Norderney (Die Gartenlaube 1881/39)

Textdaten
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Autor: B.
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Titel: Norderney
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 644–647
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Norderney.

Eine Studie von der deutschen Nordseeküste.

Unter den Düneninseln, welche in geschlossener Kette sich an der hannöverschen Küste hinziehe und von denen die eine, Juist, dem „Gartenlauben“-Leser bereits früher (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 8) in Wort und Bild nahe gebracht wurde, ist Norderney die bekannteste, besuchteste, vornehmste. Sie war einmal „Hofnordseebad“, Hoflieferantin für die Gesundheitsbedürfnisse der hannöverischen Welfendynastie verflossenen Angedenkens, und damit zugleich natürlich officielles Seebad des Adels. Allein es schwebt um diese Insel auch ein literarischer Nimbus. Wer seinen Heine gelesen hat, oder auch nur jene galgenhumoristisch-farbenreiche Skizze Spielhagen’s in der Sammlung „Aus meinem Skizzenbuche“, der wird das empfinden.

Norderney: Villa Knyphausen und Villa Fresena.
Originalzeichnung von Fr. Schreyer.

Norderney ist wohl auch die größte dieser Inseln, obschon Maßverhältnisse bei diesen Kindern des Seesandes immer etwas Problematisches haben. Man findet sie Morgens unter Umstände ein halb Mal kleiner, als Mittags; die Fluth macht sie abnehmen, die Ebbe wachsen. Man könnte sie Mondinseln nennen. Wer sich gewissenhaft über die Große von Norderney zu unterrichten beabsichtigt, sieht sich voll Erstaunen vor die Thatsache gestellt, daß hier ein Buch die Länge der Insel auf fünf, dort eines auf sieben Viertelstunden, ja der getreue Eckart unserer reiselustigen Gegenwart, Bädeker, auf drei Stunden berechnet. Und während nach Letzterem die Insel zwei Stunden in der Breite mißt, schrumpft diese Breite in der Riefkohl’schen Monographie über Norderney auf „höchstens“ eine Viertelstunde zusammen.

Ueberlassen wir die Ausgleichung dieser immerhin erheblichen Unterschiede den Geographen von Fach, und versuche wir vor allen Dingen, auf die Insel selbst zu gelangen! Das ist nun freilich nichts weniger als schwierig. Nur die Wahl macht die Qual.

Wolle wir den Dampfer von Geestemünde-Bremerhaven aus benutzen? Täglich, ausgenommen Sonntags, ist Gelegenheit dazu; in – vier bis sieben Stunde sind wir da. Bequem ist die Fahrt auf dem stattlichen Dampfer; bei ruhiger See fährt das Fahrzeug des Norddeutschen Lloyd durch das offene Meer nördlich von der Inselreihe. Drohe dagegen Sturmwolke am Himmel, so arbeitet sich der Dampfer durch das seichte, stille Wattenmeer hin, links die festländische Küste, flach, oft wie mit dem Lineal gezogen, rechts blendendes Wasser, während am Horizont zuweilen die niederen Dünenreihen der Inseln auftauchen. Auch seekrank kann man werden, wenn ein tüchtiger Wind vom Jahdebusen her die nöthigen Wellen dazu liefert. Endlich, endlich –

Aber wollen wir nicht lieber von Emden durch den Dollart fahren, jenen unheimlichen Meerbusen, welcher wie eine Riesescylla an die vierzig Dörfer verschluckt haben soll?

Oder bequemer noch: wir fahren mit der Omnibusgelegenheit von Emden nach Norden und Norddeich. Dort harrt unser tagtäglich eine Ueberfahrtgelegenheit mit einem Dampfboot, welche uns nicht einmal eine Stunde, vielleicht nur eine halbe, auf der See hält.

Oder – wollen wir zu Wagen hinüber fahren?

