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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Mary Kreuzer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 625-629
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Aus dem deutsch-amerikanischen Leben
Fortsetzungsroman in 5 Teilen // Heft 40–44
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Mary Kreuzer.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius.[1]

Vor einem der zahlreichen Emigranten-Kosthäuser, mit welchen Greenwich-Street in New-York im Jahre 1849 noch besetzt war, hielt an einem Juni-Morgen ein einspänniger, ärmlicher Leichenwagen. Das Haus, obgleich kleiner, als viele der übrigen, zeichnete sich vor diesen durch eine gewisse Respectabilität der Erscheinung aus, die indessen mehr in der äußeren Reinlichkeit und Ordnung, als in andern Unterschieden, ihren Grund fand.

Der Leichenfuhrmann schwang sich eben auf den Bock, um den einsamen Todten, der in dem ringsum pulsirenden Leben nirgends eine Lücke verursacht zu haben schien, der wie so Viele vor ihm und so viele Tausende nach ihm unbekannt in unbekannter Erde ruhen sollte, hinwegzuführen, als aus dem Innern des Hauses ein junges Mädchen in die offene Hausthüre stürzte und hier in die Kniee brach. Eine ältliche Frau, die ihr gefolgt war, fing sie auf und schien in gutmüthigem Eifer ihr zuzureden, bis mit verdrießlichem Gesichte, die Hausmütze auf den Hinterkopf schiebend, eine wohlbeleibte Wirthsfigur hinzutrat.

„Du kannst nicht mit, Mädchen,“ sagte der Mann, als streite sich Unmuth und eine Regung von Mitleid in ihm, „der Wagen fährt viel zu schnell, und Du könntest ohnedies den Weg nicht wieder hierherfinden. ’s ist traurig, aber doch nicht zu ändern.“

Der Wagen fuhr im Trabe davon, das Mädchen stieß einen Schrei und streckte die Arme dem schwarzen Gefährt nach, alle Bemühungen der Frau zu ihrer Beruhigung von sich weisend, bis der Mann mit einem: „Bring sie in’s Hinterzimmer!“ die Hausthür schließen wollte.

Der Vorfall hatte einige der Vorübergehenden veranlaßt stehen zu bleiben; die Scene aber endete rasch, als sich die Thüre schloß und bald Jeder wieder gleichgültig seinen Geschäften nachging. Nur auf der entgegengesetzten Seite der Straße stand noch ein Zuschauer, dessen reges Interesse an der Scene sich selbst dann noch unverhohlen in seinen Mienen aussprach, als sich das Haus bereits geschlossen hatte, eine hohe, viereckige Gestalt, deren ganze Erscheinung, von dem faltigen, wetterbraunen Gesichte unter dem breiten Hute bis zu den riesigen Händen und der groben Fußbekleidung herab, sogleich den Mann aus dem Hinterwalde verrieth.

Er schien einige Secunden lang mit einem Entschlusse nicht fertig werden zu können und besah nachdenklich das Zeichen über der Thür, das Kost und Logis verhieß, schritt dann aber fest über die Straße und trat in das Haus.

In dem offenen Gastzimmer stand der Wirth hinter dem Schenktische, eben beschäftigt, ein großes Glas mit Branntwein zu füllen.

„Das ist gut und stärkt ein trauriges Herz!“ sagte der Fremde, mit einem kurzen Blicke durch das leere Zimmer herantretend, „ich nehme aber auch so einen Tropfen, und Sie trinken mit mir!“

Der Wirth ließ schweigend einen musternden Blick über den Gast gleiten; als dieser aber aus einem ledernen Beutel eine Silbermünze zwischen einer Anzahl Goldstücken hervorsuchte und auf den Tisch warf, schob Jener Glas und Whiskeyflasche her, und schweigend ward mit einem Stampfen der Gläser gegenseitiger „Bescheid gethan.“

„Seid auch ein Deutschländer?“ fragte der Fremde, sich den Mund wischend.

„So ist es, Landsmann!“ nickte der Andere, die Flasche wegstellend.

„Seid dann aber auch maulfaul genug, und ich möchte mich doch über eine Sache befragen!“

„Ich spreche gerade so viel als nothwendig ist, was manchmal auch für andere Leute gut wäre, die zum ersten Male nach New-York kommen,“ erwiderte der Wirth, seinen Gast mit einem Ausdrucke von halbem Humor betrachtend. „Wenn Ihr etwas zu fragen habt, so kommt nur heraus damit!“

„So – na denn geradezu! Ich möchte wissen, wie es mit dem Mädchen ist, das eben so ganz desperat that, ob sie zu Euch in’s Haus gehört, oder ob sie sonst Jemanden hat –“

Der Wirth sah dem Frager einen Augenblick scharf in’s Gesicht, schien aber schnell einen aufgestiegenen Verdacht zu beseitigen. „Wollt Ihr mir wohl sagen, Landsmann, woher Ihr seid und was Ihr in New-York thut?“ fragte er dann.

