Textdaten
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Autor: Johann Huber
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Titel: Nachtseiten von London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 200–203
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: organisiertes Diebeswesen in London
Teil 2
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Nachtseiten von London.

Sociale Skizze von J. H.
1.
Gepflastert mit Gold. – Die Londoner Docks und ihre Arbeiter. – Zahl der Londoner Diebe. – Organisation derselben. – Diebesschenken und Diebestheater. – Diebesschulen. – Arbeitstheilung und verschiedene Classen der Diebe. – Eine Versammlung jugendlicher Diebe. – Professionsmäßige Bettler und Landstreicher.

Keine Stadt der Welt ist reicher als London, aber auch keine birgt solche Tiefen des Elends in sich. Wie der Besitz maßlos ist, so ist es auch die Armuth. Im Munde des englischen Landvolks heißt es, daß die Straßen von London mit Gold gepflastert seien, und genau unterrichtete Kenner der Verhältnisse versichern, daß, wenn man den Totalreichthum der Stadt berechne, er zu einer so großen Summe ansteige, daß man die ganze Ausdehnung der fast zweitausend Meilen Pflaster, welche die Straßen und Gassen zusammen ausmachen, größtentheils mit Gold belegen könnte. Kostet doch dieses Steinpflaster allein schon nicht weniger als 14 Millionen Pfund, d. i. 168 Millionen Gulden. Dazu halte man die unermeßlichen Summen, welche die Herstellung der unterirdischen Gas- und Wasserleitungen, die über neunzehnhundert Meilen weit sich erstrecken, und der Cloaken verschlang, die ebenfalls Hunderte von Meilen unter London sich verzweigen, und man wird zu dem Schlusse kommen, daß jeder Quadratfuß Erde, den hier das Volk mit seinen Füßen tritt, kostbar ist. Wie hoch aber auch immer der Reichthum sich aufhäufen mag, vielleicht könnte er doch den Abgrund des Elends, der sich hier öffnet, nicht ausfüllen. Von den etwa drei Millionen, die gegenwärtig London bewohnen, befindet sich weitaus mehr als ein Dritttheil in der allerkläglichsten Dürftigkeit.

Die düstere, schmutzige und schwermüthige Romantik der verrufenen Winkel, in welcher diese zum Theil unheimliche Bevölkerung haust, hatte für mich einen dämonischen Reiz, und ich glaubte, ohne sie London nicht gesehen zu haben; daher war es mein Vorsatz, nachdem ich an der schimmernden Seite desselben mich übersättigt hatte, auch das Kehrbild aufzusuchen und in jene ein paar Streifzüge zu unternehmen. Ich fand lange keinen Gefährten dazu, und so führte mich zuerst der Zufall allein in einige dieser Gassen, als ich die Themse hinab zum Tunnel, der in der Nähe der Londoner Docks liegt, gefahren war. Schon im Tunnel selbst, der seinem Verfall entgegen zu gehen scheint, kam es mir nicht besonders heimlich vor. Eine von seinen beiden Straßen war versperrt, sie ist vielleicht ungangbar; die gangbare aber war nur auf kurze Strecken dürftig von einigen Gasflammen erleuchtet, die vor ein paar geöffneten Verkaufsläden brannten; der weitaus größte Theil derselben, namentlich gegen Süden, Rotherhithe zu, lag ganz in Dunkel gehüllt.

Außer mir promenirten hier nur noch ein paar Frauenspersonen, und so nahm sich der Ort für einen Raubanfall sehr einladend aus. Als ich aus dem Tunnel wieder herausgestiegen war, kam ich, mir einen Weg zum Tower suchend, allmählich in ein Gassenlabyrinth mit elenden, meist einstöckigen Häusern, an deren Thüren gewöhnlich in Lumpen gehüllte Weiber mit Kindern auf dem Arm standen und hinter deren Fenstern, die zum Theil erblindet, zum Theil auch verpappt waren, sich alte verkümmerte Gesichter zeigten. In den Gassen selbst trieben sich schmutzige und halbnackte Kinder herum. Hie und da begegnete mir ein verdächtiger Bursche, der mir in den Weg trat und mich fixirte; dann aber auch wieder rasch dahinwandernde Männer, denen man ansah, daß sie beschäftigte Arbeiter seien. Es war, wie ich aus dem Stadtplan entnahm, die Pfarrei St. George in the East, in der ich mich befand, einer der dichtbevölkerten und ärmsten Theile der Stadt. Während in London durchschnittlich nur fünf Häuser auf einen Morgen Landes kommen, sollen hier dreiundzwanzig auf einem stehen. Die Bewohner sind meistens Docksarbeiter, Säckemacher, Bootführer und solche, die ihren Lebensunterhalt an der Themse finden, Alles sehr arme, aber, wie ich später hörte, größtentheils ehrliche Leute.

