Nachtseiten von London/2
Ehe ich von London schied, wollte ich das Abenteuer ausführen, in Begleitung eines Detective’s, d. h. eines Mitgliedes der geheimen oder Entdeckungspolizei, die in England indeß nur auf gemeine Verbrecher fahndet, nicht wie auf dem Continente sich mit Demagogenriecherei befaßt, eine nächtliche Wanderung durch die Armenquartiere zu machen; denn erst bei Nacht wird es hier recht lebendig, weil unter ihrer Hülle nun Alles, was bei Tage sich nicht sehen lassen kann, die äußerste Armuth, die nicht die nöthigen Lumpen zur Bedeckung findet, das Laster, dessen Verheerung keine Schminke mehr verbirgt, und das Verbrechen, welches das Auge der Gerechtigkeit fürchtet, sich hervorwagt. Wüste Orgien, in denen das Elend sich zu betäuben sucht, beginnen in den zahlreichen Schenken und Tanzlocalen. – Ein Londoner Kaufmann hatte für mich zwei Detectives gemiethet, von denen der eine mich im East-, der andere im Westend herumführen sollte; ein junger Geschäftsreisender aus Wien schloß sich noch der Gesellschaft an.
Um halb acht Uhr holte uns der eine der Detectives ab. Es war ein großer, wohlaussehender und fast feingekleideter Mann, dessen ganzes Auftreten uns sogleich Vertrauen einflößte und mit welchem wir uns denn auf die Imperiale eines Omnibus begaben, um durch die Stadt dahin ostwärts gegen Whitechapel zu fahren. In Whitechapel Road stiegen wir ab und befanden uns nun unter einer zahlreich auf- und abwogenden Menge von ganz anderem Charakter, als man sie in der City und in den schönen Straßen des Westends zu sehen gewöhnt ist. Alles in der schmutzigstem und ärmlichsten Kleidung, großentheils kleine und magere Gestalten mit bleichen Gesichtern. Es schien mir ein anderes Volk zu sein. „Es sind Irländer,“ sagte der Detective. Verdächtige Bursche und freche Weiber drängten sich, wohin wir immer den Fuß setzen mochten, an uns heran, Buben schwirrten um uns herum, wurden aber, wenn sie mit uns zusammenstoßen wollten, von dem Detective mit scharfen Worten verscheucht. Zu beiden Seiten der Straße waren hölzerne Buden aufgeschlagen, in denen Lebensmittel ausgeboten wurden; es war ein nächtlicher Markt, auf dem die hier sich herumtreibende Bevölkerung von dem Erwerb des Tages ein dürftiges Nachtessen sich kaufen mochte. Aus zahlreichen Schenken, die alle sehr besetzt schienen, drang ein verworrener Lärm heraus; an ihren Eingängen war immer viel Gesindel versammelt, darunter alte betrunkene Weiber, deren Aussehen und Gebahren den widerlichsten Eindruck machte.
Wir traten in ein Public-house der niedrigsten Sorte von Whitechapel Road, um hier den Detective für Eastend zu erwarten. Wir blieben an der Barre stehen und ließen uns Brandy geben, den ich aber nicht verkostete, sondern einem armen Weibe, das sich neben uns erschöpft auf eine Bank niedergelassen hatte, anbot, und der mit der größten Verbindlichkeit angenommen und auf mein Wohlsein in raschen Zügen verschlungen wurde. Allerlei zerlumptes Volk, namentlich junge Frauenzimmer, huschten an uns vorbei, man würdigte uns aber keiner besondern Aufmerksamkeit. Endlich kam der Erwartete, es war ein kräftiger, breitschulterig gebauter Mann, etwas über Mittelgröße, mit freundlichem Gesicht und artigen Manieren, in seinem langen schwarzen Rock einem Geistlichen nicht unähnlich. Ich sah, daß wir uns unter der besten Bedeckung befanden und ohne alle Besorgniß unser Unternehmen antreten konnten. Die Detectives riethen uns sogleich, dicht vor ihnen herzugehen, damit sie uns im Gesicht behalten könnten, und unsere Taschen wohl zu verwahren. Mir schien es, als seien die beiden Männer hier nicht unbekannt, denn mit Ausnahme von ein paar Frauenzimmern, die uns freundlich ansprachen, wurden wir von Niemandem belästigt.
