden Wegen mit nahezu ausreichender Sicherheit [1325] zugunsten der letzteren Annahme, der körnigen Struktur der Materie, entschieden worden. Dieser Sieg der Atomistik ist auch für die physikalische Chemie bedeutungsvoll. Denn wie die Chemie im ganzen ihre gewaltige Entwicklung zu einem guten Teil dem konsequenten Gebrauch und Ausbau der Atom- und Molekulartheorie, ihres ständigen Rüstzeuges, zuschreiben darf, so erwuchsen auch der physikalischen Chemie ihre Erfolge, ebensosehr wie aus dem hypothesenfreien Boden der Thermodynamik, aus Überlegungen molekulartheoretischer Art. Aber die immerhin hypothetische Grundlage dieser letzteren Schlußweise erweckte bei Manchem Bedenken und drückte den Wert der Ergebnisse. Jetzt, nachdem die reale Existenz der Molekeln fast zur Tatsache geworden, kann neben die thermodynamische Betrachtung die kinetische gleichwertig hintreten, eine um so mehr zu begrüßende Wendung, als der Kinetik manche Gebiete – es sei erinnert an die in der Zeit verlaufenden chemischen Vorgänge – offenstehen, die der reinen Thermodynamik verschlossen sind.

Aggregatzustände.

Die gebräuchliche scharfe Gruppierung der Stoffe in feste, flüssige, gasförmige hat gewisse Einschränkungen erfahren müssen. Schon früher hatten die Andrewsschen Versuche (1869) über die kritischen Erscheinungen die Grenzen zwischen gasförmigen und flüssigen Körpern verwischt, und van der Waals konnte (1881) die „Kontinuität“ des gasförmigen und flüssigen Zustandes in bewundernswerter Weise theoretisch behandeln. Neuerdings schlugen dann mannigfache Erfahrungstatsachen weiter eine Brücke vom flüssigen zum festen Aggregatzustande insofern, daß sie die amorphen, also nicht kristallisierten festen Körper als unterkühlte Flüssigkeiten von sehr großer innerer Reibung ansehen ließen (Tammann 1903). Und endlich scheint es, als ob den in der Abteilung „fest“ dann allein noch übrigen Kristallen ihr bedeutsamstes spezifisches Charakteristikum, die optische Anisotropie, auch nicht mehr ausschließlich vorbehalten bleiben sollte, seitdem auch „flüssige Kristalle“ gefunden wurden. Diese optisch anisotropen Flüssigkeiten, deren Verhältnisse hauptsächlich durch O. Lehmann, Schenk, Vorlaender, Bose studiert wurden, erregten berechtigte Aufmerksamkeit, wenngleich manche ihrer Eigentümlichkeiten trotz vieler Bemühungen einer einwandfreien Deutung bis jetzt entbehren.

Besondere Zustände des Stoffes.

Einer besonderen Aufmerksamkeit erfreute sich das Studium des merkwürdigen Stoffzustandes, den Graham in seinen grundlegenden Untersuchungen (1862) als Kolloidzustand bezeichnete. Sehr viele Stoffe vermögen in Lösungen diesen Zustand anzunehmen. Im Gegensatz zu den typischen klaren Lösungen sind solche „kolloidale Lösungen“ mehr oder weniger trüb, und der gelöste Stoff kann durch verschiedene Mittel, durch Zusätze, Temperaturerhöhung, Einwirkung des elektrischen Stromes zur Ausscheidung gebracht werden. Die Untersuchungen von Siedentopf und von Zsigmondy (1903) lieferten den Beweis dafür, daß in solchen Lösungen die Materie in sehr feiner Verteilung sich befindet, einer Verteilung, die mittels des Ultramikroskops direkt beobachtet und bis zu einem gewissen Grade gemessen werden konnte. Die Dimensionen der Teilchen [1326] nähern sich unter Umständen den molekularen Dimensionen der Stoffe, wie sie nach der kinetischen Theorie in den typischen klaren Lösungen anzunehmen sind. Die kolloidalen Lösungen bilden also das Zwischenglied zwischen den typischen Lösungen und den gewöhnlichen Aufschlemmungen und verbinden so die letzteren mit den ersteren, durch alle möglichen Übergangsformen hindurch, zu einer stetigen Reihe. Die dispersen Stoffteilchen der kolloidalen Lösungen zeigen alle das Brownsche Phänomen der spontanen Eigenbewegung und die eingehenden experimentellen und theoretischen Untersuchungen dieser Bewegung, die nach den verschiedensten Richtungen in ausgezeichneter Weise hauptsächlich durch Perrin (1908–1910), Svedberg (1909–1910), Seddig (1909) ausgeführt wurden, haben an der im vorhergehenden Abschnitt erwähnten experimentellen Begründung der Atomistik wesentlichen Anteil.