„Das kann Jeder wissen,“ erwiderte der Fremde, gutmüthig nickend, „ich habe eine Farm in Iowa, heiße Michel Kreuzer, über den jedes Kind in unserm County Bescheid geben kann, und habe in New-York mit den Advocaten wegen einer Erbschaft zu verhandeln. Und wenn Ihr wissen wollt, weshalb ich gefragt habe, so ist es das: Es ist mir gewesen, als habe das Kind seine einzige Hoffnung in dem schwarzen Wagen fortfahren sehen, und wenn es so ist, könnte ich vielleicht etwas für sie thun!“

Der Wirth rückte an seiner Hausmütze und kam langsam hinter dem Schenktische vor. „Wir wollen uns einmal setzen!“ sagte er, nach einem der von Stühlen umgebenen Tische deutend.

Der Wirth erzählte nun Folgendes: „Es mögen jetzt drei [626] Wochen her sein, da kam mit einem der Emigrantenschiffe ein Mann mit seiner Tochter und quartierte sich bei mir ein. Es war etwas Feines an ihm, wie an dem Mädchen, was wir selbst bei den besseren Einwanderern[WS 1] nicht gewohnt waren, und von Andern, die mit ihm auf dem Schiffe gewesen, aber sich billigeres Logis und ein Bett voll Wanzen in der Nachbarschaft gesucht, vernahm ich nachher, daß er Regierungsbeamter oder so etwas gewesen sein soll. Ich habe ihn selber nie darum gefragt, denn er war fast niemals hier im Bar-Room, und ich hörte nur so viel von ihm, daß er schnell nach dem Westen wolle. Am vierten Tage wurde der Mann krank und mußte sich legen; er bezahlte prompt und gut, und wir thaten für ihn, was wir konnten – in der letzten Woche hat meine Frau selbst abwechselnd mit dem Mädchen bei ihm gewacht. Aber die Doctoren und alle Pflege konnten ihm nicht helfen; gestern am frühen Morgen starb er und heute ist er begraben worden. Das Mädchen war von Anstrengung und Gram so herunter, daß sie bei der Leiche selbst wie todt eingeschlafen war; wir legten sie auf’s Bett und dachten, sie solle nichts von dem Begräbniß merken, wenn wir’s rasch machten; aber sie war aufgewacht und schrie, sie müsse wissen, wo ihres Vaters Grab sei – und das Uebrige habt Ihr ja wohl mit angesehen. Nun ist die Sache so: Ob der Mann etwas Vermögen mitgebracht hatte, weiß ich nicht; viel kann es aber nicht sein, denn er klagte schon den dritten Tag über die Kosten, die ihm der unvermeidliche New-Yorker Aufenthalt verursache. Jetzt muß das Kind also irgendwo untergebracht werden. Sie ist zu eigentlicher Arbeit noch zu schwach, so herzhaft und flink sie auch sonst sein mag, und wir selbst können sie nicht behalten. Finden wird sich wohl etwas für sie, aber sie muß es nehmen, wie es kommt, und darf bei dem mancherlei Elende unter der Masse von Einwanderern, die Hülfe beansprucht, nicht wählen.“

Der Farmer hatte ernsthaft zugehört und nur durch einzelnes halbes Nicken seine Theilnahme geäußert.

„Ich möchte einmal mit dem Dinge reden,“ sagte er, als der Wirth geendet, „und wenn sie nicht gar zu schlimm traurig ist, könnet Ihr sie wohl einmal holen!“

„Will sehen,“ erwiderte der Wirth, sich zögernd erhebend, und ging.

Es mochten zehn Minuten vergangen sein, als sich eine Seitenthür öffnete und das junge Mädchen mit einem Ausdrucke scheuer Zurückhaltung, die durch das leidende, verweinte Gesicht eine noch erhöhte Wirkung erhielt, in’s Zimmer trat. Sie konnte kaum über fünfzehn Jahre sein; demohngeachtet lag etwas in ihrer Erscheinung und der Weise, wie sie ihren schlanken Körper trug, das auf früh errungene Selbstständigkeit deutete, und der alte Kreuzer setzte sich bei ihrem Anblicke wie unwillkürlich aus seiner nachlässigen Stellung aufrecht.

„Das ist der Gentleman!“ sagte der Wirth, welcher ihr gefolgt war, und der Farmer hustete einige Male, als wisse er nicht recht, wie seine Worte einzuleiten.

„Sie brauchen sich nicht zu fürchten, Miß, weil Sie einen rauhen Bären hier sitzen sehen,“ begann er endlich, „bei uns auf dem Lande tragen sie keine feinen Handschuhe, sie meinen’s aber darum vielleicht desto aufrichtiger!“

„Ich fürchte mich nicht!“ erwiderte sie leise, während ihr großes, trauriges Auge in den treuherzigen Zügen des Fremden hängen blieb.

