Textdaten
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Autor: Ernst Brauer
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Titel: Die technischen Wissenschaften / Maschinenwesen
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 360–363
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Scan auf Commons
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[1504]
IV. Maschinenwesen
Von E. Brauer, Geh. Hofrat, Professor an der Technischen Hochschule Karlsruhe


Die Erfindung und Ausarbeitung einer Maschine ist in den weitaus meisten Fällen die Frucht eines verwickelten Denkprozesses. Sehr verschieden ist aber das Werden des Erfindungsgedankens, je nachdem es sich im Kopfe eines wissenschaftlich gebildeten Ingenieurs oder eines ungeschulten, wenn auch vielleicht begabten Erfinders vollzieht. Verdient auch der letztere im Falle des Erfolges vielleicht noch mehr Bewunderung, so hat der erstere doch weit größere Aussicht, ein gewolltes Ziel zu erreichen; danken wir es doch dem Einfluß der technischen Wissenschaften und ihrer Verbreitung, daß in vielen Fällen die Wahrscheinlichkeit des Erfolges fast zur Sicherheit wird und die Ausführung eines neuen Gedankens ohne wesentliches Risiko unternommen werden kann.

Wie nach dem Sprichwort die Not die Mutter der Erfindung ist, so ist sie auch die Mutter der technischen Wissenschaften. Hier ist es die Notwendigkeit, dem Ingenieur die Denkarbeit durch Festlegen abgeschlossener Gedankenketten zu erleichtern, deren Richtigkeit hinreichend erwiesen ist, um die häufige Wiederholung der ganzen Beweiskette entbehrlich zu machen. Die Mittel hierzu liefern die Naturwissenschaften, insbesondere Physik und Chemie in Verbindung mit der Mathematik. Sind sonach die technischen Wissenschaften Strömen vergleichbar, die aus verschiedenen Quellen gespeist werden, so unterscheiden sie sich von den natürlichen Strömen dadurch, daß sie auf die Quellen zurückwirken, indem ihre Leistungen dazu beitragen, auch die grundlegenden Wissenschaften zu bereichern und zu vertiefen.

Bekannte Beispiele hierfür liefern die Wärmekraftmaschinen, die Turbinen, die elektrischen Maschinen und die Luftfahrzeuge.

[1505] Hatte die Entdeckung des Luftdruckes durch Torricelli und die Erfindung der Luftpumpe durch Otto v. Guericke indirekt den Anstoß zur Erfindung der Dampfmaschine durch Papin, Newcomen und Watt gegeben, so stellte die Ausbildung der Dampfmaschine die Aufgabe, Eigenschaften des Feuers, der Wärme, des Dampfes, die bis zu jener Zeit noch nicht genau bekannt waren, nach Maß und Zahl zu erforschen. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse, insbesondere die genialen Arbeiten von Carnot und Clapeyron führten, im Zusammenhang mit anderen Forschungsergebnissen im Reiche der belebten und unbelebten Natur, auf die Entdeckung des Energiegesetzes durch Robert Mayer und Helmholtz. Hiermit war das Fundament für die Thermodynamik gelegt, deren Ausbau in späterer Zeit besonders Hirn, Clausius und Zeuner zu danken ist, und deren Lehren nicht nur die wissenschaftlich arbeitenden Ingenieure bei der Vervollkommnung der Dampfmaschine unterstützt, sondern auch bei der späteren Erfindung und Ausbildung der Dampfturbine, der Gasmaschine, sowie der Öl- und Benzinmotoren eine wichtige Rolle gespielt haben. Vielleicht noch größer ist der Gewinn zu veranschlagen, welchen die ganze Naturwissenschaft durch das Energiegesetz erfahren hat.

