Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Kalisch
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Pariser Bilder und Geschichten
T. F.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 438–441
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[438]
Pariser Bilder und Geschichten.


T. F.


Von Ludwig Kalisch.


Als ich voriges Jahr an einem heißen Junitage meine Wohnung verließ, begegnete ich einige Schritte von derselben einem Leichenzuge, der sich von der Rue Notre Dame de Lorette nach dem Kirchhof Montmartre bewegte. Dem Leichenzuge folgten etwa zehn Personen, unter welchen ich einen meiner Freunde bemerkte, den ich seit langer Zeit nicht gesehen hatte. An seiner Seite befand sich sein Sohn, ein junger Mann, den linken Arm in einer Schärpe tragend. Beide gingen als Leidtragende dicht hinter dem Sarg einher, was mir auffiel. Der Verstorbene, sah ich, konnte kein naher Verwandter meines Freundes gewesen sein, der sehr vermögend ist und einer sehr geachteten Familie angehört; der Sarg stand aber in einem Wagen vierter Classe, in einem Armenwagen; und die paar Leute, die denselben begleiteten, hatten ein ärmliches Aussehen. Ich näherte mich meinem Freunde, der mich bereits bemerkt hatte und meinen fragenden Blick mit der Einladung beantwortete, ihn bald zu besuchen.

Ich fand ihn, als ich mich nach einigen Tagen bei ihm einstellte, in seinem Gartenhause. Nach den ersten Begrüßungen und nachdem wir über die furchtbaren Ereignisse gesprochen, von denen Frankreich seit einem Jahre heimgesucht worden, berührte ich den Leichenzug und fragte ihn, warum sein Sohn den Arm in einer Schärpe trage?

„Setzen Sie sich,“ antwortete er, „und hören Sie geduldig zu, denn ich muß weit ausholen.“

Nachdem ich ihm gegenüber Platz genommen, begann er:

„Mein Vater war ein ebenso thätiger, als umsichtiger und wohlwollender Mann. Er hatte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient; denn er begann seine Laufbahn[WS 1] als armer Arbeiter und brachte es durch Fleiß und Redlichkeit, durch Sparsamkeit und intelligente Benutzung jeder günstigen Gelegenheit so weit, eine Maschinenfabrik in Belleville gründen zu können, die immer mehr an Ausdehnung gewann. Gegen Ende der zwanziger Jahre beschäftigte er an vierzig Arbeiter. Er behandelte dieselben, wie ein Vater seine Kinder behandelt, und wenn sich Einer von ihnen durch Tüchtigkeit besonders auszeichnete, so unterließ er nichts, um ihm zu einer selbständigen Stellung zu verhelfen.

Unter seinen Arbeitern befand sich damals ein Mann, der in jeder Beziehung sich vor den Anderen hervorthat. Robert Fleurant, so hieß der Arbeiter, hielt sich von seinen Cameraden, gegen die er sich gefällig und zuvorkommend zeigte, doch sehr abgeschlossen. Er verkehrte außerhalb der Werkstätte nicht mit ihnen und knüpfte auch mit keinem derselben ein längeres Gespräch an. Seine Arbeit ließ nichts zu wünschen übrig. So hatte denn mein Vater alle Ursache, mit ihm zufrieden zu sein, und er äußerte ihm auch seine Zufriedenheit zu wiederholten Malen.

Ungefähr ein Jahr war seit dem Eintritt Fleurant’s in die Fabrik meines Vaters verflossen, da wird er eines Tages aus der Werkstatt gerufen. Ein Mann von finsterem Aussehen harrte seiner vor der Thür. Fleurant ging mit ihm in eine benachbarte Schenke und kam erst nach einer Stunde wieder in die Werkstätte zurück, wo er das Versäumte nachholte. Derselbe Besuch stellte sich bald wieder ein und Fleurant entfernte sich wieder mit dem Fremden. Das fiel meinem Vater auf. Er sagte jedoch nichts, bis diese Besuche in immer kürzern Zwischenräumen auf einander folgten, die Aufmerksamkeit der Arbeiter erregten und mancherlei kleine Störungen verursachten.