„Well, so denke ich, Sie kommen einmal zu mir her und hören, was ich Ihnen sagen möchte,“ fuhr der Letztere fort, den möglichsten Grad von Freundlichkeit in sein verwittertes Gesicht legend; „wissen Sie: hören soll der Mensch Alles, heißt’s in Amerika, das Thun steht nachher Jedem frei!“

Sie näherte sich, ohne eine Miene zu verändern, während der Alte rasch einen der Stühle am Tische zurückschob. „So, jetzt setzen Sie sich hierher,“ sagte er, „und nun,“ fuhr er fort, als das Mädchen ungezwungen seiner Aufforderung folgte, „nun geben Sie mir einmal Ihre Hand – Sie geben sie einem rechtschaffenen Manne und brauchen sich nicht zu scheuen!“

Es war ein eigenthümlicher Anblick, dieses jugendliche Gesicht, das regungslos kaum etwas von den Bewegungen des übrigen Körpers zu wissen schien. So legte das Mädchen, fast wie mechanisch, kalt und still ihre Hand in die des Farmers, und dieser sah eine Weile in ihr ausdrucksloses Auge, schloß dann warm seine Finger um die ihren und schüttelte endlich den Kopf.

„Wissen Sie, Miß, es ist ein schlimmes Land, das Amerika,“ begann er wieder, „es ist noch Keiner herübergekommen, der nicht irgend etwas, woran sein Herz gehangen, hat fahren lassen müssen – ich weiß ja wohl, Sie haben einen schweren Verlust gehabt; aber das Grämen thut’s hier nicht, und der Mensch muß immer vorwärts und nicht zurücksehen – hab’ es auch erst lernen müssen, so alt ich bin. Hier ist Jeder selber sein bester Freund, und wenn er nicht auf sich sehen will und sich an Verlorenes hängt, geht er selber mit verloren. Sie sehen so verständig aus, so jung Sie auch sein mögen, daß ich Ihnen das wohl sagen kann. Jetzt möcht’ ich aber doch einmal wissen, ob Sie wirklich das sind, was ich mir gedacht habe, eine starke, junge Lady, die einsieht, um was es sich handelt, oder ob Sie mit sich ungefragt thun lassen, was eben kommt. Haben Sie denn schon einen Gedanken wegen Ihrer Zukunft gehabt, Miß?“

Das Auge des Mädchen ruhte ernst und forschend in des Fragers Gesicht. „Mein Vater ist eben erst begraben worden, und ich weiß noch nicht einmal, wo!“ erwiderte sie mit einer leisen, tiefen Stimme, während es in ihrem Gesichte zuckte, als strebe sie mit Macht ihre Thränen zurückzudrängen.

Der Alte nickte einige Male rasch hinter einander. „’s ist so, und es könnte fast über die Kräfte eines alten Menschen gehen; aber es ist ein böser Lehrmeister, das neue Land, und das schärfste Mittel gegen nutzlose Trübsal sind neue Sorgen. Hier im Kosthause können Sie doch nicht bleiben; in Dienst zu gehen sind Sie auch noch zu schwach – und werden ohnedies nicht dazu passen, wenn auch Mancher in einen noch sauerern Apfel hat beißen müssen. Haben Sie denn Jemand in Deutschland, auf den Sie sich verlassen können?“

In dem Auge des Mädchens begann es sich zu regen, als ob neue Gedanken in ihrer Seele aufschössen. „Ich weiß Niemand in Deutschland, der sich groß um mich kümmerte,“ sagte sie nach einer Weile; „Mutter starb vor zwei Jahren und Vater ging fort, weil er es mit der Revolution gehalten hatte.“

Der Alte nickte wieder, als sie schwieg. „Und so müssen Sie jetzt doch allein an sich denken, trotz allen Kummers!“ versetzte er. „Hören Sie einmal ein Wort, das mir vom Herzen kommt. Ich weiß nicht, wer Sie sind, noch was Sie haben, aber ich wollte, Sie könnten so viel Zutrauen zu mir fassen, als ich Gefallen an Ihnen finde. Ich wohne, was sie hier „im Westen“ nennen und wo die meisten Einwanderer hingehen –“

„Vater wollte auch nach dem Westen!“ unterbrach sie ihn mit aufleuchtenden Augen.

„’s ist schon recht!“ nickte Kreuzer. „Da habe ich eine Farm – oder ein Bauerngut, wenn Sie das besser verstehen; eine schöne Gegend rings herum, und auch Gesellschaft genug von Deutschen und Amerikanern; habe eine brave Frau, aber blos zwei Jungen – es hat einmal kein Mädchen geben sollen, so sehr sich auch meine Alte danach gesehnt hat. Nun weiß ich, daß ich keine größere Freude anrichten könnte, als wenn ich eine Tochter in’s Haus brächte – die Sache fuhr mir gleich durch den Kopf, als ich Sie so im Jammer an der Hausthür sah – da haben Sie Alles! Und nun,“ fuhr er, ihre Hand drückend, fort, „denken Sie sich die Sache selber durch; ich kann Red’ und Antwort geben über meine Verhältnisse; – wenn Sie eine neue Heimath haben wollen, so sollen Sie eine haben, gedrängt sollen Sie aber nicht dazu werden! Morgen früh komme ich wieder, bis dahin sind Sie ja wohl mit sich einig geworden!“

Er erhob sich langsam, den Blick auf ihr ruhen lassend, als wolle er ihr Gesicht recht seinem Gedächtniß einprägen, und drehte sich dann nach dem Wirthe. „So, und nun sprecht ein vernünftiges Wort zu dem Kinde, damit sie weiß, wie es hier steht; und wollt Ihr selber klaren Bescheid über mich haben, so fragt bei Mr. Schmidt, dem Consul, nach; ich heiße Michel Kreuzer aus Iowa!“ Er nickte noch einmal dem „Kinde“ zu und wandte sich dann nach der Thür. – –

Zwei Tage nach dem soeben Erzählten saß Kreuzer mit dem jungen Mädchen in einem Wagen der New-Yorker Central-Eisenbahn und rollte dem Mississippi entgegen.