An einer großen, von einem Glasdach überspannten Halle vorbei, die an der Straße lag und wo Penny-Suppen verabreicht wurden, ging es in die südlichen, gegen die Themse hinab reichenden Seitengassen von Whitechapel Road hinein, wo das niedrigste Volk, wie die Detectives sagten, wohnen sollte. Auf jeder Seite von Whitechapel liegen gegen zweihundert Gäßchen, führend zu Tausenden von enggepackten Nestern, Irländer- und Judencolonien, voll von Schmutz, Elend und Verkommenheit. Es waren zum Theil Diebesnester, durch welche wir nun wanderten, dürftig erleuchtet und mit ruinösen Häusern von jedem erdenklichen Anblick, mit großen Kehrichthaufen vor ihrer Fronte, in welche wir abwechselnd einsanken, denn man wirft hier den Schmutz aus den Fenstern auf die Gasse und läßt ihn vor den Häusern liegen, wo er sich nun zu kleinen Hügeln anhäuft.
Auf einmal schritt der Detective von Eastend in eine Hausflur, von wo aus wir in eine dunkle Passage kamen, die so schmal war, daß wir hinter einander gehen mußten; wir wateten durch Koth und Kehrichthaufen und gelangten zuletzt in einem kleinen viereckigen Hofraume an, in welchen aus einigen Parterre- und Kellerwohnungen ein schwaches Licht fiel. Wir sahen in dieselben hinein und entdeckten nur ein paar weibliche Bewohner darin, welche sich mit häuslichen Arbeiten beschäftigten. Soviel wir von den Kammern sahen, waren sie eng und nur mit geringem Trödel von abgenutztem Hausrath versehen. Ich wunderte mich, wie man hier leben könne; man belehrte mich aber, daß diese Art von Wohnungen sehr häufig in London sei. Sonne und frische Luft verirren sich wohl selten und spärlich in diese Höhlen, und so ist es gewiß richtig, was ein englischer Arzt von den Winkeln von Whitechapel und Bethnal-Green bemerkte, daß sie eine unablässige Fieberklinik seien. Der Bischof von London sagte im Jahre 1844 von der hier wohnenden Bevölkerung, daß ehedem die Aerzte das Fieber bei ihr durch Aderlässe behandelten; jetzt zögen sie stimulirende Mittel vor, da die Race so schrecklich degenerirt sei. Wenn die wahrscheinliche Lebensdauer eines Arbeiters in Westend sechsundzwanzig Jahre sind, so sind es in Whitechapel zweiundzwanzig, in Bethnal-Green gar nur sechszehn Jahre, woran freilich nicht allein die schlechten Wohnungen, sondern noch mehr die fast noch im Kindesalter beginnenden Ausschweifungen jeder, auch der schlimmsten Art Schuld tragen. Unser nächster Besuch galt einem Logirhause (Lodging-house), wo man für einige Pence ein Nachtlager erhält. Eine solche Herberge besteht immer aus drei Abtheilungen: einem größeren Zimmer, wo sich die Gäste vor der Nachtruhe aufhalten und mit Lesen, Rauchen, Plaudern, auch wohl Arbeiten beschäftigen (in einigen Häusern ist für jedes Geschlecht ein eigenes Versammlungszimmer bestellt); dann aus der Küche, wo die Zukehrenden sich gewöhnlich selbst ihr spärliches – gekauftes, erbetteltes oder gestohlenes – Nachtessen bereiten, und endlich aus den Schlafzimmern.