Als gegen Mitte des 18. Jahrhunderts das Segnersche Wasserrad bekannt wurde, zog dasselbe das Interesse des großen Mathematikers Euler in solchem Maße auf sich, daß er eine noch heute gültige Theorie dieser Maschine und damit die erste Turbinentheorie entwickelte, und kurz darnach (1755) seine grundlegende Arbeit zur wissenschaftlichen Hydrodynamik verfaßte. Dieser Wissenschaft und ihren späteren Vervollkommnungen verdanken wir aber die hervorragenden Leistungen im Turbinenbau und in der Ausnützung der Wasserkräfte, durch die sich besonders deutsche Firmen in den letzten Jahrzehnten ausgezeichnet und in allen Weltteilen betätigt haben, nachdem durch die elektrische Fernleitung die industrielle Verwertung zahlreicher seither ungenützter Wasserkräfte wirtschaftlich möglich geworden war.

Aber nicht nur auf diesem Gebiete, sondern in fast allen seinen Zweigen hat das Maschinenwesen der letzten Jahrzehnte unter dem Einfluß der Elektrizität gestanden, und gleichzeitig hat sich aus diesem Zusammenhang die Elektrotechnik als umfangreiche technische Wissenschaft entwickelt. (Siehe den folgenden Abschnitt Elektrotechnik.)

Als neuster Vorgang ähnlicher Art vollzieht sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Aufgaben, die der Bau der Luftfahrzeuge stellt, die gründlichere Durchforschung der Bewegungsgesetze der Luft, die Betätigung zahlreicher Kräfte auf dem Gebiete der Aerodynamik, welches mangels praktischen Interesses lange Zeit vernachlässigt worden war.

Geht schon aus diesen Beispielen hervor, daß die Maschine die Dienste, welche die Quellwissenschaften bei ihrer Entwicklung geleistet haben, reichlich vergolten hat, so läßt sich noch in vielen andern Fällen zeigen, daß sie nicht nur ein Anwendungsobjekt, sondern selbst eine Quelle neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse gewesen ist und wohl auch in Zukunft bleiben wird.

Ganz besonders gilt dies für die Beziehungen zur Mechanik. Diese Wissenschaft verdankt zwar die wichtigsten Erkenntnisse, auf denen ihr heutiges Lehrgebäude beruht, dem Studium der Planetenbewegung. Hierbei handelt es sich aber im wesentlichen nur um [1506] die Bewegung eines materiellen Punktes. Die Maschine verlangte die Ausdehnung dieser Lehren auf materielle Körper, auf flüssige und gasartige sowohl wie auf elastische. So entstand neben der Hydraulik und Gasmechanik auch die Lehre von der Festigkeit und Elastizität als eine zunächst technische Wissenschaft, deren Ausbildung und Verfeinerung besonders französischen Mathematikern des vorigen Jahrhunderts zu danken ist. Zu den Grundlagen der Festigkeitslehre gehört auch die experimentelle Festigkeitsprüfung, welche in den letzten Jahrzehnten sowohl durch die Tätigkeit amtlicher Prüfungsstellen, als auch durch die in den Hüttenwerken eingeführten Festigkeitskontrollen, großen Einfluß auf die Leistungen der Werke gewonnen hat. Es entstand ein Wettkampf zwecks Erzeugung immer festerer und technisch wertvollerer Metalle, wie sie besonders zum Bau der leichten Motoren für Automobile und Luftfahrzeuge erforderlich sind. So gebührt ein nicht geringer Anteil der Bewunderung, welche die Gegenwart den Erfolgen der Flugtechnik zollt, der stillen Arbeit des Chemikers und des Hüttenmannes, ohne welche die von der Wissenschaft lange geübte Zurückhaltung in bezug auf das Flugproblem noch heute berechtigt sein würde.