Eines Abends, als fast alle Arbeiter bereits die Werkstätte verlassen hatten, lud er Fleurant zu sich in sein Bureau ein und sagte ihm: ‚Sie wissen, Fleurant, wie oft ich Ihren Vorzügen meine Anerkennung zu Theil werden ließ; ich kann indessen nicht umhin, Ihnen jetzt meinen Tadel auszudrücken. Sie verlassen seit einiger Zeit die Arbeit zu häufig, und Ihr längeres Ausbleiben von der Werkstätte in der Mitte des Tages veranlaßt viel Gerede unter Ihren Cameraden. Ich bin ein billiger, ich bin aber auch ein gerechter Mann; ich kann also nicht allzu billig gegen Sie sein, ohne allzu streng gegen meine andern Arbeiter zu scheinen. Ich gestatte keinem derselben, während der Arbeitszeit sich zu entfernen, und ich darf mit Ihnen keine Ausnahme machen. Sie wissen, daß in der Werkstätte immer frisches Wasser und etwas Wein vorhanden ist, um den Durst zu stillen. Ich sehe nicht gern, wenn ein Arbeiter selbst nach vollbrachtem Tagewerke die Weinschenken aufsucht; daß er aber sogar noch während desselben stundenlang in einer Schenke zubringe, kann ich durchaus nicht erlauben. Unterlassen Sie künftig diese Ausschreitungen, und wir werden nach wie vor Freunde bleiben.‘

Er drückte dem Arbeiter die Hand, worauf sich dieser schweigend entfernte.

Während einiger Wochen ging Alles wieder gut. Fleurant verließ in der Arbeitszeit die Werkstätte nicht wieder, und um die vorgefallene Scene vergessen zu machen, war mein Vater jetzt womöglich noch freundlicher gegen ihn als früher, zumal Fleurant seine Kräfte zu verdoppeln schien. Bald aber stellte sich der fatale Besuch wieder ein. Fleurant folgte wieder dem räthselhaften Menschen und verbrachte mehrere Stunden mit ihm während des Tages. Mein Vater konnte sich diese Besuche nicht erklären, und noch weniger war es ihm erklärlich, warum Fleurant den Störer nicht abwies. Er war schon mehrere Male im Begriff, ihn zu einer Erklärung aufzufordern und, wenn ihm diese nicht würde, sogleich zu entlassen. Allein abgesehen davon, daß ein Fabrikbesitzer nicht so leicht einen vortrefflichen Arbeiter entläßt, zögerte mein Vater auch schon deshalb, den entscheidenden Schritt zu thun, weil Fleurant zu leiden schien. Er war traurig und niedergeschlagen, und wenn er Abends allein zurückblieb, um die ihm zugewiesene und unterbrochene Arbeit zu vollenden, bemerkte mein Vater, indem er durch das kleine, an der Thür seines Schreibzimmers angebrachte Guckfenster blickte, daß Fleurant oft in der Mitte der Arbeit plötzlich innehielt, sich mit der Hand über die Stirn fuhr und minutenlang vor sich hinstarrte. Mein Vater war von Mitgefühl für den Arbeiter bewegt, und nachdem er lange überlegt hatte, auf welche Weise er ihn zu einer Aufklärung bewegen konnte, ohne ihm wehe zu thun, trat er eines Abends in die Werkstätte und ersuchte ihn in den freundlichsten Worten, sich ihm mitzutheilen.

Fleurant, der an einer Drehbank stand, hatte ruhig zugehört. Er war bleicher als sonst und schien tief gerührt von der Milde meines Vaters. Man sah ihm an, daß in seinem Innern ein Kampf entstand. Seine Lippen bewegten sich krampfhaft; er zitterte am ganzen Leibe und konnte kein Wort hervorbringen. Endlich riß er, ohne sein Schweigen auch nur durch eine einzige Silbe zu unterbrechen, seine wollene Jacke auf und zeigte die entblößte Schulter, auf welcher die Buchstaben T. F. (Travaux forcés, Zwangsarbeit) eingebrannt waren.

Entsetzt prallte mein Vater zurück.

‚Ich begreife Ihr Entsetzen,‘ sagte er, ‚aber wenn ich auch [439] zu den Galeeren verurtheilt worden und nur die Verwesung das Schandmal auf meiner Schulter auszulöschen vermag, seien Sie fest überzeugt, daß ich kein gemeiner Verbrecher bin. Ein Augenblick wahnsinniger Leidenschaft hat mich zu einer furchtbaren That hingerissen, und ich büße diesen Augenblick durch ein Leben voll Schmach und Schande. Sie sind ein humaner Mann. Wenn Sie mein Schicksal kennten, Sie würden mich gewiß eher bemitleiden als verdammen! Wollen Sie mich anhören?‘

‚Reden Sie!‘ sagte mein Vater.