Das Lodging-house, ist welches wir getreten waren, wurde von [490] einer alten Frau gehalten, welche ein sehr abschreckendes Aeußere hatte, doch uns mit großer Bereitwilligkeit ihre Anstalt zeigte. Sie führte uns zuerst in ein Parterrelocal, das ganz mit alten Weibern angefüllt war, die über unseren Besuch unwillig schienen und uns darum nicht gerade freundliche Blicke zuschleuderten; hierauf kamen wir in das Gesellschaftszimmer der Männer. Erst ein paar kauerten an den Tischen; wir mochten ihnen sehr gleichgültig sein, denn sie beachteten uns kaum und rührten sich nicht vom Platze. Endlich begaben wir uns über eine wackelige Stiege, auf der ich Hals und Beine zu brechen fürchtete, in die Schlafräume. Es waren niedrige, enge und düstere Zimmer mit kahlen Wänden und kleinen Fenstern; in jedem standen mehrere ein- und zweispännige Bettstellen dicht nebeneinander. Die Alte zeigte uns die nähere Ausstattung derselben, hob das Bettzeug auf, das mir von Segeltuch zu sein schien, so rauh und schwarz war es, und schlug mit einiger Selbstgefälligkeit darauf, gleichsam als wollte sie uns die Vortrefflichkeit derselben andeuten und sich uns für etwaige Fälle empfehlen. Ich sah mir dabei genug, um mich um keinen Preis hineinlegen zu mögen. An den Wänden bemerkte ich einen gedruckten Anschlag, welcher die Zahl der Betten und den Preis für das Nachtlager feststellte. Ich glaube, daß es zu den Aufgaben der Polizei gehört, hier regelmäßige Visitationen über den Zustand der Betten und die Zahl der Schlafgenossen zu halten; doch mag die Ueberwachung solcher Etablissements, deren jedes durchschnittlich fünfzig einfache und fünfundzwanzig Doppelbetten zählt und deren es in London gegen fünftausend geben soll, mit einem jährlichen Durchschnitt von zwei Millionen Kunden, schwer genug sein, da die Gäste die ganze Nacht hindurch zugehen.
Die Lodginghäuser werden allgemein als eine Pest und öffentliche Calamität bezeichnet, weil hier nicht blos der größte physische, sondern auch moralische Unrath sich aufhäuft. Ungeziefer und ansteckende Krankheiten werden hier eingeschleppt; eine erstickende Atmosphäre herrscht hier, weil zu viele und zu verschiedene Leute, Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Bekannte und Fremde in derselben Kammer, ja in demselben Bett sich zusammendrängen und die Zimmer schlecht ventilirt sind; denn, wie ein Besucher derselben äußerte, die Fenster sind nicht dazu da, um frische Luft und Licht einzulassen, sondern um die Kälte abzuhalten.
Kinder, welche ihre Eltern verloren haben und ohne Heimath sind, gehören zu den ständigen Gästen der Lodginghäuser, und halten sich fast immer zu einem bestimmten. Sie leben vom Stehlen, Betteln und der Prostitution. In den schlechtesten Lodginghäusern zahlt jedes Kind, wenn es ein ständiger Besucher ist, gewöhnlich nur einen Penny für das Nachtlager. Kommt es Abends ohne Geld zurück, so wird es wieder fortgeschickt, um sich den Penny zu betteln oder zu stehlen. Gewöhnlich aber ist die Taxe für ein Bett oder einen Bettantheil auf drei Pence festgestellt; nur in den schlechtesten Anstalten dieser Art ist sie geringer. Um einen Penny wohlfeiler schläft man auf dem Fußboden, entweder in den Schlafzimmern oder in der Küche oder im Gesellschaftslocal.
Die Detectives wollten uns nunmehr in eine der verrufensten und gefährlichsten Kneipen führen, machten uns aber dabei dringend zur Pflicht, kein Individuum, das uns da auffallen möchte, zu fixiren und auf den ersten Wink, den sie uns geben würden, uns mit ihnen rasch zu entfernen, denn hier würde man sie, wenn man auch um ihren Charakter wüßte, umsoweniger respectiren, und leicht könnten wir zerschlagen und ausgezogen auf die Straße gesetzt werden. Wir mußten uns in die gefährliche Kneipe durch eine Menge von Gesindel, das vor der Thür sich herumtrieb, den Eingang bahnen und begaben uns durch ein Schenklocal, wo Alles dichtgedrängt stand und mir sogleich eine Dirne entgegensprang, die mir den Rauch meiner Cigarre lachend in’s Gesicht blies, über wenige Stufen hinaus in einen Hinterraum, wo eine ausgelassene und wilde Fröhlichkeit tobte, das Geklimper einer Tanzmusik und mit heiserer Stimme gebrüllte Lieder nicht besonders anlockend erklangen.