Das ist eine einzige Fahrt. Von Norddeich geht es auf dem steinernen Damm hin nach dem Hilgenrieder Siel, durch von der Ebbe bloßgelegten Sand, durch Seewasser sogar, das bis über die Räder reicht und unheimlich und nervenerschütternd an den Wagenschlag plätschert, eine Viertelstunde lang, vielleicht eine ganze Stunde und mehr. Die Postpferde machen das so ruhig ab, als stammten sie aus dem Marstall des Heidengottes Neptun, und es giebt Leute genug, für welche das Gruseln zu den Reizen des Lebens gehört und die sich darum eine solche Fahrt loben werden. Indeß wir sind Landratten, welche gern etwas Langeweile in Kauf nehmen, wenn sie sich recht lange „auf See“ fühlen können, eine Bezeichnung, welche freilich für das Wattemeer eine Schmeichelei bedeutet. Zudem ist der Bremer Dampfer so comfortable –

Das ist Norderney.

[645] Am Horizont hebt sich eine Insel heraus, ein paar stattliche Gebäude, eine lange Straße niedriger Häuser, ein Landungsdamm, der sich weit in das Wasser hinein erstreckt: die Glocke läutet – wir sind da, verlassen das Schiff und besteigen einen der Wagen, welche bereit stehen, uns zum Conversationshause, dem Curhause von Norderney zu fahren. Neugierige Augen von Kurgästen, denen die Ankunft des Dampfers zu den Zerstreuungen des Badelebens gehört, wie die täglichen Concerte oder ein Feuerwerk, empfangen uns.

Da stehen wir nun inmitten in dem Saisontrouble eines großen Bades es giebt hier zwei „Saisons“, welche durch den Zeitraum von Mitte Juli bis Mitte August, die Zeit der Hitze. Windstille, des ruhigen Wassers getrennt sind. Der Ort selbst zählt über zweitausend Bewohner, und nach Tausenden zählen die jährlichen Besucher. Heuer haben hier gegen 9000 Gäste Stärkung ihrer Gesundheit gesucht. Das Conversationshaus weist alle Einrichtungen auf, welche die Curhäuser großer Bäder bieten; daneben finden sich




Norderney: Blick auf die „Weißen Dünen“.
Originalzeichnung von F. Schreyer.


zwei Warmbadehäuser, der nie fehlende Bazar mit den „Andenken an Norderney“, zahlreiche mehr oder minder gute und theure Hotels und Curhäuser, unter diesen das „große Logirhaus“ beim Conversationshaus, die ehemalige welfische Baderesidenz; da reihen sich jene einstöckigen, bescheiden möblirten Fischerhäuser aneinander, deren Bewohner den Sommer über in der Küche logiren, und sie haben ganz den obligaten Thran- und Räucherduft; da giebt es befrackte Kellner und Tables d’hôte und täglich dreimal Concerte der königlichen Badecapelle, die reichlich so gut spielt wie die Emser; da werden Ausflüge gemacht, Bootfahrten in die Watten, Landpartien, zwei- und vierbeinig, zur Georgshöhe, zum Leuchtturm, zur Schanze, zum Ruppertsburger Kamp mit dem kleinen Erlengehölz zur weißen Düne im Osten der Insel. Da trinkt man Kaffee auf der Marienhöhe, zwischen Herren- und Damenbad, restaurirt sich in der „Giftbude“ über dem Herrenbade, und geht Abends zum Concert vor dem Strand-Etablissement. Aehnlich spielt sich eben der Tag in allen Seebädern ab; sie sind wie eine Mittagstafel; die äußere Physiognomie bleibt die nämliche; nur die Zahl der Gerichte und die Zubereitung sind verschieden, und von dem Mehr oder Weniger, das geboten wird, hängt der Ruf, der Besuch, die Freistellung für die Theilnahme am Genusse ab.