Der Farmer hatte den Ellbogen in das offene Fenster an seiner Seite gestützt, sah in den sonnigen Morgen hinaus und lächelte, wie in einer erfrischenden Erinnerung. Als er am Morgen nach dem von ihm gemachten Anerbieten wieder in das Kosthaus in Greenwich-Street getreten, war ihm das Mädchen in voller Fassung [627] entgegen gekommen, hatte ihm zuerst die kleine schmale Hand gereicht und gesagt, wenn er sie als Tochter annehmen und für eine kurze Zeit mit ihr Geduld haben wolle, bis sie sich in das amerikanische Leben gefunden, so wolle sie mit ihm gehen, und er möge glauben, daß sie Alles für seine und der künftigen Mutter Zufriedenheit thun werde. Kreuzer hatte ihr derb die Hand geschüttelt und erwidert, sie solle nur guten Muth haben, das Amerikanische lerne sich ganz geschwind, und wenn sie erst einmal vier Wochen bei ihnen auf dem Lande zugebracht, werde sie gar nirgends andermehr hin wollen; sei sie aber bereit, mit ihm zu gehen, so möge sie hier kurzen Abschied machen, er werde, was etwa noch für sie berichtigt werden müsse, mit dem Wirthe ordnen. Der Wirth aber schien nur auf so etwas gewartet zu haben, war jetzt herangetreten und hatte gemeint, das sei wohl das Beste, dann könne das ganze Gepäck des Verstorbenen gleich mit fortgenommen werden, es sei noch nichts davon angerührt – hatte dann hinter dem Schenktische ein großes Buch hervorgeholt und darin angefangen zu rechnen, bis er endlich mit einem halben Kopfwiegen gesagt, Alles zusammen möge etwas über dreißig Dollars betragen, er wolle aber mit dreißig zufrieden sein. Kreuzer war schon mit der Hand nach seinem Geldbeutel gefahren, als das Mädchen plötzlich seinen Arm gefaßt. „Das ist wohl nicht ganz recht so, Herr Schwarz,“ hatte sie begonnen, während ihr Gesicht sich zu beleben anfing. „Vater hat genau aufgeschrieben, was wir schuldig waren und was bezahlt worden ist, und als er es nicht mehr konnte, hab’ ich es gethan. – Noch den Tag, ehe Vater starb,“ hatte sie hinzugesetzt, während es in ihren Augen und um ihren Mund spielte, als zwinge sie die aufsteigende Weichheit hinab, „bezahlte ich die Rechnung des Doctors, weil er es so verlangte, wie die Arznei, und der Frau Schwarz gab ich ein Zehn-Dollar-Goldstück für andere Ausgaben – vorgestern aber habe ich Ihnen erst unser Kostgeld für die letzte Woche bezahlt, ich kann Ihnen das Buch holen –!“

„Wird ja wohl nicht nothwendig sein, und der Fehler sich hier schon finden!“ hatte Kreuzer genickt, indem ein sichtliches Vergnügen durch sein Gesicht zuckte, und der Gedanke, welcher ihn im Eisenbahnwagen bei der Erinnerung an diese Scene lächeln machte: „Die läßt sich in Amerika einmal nicht die Butter vom Brode nehmen,“ war damals durch seine Seele geschossen, „’s ist ein bischen viel, Alter, dreißig Dollars für das Begräbniß, was ich mit angesehen habe, wenn das nicht etwa schon mit ein oder zwei Zehn-Dollar-Goldstücken bezahlt ist – wollt Ihr nicht lieber noch einmal nachrechnen?“ Er hatte gleichzeitig zwei Goldstücke auf den Schenktisch gelegt, der Wirth, der erst auffahren wollte, hatte sie brummend in den Geldkasten geworfen und dann mit ärgerlichem Gesichte das Zimmer verlassen.

Zwei Stunden darauf war das Mädchen mit drei großen Kisten in dem Hotel des Farmers einquartiert, und dieser hatte sich auf den Weg gemacht, um das Grab des Verstorbenen zu erkunden. Die Tochter hatte den Wunsch, vor ihrer Abreise Abschied davon zu nehmen, so dringend ausgesprochen, daß der Alte kein Wort dagegen hatte sagen mögen.