Die Arbeiten in den Docks gehören zu den alleranstrengendsten und gewähren den Meisten, die sich ihnen unterziehen müssen, ein höchst unsicheres Brod. Man braucht dafür nichts gelernt zu haben, auch kein bestimmter Charakter ist notwendig; Alles, was gefordert wird, sind kräftige Muskeln, denn es müssen Lasten transportirt werden. Diese Arbeiten versammeln Menschen von allen Lebensaltern, Berufskreisen, Nationen und Himmelsstrichen: abgehauste Gewerbsleute, ehemalige Zolleinnehmer, alte Matrosen und Seeleute, politische Flüchtlinge, herabgekommene Gentlemen, entlassene Beamte, suspendirte Geistliche, freigewordene Sträflinge, Knechte, bekannte Diebe, kurz Jeden, der essen muß und sich auf andere Weise nicht den geringsten Lebensunterhalt schaffen kann oder will. Diebe, welche vorher hier vergeblich Arbeit gesucht haben, werden, wenn sie hernach wieder auf ihrem Handwerk ertappt werden, milder abgeurtheilt, weil man annimmt, sie hätten ihr Brod gern ehrlich verdient. Denn nicht jeder, der sich zu diesen Arbeiten erbietet, findet sie auch schon; gegen und auch über dreitausend Menschen treffen täglich an dem Thore der Londoner Docks ein, aber nur vier- bis fünfhundert sind ständig engagirt, die übrigen können [201] nur nach zeitweiligem Bedürfniß beschäftigt werden. Der wöchentliche Lohn des ständigen Arbeiters beläuft sich auf zehn Schilling sechs Pence, der des zufälligen für den Tag auf zwei Schilling sechs Pence im Sommer, auf zwei Schilling vier Pence im Winter; durchschnittlich für die Woche, wenn man die arbeitslosen Tage in Anschlag bringt, auf fünf Schilling. Die Totalsumme der zeitweilig gemietheten Arbeiter wechselt zwischen fünfhundert bis dreitausend und auch darüber, je nachdem mehr oder weniger Schiffe einlaufen, deren Zahl in der Woche unter dreißig sinken und über einhundertfünfzig steigen kann. Dieses Fallen und Steigen hängt von den Ostwinden ab, welche die Schiffe zurückhalten, und so kommt es, daß Hunderte und Tausende derer, die nur zufällig verwendet werden, sich durch ein Umschlagen des Windes ihres täglichen Brodes beraubt sehen und mit ihnen oft ihre sehr zahlreichen Familien.

Hier an den Docks ist der Kampf um das Dasein fast täglich um halbacht Morgens zu sehen. An den Haupteingang drängen sich die verschiedensten Gestalten in den buntesten und seltsamsten Aufzügen, um den Männern, die für die Arbeit miethen, sich zuerst sichtbar zu machen. Durch Schreien, Händeaufheben, durch Springen auf den Rücken eines Andern sucht jeder ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und an sich als einen alten Bekannten zu erinnern. Tausende drängen und raufen sich hier um Arbeit, damit sie nur einen Tag leben können. Aber sehr oft müssen die Meisten abziehen, ohne ihre Absicht zu erreichen. Die verhungerten Gesichter dieses Haufens zu sehen ist ein Anblick, den man nie mehr vergessen kann. Wochenlang sind viele vergeblich hieher gekommen, und von Tag zu Tag stieg mit der Noth ihre Verzweiflung, denn nicht blos für sich allein, auch für die zu Hause befindliche Familie gilt es die Rettung vom Hungertod. Es kam vor, daß mancher sechs Wochen lang vergeblich Arbeit suchte und sich von den zufälligen Brodbrocken, die ihm Docksarbeiter zuwarfen, nähren mußte. Um vier Uhr Nachmittags, nach achtstündiger Arbeit, die so hart ist, daß man sich wundern muß, wie sich täglich Tausende für den geringen Lohn herandrängen können, wird bezahlt. In einer halben Stunde ist dies abgethan. Bevor man aber die Arbeiter aus den Docks hinausläßt, werden sie noch ausgesucht, ob sie sich nicht widerrechtlich etwas angeeignet hätten. Die größten Reichthümer liegen in den Docks, und die ärmsten Menschen arbeiten in denselben, und doch ist es statistisch erwiesen, daß unter ihnen monatlich kaum[WS 1] achtmal ein Diebstahl und jährlich kaum dreißigmal Trunkenheit vorkommt, obwohl alle Arten von Getränken massenhaft hier aufgespeichert sind.

