Aus den Werkstätten deutschen Gelehrtenfleißes
Aus den Werkstätten deutschen Gelehrtenfleißes.
Unvergessen unter den Zeitgenossen ist die That schamloser fürstlicher Willkür, durch welche der König Ernst August im Frühling die hannoversche Verfassung umstürzte. In gutem Andenken ist ferner, daß dabei eine Anzahl Göttinger Professoren, deren Rechtssinn den auf diese Verfassung geschworenen Eid höher achtete als den Willen des Despoten, für solchen Rechtssinn ihrer Aemter entsetzt und des Landes verwiesen wurden. Alles, was Ehre und Freiheit liebte, trauerte damals über diesen unerhörten Gewaltact. Aber wie aus Bösem oft Gutes erwächst so auch hier. Einmal erhielt der Absolutismus in Deutschland durch [198] dieses Ereigniß einen mächtigen Stoß, dann aber trug dasselbe für die Wissenschaft die große und bedeutsame Frucht, von der wir im Folgenden reden wollen.
Unter den Göttinger Verbannten befanden sich Jakob Grimm, der Begründer und erfolgreichste Bebauer des Gebiets deutscher Sprachforschung, und dessen Bruder Wilhelm, gleichfalls ein hervorragender Gelehrter in diesem Bereich. Die Vertreibung der Brüder von ihren Lehrstühlen schuf ihnen Muße, die Weidmann’sche Buchhandlung regte den Plan zu dem großen deutschen Wörterbuch an, welches zu einem Ereigniß in unserer Literatur werden sollte, und die preußische Regierung, welche die Brüder einige Jahre später an die Berliner Akademie der Wissenschaften berief, stellte das nationale Unternehmen, indem sie die beiden Arbeiter an demselben aus gedrückter Lage in eine ehrenvolle und sorgenfreie Stellung erhob, unter günstige Sterne.
Volle vierzehn Jahre währten die Vorbereitungen, welche die gewaltige Arbeit erforderte. Dafür aber erkannte man auch in dem Werke, als im Sommer 1852 seine erste Lieferung erschien, eine Schöpfung, welche in ihrer Art einzig auf dem Felde der Sprachwissenschaft dasteht und in keinem Wörterbuch der Welt – das große Dictionnaire der französischen Akademie nicht ausgenommen – auch nur entfernt ihres Gleichen hat. In der That, nur Deutsche konnten sich eine solche Aufgabe stellen, die so Ungeheures umfaßte und so tiefes Eindringen in ihren Gegenstand forderte. Nur Deutsche konnten ihrer Sprache einen Tempel errichten, der gleich den großen Nationalheiligthümern der Hellenen so ganz ihr innerstes Wesen widerspiegelte. Nur deutscher Fleiß war im Stande, einen Bau hinzustellen, der unter Werken seiner Art – wir fürchten nicht zu übertreiben – alles Andere in dem Maße überragt, wie die Gruppe der großen Pyramiden alle anderen Gebäude unter der Sonne. Und dabei bargen diese Pyramiden nur Leichname von Königen und waren nur riesige Aufschichtungen todter Steine, während das Wörterbuch der Grimm die lebendige Seele des deutschen Volkes birgt und jeder Stein zu seinem Bau, jedes einzelne Wort ein Reflex dieser Seele ist.
Der Plan, nach welchem die Meister mit ihren Gehülfen und Nachfolgern bauten, ist in der Kürze folgender. Es sollte ein Bild von dem Leben unserer Sprache seit Luther geschaffen werden. Was durch ihn, dessen Auftreten auch auf diesem Gebiet den Beginn einer neuen Zeit bezeichnet, und was seit ihm, bis auf unsere Tage, an Wörtern neu entstanden oder verändert worden ist, sollte wiedergegeben, der gesammte Bildungsgang der deutschen Nation, soweit er sich in der Sprache ausgeprägt hat, sollte dargestellt werden. Es ist also nicht die Sprache einer bestimmten Zeit, deren Reichthum an Wörtern, Wortformen, Sprüchwörtern und dergleichen mehr und deren Art zu denken und zu empfinden aufgezeichnet werden sollte, um, wie das bei Abfassung des Wörterbuchs der Pariser Akademie die Absicht war, als Gesetzbuch der Rede- und Schreibweise der Nation zu dienen, sondern die Verfasser stellten sich die höhere Aufgabe, den ganzen unermeßlichen Organismus unserer Sprache in seinem Werden, in seiner flüssigen Bewegung und in seinem Lauf durch die Jahrhunderte ihrem Volke anschaulich zu machen. Jedes Wort von Wichtigkeit für diesen Zweck sollte seine besondere Geschichte haben, in welcher die Abstammung und Familie desselben, sowie seine Bedeutung und die Veränderungen und Abschattirungen der letzteren, die es in dem Laufe der Zeiten erfahren, übersichtlich vor Augen gelegt werden sollten.