Sie frug nicht, sie zweifelte nicht, als er, nach einer langen stillen Fahrt mit ihr angekommen, auf das Merkmal, welches er errichtet, deutete; sie ging langsam auf den niedern Hügel los, brach dort in die Kniee und fiel mit der Stirn in den aufgeworfenen Boden. So lag sie lange, und nur das krampfhafte Zucken ihres ganzen Körpers gab Zeugniß von dem Ausbruche ihres Schmerzes. Kreuzer hatte sich, von einem weichen Gefühle übermannt, weggedreht; als er sich aber wieder zurückwandte, kam sie ihm mit gefaßtem Gesichte entgegen und reichte ihm mit großen vertrauenden Augen, an deren Wimpern noch die Tropfen hingen, schweigend die Hand. –

Kreuzer’s Lächeln, mit welchem er im Eisenbahnwagen die einzelnen Scenen an sich hatte vorübergehen lassen, war schon längst gewichen; er drehte sich jetzt nach dem neben ihm sitzenden Mädchen herum und legte die breite, schwielige Hand auf die ihrige. „Bist Du jetzt zufrieden und ruhig, Mary?“ sagte er mit einem Tone, der fast an Zärtlichkeit streifte.

„Ja, Vater!“ erwiderte sie, den klaren Blick zu ihm aufschlagend.




Es war ein stiller, lauer Abend, als die Postkutsche nach einer halben Tagereise voll Rütteln und Stößen die Reisenden an einem riesigen Blockhause absetzte. Sie hatten am Vormittag das Ufer des obern Mississippi verlassen.

„Jetzt haben wir nur noch zwei kleine Meilen,“ sagte Kreuzer, „und sind in kaum einer Stunde zu Hause, machen uns bis dahin einen Spaziergang und lassen das Gepäck so lange hier!“

Er wandte sich nach dem Hause, in dessen Thür eben der Besitzer getreten war und ihm die Hand entgegenstreckte.

Das Gepäck, von welchem der alte Farmer gesprochen, war indessen von den drei Kisten, die Mary als Erbtheil ihres Vaters erhalten, bis zu einem der eigenthümlichen amerikanischen Koffer zusammengeschmolzen. Als Kreuzer die wohlgefügten und an allen Seiten mit Eisen beschlagenen Breter aufgebrochen, hatte sich neben einer großen Sammlung deutscher Bücher so viel deutscher, für Amerika kaum brauchbarer Kram vorgefunden, daß sich der Alte nach oberflächlicher Uebersicht nicht lange mit Betrachtung der einzelnen Gegenstände aufgehalten, die Bibliothek seinem Advocaten zum möglichst besten Verkauf übergeben und den Rest nach einem Auctionslocale gesandt hatte. Was in Mary’s Koffer jetzt geborgen war, bestand nur aus deren reichlichem Vorrathe an Wäsche und Bekleidungsstücken und ihres Vaters goldener Uhr. In des Farmers Taschenbuche aber ruhte ein auf „Mary Kreuzer“ ausgestellter Depositenschein einer New-Yorker Bank über verzinsliche 763 Dollars, den Betrag dessen, was mit dem Erlös der verkauften Gegenstände zusammengenommen der Verstorbene hinterlassen.

Das Mädchen sah mit sinnendem Auge auf die Gegend, die ihre Heimath werden sollte, und erst als der Wald sie längst wieder aufgenommen, als der Farmer nach Ersteigung einer Anhöhe in eine sich öffnende Klärung hinab zeigte, wo zwischen weit ausgedehnten Feldeinzäunnugen ein neues, sauberes Holzhaus sich erhob, und als er mit einem Blicke, welcher die ganze Befriedigung des heimkehrenden Besitzers aussprach, sagte: „Da sind wir, Mary!“ erst da überkam das Mädchen ein leichtes Gefühl von Beengung, wenn sie an die Personen dachte, unter die sie jetzt treten sollte, und von denen sie noch Niemand kannte. Sie wußte, daß der Alte von ihrem Mitkommen schon im Voraus geschrieben und ihr dadurch die Pein aller Erklärungen bei ihrem ersten Eintritte erspart hatte; trotzdem konnte sie eine Art ängstlicher Scheu, je näher sie dem Hause kam, je weniger los werden.

Sie bogen in eine von den Feldeinzäunungen begrenzte Straße ein, die gerade auf das Haus zuführte, und hatten bald den freien Platz vor demselben erreicht. Nichts regte sich darum her, und es war dem Mädchen, als lege sich diese Stille jetzt noch zu größerer Beengung auf ihr Herz; der Farmer aber ließ ihre Hand los und ging mit großen Schritten ihr voran nach der von einem breiten Dache überschatteten Hausthür, öffnete diese rasch und steckte den Kopf in die Lücke. „Komm nur her, Kind,“ rief er dann zurück, „Mutter ist gerade da!“

In einem freundlichen, weißgetünchten Zimmer, das zum Theil von einem großen zweischläferigen Bett eingenommen ward, erhob sich eine ältliche Frau aus dem hölzernen Schaukelstuhle und ließ schweigend einen musternden Blick über die ganze Gestalt der Eingetretenen laufen. Mary war stehen geblieben und hielt das große Auge ernst auf das Gesicht der Farmersfrau geheftet, bis diese ihren Blick traf und Beider Augen eine Secunde lang in einander hingen.