An dem Thore der Docks sitzt eine Art von Restaurant, der geringe und schlechte Nahrung verkauft, während die harte Arbeit doch die beste erfordern würde. Einige der Arbeiter nehmen nur um einen Penny oder einige Pence, andere verzehren im quälenden Heißhunger ihre ganze Einnahme und zwar mancher schon im Voraus auf Borg, so daß, wenn sie sich den ganzen Tag todtmüde und wieder hungrig gearbeitet haben, sie das eingekommene Geld für die bereits genossene Nahrung hingeben müssen und für die Nacht gewöhnlich nicht mehr die drei Pence besitzen, um in einem Lodging house (Logirhause) Aufnahme zu finden. Dann bleibt ihnen nichts übrig, als unter einer Brücke, auf dem schmutzigen Stroh eines Marktes, auf den Stufen eines öffentlichen Gebäudes oder auf der Bank eines Parks zu übernachten. Bemerkenswerth dürfte noch sein, daß dieser Restaurant fast nie betrogen oder bestohlen wird.

In London befinden sich aber sechs Docks und alle beschäftigen eine größere oder geringere Anzahl von Menschen, so daß man zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter dafür annehmen darf, wovon jedoch nur drei- bis viertausend permanent sind. Dazu kommen dann noch alle diejenigen, welche an den Werften zu thun oder überhaupt für die Schiffe zu arbeiten haben, die zusammen wohl mehr als dreißigtausend Köpfe ausmachen und die nun alle bei widrigen Winden, welche oft vierzehn Tage bis drei Wochen anhalten, mehr oder minder mit ihren Familien außer Verdienst gesetzt sind, so daß sich dann die Noth auf Hunderttausende erstreckt. Werden aber die Winde wieder günstig, dann laufen oft fünf- bis achthundert Schiffe auf einmal ein, und nun zieht die große und dringende Nachfrage nach Arbeitern, da jeder Eigenthümer seine Waaren so schnell als möglich an’s Land gebracht wissen will, aus der Nachbarschaft Londons ganze Schaaren von Menschen herbei, die nach kurzer Zeit wieder beschäftigungslos sind und dann den Vagabundismus und das Elend in der Hauptstadt vermehren helfen. Das Leben dieser Leute ist auf diese Weise auf den Zufall gestellt, eine Regelmäßigkeit in demselben wird durch die Unregelmäßigkeit der Einnahme zur Unmöglichkeit gemacht, und so geschieht es, daß sich dieser Classe der Bevölkerung der größte Leichtsinn bemächtigt. Sobald ein Genuß möglich ist, wird er bis auf die Neige ausgebeutet, um das unter einem unabwendbaren schrecklichen Verhängniß gedrückte und verzweiflungsvolle Bewußtsein zu betäuben. Es erweist sich statistisch, daß gerade in den Jahren der Noth die Consumtion des Branntweins steigt. Ueberhaupt ist der Verbrauch von Bier und spirituösen Getränken im vereinigten Königreich Großbritannien ungeheuer. Im Jahre 1843 betrug die dadurch erzielte Einnahme einige Millionen Pfund mehr, als die gesammten Staatseinnahmen, nämlich etwa fünfundsechszig Millionen Pfund, das ist siebenhundertundachtzig Millionen Gulden.