‚Ich bin,‘ begann Fleurant, ‚von rechtschaffenen Eltern in einer kleinen Provinzialstadt geboren. Mein Vater war Arbeiter, ein stiller, in sich gekehrter Mann und die Gewissenhaftigkeit selbst. Er ließ mich mein Handwerk lernen und überwachte mich mit Strenge, aber ohne Härte. Er starb, als ich kaum die Lehrjahre zurückgelegt. Meine arme Mutter folgte ihm bald nach in’s Grab. Ich machte die kleine Erbschaft, die ich als einziger Sohn antrat, zu Geld, ließ mich, nachdem ich mehrere Jahre in den Werkstätten verschiedener Städte gearbeitet, als selbstständiger Arbeiter in meiner Vaterstadt nieder und gründete einen eigenen Herd. Ich ließ es an Fleiß nicht fehlen und schreckte vor keiner Anstrengung zurück. Ich liebte mein Weib über Alles, und es gab kein größeres Glück für mich, als sie glücklich zu machen. Ich verweigerte ihr keinen Wunsch; ich that Alles, was ich ihr an den Augen absehen konnte. So vergingen drei Jahre. Eines Tages, als ich aus der Werkstatt in meine Wohnung trat, sah ich einen jungen Mann, den sie mir als ihren Vetter vorstellte und den ich als ihren nahen Verwandten mit aller Herzlichkeit aufnahm. Er hatte sich, wie meine Frau mir erzählte, einiger leichtsinniger Handlungen schuldig gemacht und auf Befehl der grollenden Eltern seine Vaterstadt verlassen. Schon um meiner Frau willen gewährte ich ihm die unbeschränkteste Gastfreundschaft. Er aß an unserem Tische, und meine Börse stand ihm stets offen. Von sehr einnehmendem Aeußern, besaß er auch angenehme gesellige Talente. Er hatte eine schöne Stimme, wußte über viele Dinge fesselnd zu sprechen, und seine gefälligen Manieren machten ihn überall beliebt. Nur wollte es mir nicht gefallen, daß er sich für keinen Beruf entschied, sich keiner ernsten Thätigkeit widmete und meine Gastfreundschaft als eine Sache, die sich von selbst versteht, monatelang in Anspruch nahm, ohne auch nur das geringste Unbehagen merken zu lassen, das eine abhängige Lage doch auf die Länge in einem zartfühlenden Menschen hervorrufen muß. Ich bemerkte dies meiner Frau und äußerte dabei, daß ich es gern sehen würde, wenn Eduard – so hieß ihr Vetter – sich zu irgend einer regelmäßigen, geordneten Thätigkeit entschlösse, um sein Brod zu verdienen und eine Selbstständigkeit zu erlangen, die jeder ehrenhafte Mann vor allen Dingen erstreben müsse.

Ich hatte diese Bemerkung gemacht, nicht sowohl, weil ich des Gastes überdrüssig war, sondern vielmehr, weil mir seine Unthätigkeit mißfiel und ich ihm wohlwollte. Meine Frau schien jedoch durch meine Worte verletzt, beantwortete dieselben durch einige beißende Bemerkungen und verließ das Zimmer. Als ich Abends von der Arbeit wieder heimkehrte, hatte der junge Mann bereits mein Haus verlassen. Meine Frau erwiderte meinen Gruß mit eisiger Kälte, und ich mußte ihr bei Tische jede Silbe abzwingen. Ich suchte sie durch die sanftesten Bitten zu begütigen. Nichts aber verschlug. Unser Hausfrieden war für immer dahin.

Mehrere Wochen vergingen. Der Groll, den meine Frau in den ersten Tagen nach dem Scheiden Eduard’s gezeigt, war gewichen; sie zeigte mir aber jetzt eine Gleichgültigkeit, die mich noch tiefer verletzte. Die Ordnung, die ehedem in meinem Hause geherrscht, verschwand immer mehr, und statt wie bisher nach gethaner Arbeit mich auf den Abend zu freuen, betrat ich jetzt, wenn ich aus der Werkstätte kam, mit schwerem Herzen meine Thürschwelle. Dies Leben ward mir am Ende unerträglich. Eines Tages vernahm ich, daß der junge Mann eine Wohnung in einem abgelegenen Stadttheil genommen und daß meine Frau ihn oft sähe. Tausend Furien regten sich in meinem Herzen. Ich stellte mich jedoch ruhig und gelassen. Am folgenden Tage unterbrach ich meine Arbeit, und als ich meine Frau nicht zu Hause antraf, begab ich mich nach der Wohnung Eduard’s. Ich horchte an der Thür; ich hörte die Stimme meines Weibes. Ich weiß noch heute nicht, wie ich in das Zimmer gelangte, wo ich über die mir widerfahrene Schmach keinen Zweifel mehr hegen konnte. Von wilder Wuth gepackt, ergriff ich ein Messer und – zu meinen Füßen verröchelte der Schänder meiner Ehre.