„Geh heran, Kind, scheu’ Dich nicht und gib der Mutter die Hand,“ sagte Kreuzer aufmunternd – „weißt Du,“ wandte er sich an seine Frau, „sie ist noch traurig, aber das gibt sich, und Verstand hat sie auch genug – ich könnte selbst ein Stückchen davon erzählen!“ setzte er mit einem halben Lachen hinzu.

Mary trat, ohne ihren Blick zu ändern, langsam auf die Frau zu und streckte ihre schmale, weiße Hand aus. „Herr Kreuzer hat mir gesagt, ich solle ihn Vater nennen, und Sie würden auch gern eine Tochter in Ihr Haus aufnehmen, die Alles thun will, damit Sie mit ihr zufrieden sind,“ begann sie mit tiefer, bewegter Stimme.

„’s ist Alles recht, Mädchen, und ich habe gar nichts dawider,“ unterbrach sie die Frau, eine kalte, steife Hand in die ihre legend, „wenn Du nur nicht zu vornehm für unser Leben hier sein wirst. Es ist kein Zuckerlecken, die Farmarbeit; es sieht noch wild aus um uns herum, und da muß Alles mit anfassen, was im Hause ist – Du nimmst Dich mehr wie ein Fräulein aus, als eine Farmersdirne, und um Grobes scheinen sich die weichen Hände auch noch nicht bekümmert zu haben!“

„Ei was! mach’ mir dem Kinde das Herz nicht gleich zu Anfange schwer!“ rief Kreuzer mit einem Anfluge von Verdrießlichkeit, „sie hat das rechte Zeug in sich, und das Andere findet sich von selber!“

[628] In diesem Augenblicke sprang die Hinterthür des Zimmers auf, und geräuschvoll trat ein junger Mensch von fünfzehn oder sechzehn Jahren ein, in dem breiten groben Strohhute, der ein gebräuntes Gesicht beschattete, dem dunkel gestreiften Hemde, um das sich die Beinkleider nur von einem Gurt gehalten schlossen, und den bloßen Füßen in den derben Schuhen, das rechte Abbild eines westlichen „Farmerboy’s“.

„Halloh, Vater, wieder da?“ rief er, den Alten erblickend; zugleich aber fiel sein Blick auf das Mädchen, welches das unverändert ernste Auge nach dem Eingetretenen gewandt hatte, und plötzlich inne haltend, starrte er mit halboffenem Munde die neue Erscheinung an.

„Komm nur her und reich’ ihr die Hand, ’s ist Deine neue Schwester Mary,“ rief Kreuzer, sichtlich seine gute Laune wiedergewinnend; „Mutter wird Euch ja wohl erzählt haben!“

Der Bursche warf einen Blick nach der Frau und dann wieder nach dem Mädchen. „So, das ist sie?“ sagte er endlich, „sie ist anders, als ich mir gedacht – ich glaube aber hübscher, wenn auch nicht so lustig!“ Ein Lächeln wie in halber Befangenheit ging über sein Gesicht; dann trat er heran und schüttelte der Angekommenen derb die Hand, den Blick auf ihre Züge geheftet, als müsse er sich erst damit vertraut machen.

„Well, Ihr werdet müde und hungrig sein,“ begann die Frau wieder; „Heinrich mag Euere Sachen mit dem Wagen vom „Point“ holen, und ich werde unter der Zeit sehen, daß ich ein Unterkommen zurecht mache. Bis dahin ist dann auch das Essen bereit. Jetzt, Mädchen, sage „Du“ zu mir, wie sich’s bei gemeinen Leuten für eine Tochter paßt, und mit der Zeit, denke ich, werden wir mit einander fertig werden. Heute Nacht schläfst Du mit der Magd, und morgen werden wir zusehen, wie sich anders Rath schaffen läßt!“

„Ich bin mit Allem zufrieden, Mutter,“ erwiderte Mary, das dunkle Auge zu ihr aufschlagend, „sage mir nur, was ich thun soll!“

„’s ist schon recht!“ nickte die Frau, „heute heißt’s ruhen, morgen werden wir dann weiter sehen!“

Der erste Strahl, welchen am andern Morgen die aufgehende Sonne über den Wald schoß, fiel in das Giebelzimmer von Kreuzer’s Hause, und zauberte Rosen auf das bleiche Gesicht des jungen Mädchens, das dort auf einer Maisstroh-Matratze unter einer der gebräuchlichen Steppdecken lag. Leicht sprang sie von ihrem Lager. Wer sie beobachtet, hätte durch die ganze Gestalt, von den kleinen zierlichen Füßen an, bis zu der biegsamen Taille und dem feinen Halse an die flüchtige Antilope erinnert werden müssen.

Geräuschlos vollbrachte sie ihr Reinigungswerk und ihren einfachen Anzug, öffnete dann leise die Thür und eilte mit leichten Schritten die Treppe hinab. Im Hause war noch nirgends ein Laut hörtbar; sie schob behutsam den Riegel von einer Hinterthür und trat hinaus in’s Freie.