Bei dem großen Nothstand einer so zahlreichen Menge der Bevölkerung ist es wohl begreiflich, wie in London eine ganze Armee von gefährlichem Gesindel sich zusammenhäufen muß. Das äußerste Elend treibt wie mit Naturnothwendigkeit zum Laster und Verbrechen. Die Zahl der notorischen Diebe wurde im Jahre 1852 auf achttausend berechnet, dazu kommen aber noch vierzig- bis fünfzigtausend Leute, auf welche die Polizei ihre Aufmerksamkeit richten mußte. Wenn trotzdem die Masse des gestohlenen Gutes im Jahre 1853 nur auf einen Werth von etwa zweiundvierzigtausend Pfund sich beziffert, so ist dies vor Allem den trefflichen Sicherheitsmaßregeln zu verdanken. Seitdem ist mit der wachsenden Bevölkerung und der noch größer gewordenen Armuth die Zahl der Verbrecher und die Summe des gestohlenen Gutes wohl entsprechend gestiegen.

Die Londoner Diebe bilden einen Staat im Staat, sie sind ein Volk für sich, welches allen Besitzenden einen unversöhnlichen Krieg geschworen hat. Ein englischer Geistlicher, der viel mit ihnen verkehrte, weil er ihre Seelsorge übernommen hatte, theilte einige interessante Züge aus ihrem Leben mit. Darnach sind sie vollkommen organisirt und bewohnen besondere Quartiere, nicht selten sind drei bis vier zusammenstoßende Gassen und Winkel von ihnen besetzt. Sie zahlen gut und regelmäßig und halten fest zusammen. Ihre Wohnungen sind bei Weitem nicht so schmutzig und herabgekommen, wie man erwarten könnte. Sie benehmen sich hier ziemlich ruhig und ordentlich, denn sie halten es nicht für vortheilhaft, auf ihren eigenen Territorien Lärm und Aufsehen zu erregen. Eine ganze Colonie von Dieben nistet sich oft unter ehrlichen Leuten ein, und diese erfahren nicht eher etwas davon, als bis die Polizei eine Razzia veranstaltet. Sie haben ihre besonderen Schenken und Gasthäuser, ihre eigenen Kaufläden und Handelsleute, ja sogar ihre Statuten, wonach sie in höhere und niedere Classen sich ordnen. Wie sie eine eigene Sprache für sich haben, in welcher, wohl nicht ohne Absicht, kein Verbrechen mit seinem wahren Namen bezeichnet, sondern immer umschrieben wird, so daß es scheint, als verbänden sie gar nicht den Begriff des Verbrechens mit ihren Handlungen und wollten sie denen, die sich ihrem Handwerk als Neulinge widmen, einen solchen von diesem gar nicht aufkommen lassen, so circulirt unter ihnen auch eine besonders für sie berechnete Literatur, voll der gröbsten Obscönitäten und mit der Verherrlichung kühner Räuber und Diebe.

Weiter haben sie ihre eigenen Lieder, gemein und oft sinnlos; ihre Theater, die sogenannten Penny-gaffs, mit Darstellungen, welche die ganze Natur demoralisiren. Jedes Sittlichkeits- und Rechtsgefühl wird auf solche Weise ihnen mit den Wurzeln ausgerissen. Auch eine eigene Gebehrden- und Zeichensprache besitzen sie, die nur sie allein verstehen. Manche ihrer Gebehrden, die einem Passanten nichtssagend scheinen, würde ihn erschrecken, wenn er ihren Sinn verstände. Mit diesen Mitteln wandern sie im ganzen Lande umher und machen sich einander leicht erkennbar, so daß sie überall Aufnahme und Verpflegung unter Genossen finden, auch wenn sie zum ersten Mal in eine Stadt kommen. Selbst vom Schaffot herab geben sie ihren Mitschuldigen noch vielsagende Zeichen.

Kommt einer von ihnen aus dem Gefängniß oder aus der Strafcolonie, so wird er mit Allem, was er dringend nöthig hat, cameradschaftlich versorgt, bis er wieder selbst sein Geschäft in die Hand nehmen kann. Der erste Genuß der Freiheit wird wieder [202] zur Einladung, ja zu einer Nöthigung zum Verbrechen. Sie sagen: was soll ich für wenige Schillinge wöchentlich arbeiten, da ich mir durch Stehlen leicht fünf Pfund Sterling erwerben kann? Sie helfen ihren Kranken, begraben ihre Todten, sorgen für die hinterlassenen Kinder eingesperrter oder verstorbener Freunde. Unter sich halten sie einen gewissen Codex der Ehre aufrecht und opfern den Regeln desselben unter Umständen das Leben. Thaten der Liebe und Aufopferung sind unter ihnen nicht selten. Ihr Dasein verfließt unter beständiger Furcht und Aufregung, weil sie sich niemals sicher fühlen. Daher wechseln sie auch immer mit ihren Quartieren, namentlich wenn in einem, das sie bewohnen, ein Verbrechen vorgefallen ist.