Hier ist der Ort, einen Blick in die Gelehrtenwerkstätte zu thun, in der das Wörterbuch entstand und noch jetzt weitergeführt wird. Zu jenem Zweck bedurfte es umfassender, möglichst vollständiger Sammlungen: jedes einzelne Wort war aus der Gegenwart bis in die Zeit Luther’s zurück zu verfolgen, und das war wieder nur möglich, wenn man sein Vorkommen und die Art seiner Anwendung bei den zahlreichen deutschen Schriftstellern von größerer oder geringerer Bedeutung genau beobachtete, welche seit der Reformationszeit aufgetreten sind. Ein solches Unternehmen aber überstieg selbstverständlich die Arbeitskraft eines Einzelnen, auch wenn er davon so viel besaß und schon ein so gewaltiges Material beisammen hatte wie Jakob Grimm, dessen Forschungen unbewußt seit dem ersten Tage seiner Gelehrtenthätigkeit Vorarbeit für sein letztes großes Werk gewesen waren. Es war die Hülfe von sehr Vielen nöthig, und schon die Organisation dieser Ergänzungsthätigkeit ist so merkwürdig und namentlich so charakteristisch für das schöne Leben in der deutschen Wissenschaft, daß sie der ausführlichen Schilderung werth scheint.
Die Brüder Grimm schrieben durch ganz Deutschland an ältere und jüngere Männer und forderten sie auf, einzelne Schriftsteller für das Wörterbuch durchzulesen und auszuziehen. Von allen Seiten antwortete bereitwilliger Fleiß, Andere boten sich selbst zu dieser Mitarbeit an, und nicht ohne freudige Verwunderung erfuhr man später, daß Männer aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern, Großdeutsche und Kleindeutsche, Liberale und Conservative, Wolf und Lamm, Vilmar neben Hoffmann von Fallersleben, Schweizer und Schwaben neben Ostpreußen und Hannoveranern, einträchtig an dem großen nationalen Werke mitgewirkt hatten. Die Vorrede, mit welcher Jakob Grimm die erste Lieferung desselben in die Welt gehen ließ, nennt dreiundachtzig Namen, das erste Verzeichniß der Quellen, aus denen sie schöpften, umfaßt vierundzwanzig, ein zweites elf, ein drittes acht Spalten engen Drucks. Unter den Mitarbeitern befinden sich etwa ein Dutzend Professoren, einige Prediger, ein Arzt; alle Uebrigen, eine Dame, Malchen Hassenpflug in Cassel, ausgenommen, sind Philologen; Rechtsgelehrte sind nicht darunter.
Die Thätigkeit dieser Gehülfen wurde methodisch geregelt. Jeder erhielt eine genaue Anweisung. Auf Zettel von vorgeschriebener Höhe und Breite sollte er jedes Wort verzeichnen, welches ihm bei langsamem und sorgfältigem Durchlesen des ihm zugetheilten oder von ihm selbst gewählten Schriftstellers aus irgend einem Grunde merkwürdig erschiene, nicht nur beim Gebrauch in ungewöhnlicher Bedeutung, sondern auch, wenn die Anwendung desselben irgendwie charakteristisch wäre, oder die Stelle, an welcher das Wort vorkam, sich leicht verständlich aus dem Zusammenhang der Rede lösen ließe. In allen derartigen Fällen sollte das betreffende Wort und darunter die Phrase oder der Vers, worin es stand, auf den Zettel geschrieben werden.