Der metallische Zustand des Stoffes hat nach vielfacher Richtung hin eingehende Bearbeitung gefunden. Bestimmungen des Molekulargewichts, nach van’t Hoffs Lehren an Lösungen von Metallen in Metallen durch Ramsay, Tammann, Heycock und Neville (1889) unternommen, ergaben das Molekulargewicht der meisten Metalle als dem Atomgewicht gleich, diese Metalle also als „einatomige“. – Sehr ausgedehnte, ergebnisreiche, über eine Reihe von Jahren sich erstreckende Arbeiten über Metalllegierungen und die Art der dabei entstehenden Verbindungen verdanken wir Tammann (1908). Er bediente sich zur Aufdeckung der hierbei auftretenden Vorgänge in der Hauptsache der „thermischen Analyse“, d. h. der Verfolgung der Abkühlungskurven, unter theoretischer Diskussion der Ergebnisse auf Grund der Lehre vom heterogenen Gleichgewicht, die selber während der Berichtsperiode umfassend sich entwickelt hat. Das umfangreiche Beobachtungsmaterial führte zur Ausdehnung der Mitscherlichschen Lehre von der Isomorphie auf Elemente und zu bedeutsamen Schlußfolgerungen über Isomorphismus und Verbindungsfähigkeit von Metallen. Liebenow gab (1897) eine einleuchtende Theorie der elektrischen Leitfähigkeit von Metallegierungen.

Feste Gemische.

Über die Mischbarkeit fester Stoffe sind viele Untersuchungen angestellt worden. Die Fähigkeit zweier kristallisierter isomorpher Stoffe, miteinander Mischkristalle zu bilden, war der Gegenstand ausgedehnter Arbeiten von Retgers (1889-1892). Für feste Gemische anderer Art hat van’t Hoff (1890) die Bezeichnung „feste Lösungen“ in die Wissenschaft eingeführt. Gemische dieser Art sind z. B. die Metallegierungen, die bereits im vorigen Abschnitt berührt wurden, aber die Bildung fester Lösungen ist nicht etwa auf die Metalle beschränkt. Den festen Lösungen geht die gegenseitige Vertretung der Kristallmolekeln ab, wie sie bei isomorphen Mischungen statthat, sie sind wahre homogene Lösungen, analog den typischen flüssigen Lösungen, nur festen Aggregatzustandes. Daher lassen sich in ihnen gerade wie in flüssigen Lösungen Diffusionserscheinungen beobachten, die den isomorphen Mischkristallen abgehen. Auf Grund dieser Analogien konnte van’t Hoff die Gesetze des osmotischen Druckes der Lösungen auch auf diese festen Gebilde übertragen, aber das Beobachtungsmaterial ist noch wenig ausgedehnt, und die Versuche, aus festen Lösungen Molekulargrößen fester Körper zu erschließen, begegnen noch Bedenken.

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Flüssige Stoffe.

Es hat sich ergeben, daß die Molekulargröße mancher Stoffe im flüssigen Zustand größer ist als im Dampfzustande. Man hat dies aus dem Umstande schließen können, daß solche Flüssigkeiten – meist sind es Körper, die Hydroxylgruppen in der Molekel führen – Abweichungen von sonst allgemein geltenden Regelmäßigkeiten zeigen, so in erster Linie von der Eötvösschen Regel (1886) über die Konstanz des Temperaturkoeffizienten der molekularen Oberflächenenergie (Ramsay und Shields 1893), weiter von den allgemeinen Siedepunktsregelmäßigkeiten (Vernon 1891), von der Trouton-Nernstschen Regel über die Konstanz des Quotienten aus molekularer Verdampfungswärme und absoluter Siedetemperatur, endlich auch von dem Durchschnittswert des nach den Angaben von J. Traube zu berechnenden „Kovolums“ der Molekularvolumina. Während die Erscheinung der Assoziation danach mit Sicherheit festgestellt ist, hat sich der Grad der Assoziation, d. h. die Zahl der Molekeln, die sich in einem bestimmten Körper zu einer einzigen Molekel zusammengeschlossen haben, bis jetzt nur in gewisser Annäherung ermitteln lassen.