Die Zeit, wo sie nicht auf ihre Arbeit ausgehen, verbringen sie mit Spielen, Rauchen, Trinken und Anhören der Abenteuer ihrer Cameraden. Der professionsmäßige Dieb aber betrinkt sich selten, weil er weiß, daß sein Gewerbe die größte Vorsicht und Thatkraft erheischt. Viele von ihnen sind das Opfer der Verhältnisse, wenige haben ein verbrecherisches Leben aus eigener Wahl angenommen; denn schon als Kinder wurden sie auf diese Bahn geführt. Verlassen von ihren Eltern, fielen sie nicht selten in die Hände sogenannter Diebszüchter, welche sie anfänglich erhielten, im Stehlen unterrichteten und dann auf Beute ausschickten. Aber auch Eltern selbst geben nicht selten ihren Kindern Anleitung zum Verbrechen und Laster, indem sie dieselben auf die Straßen jagen und nicht eher wieder zu Hause einlassen, als bis sie eine gewisse Summe Geldes mitbringen. Bei der eben erwähnten gewerbsmäßigen Ausbildung der Kinder zum Diebstahl durch ältere Diebe sollen jenen zuerst angekleidete Puppen, gleich den Modellpuppen der Maler, vorgestellt werden, um daran ihre ersten Uebungen zu machen; dann lassen die Meister an sich selbst die eingelehrten Diebskünste vornehmen, und erscheinen nun die Kinder gewandt genug, so müssen sie endlich dieselben auf den Straßen prakticiren, wobei sie die erste Zeit von ihren Lehrern überwacht werden, denen sie auch für ihren Unterhalt den Löwentheil der Beute abzuliefern haben.

Dickens hat im Oliver Twist, wo er von solchen unglücklichen Knaben erzählt, die im Dienst eines alten Gauners stehlen müssen, nur wirkliche Verhältnisse dargestellt. So wachsen manche Kinder ganz in verbrecherischen Anschauungen, Neigungen und Thaten heran als ein Material für das Gefängniß und Schaffot. Alle ihre Gefühle sind verwildert; der Geistliche, der sich ihrer annehmen will, erscheint ihnen als Heuchler, die Richter und Obrigkeit als Tyrannen, die anständige Menschheit als ihr ärgster Feind. Dieser traurige Skepticismus an der Wahrheit, Ehrenhaftigkeit und Güte der menschlichen Natur ist von höchstem Einfluß auf ihr verbrecherisches Treiben und kaum zu besiegen. Er stachelt sie zu einem wilden Zorn gegen alle Besitzenden. Hat aber ein Geistlicher einmal das Vertrauen und die Liebe dieser Elenden gewonnen, weil er ihrer Noth und Verzweiflung sich werkthätig angenommen, dann würden sie Alles eher ertragen, als daß ihm unter ihnen ein Leid geschähe.

„Niemals,“ erzählt der oben erwähnte Geistliche, „habe ich von einem Diebe, selbst wenn er betrunken war, ein unschönes Wort erhalten. Im Gegentheil, wenn ich mitten in der Nacht durch ihre Gassen wanderte, so wäre ich vollkommen sicher und würde es mir von allen Seiten entgegentönen: Dort geht unser Freund, der Diener Gottes, unser Pfarrer – Gott segne ihn! Und selbst wenn ein Dieb, der mich nicht kennt, mich berauben würde, die anderen würden mir alsbald mein Eigenthum wieder zurückstellen.“

Die Londoner Diebe haben unter sich das Princip der Arbeitstheilung aufgenommen, so daß jede Classe derselben nur einen bestimmten Zweig des großen und alten Handwerks cultivirt, worin sie es aber dann auch zur höchsten Virtuosität bringt. In dem Lande, wo z. B. das Uhrmachergewerbe sich in einhundertundzwei Abtheilungen spaltet, von denen jede besondere Arbeiter beschäftigt, kann es wohl nicht anders sein. Die Mitglieder einer einzelnen Diebssection sind mit einander genau bekannt und haben innerhalb der allgemeinen Gaunersprache wieder ihre besonderen Idiome. Machen wir uns mit diesen Sectionen etwas bekannt.