Uebrigens ist der Ort unter den Inselbadeorten der Nordsee bevorzugt ausgestattet. Das Auge weilt hier zur Erholung von dem Blenden des Wassers und des Sandes gern auf dem Grün der Anlagen beim Conversationshause und dem großen Logirhause, und es giebt selbst etwas wie schattige Promenaden für die Sonnengluth. Nur denke man sich keinen imposanten Baumwuchs auf einer nordischen Däneninsel. Auch die festen Trottoirs, welche den Zwang aufheben, von Straße zu Straße bis an die Knöchel im Sande zu waten, empfindet man andern Seebädern gegenüber als eine Wohlthat. Von den drei Hauptstraßen von Norderney zieht sich die Marienstraße im Süden, an der Wattenmeerseite, hin. Vom Conversationshause ostwärts nach der Schanze zu, die Victoriastraße am Weststrand entlang vom Conversationshause bis zur Strandhalle, weiterhin noch die Kaiserstraße, an deren Ende die Bremer Baugesellschaft Wohnungen „gegründet“ hat. Das Strand-Etablissement ist das elegantere Seitenstück zum Conversationshause. Hinter der Marien- und der Victoriastraße dehnt sich ein Gewirr von Häusern und Gärtchen mit zahllosen Wetterfahnen und Flaggenstangen aus. In der Nähe des Strandes dagegen erfreuen unter Anderm die heiter auf die See hinausblickenden Villen Kyphosen und Fresena (vergl. S. 644[1]) das Auge des Beschauers.

Von der Marienhöhe bei dem Strand-Establissement schweift das Auge über den zu Füßen liegenden Strand hin, der sieh links nach Südosten, rechts nach Nordosten zurücklegt; jener dient als Damen- dieser als Herrenbadestrand, solange Badezeit ist, nämlich vom frühen Morgen bis zur zweiten Mittagsstunde. Zur Zeit der nun folgenden Ebbe wird alsdann der Strand zur Promenade, bis zu dreihundert Schritt Breite sich erweiternd. Da regt sich munteres Leben, wenn das zurückweichende Gewoge einen glatten Streifen [646] des bleichen, wasserharten Sandgrundes nach dem andern bloßlegt. Da promenirt Männlein und Fräulein in bunter Mannigfaltigkeit der Toilette oder sitzt in den wunderlichen geflochtenen Strandkörben vor Wind und Sonne gedeckt; da tummelt sich fröhliches Kindervolk, zum Entsetzen der unglücklichen Seesterne, Krabben, Taschen- und anderer Krebse, welche leichtsinnig und unvorsichtig genug waren, nicht rechtzeitig ihr eigenes Ebben bewerkstelligt zu haben, und welche nun hülflos, ausgesetzte Kinder des Meeres, im Sande krabbeln.

Völlig verändert ist die Scenerie während der Badestunden. Dann stürzen die Fluthwellen weiter und weiter über die Sandfläche, immer mehr Terrain verschluckend. Auf der Promenade aber bewegen sich die vierräderigen Strandkarren, transportable Zellen, einst von kräftigen Fäusten geschoben und nun von einem Rößlein gezogen, und in diesen Zellen, welche zwei Schiebfenster zur Auswahl je nach der Windrichtung des Tages, wie die Eichhörnchennester, bieten, sitzt ein weibliches oder männliches Wesen und macht Badetoilette, wenn der Karren hält, und steigt dann hinaus, um an der schwieligen, nervigen Hand eines weiblichen oder männlichen Badewärters der nächsten sich überstürzenden Woge entgegenzugehen falls es nicht vorgezogen wird, auf diese Führung zu verzichten. Wehe dem, der das in schnödem Leichtsinn thut, ohne die nöthige Standhaftigkeit der unteren Extremitäten und ohne von dem großen Geheimniß etwas zu wissen, daß man dem überlegenen Element wohl den gekrümmten Rücken, nicht aber die Brust bieten darf! Dann, Unglücklicher, spielt es nicht mit dir, in kräftigem Schwunge dich vorwärts hebend und niedersetzend, dann trifft ein Stoß des Zornes deine Brust, dessen du dich nicht versehen hast; taumelnd suchst du vergeblich dich zu halten, eine grünliche, Schaum speiende Undurchdringlichkeit fällt über dich her und nimmt dir den Athem, und kaum hast du Zeit gefunden, dich aufzuhaspeln, um deiner Lunge das dringend nöthige Quantum Luft vermittelst des geöffneten Mundes zuzuführen, so stopft dir ein zweites Sturzbad den letzteren, und zappelnd liegst du wieder dort, von wannen du aufgestanden bist. Das ist nichts weniger als gemüthlich, ist ohne Bewachung sogar eine gefährliche Sache, wenn die See hoch geht, und um gar hier ungestraft zu schwimmen dazu gehört Ausdauer und eine zuverlässige Muskelkraft. Anders, wenn du geduldig dein Schicksal in jene Fäuste legst, welche dazu da sind, um es in richtigem Geleise zu lenken. Diese schweigsamen, schwerbeweglichen Männerkolosse, diese männerhaften, braunen, runzligen Jeskes, Nantjes, Jantjes, Jates, Tates oder wie sie sonst heißen, halten für dich unentwegt Stand, bis du den „zweiten Schauer“ in deinem inwendigen Menschen nahen spürst. Dann geht es wieder in das Gehäuse mit den vier Rädern; du klingelst; es wird eingespannt und mit den äußerlichen Erfordernissen des modernen Menschen versehen, entklimmst du drüben und suchst dich in sanfter Promenade zu beruhigen.