Mary warf einen Rundblick über die Morgenlandschaft und folgte dem ersten Pfade, welcher dem Walde zuführte; sie horchte, ob sie nicht den Gesang einer Lerche oder den Schrei eines andern Vogels höre, aber Feld und Wald waren stumm, und nur ein dumpfes Brummen unter den umherlagernden Kühen unterbrach zeitweise die Morgenstille. Eine kurze Minute lang dachte das Mädchen daran, wie hier selbst die Natur so ganz anders, so viel weniger freundlich als in ihrer Heimath sei; dann aber stand wieder der gestrige Abend mit seinen Erlebnissen, der eine scharfe Grenze für ihre ganze Zukunft bilden sollte, ihr vor der Seele. Sie hatte sich jetzt so früh aufgemacht, um eine halbe Stunde mit sich allein zu sein, ehe sie der Frau, die sie Mutter nennen sollte, wieder entgegentreten mußte.

Nach dem Tode ihrer Mutter hatte sie mancherlei Arten von Druck mit ihrem Vater durchmachen und Selbstständigkeit lernen müssen; sie fühlte, daß sie Kraft habe, sich in die fremdeste Lebenslage hineinzufinden, und mit dem Betreten von Kreuzer’s Hause war ihr früherer Entschluß wieder hell vor ihre Seele getreten – aber das erste Begegnen mit der Farmersfrau hatte ihr das offene Herz fast wieder zugeschnürt. Bei dem ersten Blicke, welchen sie mit jener getauscht, war es ihr gewesen, als könne sie in diesem kalten, grauen Auge lesen, daß sie dort nie auf eine verwandte Empfindung treffen werde; selbst in dem Blicke des Sohnes war ihr nach dessen erstem Gruße ein Etwas eingegen gesprungen, das ihr Gefühl beleidigte, ohne daß sie sich eine rechte Ursache dafür hätte angeben können. Nur der zweite Sohn vom Hause, ein Bube von zehn Jahren, der den vollen treuherzigen Blick seines Vaters geerbt und ohne Scheu schnell mit ihr Freundschaft geschlossen, sowie der alte Kreuzer selbst, standen als freundliche Bilder vor ihr. Als ihr Koffer angekommen war, hatte die Frau sogleich eine Besichtigung des Inhalts vorgenommen, hatte die ganze Ausstattung, welche ihr Vater noch in Deutschland für sie hatte anfertigen lassen, Stück für Stück herausgelegt und endlich den Kopf geschüttelt. „Ja, was sollen alle die feinen Sachen hier im Hinterwalde, wo wir noch lange nicht daran denken dürfen, die Lady zu spielen?“ hatte sie gesagt; „mit weißen Strümpfen können wir nicht durch Morast und nasses Gras zu den Kühen gehen, und bei solchem Unterzeuge würden wir hier mit Waschen nicht fertig!“

„So wird Anderes angeschafft,“ hatte der Alte gebrummt, der, dicke Dampfwolken aus seiner Tabakspfeife blasend, seine Frau eine Weile beobachtet hatte.

Es war nicht die Schwäche eines kleinen Charakters, es war ein voller, bewußter Entschluß gewesen, der Mary’s Seele sich unter die herben Worte der Frau beugen hieß. „Es wird mir nichts sauer ankommen, Mutter,“ hatte sie gesagt, „wenn Du nur mit mir Geduld haben willst, bis ich weiß, was ich zu thun habe. Ich konnte nichts mitbringen als meinen guten Willen, über den aber sollst Du Dich nicht zu beklagen haben!“

Es mußte, der kaum sichtbar gewordenen Sonne nach, noch sehr früh sein; der Pfad hatte sie zu einem rohgearbeiteten Gatterthore geführt, hinter welchem ein Fahrweg am Saum des Waldes entlang lief, und eben überlegte sie, ob sie weitergehen oder schon zurückkehren solle, als ein Knall dicht vor ihr die Morgenstille unterbrach und ihr einen leichten Schrei entriß. Im nächsten Augenblicke sprang ein junger Mensch, eine kurze Büchse in der Hand, aus dem Gebüsche, ließ die Augen über den Boden gleiten und hob dann ein getödtetes Eichhörnchen aus dem Grase auf. Sein nächster Blick traf das Mädchen am Gatterthor, das mit einem Lächeln, als schäme sie sich ihres Schreckens, die neue Erscheinung betrachtete, und eine unverhohlene Verwunderung begann in seinem Gesichte aufzusteigen. Eine Secunde lang starrte er sie schweigend an, dann breitete sich ebenfalls ein Lächeln, wie widergespiegelt von dem ihrigen, über seine Züge, und mit einem leichten Roth im Gesichte trat er näher. Er mochte etwa achtzehn Jahre alt sein, aber die modische, städtische Kleidung, wie die Art seiner Haltung verriethen, daß er mehr als den Hinterwald gesehen. Er hatte sie angeredet, aber das Mädchen konnte nur mit einem neuen Lächeln den Kopf schütteln, sie verstand kein Wort des Gesagten.