Als wir die Thür öffneten, strömte uns ein heißer Qualm entgegen, und wir hatten wieder ein niedriges, aber sehr in die Länge gestrecktes Local vor uns, ungefähr von derselbem Ausstattung, wie das in der zuletzt besuchten Kneipe war; nur die Gäste überboten alles, was wir bisher an herabgekommenen, ausgearteten und verthierten Gestalten gesehen hatten. Die zahlreichen Galgenphysiognomien, die man hier gewahrte, waren von Brandy und Gin und einer wilden Lustigkeit geröthet; viele lagen schon betrunken auf den Bänken und unter den Tischen. Ein entsetzliches Weibsbild, vielleicht schon an der Grenze der Fünfziger, wenn ihr nicht das Laster den Anschein des Alters aufgedrückt hatte, stark decolletirt und von einer unbeschreiblichen Frechheit, hieß uns mit kreischender Stimme als Schenkmädchen willkommen und riß sogleich ein paar Witze, welche die Detectives abwehrten. Von allen Seiten wurden wir neugierig gemustert und konnten manchen finsteren Blick auffangen. Wir drückten uns an die Wand neben der Thür, ließen uns abermals Brandy geben und zahlten für die Person wieder drei Pence. Die Gäste strömten fortwährend ab und zu. Ein Rundtanz wurde begonnen und einige der sitzen gebliebenen Schönen machten sich in unsere Nähe. Wir schenkten ihnen um so weniger Beachtung, als uns das Totalbild der wüsten Scene zu sehr beschäftigte. Aber bald drängten unsere Führer zum Aufbruch, denen hier der Brandy nicht zu schmecken schien. Als wir wieder draußen waren, bemerkte mir einer derselben, daß sie nur höchst ungern in solche Locale gingen, denn wenn sie erkannt würden, so gäbe dies leicht das Signal zu einem allgemeinen Aufruhr.
Eilig gingen wir jetzt durch eine Reihe von Gassen dahin, aber von der Ferne folgte uns ein Kerl, der sich plötzlich an den Detective aus Eastend hing und ihm heulend mittheilte, daß er für heute Nacht auf der Straße bleiben müsse, da er in keinem Workhouse aufgenommen worden sei und keinen Penny für ein Lodginghouse besitze. Der Detective suchte sich seiner zu entledigen, indem er dem Trunkenbolde erklärte, er kenne ihn wohl und er möge sich fortmachen. Aber dieser ließ sich nicht abtreiben, fing mit ihm zu ringen an, und so oft er abgeschleudert wurde, so oft stürzte er sich wieder heran. Unter diesem Tumult, wobei allmählich ein nicht geheuer aussehendes Publicum um uns sich sammelte, kamen wir auf einen Rundplatz, von wo aus ich die hohen Mauern der Docks im Schatten der Nacht emporragen sah. Hier stand eine Droschke, die uns die Detectives zu nehmen riethen, denn immer mehr unheimliches Volk hatte sich um uns aufgestellt und einige daraus fingen bereits an, sich in den Streit zu mischen und dem betrunkenen Bursche gegen uns Recht zu geben. Es war wohl ein sehr abgelegener Stadttheil, in dem wir uns befanden, und den Detectives mochte die ganze Situation nicht gefallen; denn nachdem wir mit dem einen, der uns nun noch im Westend umherführen sollte, die Droschke bestiegen hatten, entschwand der andere nach schleunigem Abschied mit schnellen Schritten neben den Mauern der Docks.