Da stehen in erster Reihe diejenigen, welche mit Gewalt plündern, indem sie entweder in die Häuser einbrechen (cracksmen) oder die Leute auf offener Straße (rampsmen) oder in Gemeinschaft mit schlechten Weibspersonen ausrauben (bludgers oder stick-slingers). In die zweite Classe dieser Section gehören die Garotters, welche vor einigen Jahren ganz London in Schrecken versetzten, jetzt aber nicht mehr so brutal auftreten. Sie überfielen gewöhnlich zu drei Mann, jeder bewaffnet und mit einer Kreppmaske verhüllt, den Wanderer bei Tag und Nacht. Der erste betäubte ihn durch einen Schlag, der andere hielt ihm die Kehle zu, daß er nicht Lärm machen konnte, der dritte bemächtigte sich rasch seiner Werthsachen. Aber ein solch’ unerbetenes Kleeblatt erschien oft auch mitten in der Nacht vor dem Bette eines sorglosen Schläfers, schlug und knebelte ihn und raubte dann seine Wohnung aus. Selbst in den ersten Hôtels sollen sich solche Besucher bei den Fremden eingefunden haben. Die Diebe dieser ersten Section müssen kräftige Männer sein. Darauf kommen die, welche denen, die ausgeraubt werden sollen, zuerst starkes Getränke beibringen und dann die Berauschten ausplündern (drummers und bug hunters). Zu diesem Zweig des Geschäfts bedarf es vor Allem einer gewissen vertrauenerweckenden Umgänglichkeit und Suada. Die dritte Section, die sich wieder in mehrere Classen sondert, wird von denen gebildet, welche heimlich stehlen. Für sie ist vor Allem Schlauheit, Geschicklichkeit und Schnelligkeit der Hand ein Erforderniß.

Hieher gehören nun die mobsmen oder swell-mobsmen, welche bei einem Menschengedränge, wie in einer Kirche, in einem Omnibus etc. stehlen und wovon die einen, die buzzers oder buz-nappers, die Taschen der Herren, die andern, wires, die der Frauen auf’s Korn nehmen. Diejenigen, welche es vorzugsweise auf Nadeln und Brochen oder auf Taschenuhren abgesehen haben, begründen wieder neue Unterabtheilungen, die prop-nailers und thumble-screwers. Die zweite Classe der dritten Section sind die shop-lifters, welche aus Gold- und Silber- und Juwelenläden stehlen; die dritte bilden die sneaksmen, kleine Diebe, die sich mit irgend einem Gegenstande fortschleichen. Wenn sie sich mit Gütern, die auf Karren und Kutschen liegen, wegschleichen, heißen sie drag-sneaks; wenn sie unter dem Thor eines Hôtels schlafen, um am nächsten Morgen mit dem Gepäck eines Reisenden, das vielleicht einen Moment unbewacht blieb, zu verschwinden, sind es die snoozers etc. Diese Classe verzweigt sich sehr, denn sie umfaßt Alle, die etwas wegstibitzen, seien es Kleider, die an Zäunen aufgehängt sind, seien es Nahrungsmittel aus den Verkaufsbuden, seien es Thiere, Hunde, Katzen, Vögel u. dgl. – Auch die Weiber und Buben, welche den Kindern anständiger Leute ihre Kleider, ihre Ohrringe und was sie sonst Werthvolles bei sich tragen, abnehmen, gehören hieher. Eine vierte Section sind die sogenannten Vertrauensbrecher, d. h. diejenigen, welche anvertraute Gegenstände veruntreuen, z. B. unehrliche Dienstboten, welche Diebe in die Wohnung der Herrschaft einlassen; Leute, welche Geldbriefe unterschlagen etc. Eine fünfte Section besteht aus den sho-ful-men, denjenigen, die durch Copien stehlen, wie die Falschmünzer, die Betrüger in Wechseln und Noten. Und endlich die sechste Section bilden diejenigen, die von den Dieben leben, indem sie, wie die fences, gestohlenes Gut kaufen oder, wie die coiners, falsches Geld ausgeben.