Eine sehr wichtige Eigenschaft der „normalen“, d. h. der im flüssigen Zustand nicht assoziierten Stoffe hat Tammann gefunden (1911). Beim Kristallisieren, also Übergehen in den festen Zustand, ändern die „normalen“ Substanzen ihr Molekulargewicht nicht. Damit hat das alte Problem der Bestimmung der Molekulargröße der Körper im festen anisotropen Zustande eine teilweise Lösung erfahren: das Molekulargewicht einer Substanz im kristallisierten Zustande ist das gleiche wie im Dampfe, falls die Substanz im flüssigen Zustande sich der Eötvösschen Regel fügt.

Physikalische Eigenschaften und Körperkonstitution.

Die Erforschung der Beziehungen zwischen physikalischen Eigenschaften und molekularem Bau der Körper bildet ein weites, besonders früher mit einer gewissen Vorliebe behandeltes Gebiet der physikalischen Chemie. Auch in die Berichtsperiode fallen mannigfache dahin gerichtete Untersuchungen, auf die aber im einzelnen nicht eingegangen werden kann. Im allgemeinen haben die Ergebnisse die frühere Erfahrung bestätigt bzw. mit besonderer Deutlichkeit hervortreten lassen, daß Additivität der Eigenschaften, auf die man zunächst stets das Augenmerk zu richten pflegt, überhaupt nicht besteht, höchstens in allererster Annäherung. Alle physikalischen Eigenschaften hängen nicht nur additiv mit Zahl und Art der Atome zusammen, sondern ebensosehr mit der Konstitution der Molekel, sie sind konstitutiv. Und in dem Maße wie unsere Kenntnis der feineren Konstitutionsverschiedenheiten wächst, steigt auch die Schwierigkeit, deren Einflüsse auf die physikalischen Eigenschaften messend festzulegen.

Verwandtschaftslehre.

Die Fortschritte auf dem Gebiete der Verwandtschaftslehre sind so zahlreich und vielseitig, daß eine einigermaßen befriedigende Darstellung an dieser Stelle unmöglich ist. Nur einige Andeutungen mögen hier Platz finden.

Besonders eingehend wurden, vorwiegend in neuester Zeit, die Gleichgewichtsverhältnisse der Gasreaktionen studiert. Zahlreiche vorbildliche Arbeiten von [1328] Nernst und seinen Mitarbeitern, sowie von Haber, Bodenstein, Schenk u. a. brachten große Fortschritte in experimenteller und theoretischer Beziehung. Eine große Reihe einschlägiger Untersuchungen bezogen sich weiter auf heterogene Gleichgewichte mit einer flüssigen Phase. Hier sind zu nennen die grundlegenden Arbeiten von van’t Hoff und seinen Mitarbeitern (1887–1895) über die Bildung und Spaltung von Doppelsalzen. An diese reihen sich die umfassenden Forschungen von van’t Hoff, Meyerhoffer u. a. über die Gleichgewichtsverhältnisse bzw. Existenzbedingungen der in den Staßfurter Salzlagern vorkommenden Doppelsalze. Sie fanden nach einer Arbeitszeit von 10 Jahren in dem Werke van’t Hoffs „Zur Bildung der ozeanischen Salzablagerungen“ (1909) Abschluß und Zusammenfassung. Weitere Untersuchungen an analogen heterogenen Gleichgewichten mit einer flüssigen Phase wurden von Bakhuis Roozeboom, Schreinemakers u. a. ausgeführt. Ein von Willard Gibbs auf theoretischem, thermodynamischem Wege entdecktes Gesetz, die „Gibbssche Phasenregel“ gewann für das Studium solcher heterogenen Gleichgewichte einschneidende Bedeutung. Experimentell vollständig bestätigt, dient sie jetzt auch in den verwickeltsten derartigen Gleichgewichtsfällen als stets sicherer Führer, wenn auch ihre Bedeutung für Gleichgewichte anderer Art zeitweise überschätzt wurde.

Auch unseren Kenntnissen von der Reaktionsgeschwindigkeit ist in der Berichtszeit Wesentliches zugewachsen. Noyes und seine Mitarbeiter (1896–1898) sowie Donnan und Rossignol (1903) brachten die bis dahin noch ausstehenden experimentellen Bestätigungen der grundlegenden Differentialgleichung des zeitlichen Reaktionsverlaufs für tri- und höhermolekulare Reaktionen. Mentschutkin (1890) studierte eingehend den Einfluß des Mediums auf den zeitlichen Verlauf eines sich zwischen gelösten Stoffen abspielenden Vorgangs; nach gleicher Richtung gehen die Arbeiten von Buchboeck (1897) und Tubandt (1907). Die Wirkung von Katalysatoren, d. h. von Substanzen, die die Reaktionsgeschwindigkeit beeinflussen, ohne daß infolge des Vorgangs ihre eigene Menge sich änderte, wurde besonders von Bredig und seinen Mitarbeitern untersucht (1905). Kolloidale Metallösungen, insbesondere Platinmetallösung, zeigten sich als sehr wirksame Reaktionsbeschleuniger (Bredig 1899).