Vom Strande steigt die Dünenkette empor, hinter welcher der Ort so hart liegt, daß Jeden, der die Wirkung der Sturmfluthen kennt, von Rechtswegen ein Fürchten ankommen müßte, die Häuser möchten eines Tages mitsammt der Düne von der Fluth weggeleckt und verspeist werden.

Es gab eine Zeit, da die Gefahr nahe genug lag, und das war in den fünfziger Jahren. Ist es doch eine Thatsache, daß alle diese Inseln durch Fluth und Wind im Westen und Norden ab-, im Osten und Südosten zunehmen, sich sozusagen auf der Wanderschaft befinden. Eine Sturmfluth in der Sylvesternacht von 1854 aus 1855 riß die Dünen der West- und Nordwestseite der Insel bis zu achtzig, an einer Stelle sogar bis zu hundertsechszig Fuß Breite ab. Da war es klar: noch ein paar solche Elementarereignisse, und das Geschick des Ortes war besiegelt – wenn nicht gründlich für Schutz gesorgt wurde. Die hannöverische Regierung griff denn auch ein und half durch Küstenbefestigung ab. (Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1881, Nr. 21.)

Die schmale, langgestreckte Insel gleicht einem Kometen. Bad Norderney im Westen bildet den Kern, während der Schweif sich östlich nach der Nachbarinsel Baltrum zu in das Seegat Wichter Ee verliert. Die Küste im Westen und Norden ist wesentlich durch die Düne charakterisirt, deren Fuß sich als flacher, leichtgeneigter Strand in das Meer senkt. Ihr Grund ist Sand, der alte Urboden der Insel; dann kommt regelmäßig zwischen Sand gelagert eine dünne Schicht von Darg, einer torfartigen Masse, welche aus Blättern Halmen und Wurzeln des gemeinen Rohrs, Resten einer uralten sumpfigen Schilf- und Binsenvegetation, verfilzt ist. Wehe dem Unseligen, welcher es versucht, diese Masse als Torf zu brennen! Er wird Düfte riechen, welche sonst nur die Hölle kennt. Als Perle unter den Inseldünen steht die weit östlich liegende „Weiße Düne“ (vergl. unsere Abbildung S. 645) da, eine kolossale, nahe an hundert Fuß hohe, in alpenartigen Contouren aufsteigende Pyramide feinkörnigen, fast weißen Sandes, von deren Spitze man einen weiten Rundblick hat: Sand, Luft, Wasser, eine Dreieinigkeit, welche hier in der unzerstückelten Massenhaftigkeit der einzelnen Factoren von gewaltiger Wirkung ist.