Diese Theilung ihrer Arbeit mag wohl die Ursache sein, daß die Londoner Diebe die ersten der Welt sind; es giebt kaum eine Unternehmung, die sie nicht wagten, kaum eine Sicherung, die sie nicht illusorisch machten. Sie bilden ihre Geschäftszweige mit derselben Feinheit aus, wie die ehrlichen Leute die ihrigen, und erwägen mir gleicher Umsicht wie diese alle Chancen des Gewinns. Die sogenannten ticket of leave-men, d. h. jene Verbrecher, die nach einigen Jahren guter Aufführung in den Strafcolonien einen Nachlaß ihrer Strafzeit erlangen und in die Heimath zurückkehren dürfen, verstärken besonders das Contingent der gewaltsamen Diebe. Da sie schwer Arbeit finden, sind sie gewöhnlich genöthigt, ihr altes Gewerbe wieder aufzunehmen. Aber nicht nur Männer, auch Weiber betheiligen sich an Verbrechen und zwar nicht selten an den allerschwersten. –

Mayhew, welcher nicht blos um die Erforschung der Nachtseiten der Londoner Gesellschaft, sondern auch um die Hebung des materiellen und moralischen Zustandes der niederen Classen viele Verdienste sich erworben hat, veranstaltete einmal ein Diebsmeeting. Er miethete zu diesem Zweck ein großes Schulzimmer und ließ an junge Diebe und Vaganten Eintrittbillets vertheilen. Bedingung für die Zulassung war, daß sie Vaganten und nicht über zwanzig Jahre alt seien. Es kamen ihrer hundertfünfzig. Sie waren [203] schon alle eine Stunde vor dem anberaumten Termin da. Nicht leicht war mehr Schmutz, lumpige Kleidung und Elend beisammen gesehen worden. Einige waren junge Männer, andere wahre Kinder, nur sechs Jahre alt. In Haltung und Aussehen waren sie sehr verschieden. Manche sahen gut und frisch, wie Knaben aus anständigen Familien, aus; andere trugen die Spuren aller Laster auf den Zügen. Anfangs war ihr Benehmen sehr unordentlich. Wüstes Geschrei, Flüche, Katzengeheul, Hundegebell – kurz jede Art von Tönen ließ sich hören. Neunzehn hatten ihre Eltern noch, neununddreißig nur noch den Vater, achtzig waren Doppelwaisen. Fünfzig waren professionirte Bettler, sechsundsechzig notorische Gewohnheitsdiebe. Als eine nähere Untersuchung ergab, daß die meisten Diebe waren, erhob sich ein ungeheurer Applaus. Viele waren bereits im Gefängniß gewesen und zwar schon mehrmals; darunter fünf zwanzigmal, sechs vierundzwanzigmal, einer neunundzwanzigmal.

Je öfter einer im Gefängniß gewesen, desto größeren Beifall spendete ihm die Versammlung. Als ein neunzehnjähriger Bursche erklärte, daß er schon neunundzwanzigmal eingesperrt gewesen sei, brach ein wahrer Sturm des Beifalls, ein dröhnendes Bravo, vermischt mit Händeklatschen und Katzengeschrei, los. Viele bekannten, daß sie von ihren Eltern zum Stehlen abgerichtet oder daß sie in Lodging-Häusern zu Dieben gemacht worden seien. Dreiundsechzig konnten lesen und schreiben, und gerade diese waren der Mehrzahl nach Diebe. Fünfzig erklärten, sie hätten die vulgären Diebsgeschichten und den Kalender von Newgate gelesen, und viele aus diesen betheuerten, daß gerade diese Lectüre sie zum Diebsleben verführt habe. Als sie gefragt wurden, was sie von dem berüchtigten Räuber Jack Sheppard hielten und ob sie sein möchten wie er, hieß es: Ja, wenn die Zeiten wie damals wären. Auf die weitere Frage, ob der Anblick von Hinrichtungen auf sie keinen abschreckenden Eindruck gemacht hätte, erklärten sie, nur das erste Mal, bei oftmaligem Sehen hätten sie sich ganz daran gewöhnt.