Ich suchte nicht der Gerechtigkeit zu entgehen, sondern lieferte mich selbst in ihre Hände. Meine blutige That wurde von ihr als Mord mit Vorbedacht erklärt und ich ward zu zehnjähriger Zwangsarbeit verurtheilt. Ich war aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, und die rächende Justiz sorgte dafür, daß ich nie wieder in dieselbe eintreten konnte, ohne mich als einen Auswurf der Menschheit, als ein von Allen zu fliehendes Scheusal betrachtet zu sehen. Der Henker brannte mir mit einem glühenden Eisen das unauslöschliche Schandmal auf die Schulter ein und ich wurde in’s Bagno von Brest abgeführt. Hier schor man mir sogleich das Haar kurz, auch mußte ich die rothe Jacke anziehen und die rothe wollene Mütze aufsetzen. An diese Mütze ward eine mit einer Nummer versehene Blechplatte befestigt. Ich hatte keinen Namen mehr; ich war jetzt nur eine Ziffer. Dies Alles war schrecklich genug; das Schrecklichste aber sollte noch kommen. Es wurde mir ein eiserner Ring um den Fuß geschmiedet und an diesen die schwere Kette gefügt, die mich nicht nur selbst, sondern auch an einen Andern fesseln sollte. Ich wurde nämlich mit einem Verbrecher zusammengekettet und von demselben nur während der Arbeit im Hafen und während der Tageszeit getrennt. Jeden Abend aber, unmittelbar bevor wir die Pritsche aufsuchen mußten, wurden unsere beiden Fesseln durch eine dritte verbunden, die sich an einem dicken eisernen, auf dem Steinboden angebrachten Ringe befand, so daß wir Beide aneinander und zugleich an den Boden gekettet waren. Alles, was ich bis jetzt gelitten, alle Körperqualen, alle Seelenleiden waren doch noch erträglich im Vergleich zu dem empörenden Gefühl, das der Geselle in mir erweckte, von dessen Seite ich nicht mehr kommen konnte. Er war wegen mehrerer Fälschungen verurtheilt worden und hegte einen solch tiefen Haß gegen die Menschheit, daß er tausend Rachepläne entwarf, die er nach seiner Freilassung auszuführen beschloß. Der Ekel, den dieser Mensch in mir erweckte, ist unbeschreiblich und ich war oft in Versuchung, meinem finstern Dasein ein Ende zu machen. Ich nahm mir indessen vor, kein Wort mehr mit ihm zu wechseln, und beharrte auf meinem Vorsatz.

Achtzehn Monate verstrichen auf diese Weise. In Anbetracht meines guten Betragens ließ man mich nun mit der sogenannten „Chaine-brisée“ arbeiten, mit der Kette nämlich, die über dem Schenkel am Gürtel, und unten am Knöchel an dem eisernen Ring befestigt ist. An einem Augusttage, als ich im Hafen arbeitete, sah ich etwa hundert Schritte von mir einen jungen Menschen in’s Wasser stürzen und schreiend gegen den Wellentod kämpfen. Ohne mich einen Augenblick zu bedenken, sprang ich in’s Wasser und es gelang mir, den Besinnungslosen an’s Ufer zu bringen, wo er sich bald erholte. Diese That wurde mir gut angerechnet, und am nächsten Geburtstag des Königs befand ich mich auf der Liste der Begnadigten.

Ich war wieder frei. Allein die Freiheit eines entlassenen Galeerensträflings ist nicht Freiheit zu nennen. Den Menschen flößt seine erlittene Strafe einen noch heftigeren Schauder ein, als sein Verbrechen. Wer ihn erkennt, flieht ihn wie die Pest. Unaufhörlich wird er von der Angst gefoltert, man könnte seiner Vergangenheit auf die Spur kommen, und nicht selten ist es gerade diese Angst, die ihn verräth. Ich kehrte nicht nach meiner Vaterstadt zurück, sondern ging sogleich nach Paris, wo ich verborgen lebte, bis mein Haar lang gewachsen war. Inzwischen hatte ich mir aus meiner Heimath eine Empfehlung zu verschaffen gewußt, die mich bei Ihnen einführte. Sie nahmen mich freundlich auf und es gelang mir, Sie zufrieden zu stellen. Ich vermied jeden engeren Umgang und suchte nach vollbrachter Arbeit meine vier Pfähle auf. Nach und nach kehrte ein stiller Frieden in mein Herz ein. Da begegne ich eines Abends auf dem Heimwege dem Elenden, mit dem ich im Bagno zusammengekettet gewesen. Ich wollte rasch um die Ecke biegen; es war zu spät. Er hatte mich erkannt und eilte auf mich zu mit den Worten: ‚Endlich find’ ich Dich, Camerad! Ich dachte mir’s, daß Du in Paris lebst und einen tugendhaften Wandel führst. Nun, Deine Tugend wird einem alten Bekannten einen kleinen Dienst nicht versagen. Ich brauche Geld.‘

Ich gab ihm, was ich in der Tasche hatte, und riß mich los.