Düne ist im Grunde auch das Innere der Insel, Sand, Sand und wieder Sand, unregelmäßig an der Oberfläche sich hebend und senkend, mit dürftiger, kränklicher Vegetation: der Zwergweide, Halmgewächsen, Pimpinellröschen, Erika und sonstigen unscheinbaren Pflänzchen verschiedener Art. Einen eigenthümlichen Charakter trägt nur der Südstrand und der äußerste Osten.

Der Wattstrand im Süden ist nicht mehr reiner Sand. Die Binnenwässer, welche sich in das Wattenmeer ergießen, führen Kalk, Thon, animalische und vegetabilische Reste mit sich, welche sich, sobald salzige und süße Fluth zusammentreten, als feiner grauer Schlamm, „Schlick“ genannt, zu Boden schlagen, besonders in dem ruhigen Uferwasser. Die Zugabe dieses Schlicks ermöglicht das Auftreten einer eigenthümlichen und üppigen Vegetation, aber im Wirkungsbereiche der Fluth zieht der Mensch keinen Vortheil aus diesen günstigen Bodenverhältnissen. Durch Eindeichung ist indessen im Südwesten ein schöner Wiesenwuchs gewonnen, auf welchem viele ostfriesische Kühe sich wohl nähren. Auf dieser Seite der Insel befindet sich übrigens auch die Rhede für die Fischerboote.

Wo im Osten das Dünenland aufhört, bietet sich ein verwandtes Bild. Dort senkt sich das Sandterrain flach und flacher, anfangs von kleinen, mit Strandhafer bewachsenen Erhöhungen durchsetzt; dann kommt eine Strecke, wo das Wasser und der sandige Boden heimliche, gefährlich trügerische Verbindungen eingehen, „ein unheimlicher Bereich von superfeinem Sand, welcher dem Wanderer unter dem einen Fu0e weggleitet, während der andere bereits in einem grünen Sumpfe versinkt, den man für ein Stück Wiesenland gehalten,“ wie Spielhagen diesen Theil der Insel schildert. „Und dann zischelt es in den Binsen, in die man plötzlich, man weiß nicht wie, gerathen ist, und die Binsen haben ein schmutziges, klebriges Aussehen, als ob sie alle schon einmal im Leben ertrunken gewesen wären, und das sind sie auch, und öfter als einmal: denn das Meer ergießt sich bei Springfluthen über das ganze Gebiet, wie eine Boa constrictor sich erst ihr Opfer zurechtleckt, bevor sie es verschlingt“

Hier im Osten entfaltet sich auch das reichste Thierleben. Im Sande gräbt das wilde Kaninchen seinen Bau, vor Allem aber wimmelt es in und über dem seichten Wasser von Seegevögel aller Art, und die Nimrode unter den Inselbesuchern können es sich nicht leicht versagen, mit der gemietheten Schießwaffe im Arme einen Streifzug in dieses Gebiet zu unternehmen. Da schweben mit ihrem breiten Flügelschlage die Mantelmöven und Lachmöven, die Raubmöven und andere Genossen der Sippe, besonders häufig die graziösen Seeschwalben; da laufen und stelzen die Regenpfeifer, Säbelschnäbler, Austernfischer, Strandläufer; hoch in der Luft schwebt wohl ein See Adler oder Wanderfalke. Es ist freilich leichter, diese Geschöpfe zu treffen als der Beute beizukommen, es sei denn, daß man zu Kahn jagt, wobei etwa auch ein Seehund, ein Tümmler zum Schusse kommt. An Vögeln findet man übrigens auf dem festen Boden auch den und jenen bekannten aus der Sängerwelt, welche unsere heimischen Gebüsche belebt.

Ungleich ergiebiger und mannigfaltiger an Beute ist die Jagd der Fischer in der Fluth, welche mit Netzen, vorzugsweise aber mit Grundangeln betrieben wird; aus dem Sande gegrabene Tobiasfische, Quappen oder Pierer bilden dabei die Köder. Der Schellfisch- und Kabeljaufang liegt freilich außerhalb der Saison. Allein die Schollenarten und mancher andere seltsam gestaltete Meeresbewohner bieten sich dem Netze, selten nur der in den Ostseebädern ständige Häring.