Nun ging Alles mit rüstiger Liebe zur Sache an’s Werk. Nach einiger Zeit langten von Süden und Norden, Osten und Westen Pakete kostbarer Zettel an, alle von gleicher Höhe und Breite, jeder mit einem merkwürdigen Citat beschrieben. Sie erschienen mit allerlei Fahrgelegenheiten und in den verschiedensten Reisekleidern, in Schachteln, Kasten und Koffern, bisweilen in alten Cigarrenkisten. Wie ein kleiner Berg thürmte sich so allmählich das Material auf, so daß auch einem sehr unternehmenden Gelehrten vor der Bewältigung dieser Auszüge hätte bange werden können. Nicht allen Einsendern war derselbe beharrliche Fleiß eigen gewesen. Von den Fleißigen die Fleißigsten waren Fallenstein in Heidelberg, Hartenstein, damals in Leipzig, Riedel in Göttingen, Schrader in Hörste, Weigand in Gießen. Als den Allerfleißigsten und Einsichtigsten aber rühmt Jakob Grimm den vor zwei Jahren als Rector der Dresdner Kreuzschule verstorbenen Klee, dem die Aufgabe zugefallen war, Goethe’s Werke für das Wörterbuch auszuziehen.
Es kam nun zunächst darauf an, in diese Masse von Zetteln die Ordnung zu bringen, in der sie für die Verfasser des Wörterbuchs ohne Aufenthalt verwendbar waren mit andern Worten, sie mußten sortirt werden. Wie groß ihre Anzahl war, ist nicht festgestellt worden, man wird aber kaum zu viel annehmen, wenn man sie auf eine Million veranschlagt. Zwei Männer hatten sechs Monate hindurch von früh bis spät zu thun, dieselben nach dem Alphabet zu vertheilen, die Belege zu jedem Wort auf einander zu legen, sie mit Bindfaden vor dem Auseinanderfallen zu sichern und schließlich den ganzen Schatz in zwei riesigen Wandschränken für die Verarbeitung zu deponiren, bei der sie die größere oder geringere Fülle des Inhalts der betreffenden Wörter bestimmen und deren Formen in den verschiedenen Zeiten und Landschaften finden halfen.
Die Schriftsteller, die für das Wörterbuch ausgezogen wurden, umfaßten, wie angedeutet, die Periode unserer Entwickelung, welche durch den Anfang des sechszehnten und die ersten drei Decennien des gegenwärtigen Jahrhunderts begrenzt wird. Nach Goethe und Schiller sind noch Tieck und Kleist, die Bettina, auch Gutzkow, Lenau, Jeremias Gotthelf, Auerbachs Dorfgeschichten und einiges Andere benutzt, so daß auch die Veränderungen, welche die deutsche Sprache in der allerneuesten Zeit erfahren hat, Berücksichtigung gefunden haben. Am wichtigsten waren natürlich diejenigen Autoren, deren schöpferische Kraft auch die Sprache mächtig fortgebildet hat, insbesondere wenn in ihnen das unmittelbare [199] Gefühl für das Schöne und der Sprache Natürliche lebte. Denn nicht alle bedeutenden Schriftsteller eines Volkes haben gleichen Theil an der stets Neues erzeugenden und das Alte umbildenden Sprachkraft, die in den Nationen fortlebt, so lange sie selbst fortexistiren. In einzelnen Geistern wirkt diese Kraft, die keinem Menschen gänzlich mangelt, ungewöhnlich mächtig oder in ganz eigenthümlicher Weise. Beispiele solcher besonders Begabten sind im sechszehnten Jahrhundert Luther, dann Hans Sachs und vor allen der originelle Satiriker Fischart, dessen Behandlung der Sprache an das Wunder grenzt. Kein deutscher Schriftsteller kommt letzterem gleich an geistvoller Fruchtbarkeit und glücklicher Kühnheit der Wortbildung, an Witzen und Wortspielen, wenige nur besitzen eine solche fortreißende Kraft im Bau der Perioden, eine solche kunstvolle Ausarbeitung der Gedanken, eine solche Uebereinstimmung zwischen Inhalt und Form der Darstellung. In dem armen Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges, wo die Bildkraft der Sprache gedrückt war wie die ganze Nation, waren in dieser Hinsicht der Verfasser des Simplicissimus, der kräftige Gryphius und die Schlesier Opitz und Logau von Bedeutung. Aus dem letztverflossenen Jahrhundert sind Lessing, Jean Paul, Schiller und in erster Reihe Goethe zu nennen. Diese sind denn auch am sorgfältigsten ausgezogen worden, namentlich Fischart, Luther und Goethe.