[440] ‚Ich werde Dich zu finden wissen,‘ rief er mir nach. ‚Auf Wiedersehen!‘

Schon nach einigen Tagen lauerte er wir wieder auf und stellte abermals an mich dasselbe Begehren. Ich würdigte ihn keiner Antwort und eilte nach meiner Wohnung. Meine so lange ersehnte Ruhe war dahin. Mein Schicksal lag jetzt in den Händen des Verruchten, der mich am folgenden Morgen aus der Werkstätte rufen ließ und mir grinsend sagte, daß er mich Ihnen sogleich verrathen würde, wenn ich mich nicht mit ihm abfände. Wieder gab ich ihm, was ich besaß. Seine Besuche häuften sich, und was ich sauer verdiente, ging in seine Hände. Seine Einladungen, mich ihm anzuschließen und zum Diebe zu werden, wurden immer dringender und führten zu langen Unterredungen, die mich von der Arbeit zurückhielten. Ich erregte Ihre Unzufriedenheit und war in Verzweiflung. Wie oft wollte ich Ihnen, der Sie so wohlwollend gegen mich waren, Alles bekennen! Allein ich schauderte vor dem Schritte zurück, welcher Ihnen in dem Arbeiter, den Sie schätzten, einen entlassenen Galeerensträfling enthüllen sollte. Am Ende aber wurde mir das Verhältniß Ihnen gegenüber unerträglich. Ihr gegenwärtiger Besuch hat mich zur Entscheidung gedrängt.

Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen und scheide jetzt aus Ihrem Hause, um es nicht wieder zu betreten; seien Sie aber überzeugt, daß ich die Güte, die Sie mir bewiesen, niemals vergessen werde.‘

Er schwieg und wollte gehen. Mein Vater, auf’s Tiefste ergriffen und von Mitleid mit dem Unglücklichen bewegt, hielt ihn jedoch zurück.

‚Verlassen Sie nicht meine Fabrik,‘ sagte er ihm, ‚wo Ihnen ein Stück ehrlich erworbenes Brod gesichert ist, und stürzen Sie sich nicht in die Welt hinaus, wo Ihnen vielleicht nur die furchtbare Wahl zwischen Verbrechen und Selbstmord übrig bleibt. Versprechen Sie mir, sich morgen wieder zur Arbeit einzustellen, und lassen Sie mich für das Weitere sorgen.‘

Fleurant wollte noch einige Einwendungen machen; mein Vater drang ihm aber endlich das Versprechen ab und zog sich in sein Zimmer zurück, wo er eine schlaflose Nacht verbrachte. Am folgenden Morgen trug er seinem Bedienten auf, sorgfältig aufzupassen und ihn gleich davon zu benachrichtigen, wenn ein Mensch sich einstellte und nach Fleurant fragte, Diesem aber nichts davon zu sagen.

Fleurant kam am nächsten Tage zur Arbeit und wurde während einer Woche nicht weiter behelligt. Eines Nachmittags aber kündigte der Bediente meinem Vater an, daß der Mann, der so oft Fleurant besucht hatte, Diesen im Hofgange erwarte.

Mein Vater begab sich schnell in den Gang, und indem er dicht vor den unheimlichen Menschen trat, sagte er ihm: ‚Ich weiß, wer Ihr seid und was Euch zu diesem Besuche veranlaßt. Es hängt von mir ab, Euch sogleich den Händen der Justiz zu überliefern. Ich will Euch jedoch schonen. Merkt Euch aber, daß, wenn Ihr diese Schwelle wieder betretet oder sonstwo Euch Fleurant nähert, Ihr sogleich das lose Gewerbe zwischen dicken Mauern bereuen werdet!‘