Ein hohes Interesse nehmen die krebsartigen Geschöpfe in Anspruch, die Krabben, Taschenkrebse, Einsiedlerkrebse, Garneelen, letztere im Juni in ungezählten Mengen vorhanden. Da sind Gliederwürmer, Schnecken und Muscheln, Seesterne und Seescheiden, Seegurken, [647] Quallen und Actinien - eine reiche Auswahl für neugierige Augen. Und einen wahren Aufruhr erzeugt es, wenn im Abenddunkel jene geheimnißvollen mikroskopischen Geschöpfe, deren Anblick so mancher Inselgast vergeblich ersehnt, wie ein phosphorescirendes Oel gelegentlich das Wellenspiel beleben.

Meeresleuchten! Ein Ruf, der jede Nachtruhe stört, jede andere Beschäftigung unmöglich macht, als die eine: mit weitgeöffnetem Auge auf den blassen grünlichen, mit den Wellen tanzenden und sich überschlagenden Glanz hinauszustarren.

Den Hauptreiz bietet doch immer das Meer selber, ob nun der Himmel blaut und die wie ein Chamäleon in Farben spielende Fluth melancholisch ruhige Wogen wälzt, ob die Schaumkämme trotziger aufgischen und lauter branden, oder ob sich der Himmel mit wüstem Braun, schmutzigem, röthlichem, schwefelig angehauchtem Wettergewölk verhängt, Dunkelheit am Tage über dem Wasser lagert, der Sturm seine schauerliche Stimme erschallen läßt in das Toben und Wüthen, das Schaumschleudern und Brüllen des Proteus-Okeanos, des ewig ungefesselten Titanen.

Nur eine Regenwoche ist fürchterlich hier: Nichts sehen, als die geschäftigen Striche, welche dicht wie Notenlinien neben einander niederziehen, nichts hören, als den hohlen Ton der Brandung und das Rieseln und Klatschen, nichts fühlen, als die durch alle Kleider dringende Feuchtigkeit, welche Leib und Seele frösteln macht – puh! Doch, man muß auch darauf gefaßt sein. Und nirgendwo hat man besser Gelegenheit stoischen Gleichmuth zu lernen, als hier, von den schweigsamen, auf alle Wechselfälle des Geschickes gefaßten, ruhig und schwer ihres Weges wandelnden Inselbewohnern.

Es ist friesischer Schlag, mit der ganzen zähen Ausdauer und Arbeitskraft dieses Stammes ausgestattet. Im achtzehnten Jahrhundert zählte die Flotte von Norderney dreißig bis vierzig Kauffahrteischiffe. Die lutherischen Bewohner zählten dem ostfriesischen Landesherrn ein geringes Schutzgeld, und in der Mitte des Jahrhunderts wurde die Insel preußisch. Aber erst als Lichtenberg und Hufeland das Gewicht ihrer Autorität in die Wagschale warfen, beschlossen die Stände, die Idee zu erwägen, ob man dort Bade-Einrichtungen in’s Leben rufen solle; Mit dem Mai 1800 begann auf Norderney die erste „Saison“. Die Franzosenzeit – Norderney wurde königlich holländisch und dann sogar kaiserlich französisch – ließ alles stocken. Mit dem Jahre 1815 fiel die Insel an Hannover, 1866 an Preußen.