Auch auf anderen Gebieten der Maschinentechnik hat das Experiment mehr und mehr fördernden Einfluß gewonnen. Fast in allen Fällen, in denen es möglich ist, die Lehren der überkommenen Wissenschaft einer Nachprüfung zu unterwerfen, ist es Gebrauch geworden, diese Möglichkeit auszunützen. Um die Ingenieure hierfür vorzubereiten, sind an den technischen Hochschulen und an vielen technischen Mittelschulen Laboratorien maschinentechnischer Richtung ins Leben gerufen worden, aus denen schon zahlreiche, zum Teil sehr wertvolle Forschungsarbeiten hervorgegangen sind. Zumeist sind es Dissertationen zur Bewerbung um den Doktor-Ingenieur-Titel, an denen ersichtlich wird, wie das Promotionsrecht – für die preußischen technischen Hochschulen bekanntlich ein Geschenk des Kaisers zur Zentenarfeier der Berliner Hochschule – ein Mittel geworden ist, das Streben nach einem persönlichen Ziel dem Gesamtwohl dienstbar zu machen. Die Fortschritte in der Meßtechnik und ihre Verbreitung haben dazu geführt, daß kaum noch eine größere Maschinenanlage zur Ausführung kommt, ohne daß die im Vertrag ausbedungenen Werte für Leistung und Verbrauch vor der Abnahme einer genauen experimentellen Prüfung unterworfen werden. Die Erfahrungen, welche bei dergleichen „Abnahmeprüfungen“ gemacht werden, bleiben zwar in vielen Fällen der Öffentlichkeit vorenthalten, aber auch im Besitz einer einzelnen Firma oder eines einzelnen Ingenieurs können sie zur weiteren Verbesserung und Vervollkommnung der Maschinen wesentliche Dienste leisten, besonders dann, wenn sie nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bearbeitet und geordnet werden.

Während hier das geistige Eigentum durch Geheimhaltung geschützt wird, tritt beim Patent der staatliche Rechtsschutz ein, wofür der Erfinder durch Veröffentlichung der Erfindungen einen Beitrag zum allgemeinen Schatze technischen Wissens zu leisten hat, der in den meisten Kulturstaaten durch die Patentschriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Ist hiernach auch das Patentwesen zu den Quellen technischen Wissens zu zählen, so bringt es doch der Rechtszweck mit sich, daß der technisch wissenschaftliche Gehalt der Patenturkunden wenig hervortritt, ja in vielen Fällen verschwindet, und [1507] es gibt vielleicht kein besseres Beispiel als dieses zum Beweis der alten Wahrheit, daß eine Sammlung von Tatsachen noch keine Wissenschaft ist, daß eine solche vielmehr erst durch zielbewußtes Ordnen aus den Tatsachen gewonnen werden kann. Hier liegt freilich eine Riesenaufgabe vor, zu deren Lösung eine große Organisation erforderlich sein würde, während sie bisher, auch in Deutschland, der Initiative Einzelner überlassen geblieben und daher nicht über unzulängliche Anfänge hinausgekommen ist. Vielleicht kommt die Zeit, in welcher sich das Patentamt der wissenschaftlichen Aufgabe stärker bewußt wird. Vielleicht findet sich dann auch ein Organisator, der es versteht, die vergrabenen Schätze der Allgemeinheit in ähnlicher Weise zugänglich zu machen, wie es einem Oskar v. Miller bei der großartigen Schöpfung des Deutschen Museums in München gelungen ist, einem Werke, welches schon jetzt zur Förderung und Verbreitung der technischen Wissenschaften und der öffentlichen Anerkennung der Bedeutung der Technik in hohem Maße beiträgt, und von welchem man hoffen darf, daß es diesem Kulturgebiet auch mehr und mehr tüchtige Kräfte als Mitarbeiter zuführen wird.

Wie in dem der Maschinenindustrie gewidmeten Teile dieses Werkes ausgeführt wird, hat die Maschinenfabrikation in den letzten Jahrzehnten auch in Deutschland große Fortschritte gemacht. Es ist der Verbreitung gründlicher wissenschaftlicher Ausbildung unter den deutschen Ingenieuren zu verdanken, daß der deutsche Maschinenbau immer mehr von den Leistungen des Auslandes unabhängig geworden ist. Die eigentlichen Begründer dieses erfreulichen Zustandes sind aber die Männer, welche das Lehrgebäude geschaffen haben, dessen Erfolge die Gegenwart genießt, Lehrer und Gelehrte, deren Namen in allen Kulturländern bekannt geworden sind. Wir gedenken hier insbesondere der auf deutschem Boden geschaffenen klassischen Werke von Weisbach, Rühlmann, Redtenbacher, Grashof, Zeuner, Reuleaux, Radinger u.a. Ihre Nachfolger bestellen das Feld für eine neue Generation. Möge die Saat reifen unter der Sonne des Friedens und reiche Frucht bringen!