Mit einem unverschämten höhnischen Blicke und mit einem leichten Achselzucken ging der Bursche seines Weges, und mein Vater war, wie er mir später selbst sagte, sehr zufrieden, ihn auf die erwähnte Weise abgefertigt zu haben. Er sah aber zu seinem tiefsten Leidwesen allzu bald, daß er sich überstürzt hatte; denn schon am andern Morgen theilte ihm sein Werkmeister mit, daß mehrere Arbeiter am gestrigen Abende durch einen Unbekannten die Vergangenheit Fleurant’s erfahren; jetzt wüßten es auch die Uebrigen und seien entschlossen, die Arbeit einzustellen, wenn er nicht sogleich entlassen würde. Die Verlegenheit meines Vaters war groß, und ohne zu wissen, welche Maßregeln er ergreifen müsse, um sich die Arbeiter zu erhalten und zugleich Fleurant nicht der Verzweiflung auszusetzen, befahl er dem Werkmeister, die Leute mit der Versicherung zu beruhigen, daß Alles zu ihrer Genugthuung geschehen würde.

Mein Vater, der den Unglücklichen hatte retten wollen, machte sich die bittersten Vorwürfe und malte sich dessen verzweiflungsvolle Lage mit den schwärzesten Farben aus. Während er nun am Abende in seinem kleinen Schreibzimmer sich der äußersten Niedergeschlagenheit überließ, trat Fleurant ein.

‚Sie wissen, daß der Niederträchtige mich verrathen,‘ begann er. ‚Ich habe die Werkstatt verlassen; aber bevor ich auf immer aus Ihrem Hause scheide, will ich Ihnen für die Theilnahme danken, die Sie mir bewiesen. Ich werde Ihre Menschenfreundlichkeit niemals vergessen.‘

Er wollte gehen.

‚Ich kann Sie so nicht scheiden lassen, Fleurant,‘ sagte mein Vater. ‚Ich habe mir Vorwürfe zu machen; denn ich habe unüberlegt gehandelt, und anstatt Sie zu retten, habe ich Sie vielleicht dem Untergange preisgegeben. Was gedenken Sie jetzt zu thun?‘

‚Ich weiß nicht,‘ erwiderte er, indem sein Gesicht sich verfinsterte.

‚Das ist’s eben, was mich beunruhigt,‘ sagte mein Vater. ‚Hier ist Ihres Bleibens nicht mehr,‘ fuhr er fort. ‚Gehen Sie nach der neuen Welt. Sie sind ein vortrefflicher Arbeiter und werden dort bald ein Unterkommen finden. Vielleicht gelingt es Ihnen dort, sich auf eigene Füße zu stellen. Nehmen Sie diese Summe, die Ihnen die Reise möglich machen wird.‘

Fleurant weigerte sich, das Geld anzunehmen, indem er bemerkte, daß er nicht entschlossen zu dieser Reise sei, und erst nach einer langen Unterredung nahm er es als Darlehn an. ‚Ich bin Ihr Schuldner,‘ sagte er, ‚und ich weiß nicht, ob ich jemals im Stande sein werde, diese Schuld abzutragen. Ich schwöre Ihnen aber, daß ich niemals, wie düster auch meine Zukunft sein möge, mich zu einem Verbrechen werde hinreißen lassen. Ich habe nur noch eine Bitte. Erlauben Sie mir, Ihnen schriftlich oder mündlich von mir Nachricht zu geben?‘

‚Mein Haus wird niemals einem rechtschaffenen Manne verschlossen sein,‘ sagte mein Vater.

‚Und nur als solchen werden Sie mich wiedersehen, wenn Sie mich jemals wiedersehen,‘ betheuerte Fleurant. –

Mehrere Monate verstrichen. Alles ging wieder in meinem väterlichen Hause seinen geregelten Gang. Mein Vater war überzeugt, daß Fleurant nach Amerika gegangen, als dieser eines Abends in’s Schreibzimmer meines Vaters trat.

‚Sie sind noch immer hier?‘ rief mein Vater erstaunt.

‚Ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen,‘ sagte Fleurant, indem er eine Geldrolle auf das Schreibpult legte. ‚Das ist indessen blos die Geldschuld,‘ fügte er hinzu; ‚denn was das Wohlwollen betrifft, das Sie mir bezeigt haben, dafür werde ich immer Ihr Schuldner bleiben.‘

‚Sie haben also ein Unterkommen gefunden?‘ fragte mein Vater.

‚Seit drei Monaten bin ich in der Brigade de Sureté angestellt.‘

Mein Vater fuhr erschrocken vom Sessel auf.

Die ‚Brigade de Sureté‘ war nämlich eine aus entlassenen Dieben und sonstigen abgefeimten Sträflingen zusammengesetzte Sicherheitspolizei, die unter dem Befehl des berüchtigten Vidocq stand und deren Späheraugen kein Verbrecher leicht entging.