Der Uebergang an Preußen hat zwar dem Bade seinen aristokratischen Anstrich genommen, nicht aber seine Frequenz geschädigt, zudem allerlei gefördert – der Landungsdamm, der Leuchtthurm, die Sorge für den Dünenschutz, das große Strand-Etablissement und das neue Badehaus gehören hierher. In den Herzen der Bewohner hat der Uebergang keine Spuren zurückgelassen; wesentliche Bedeutung hat für sie nur die Physiognomie der Saison. Nach dem Ablauf des überaus milden Winters wird der Familienhammel in das Gärtchen beim Hause gebracht und festgebunden; die Stuben werden geweißt und hergerichtet – und nun kann der sehnlichst erwartete Gast kommen. Dann beginnt das lustige Saisonleben, um im September zu verregnen und zu verwehen, bis der letzte Fremde scheidet und Alles in die Lethargie der todten Jahreszeit zurücksinkt. So war es bis jetzt wenigstens; in der Zukunft durfte auch während des Winters in Norderney reges Leben herrschen; denn zum ersten Male wird im laufenden Jahre unter Professor Benneke’s Leitung auf dieser Insel eine Winterstation errichtet.

Man kann nicht von Norderney scheiden, ohne jener Hämmel zu gedenken, welche durch Spielhagen eine lustige Berühmtheit erlangt haben. Man höre seine Schilderung dieser Geschöpfe:

„Der Norderneyer Hammel ist ein hochbeiniges, breitbrustiges, langrückiges Thier von der Größe jenes berühmten Widders aus der Stammschäferei des Polyphem, und sein habitueller Gemüthszustand ein bis zur Melancholie des Wahnsinns sich vertiefender Ernst. Schon physiognomisch ist dieser Ernst deutlich erkennbar in dem Meer von Schmerz, das um die hohlen Augen herumliegt und sich in einem ununterbrochenen Strom die lange Nase herabgießt. So steht er, mit dem Einzug des Gastes tief in das Innere der Insel in eine Verbannung geführt, welche bis zum Wiederabzug dieses Gastes dauert, regungslos auf den Dünensand starrend. Endlich hebt er das Haupt zu den Wolken, die schwer über ihn dahinziehen und im nächsten Augenblick einen Schauer auf ihn herabschütten werden, den vierunddreißigsten heute Vormittag. In den Stapfen seiner Hufe sammelt sich der Regen, der eben losbricht – ein Zeichen, daß der Sand vollkommen getränkt ist. Und jetzt, jetzt! – über seinen breiten Rücken gleitet ein dünner, kalter Strahl – er kann, er will’s nicht glauben, und doch, es ist nicht anders: der Regen hat sich einen Weg durch sein Fließ gebahnt! und die feuchten Wimpern auf die halbgebrochenen Augen senkend, erhebt er seine Stimme.

Es ist nur ein Ton, aber welch ein Ton! ein Ton, tief, wie das tiefste Register einer Orgel, stark, wie die Drommeten Jerichos; ein Ton, der eine Welt von Schmerzen nicht sowohl in sich schließt, als von sich giebt, ausgiebt, zu den Wolken schreit, die droben hangen, zu den Möven, die schweren Flugs vorbeischwingen – ein Ton absoluter Hoffnungslosigkeit auf jedes Glück hienieden und in einem zukünftigen Leben, an das jeder glauben mag, wer kann – ein Ton, der gewissermaßen das Band zwischen dem Hammel und seinem Schöpfer zerreißt und das Tischtuch zwischen ihm und dem Menschen mitten durchschneidet. Dieser Ton, der, einmal ausgestoßen, zur Zertrümmerung und Vernichtung einer schönen Welt voll Licht und Frieden und Sonnenschein zu genügen scheint – er erdröhnt nun in regelmäßigen Pausen von fünf bis zehn Minuten wieder, Tag und Nacht, bis der Abgrund sich zu deinen Füßen aufthut und dein Herz in dir verzagt. - -“

Ist das nicht, lustig genug?

Glücklicher Hammel, der du einen solchen Sänger deiner Unsterblichkeit gefunden hast!

B.



  1. Für einen Theil unserer Leser dürfte es nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß die beiden obigen für die „Gartenlaube“ angefertigten Originalzeichnungen in einem gegen das Ende dieses Jahres erscheinenden Bildersammelwerke über Norderney (Braams’ Verlag, Norden) Aufnahme finden werden.
    D. Red.