Einige Jahre konnten Zweifel obwalten, ob die Brüder Grimm die Zeit gewinnen und behalten würden, das in dieser Art vorbereitete Riesenwerk wirklich in Angriff zu nehmen. Sie waren nebenher noch mit andern Arbeiten beschäftigt, und wie viel auch durch die geschilderten Auszüge gethan war, so erschien das immer noch wenig gegen die Hauptarbeit, den gewaltigen Bau aus den herbeigeschafften und handgerecht geordneten Materialien aufzuführen, und so war es als ein Ereigniß in der deutschen Literatur anzusehen, als das Erscheinen der ersten Lieferung zeigte, daß wirklich an’s Werk gegangen worden.
Von jetzt an schritt der Bau rasch fort. 1854 war der erste Band, 1860 der zweite, 1862 der dritte vollendet. Darüber hinaus erschien bis zum Herbst des folgenden Jahres nur ein Heft. Inmitten der Beschäftigung mit dem Artikel „Frucht“ war Jakob Grimm durch den Tod von der Arbeit abgerufen worden, nachdem ihm einige Zeit vorher sein Bruder vorangegangen war, von dem im Wörterbuch der Buchstabe D behandelt ist. Alles Uebrige von dem bis dahin Veröffentlichten stammt von Jakob, und jedermann, der die etwa neunhundert Seiten starken, enggedruckten Bände größten Lexikonformats überblickt, wird von Staunen erfüllt werden über die rüstige Kraft des greisen Gelehrten, welcher in verhältnißmäßig kurzer Zeit solche Massen zu bewältigen im Stande war. Scheint doch schon die zur Herstellung erforderliche mechanische Arbeit des Schreibens die Kräfte eines jungen Mannes zu übersteigen.
Der Tod Grimm’s war für das Wörterbuch ein großer Verlust, aber kein völlig unersetzlicher. An die Stelle des Meisters traten in der Person des Gymnasiallehrers Hildebrand in Leipzig, der bisher schon als Corrector des Werkes sich in den Plan und die Methode desselben eingelebt hatte und als sachkundiger Rathgeber auch in anderer Hinsicht stiller Mitarbeiter gewesen war, und des Professors Weigand in Gießen sofort tüchtige Gesellen, um den Bau weiter zu fördern, und neuerdings hat sich zu diesen noch in Dr. Moritz Heyne in Halle ein dritter wohlgeschulter Gehülfe gesellt. Weigand baute da fort, wo Grimm die Kelle niedergelegt hatte, er arbeitete zunächst die Artikel des Buchstaben F aus. Die zweite Abtheilung bis Ende von H hat Heyne übernommen, den Schluß, I und J Professor Lucä in Marburg. Am fleißigsten hat Hildebrand, jetzt Professor an der Leipziger Universität, gearbeitet, der zunächst an den wichtigen Buchstaben K gegangen ist, welcher einen ganzen starken Band in Anspruch nehmen wird und jetzt bis zu dem Artikel „Krachen“ im Druck vorliegt. Das Werk ist damit ungefähr bis zur Hälfte vollendet. Von den übrigen Buchstaben werden nur M, S und W noch sehr viel Raum fordern, und es steht zu hoffen, daß der Schlußstein des gewaltigen Baues etwa um dieselbe Zeit eingesetzt werden wird, wenn wir ein anderes Riesenwerk unserer Zeit, das Kölner Münster, gekrönt sehen werden.