‚Ich hätte Ihnen meine jetzige Thätigkeit verschweigen können,‘ sagte Fleurant, die Empfindung meines Vaters bemerkend; ‚allein ich achte, ich verehre Sie viel zu sehr, als daß ich Ihnen nicht die lautere Wahrheit gestehen sollte. Das Amt, das ich jetzt versehe, erstreckt sich indessen nicht auf Taschendiebe; noch viel weniger verstehe ich mich dazu, politische Gespräche zu belauschen und den Mouchard zu machen. Ich fahnde blos auf jene entlassenen, unverbesserlichen Galeerensträflinge, die sich in Paris herumtreiben, die Unglücklichen ausbeuten, die mit ihnen in den Bagnos gewesen, und diese vom Wege der Besserung abhalten und wieder zum Verbrechen verleiten wollen. Ich leiste dadurch der Gesellschaft einen Dienst und befriedige dabei – ich will es offen gestehen – ein unwiderstehliches Rachegefühl.‘

‚Sind Sie dem Menschen auf die Spur gekommen, der Sie aus meinem Hause trieb?‘ fragte mein Vater.

‚Sein Handwerk ist ihm gelegt. Er ist bereits seit drei Wochen in festem Gewahrsam und wird wohl eine lange Reihe von Jahren in demselben verbleiben,‘ sagte Fleurant.

‚Und fürchten Sie in Ihrer jetzigen Laufbahn nichts für Ihr Leben?‘ fragte mein Vater wiederum.

‚Ich bin stark und nicht ohne Waffen,‘ erwiderte Jener, einen langen Dolch aus einer Seitentasche ziehend.

‚Es ist doch kein Blut daran?‘ rief mein Vater entsetzt.

Bis jetzt noch nicht,‘ antwortete Fleurant.

[441] Meinem Vater war es ganz unheimlich zu Muthe. Er suchte die Unterhaltung abzukürzen, und als Fleurant schied, lud er ihn nicht zum Wiedersehen ein. Fleurant ließ sich auch niemals wieder sehen. In unserer Fabrik ward nach Jahren noch von ihm gesprochen, aber von Arbeitern, die ihn nicht gekannt. Man dichtete ihm allerlei Abenteuer an, so daß er endlich zum sagenhaften Helden wurde. Ich, der ich ihn als zwölfjähriger Knabe in unserem Hause gesehen, erinnerte mich seiner Gestalt noch sehr gut und ich hörte mit Interesse zu, so oft mein Vater von ihm sprach. –

Manches Jahrzehnt ist seitdem dahingeschwunden. Mein guter Vater ruht längst im Grabe, und bei der Sorge um eine zahlreiche Familie tauchten die Bilder aus meiner ersten Jugend immer seltener in meiner Erinnerung auf. Da brach der furchtbare, für Frankreich so verderbenvolle Krieg aus, und als ob dieser Krieg noch nicht genug des Unglücks, des Elends, des Jammers über mein armes Vaterland gebracht hätte, zerfleischten sich Frankreichs Söhne untereinander. Auf den blutigen Winter folgte ein blutigerer Frühling. Der Wonnemonat wurde für uns Pariser ein Monat des Schauders und des Schreckens. Der Donner der Kanonen, das Geknatter der Chassepotgewehre hatte die Vögel aus den blühenden Zweigen der Elyseischen Felder verscheucht, und wo sonst sich Schaaren fröhlicher Spaziergänger drängten, lagen jetzt Sterbende und Leichen durcheinander. Mit angstgequältem Herzen legte man sich zu Bette, und wenn der Morgen anbrach, sah man zitternd und zagend dem kommenden Tage entgegen. Die Stunde der Entscheidung rückte indessen immer mehr heran.

Es war Dienstag am dreiundzwanzigsten Mai. Man schlug sich im Faubourg St. Honoré und auf den Barricaden in der Rue Royale, wo bereits viele Häuser in Flammen standen. Mein Sohn hatte, ohne mich zu fragen, das Haus verlassen, um eine uns verwandte Familie zu besuchen. In der Rue St. Lazare wollte er wieder umkehren, als ein Föderirter ihn faßte und ihn zum Kampfe schleppen wollte. Beide rangen mit einander, und schon wollte der Föderirte von seiner Waffe Gebrauch machen, als ihm eine Faust in’s Genick fuhr und ihn bewußtlos zu Boden stürzte. In demselben Augenblick jedoch knallte ein Schuß, der dem Befreier meines Sohnes den rechten Schenkel verletzte und ihn taumeln machte, ohne ihm indessen die Geistesgegenwart zu rauben. Es war ein hochgewachsener, breitschulteriger Greis mit schneeweißen Haaren.