Das große Problem der Messung der chemischen Affinität wurde in letzter Zeit durch die Aufstellung des Nernstschen Wärmetheorems von einer neuen Seite aus angefaßt. Seitdem die theoretische Chemie mit van’t Hoff die maximale Arbeit, welche ein chemischer Prozeß liefern kann, als Maß der Affinität dieses Prozesses betrachtet, ist die Affinitätsmessung auf die Bestimmung dieser maximalen Arbeit zurückgeführt. Die beiden Verfahren, über die die physikalische Chemie bis jetzt hierfür verfügte, liefen darauf hinaus, entweder die Konstante des beim Ablauf der Reaktion sich einstellenden Gleichgewichts zu ermitteln, denn diese ist mit dem Arbeitsmaximum des Prozesses direkt verknüpft, oder aber den Prozeß in einem reversibel arbeitenden galvanischen Element sich abspielen zu lassen und die auftretende elektromotorische Kraft zu messen, die dann unmittelbar den Wert der Arbeit ergibt. Beide Verfahren waren nicht in allen Fällen anwendbar. Der von Nernst (1906) thermodynamisch abgeleitete neue Satz ermöglicht es nun, den Wert für die Affinität aus, prinzipiell wenigstens, leicht zugänglichen [1329] thermischen Daten zu erschließen, aus der Wärmetönung des chemischen Prozesses und den spezifischen Wärmen der Reaktionsstoffe. Die auf Grund dieses Theorems gemachten Berechnungen stimmen mit der Erfahrung wohl überein, selbst bei Einführung von Näherungswerten, wie es die mangelhafte Kenntnis der spezifischen Wärmen in manchen Fällen vorläufig noch nötig macht.

Durch dieses Theorem von weittragendster Bedeutung für die künftige Forschung erscheint die quantitative Beziehung zwischen Wärmetönung und freier Energie chemischer Prozesse, die das frühere Berthelotsche „Prinzip der maximalen Arbeit“ nur unbefriedigend darzustellen vermochte, endgültig aufgehellt.

Eine Reihe von Gebieten der physikalischen Chemie konnte im vorstehenden nicht berührt werden, eine große Zahl von Arbeiten ausgezeichneter Forscher erfuhr nicht die gebührende Würdigung oder mußte sogar ganz unerwähnt bleiben. Die Gründe hierfür sind eingangs auseinandergesetzt. Aber trotzdem können die kurzen Darlegungen dem Fernerstehenden vielleicht gewisse Einblicke vermitteln, wenn nicht in den ganzen Umfang des Gebietes, so doch wenigstens in seine Eigenart, seinen Forschungsstoff, seine Arbeitsweise und die Richtlinien, nach denen diese Arbeit im letzten Vierteljahrhundert in der Hauptsache sich vollzogen hat. Dann hätte diese Zusammenstellung, bei aller Lückenhaftigkeit, die Absichten des Buches immerhin einigermaßen erfüllt.

Nur eine Bemerkung noch über Stellung und Bedeutung der physikalischen Chemie in der Neuzeit mag zum Schlusse nicht unterdrückt werden. Man hat ihr Forschungsgebiet vielfach als das Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie bezeichnet. Diese Bezeichnung hatte früher vielleicht eine gewisse Berechtigung, nicht mehr aber, seitdem die moderne Entwicklung der physikalischen Chemie voll eingesetzt hat. Seit dieser Zeit, beginnend etwa mit dem Anfang der Berichtsperiode, entwickelte sich die physikalische Chemie aus einem abseits liegenden Sondergebiet, das der Chemiker pflegen oder auch mehr oder weniger unberücksichtigt lassen konnte, mehr und mehr zur allgemeinen Chemie. Ihre Grundsätze und Anschauungen drangen, langsam zwar, doch stetig und sicher, in die verschiedensten Zweige der Chemie ein, die Fülle der Erscheinungen unter allgemeine Gesichtspunkte ordnen lassend, die Forschungen selbst anregend, stützend und befruchtend. Und so wird in zukünftiger Weiterentwicklung diese allgemeine Chemie sich allmählich immer mehr ausbilden zur einheitlichen Grundlage, aus der die zahlreichen Zweige der Chemie herauswachsen, anderseits auch zum gemeinsamen Bande, das die naturgemäß auseinanderstrebenden Sonderzweige fest miteinander zum einheitlichen Ganzen der chemischen Wissenschaft verknüpft.