Wir lenkten nun südwärts ab und kamen in das Gebiet von Drury-Lane, nach Seven-Dials, das ich bereits bei Tage besucht hatte. Wer sich aber das Aussehen und die Beschaffenheit von Seven-Dials, das aus mehreren schmutzigen Gassen besteht, näher unterrichten will, der möge dessen Schilderung im Londoner Alltagsleben von Boz nachlesen, wobei ich nur bemerke, daß seit der Abfassung derselben wohl ein Menschenalter verstrichen ist, während welcher Zeit hier Alles nur schlimmer geworden sein dürfte. Unser erster Besuch in einem langen öden Gäßchen galt wieder einem Lodging-House, das aber ehrliche Gäste beherbergte und darum ein sehr friedliches Innere zeigte. Nachdem wir es verlassen, wollte uns der Detective ein Gegenstück davon zeigen, d. h. ein Lodging, wo sich die ärgsten Gauner versammeln. Die Leute, die wir hier sehen würden, seien alle schon im Gefängniß gewesen und mitunter der schwersten Verbrechen verdächtig. Wahrscheinlich seien ehemalige Garotter darunter. An Ort und Stelle angekommen war ich gar nicht erfreut, als unser Schutz- und Geleitsmann erklärte, wir müßten diesmal unseren Besuch ohne ihn machen, weil er sich hier nicht blicken lassen könne; doch möchten wir ganz ruhig sein, er werde vor der Thür Wache halten und, im Falle uns etwas Unangenehmes widerfahren sollte, uns sogleich beispringen. So folgten wir denn seiner Weisung und tappten uns durch einen finsteren Gang in einen Hof, wo wir nur das Erdgeschoß eines Hintergebäudes betreten sollten. Da in demselben die Fensterläden halb aufgeschlagen, die Fenster ganz geöffnet waren, so konnten wir schon von außen eine gute Musterung über die hier befindliche Versammlung halten, die etwa aus dreißig Individuen, Burschen und Männern, bestand. Aber noch hatten wir uns nicht lange mit unserm Schauspiel beschäftigt, als man uns drinnen bemerkte und herausrief, wir sollten hereinkommen. Wir traten näher, öffneten die Thür, blieben aber an ihrer Schwelle stehen, denn die ehrenwerthe Gesellschaft hatte nichts Vertrauenerweckendes. Während wir so zögerten, drängten sich Einige an uns, und Andere, die durch das Fenster [491] in den Hof hinausgesprungen waren, standen auf einmal hinter uns. Sie schrieen uns Verschiedenes zu, worauf ich nicht merkte; denn es gefiel mir nicht, daß uns der Rückweg versperrt war, und ich wollte eben nach unserem Schützer rufen, als der Herr der Anstalt aus dem Vorderhause mit Licht erschien – er mochte wohl von unserem Besuche unterrichtet worden sein –, mit einigen Worten die Kerle zur Ruhe verwies und uns, nachdem wir uns noch etwas umgesehen hatten, freundlich hinausbegleitete. Mir war es leichter zu Muth, als ich unsern Führer wieder zu Gesicht bekam.
Die Gassen, in denen wir umherwanderten, hatten einen so düsteren und unheimlichen Charakter und überall stießen wir auf so verdächtige Gestalten, die plötzlich aus der Nacht auftauchten und sich um uns herumschlichen, daß ich, da auch kein Policeman sich weit und breit sehen ließ, den Wunsch äußerte, wir möchten diese Quartiere verlassen. Wir kamen alsdann auf den Rundplatz von Seven-Dials, von dem der Detective bemerkte, daß hier die Diebe sich Rendezvous zu geben pflegten, um ihre Unternehmungen zu verabreden oder die Erfolge derselben sich mitzutheilen. Im Schimmer der Gaslaternen entdeckten wir bald einige Männer und Bursche, die im eifrigen Gespräch zu sein schienen, und wir hatten uns noch nicht lange hier aufgehalten, als eine betrunkene Weibsperson sich mit der größten, handgreiflichen Zudringlichkeit an uns drängte und forderte, wir möchten sie in ein Public-house führen. Es bedurfte fast Gewalt, sie los zu werden; sie verfolgte uns aber laut schimpfend noch eine ziemliche Strecke weit.
Das Nächste, was wir in genauere Untersuchung zogen, war wieder das Gesellschaftszimmer eines Lodging-House’s, das aber diesmal aus einem abscheulichen Keller bestand, in den man auf einer Leiter von der Straße aus hinuntersteigen konnte und wo alle Geschlechter und Altersclassen bunt durcheinander sich befanden. Dicht daneben traten wir in ein verfallenes, wie es schien, ganz ausgestorbenes Haus. Der Detective machte Licht und führte uns durch einen niedrigen und schmalen Gang in einen kleinen Hof hinaus, wo aller mögliche Unrath aufgehäuft und in einem Winkel eine Art von Stall, eng und dumpf, angebracht war. Der Detective leuchtete hinein und wies uns einen großen Unrathhaufen, auf dem Ratten hin und hersprangen.