‚Tragt mich nach meiner Wohnung!‘ sagte er zu den Leuten, die inzwischen herbeigekommen. Mein Sohn, der sich im Zweikampfe den linken Arm verstaucht hatte, war einer Ohnmacht nah. Er ermannte sich aber und gewann einige Männer, die unter seiner Begleitung den Verwundeten nach seiner Wohnung in der Rue Maubeuge trugen. Diese Wohnung befand sich im fünften Stock und bestand aus einem kleinen Zimmer und einem Alkoven. Der Greis nannte sich François. Mein Sohn ließ sogleich einen Chirurgen kommen, der die Wunde verband und dieselbe nicht für gefährlich erklärte. Nachdem er auch seinen Arm verbinden lassen, empfahl er im Hause, seinen Lebensretter auf’s Sorgsamste zu pflegen, kehrte auf vielen Um- und Nebenwegen in’s Haus zurück und erzählte mir, was ihm widerfahren.

So gefährlich es auch war, an dem genannten Tage das Stadtviertel zu besuchen, in welchem der Verwundete wohnte, so besann ich mich doch nicht lange und eilte zu ihm, um ihm für die Rettung meines Sohnes zu danken. Ich fand ihn auf dem Bette liegend und eine Pfeife rauchend. Auf meine Danksagungen erwiderte er, daß er seine Pflicht gethan und nichts mehr, daß seine Wunde unbedeutend sei, da die Kugel blos einen Muskel gestreift.

Ich sagte ihm, daß es mich freue, dies zu vernehmen, daß die Gefahrlosigkeit seines Zustandes jedoch meine Dankbarkeit nicht vermindere. ‚Lassen Sie sich nichts abgehen!‘ schloß ich. ‚Ich werde Sie morgen wieder besuchen, und sollten Sie inzwischen etwas bedürfen, so schicken Sie nur zu mir.‘

Ich legte meine Karte auf den Tisch und nannte meinen Namen und meine Wohnung.

Kaum aber hatte ich meinen Namen ausgesprochen, als der Greis sich schnell aufrichtete und rief: ‚Sie sind George H …, der einzige Sohn des Fabrikanten Claude H …?‘

‚Der bin ich!‘ sagte ich.

‚So habe ich das Glück gehabt, die Wohlthaten des Großvaters an seinem Enkel zu vergelten!‘ rief er. ‚Ich bin Fleurant!‘

‚Sie nennen sich jetzt François?‘ fragte ich, nicht wenig überrascht.

‚Ich habe meinen Namen mehrere Male geändert,‘ sagte er mit einem Seufzer. ‚Ich heiße weder François, noch Fleurant.‘

Ich wollte keine unangenehme Erinnerungen in ihm erwecken und schwieg.

Er fing wieder an von meinem Vater zu sprechen und äußerte, daß dessen Tod ihm viel Kummer verursacht habe.

‚Sie wissen also, daß mein Vater gestorben?‘ fragte ich.

‚Ich habe der Beerdigung beigewohnt,‘ sagte er; ‚und ich glaube nicht, daß sein Tod irgend Jemandem mehr zu Herzen gegangen als mir.‘ –

Ich sah ihn jetzt täglich. Aber statt schnell zu genesen, wie ich gehofft, ward er täglich schwächer. Vor vierzehn Tagen sagte er ruhig, ja fast heiter: ‚Es geht mit mir zu Ende. Ich habe in einem Augenblick der Leidenschaft einen Mord begangen; doch habe ich zwei Menschen vom Tode gerettet. Ich hoffe, daß mir dies da oben gut angeschrieben ist. Glauben Sie nicht?‘

Ich nickte bejahend.

Als ich am folgenden Abend in seine Wohnung trat, fand ich ihn nicht mehr unter den Lebenden.

Sie wissen nun, wer der Mann war, dem ich mit meinem Sohne die letzte Ehre erwiesen.“

„Ihre Erzählung hat eine Lücke,“ bemerkte ich. „Was ist aus Fleurant’s Gattin geworden?“

„Er hat mir kurz vor seinem Tode zu wiederholten Malen eine alte, fast erblindete Frau dringend empfohlen,“ sagte mein Freund. „Ich habe dieselbe sogleich aufgesucht und sie aus ihrem engen Dachstübchen im Faubourg St. Antoine in eine Pension bringen lassen, wo sie ihre letzten Lebenstage sorgenlos zubringen wird. Den Schleier, der ihre Vergangenheit deckt, mag ich nicht lüften.“ –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Lufbahn