Wie bemerkt, hatte die Literatur keiner Nation bisher Aehnliches aufzuweisen. Heute sehen wir schon den wichtigen Einfluß, den das Unternehmen auf die Nachbarvölker geübt hat. Die Holländer folgten Grimm’s Vorgang mit einem „Wordenboek der Nederlandsche Taal“, welches von den Mitgliedern der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften M. de Vries und L. A. te Winkel in Leyden bearbeitet wird und dessen erste Lieferung 1864, dessen zehnte und bis jetzt letzte 1868 erschien. Man ist hier bis heute nur bis „Afleenen“ (Ablehnen) gelangt. In Frankreich wurde die Akademie zu einer Nachahmung des deutschen Werks durch ein „Dictionnaire historique de la langue française“ veranlaßt, dessen Erscheinen aber sehr langsam vor sich geht, indem 1858 die erste, erst 1865 die zweite, mit dem Artikel „Actuellement“ schließende Lieferung herauskam und das Ganze seitdem stockt. Rüstiger arbeitet der berühmte E. Littré, der Verfasser eines ähnlichen, ebenfalls nach dem Muster Grimm’s eingerichteten französischen Werkes, welches sich aber schon in zwei starken Bänden vollenden soll. Dasselbe ist mit der zwanzigsten Lieferung bereits bis zu dem Artikel „Perdre“ vorgerückt. Endlich wird auch von den Engländern an ein großes, die Geschichte ihrer Sprache darstellendes Wörterbuch gedacht, und man ist mit den Vorbereitungen zu demselben beschäftigt.
Kehren wir zu unserem deutschen Nationalwerke zurück, so ist der Umfang desselben auf das Hochdeutsche beschränkt worden, welches sich durch das sogenannte Gesetz der doppelten Lautverschiebung vom Niederdeutschen ebenso scheidet, wie die gesammte deutsche Sprache durch die einfache Lautverschiebung von den übrigen stammverwandten Sprachen getrennt ist. Ein Wörterbuch des Niederdeutschen muß also ein eigenes Unternehmen werden. Dagegen hat sich der Umfang des Grimm’schen Werkes der Zeit nach sehr weit ausgedehnt, indem in vielen Artikeln auf das Mittelhochdeutsche und selbst auf das Althochdeutsche und Gothische zurückgegangen wurde, da nur so die Entwickelung der Sprache in ihrer Gesammtheit anschaulich zu machen war. Das Wörterbuch umfaßt ferner nicht blos die Schriftsprache der Deutschen, sondern nimmt vielfach auch auf die verschiedenen Mundarten, in welche das Hochdeutsche zerfällt, Rücksicht und steigt bis in die Kreise der Jäger, Vogelsteller und Hirten herab, um den Wörterschatz, mit dem es sich beschäftigt, womöglich ganz darzustellen. Ueberblicken wir eine der Lieferungen, so staunen wir, auch wenn wir gut im Deutschen zu Hause zu sein meinen, wie viele Wörter uns vollkommen fremd sind, und sehr lebhaft tritt uns die Wahrheit vor die Seele, wie viel reicher die Sprache einer Nation ist als die eines einzelnen Angehörigen derselben.
Nach dem Plane des Wörterbuchs scheint es, daß man anfangs die Mundarten, die neben der vornehmen Schriftsprache ein stilles, bescheidenes Naturleben führen, nur in unabweislichen Fällen berücksichtigen wollte. Bald aber wird man innegeworden sein, daß die Art, „wie das Volk spricht“, innig mit den Lebenswurzeln der Sprache verwachsen ist, in der wir schreiben, und daß mindestens die Stammwörter und die wichtigsten Abschattirungen ihrer Bedeutungen, die in der Alltagsrede der verschiedenen Landschaften enthalten sind, aufzunehmen waren. So giebt das Wörterbuch eine reiche Fülle von Stoff, aber unermeßlich ist die Menge von Wortbildungen und Wortverwendungen im Deutschen, und alle diese Strahlenbrechungen der Sonne des deutschen Lebens aufzufangen, jede Vorstellung, die sich einmal in ein Wort verwandelt hat, zu verzeichnen, ist ebenso unmöglich, wie das Zählen der Blätter eines Waldes.