„Ah,“ rief er aus, „sind heute noch keine Gäste da? Es ist wohl das Wetter noch nicht schlecht genug, auch mag es noch etwas zu früh sein.“
Er setzte mir hierauf auseinander, daß Manche sich über Nacht in diesem Unrath eingrüben und mit dem Ungeziefer zusammen dieselbe Lagerstätte theilten. Auf unserer weiteren Wanderung durch Seven-Dials stießen wir auf den Trottoirs dicht neben den Häusern nicht selten auf einen laut schnarchenden Schläfer; mancher war auch schon in die nahe Gosse hinabgerollt.
In diesem Stadttheile war unser Führer überall bekannt und wir wurden, wohin wir kamen, freundlich aufgenommen. Abermals trat derselbe mit uns in eine Hausflur und wollte in derselben Licht machen, aber der Wind blies es aus, und da wir keine Zündhölzer mehr hatten, so mußten wir uns im Dunkeln weitertappen. Der Detective war aber gut orientirt; er sagte uns, wir möchten uns an ihm festhalten, Einer hinter dem Andern; dann würden wir ganz sicher steigen. Wir ließen uns auf solche Weise auf einer Kellertreppe hinab. Unten angekommen, wurde an eine Thür gepocht, die sich sogleich öffnete und woraus uns ein kleines, sehr artiges Mädchen, etwa in dem Alter von zwölf Jahren, mit Licht entgegenkam. Sie wurde über unsere Absicht verständigt, die Kellerwohnung zu sehen, und wies uns nun freundlich den traurigen Raum mit seinem ärmlichen Inhalt.
Sie war ganz allein, da ihre Eltern und Geschwister noch nicht heimgekommen waren, obschon es tief in der Nacht war, und unterhielt in einem Kamine Feuer, wie es schien, um ein Abendessen für ihre Leute zu bereiten. Als ich mich näher umsah, entdeckte ich kahle und feuchte Mauern, einen Boden von Ziegelsteinen, von denen manche herausgebrochen waren; zwei kleine Oeffnungen, die man kaum Fenster nennen konnte, denn sie waren zum Theil ohne Scheiben und gingen gegen die Straße hinaus, auf der wohl mehr Schmutz als Licht und Luft in die dumpfe Höhle herabkam. Der Keller war eng und niedrig und mit dem verschiedensten Hausrath von der elendesten Beschaffenheit so voll gestopft, daß man, um vorwärts zu kommen, über denselben und auf denselben steigen mußte. Stinkende Lumpen waren zum Trocknen durch den ganzen Raum aufgehängt.
„Das Quartier, das Sie hier sehen,“ sagte der Detective zu mir, „ist nicht etwa eine Ausnahme, es giebt deren ganze Straßen und Viertel hindurch in London.“
Hollingshead, der eigene Entdeckungsreisen durch die Wohnungen der Stadt unternahm, bestätigt nur diese Aussage. „Wollte man die elenden Quartiere und Wohnungen in London durchwandern,“ sagte er, „so möchte wohl ein Jahr dazu nöthig sein. Ueberall trifft man auf enge Gassen und Winkel, die sich unabsehbar ineinander drängen, mit flachen, alten, schmutzigen und ruinösen Häusern, übervölkert von Männern, Weibern, Kindern, Hunden, Katzen, Vögeln und Hasen. Die Kinder überall zerlumpt, wieselähnlich, von der Wiege auf zu einem harten Leben der Arbeit oder zum Verbrechen und Laster erzogen. Die sociale Lage von mehr als halb London ist so elend, wie es nur die von Irland in seinen schlimmsten Tagen war.“
Der wöchentliche Mietzins dieser Quartiere schwankt zwischen neun Pence bis vier Schillingen, durchschnittlich besteht er aber aus zwei Schillingen. Es ist keines so schlecht, daß es nicht doch immer wieder bezogen würde. Die allerschlimmsten Behausungen finden sich gewöhnlich in den zahlreichen Höfen, wo nicht selten die Cloaken in den Grundmauern der Häuser ohne Abzug nach allen Seiten überströmen.