Einige mußten auf einen erhöhten Platz steigen und ihre Lebensgeschichte erzählen. So oft nun einer seine Diebereien berichtete, riefen die Andern: Schön, sehr gut! Sobald aber einer bekannte, daß er in den Logir-Häusern zum Fall gebracht worden sei, wurde ihm gedroht und zugerufen, er solle schweigen. Alle gestanden, unglücklich zu sein und an ihrer Lage keinen Gefallen zu finden. Mayhew richtete darum die Frage an sie, ob sie ihr gegenwärtiges Leben verlassen wollten. Einstimmig wurde mit Ja erwidert. Und als er constatirte, daß ihr Unglück aus den Lodging-Häusern stamme, gaben sie es Alle zu. Hierauf wurde darüber berathen, wie ihnen geholfen werden könne.

Zuletzt machte Mayhew ein Experiment, indem er ihnen erzählte, daß er schon oft alte notorische Diebe bei sich empfangen habe und daß ihm auch nicht um sechs Pence Werth weggekommen sei. Einmal hätte er einem Dieb einen Sovereign gegeben, um ihn wechseln zu lassen, und dieser habe das Geld wirklich zurückgebracht. Er frug sie nun, ob sie in gleicher Weise handeln wollten. Einige riefen, sie wollten es, Andere, sie wollten es nicht; und wieder Andere, sie wollten es nur ihm, aber keinem Andern. – Darauf gab Mayhew einem Buben von dem schlechtesten Aussehen, welcher bereits sechsundzwanzigmal abgestraft worden war, einen Sovereign, damit er ihn wechseln lasse. Zugleich wurde ihm versichert, daß, wenn er mit demselben entfliehe, ihm kein Leids geschehen solle. Kaum, daß er einige Minuten abwesend war, richteten sich schon Aller Augen gegen die Thür, ängstlich wartend, daß er zurückkomme und die Treue bewähre. Alle fühlten, daß ihre Ehre auf dem Spiele stehe, und Einige erklärten, sie würden den Buben tödten, wenn er nicht zurückkäme. Einige Minuten verstrichen in peinvoller Erwartung, und man begann bereits sein Ausbleiben zu fürchten. Endlich kam er – und nun brach die Freude der Anderen in lauten Jubel aus und sie trugen ihn triumphirend auf die Emporbühne.

Eng an die Diebe reihen sich die professionsmäßigen Bettler an, welche gewöhnlich kleine Entwendungen und Betrügereien nicht verschmähen. Sie ziehen im ganzen Lande umher – Mayhew giebt die Zahl der ständigen Vaganten beiderlei Geschlechts in England und Wales auf hundertzehntausend an. Sie bedecken alle Straßen und bringen mit sich eine Fluth von Unreinlichkeit Immoralität und ansteckenden Krankheiten. Den Tag über betteln sie, Nachts suchen sie ein Workhouse (Arbeitshaus) auf, wo sie zwischen sechs bis zehn Uhr Abends zugelassen werden und diejenigen, welche vor neun Uhr kommen, auch noch Brod und Milchsuppe bekommen. Am anderen Morgen erhalten sie dasselbe zum Frühstück, wenn sie dafür drei Stunden arbeiten wollen. Wegen des Ungeziefers, mit dem sie gewöhnlich bedeckt sind, kann man ihnen nur selten ein Bett geben. In einigen Landstrichen bestehen diese Vaganten zu gleichen Theilen aus Engländern und Irländern, in andern bilden die letzteren zwei Drittel. Einige von ihnen treten hie und da anständig gekleidet auf, und die Lumpen, welche ihre Weiber als Reisebagage mitschleppen müssen, werden erst dann angezogen, wenn sie einem Orte nahe kommen, wo sie betteln wollen. Sie erkundigen sich überall nach den wohlhabenden Leuten, nach ihren Gewohnheiten und Sympathien, endlich auch nach ihren Verwandten, um sich bei ihnen als gute Freunde derselben einzuführen, wodurch mitunter eine gute Beute abfällt. An den Hausthüren, wo sie gebettelt oder gestohlen haben, schreiben sie dem Uneingeweihten unverständliche Hieroglyphen an, die aber den später kommenden Genossen sagen, welch’ eine Art von Geschäft hier zu machen sei.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: kam