Unbedingte Vollständigkeit war also bei allem Eifer und aller Sorgfalt nicht zu erreichen. Für die vergangenen Zeiten nicht; denn sehr viele Nebenbedeutungen wohlbekannter Wörter sind nie in die Schriftsprache gelangt, viele liegen noch in alten Flugschriften verborgen, in denen oft Ausdrücke sehr origineller Art vorkommen, die aber ungelesen bleiben mußten, wenn man das Erscheinen des Werkes nicht über Gebühr verzögern wollte. Und ebenso für die Gegenwart nicht. Auch hier wird der Sprachstoff stets unendlich viel größer sein als die Masse desselben, die in Büchern zu verzeichnen versucht wird; denn täglich wird Neues geboren, und nie ist die Schöpfung der Sprache abgeschlossen. Am meisten bemerkt dies, wer viel mit dem Volke verkehrt. Er stößt in jedem Dialekt auf unerschöpfliche Quellen für die Sprachforschung, auf merkwürdige, oft uralte Stammwörter, charakteristische Anwendungen und neue Zusammensetzungen. Er begegnet in der Sprache der verschiedenen Kreise praktischer Thätigkeit zahlreichen originellen Ausdrücken und eigenthümlichen Bedeutungen von sonst bekannten Wörtern. Er entdeckt endlich – und das ist das Anziehendste – [200] im sogenannten niederen Volke einen solchen glücklichen Instinct der Sprache und eine solche naive und starke Kraft, neue Wörter zu bilden und die vorhandenen in neuer Weise zu brauchen, daß er erstaunt; denn unter Gebildeten ist diese Gabe weit weniger häufig.
So kann es geschehen, daß der Leser des Wörterbuchs sich vor der Fülle desselben im Allgemeinen arm, vor einzelnen Stellen aber doch zugleich reicher fühlt, da er im Stande ist, aus seinem eigenen Leben heraus Lücken auszufüllen und Berichtigungen zu liefern. Jeder mag hier Wohlbekanntes vermissen, aber wäre der Umfang des Werkes auch dreimal so groß, dieselbe Erscheinung würde sich zeigen, so lange die deutsche Sprache als lebensvolle Fluth durch fast fünfzig Millionen Seelen strömt.
Das Wörterbuch hat den Anklang gefunden, den es verdient. Schon lange war der Mangel eines solchen Spiegelbildes unseres nationalen Sprachschatzes fühlbar; denn Adelung’s deutsches Lexikon, verdienstlich zu seiner Zeit, mußte in der unseren als vielfach ungenau und unvollständig erscheinen; berücksichtigte es doch, abgesehen von anderen schweren Mängeln, nicht einmal unsere größten Dichter. Da das Wörterbuch der Brüder Grimm die höhere Aufgabe verfolgt, ein Bild von der Entwickelung und dem gewaltigen Umfang unserer Sprache und damit unserer ganzen zu Wort gewordenen Bildung zu geben, so ist das Werk nicht nur ein Buch für den engen Kreis der Gelehrten, sondern ein werther Hausfreund für die Gebildeten aller Stände geworden. Tausenden hat es Rath und Belehrung in Sachen der Sprachverwendung gespendet. Tausende haben bei der einfachen und leichtfaßlichen Darstellung, welche die Geschichte der einzelnen wichtigen Wörter und die Bildung ihrer Ableitungen hier gefunden hat, beim Durchlesen vieler Artikel sogar anziehende Unterhaltung gefunden.
„Deutsche geliebte Landsleute,“ so schließt Jakob Grimm seine Vorrede zum ersten Bande, und so ruft uns der große Todte noch heute aus seinem Grabe zu, „welches Reichs, welches Glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane Halle eurer angestammten, uralten Sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure Volkskraft und Dauer hängt in ihr. Noch reicht sie über den Rhein in das Elsaß bis nach Lothringen, über die Eider tief in Schleswig-Holstein, am Ostseegestade bis nach Riga und Reval, jenseits der Karpathen in Siebenbürgens altdakisches Gebiet. Auch zu euch, ihr ausgewanderten Deutschen, über das salzige Meer gelangen wird das Buch und euch wehmüthige liebliche Gedanken an die Heimathsprache eingeben oder befestigen, mit der ihr zugleich unsere und eure Dichter hinüberzieht, wie die englischen und spanischen in Amerika fortleben.“
Wir haben nichts hinzuzufügen. Gab es je ein Werk, welches die verschiedenen deutschen Stämme sich im Geist als Brüder erkennen und lieben läßt, so ist es dieses Nationalwerk, und war je eine Zeit, welche Ursache hat, mit herzlicher Theilnahme auf diese Hinterlassenschaft der Brüder Grimm zu blicken, so ist es die unsere.