So beschränkt die Kammern in diesen Häusern sind, so beherbergen sie doch nicht selten mehr als eine Familie. Mit dem größten Leichtsinn nämlich wird unter dieser Bevölkerung geheirathet, denn die Kinder setzt man, sobald sie nur laufen können, auf die Straße, wo sie dem öffentlichen Mitleiden oder dem Teufel übergeben sind.
In St. Giles, einem der ärmsten Stadttheile des westlichen London, gab es ein Quartier, das aus fünf Privat- und acht Lodginghäusern, zusammen dreizehn, bestand, worin nicht weniger als dreizehnhundert Menschen wohnten. Church Lane hat zweiunddreißig Häuser, welche hundertneunzig Kammern enthalten, wo damals in jeder ungefähr neun Personen, in allen zusammen siebenzehnhundertundzehn lebten. Ja, in einer dieser engen Kammern wurden vierzehn Personen entdeckt, welche noch dazu gar nicht mit einander verwandt waren – eine Wittwe mit drei Kindern, eine andere mit einem Kinde, zwei Ehepaare, ein alleinstehender Mann und drei alleinstehende Weiber. Vierhundertdreiundsechszig Personen wurden gefunden, welche neunzig Bettstellen benutzten, so daß immer fünf sich in ein Bett theilten, wo nun Alles, die Eheleute und ihre noch kleinen oder schon erwachsenen Kinder, Fremde und Bekannte, Gesunde und Kranke und Sterbende zusammengepackt lagen, so daß selbst Thiere hier nicht aushalten würden. Bei solchen Verhältnissen wird es Niemand für möglich halten, den Sinn für Schicklichkeit, das Schamgefühl und die Selbstachtung zu bewahren.
In Fletcher’s Court traf man wieder auf zwei Kammern, von denen jede mit vierzehn Personen besetzt war. In der einen war Stroh das gemeinsame Lager und die Kleider mußten über Nacht zur Decke genommen werden. Keines dieser Zimmer hatte mehr als sieben Fuß Breite, zehn Fuß Länge.
Der bekannte Earl von Shaftesbury sagte vor einigen Jahren im Hause der Lords, daß er einen Winkel (Cow Croß) in Clerkenwell besucht habe, wo er in sechszehn Höfen hundertdreiundsiebenzig Häuser mit fünfhundertsechsundachtzig Kammern, in jeder Kammer eine Familie, also fünfhundertsechsundachtzig Familien fand, welche zusammen dreitausendsiebenhundertfünfundvierzig Personen zählten; so daß durchschnittlich sechseinhalb Personen auf eine Kammer kamen. Diese Kammern seien niedrig, dunkel, ungesund, schmutzig, so niedrig, daß er kaum darin aufrecht stehen konnte, und so eng, daß, wenn er seine Arme ausstreckte, er auf jeder Seite die Wände mit den Fingerspitzen erreichen konnte. In solchen Zimmern traf er oft fünf bis neun Bewohner. – In acht schmalen Höfen abseits von Holborn Hill fand er zweiundsechszig Häuser mit dreihundertvierzehn engen Kammern, worin vierzehnhundertneunundsiebenzig Menschen wohnten. „Es ist unmöglich,“ setzte er bei, „das physische und moralische Verderben, das aus diesen Verhältnissen entspringt, sich einbilden oder seine fürchterlichen Folgen auf die Bevölkerung schildern zu wollen.“
Nachdem wir das arme Kind beschenkt hatten, stiegen wir aus der finstern Höhle wieder herauf und traten in den kleinen mit Unrath erfüllten und mit giftigen Gasen verpesteten Hof hinter dem Hause. Ich fühlte, daß mir unwohl wurde. Auch hatte ich nun genug des Elends gesehen und fragte den Detective, ob er [492] uns noch etwas Neues zu zeigen hätte. Er sagte, es wäre die Scenerie erschöpft, wir könnten dieselbe nur noch in ihrer Ausdehnung verfolgen. Dazu hatte ich weder Lust noch Kraft mehr. Ich war physisch und moralisch zu sehr angegriffen, um die Wanderung noch weiter fortsetzen zu wollen. So verabschiedeten wir uns denn von unserm Geleiter, wobei er noch bemerkte, daß für ihn jetzt erst die Berufsarbeit beginne. – Es schlug von St. Paul ein Uhr, als ich mit einem Cab mein Hôtel erreichte.