„Nix inglisch sprecken?“ fragte er, ihr Kopfschütteln wiederholend, und eine gleiche Pantomime war Mary’s Antwort. Beide sahen sich eine Minute lang wie in halber Verlegenheit in die Augen, dann nickte sie einen leichten Gruß und wandte sich zum Rückwege. Sie konnte es aber nicht unterlassen, nach kaum zwanzig Schritten den Kopf noch einmal umzudrehen – da stand der junge Mensch noch auf derselben Stelle und sah ihr mit so hellen Augen nach, daß sie schnell den Blick abwandte, ohne sich doch eines rechten Grundes dafür bewußt zu sein; aber ein stilles Lächeln lag auf ihrem Gesichte, als sie rasch ihren Weg weiter verfolgte; und als sie dem Hause nahe kam, wo der große Hund soeben alle Glieder reckte und ihr dann mit einem leisen Schweifwedeln entgegenblickte, mußte sie sich niederbeugen und dem Thiere das zottige Fell klopfen, sie wußte ebenso wenig warum.

Aus der Vorderthür des Hauses war der alte Kreuzer, die kurze, dampfende Pfeife im Munde, getreten, einen behaglichen Blick über die Felder werfend. „Halloh! ist das Wiesel auch schon auf den Beinen?“ rief der Farmer, mit sichtlichem Gefallen ihre schmucke Erscheinung überblickend.

„Bin schon hinüber bis zum Walde gewesen,“ erwiderte sie, „– gehört der Wald auch mit zur Farm, Vater?“

„Gehört meinem Nachbar, dem amerikanischen Major,“ sagte er mit einem eigenthümlichen Stirnrunzeln, „– aber ich wollte etwas Anderes sagen, da Du gerade hier bist. – Weißt, Kind,“ fuhr er langsam vorwärts gehend fort, „meine Alte ist so gut, wie nur Eine, aber die Weiber haben alle ihre Eigenheiten, und Dir werden sie auch nicht fehlen, wenn Du erst älter bist. Also thue jetzt, was sie Dir sagt, und sei freundlich zu ihr, schicke Dich in sie, mir zu Liebe, und Du wirst sehen, daß schon in acht Tagen Alles geht, wie es nur soll.“

„Ich werde gewiß Alles thun, was ich kann, Vater,“ erwiderte sie, hell zu ihm aufsehend, und Kreuzer wandte sich kopfnickend nach dem Hause zurück.

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Autor: Otto Ruppius
Titel: Mary Kreuzer
aus: Die Gartenlaube 1860, Heft 41, S. 641–646
Fortsetzungsroman – Teil 2


[641] Es war ein eigenthümliches Leben, was sich von da ab auf der Farm herausbildete. Mary hatte sich schon am dritten Tage in alle kleinen Hausgeschäfte gefunden, und schien instinctmäßig die einzelnen Eigenheiten der Frau zu errathen. Sie hatte jeden kleinen Ausputz von ihrer Kleidung entfernt; um die Mahlzeiten durfte sich die Frau bald kaum mehr bekümmern, und der Eßtisch schien unter den Händen des Mädchens ein ganz neues behaglicheres Aussehen zu gewinnen, wenn es auch schwer gewesen wäre, zu sagen, worin der eigentliche Unterschied zwischen sonst und jetzt bestand. Die Frau hätte wohl mit ihrer neuen Tochter zufrieden sein müssen, die immer freundlich und jedes ihrer Worte gewärtig neben ihr waltete, und doch lag eine stille Kluft zwischen Beiden, die mit jedem Tage sich immer fühlbarer befestigte.

„Sie hat etwas an sich, für das ich kein Wort weiß, wenn ich’s nicht „vornehm“ nennen soll, das mir die rechte Freude an dem Mädchen nimmt!“ äußerte sich die Alte, als sie eine Woche nach Mary’s Ankunft sich Abends neben ihren Mann zur Ruhe legte. „Sie thut ihre Arbeit ordentlich und recht, aber dabei hat sie eine Art, als geschähe das Alles nur zum Zeitvertreib und sie dürfe sich kaum die Hände damit schmutzig machen. Sie ist freundlich und willig, aber zwischendurch sieht immer etwas Fremdes, daß man nie weiß, wie man mit ihr daran ist. Und rede ich ein lautes Wort zu ihr, wie es im Aerger wohl einmal kommt, so sieht sie mich still mit ihren großen Augen an, als hätte ich kaum das Recht, ihr etwas Unschönes zu sagen, so daß es mir oft ist, als gehöre sie eher irgendwo anders hin, als auf eine Farm im Busche!“

Kreuzer hatte sich langsam mit der Hand über das Gesicht gestrichen. „Ich denke, Jeder kann froh sein, der nicht mehr über seine Kinder zu klagen hat,“ sagte er; „mache, daß sie Zutrauen bekommt – Du hast wohl noch nicht ein einziges herzliches Wort zu ihr geredet, seit sie in’s Haus getreten ist - und sie wird auch anders werden!“

Aber es blieb, wie es gewesen, und Mutter und Tochter gingen neben einander her, die Erstere kalt und wortlos das Mädchen gewähren lassend, als wolle sie sich dadurch ein Gegengewicht für Mary’s eigenthümliche Haltung schaffen – die Letztere immer still und emsig, bis die Abendmahlzeit vorüber war; dann aber schweifte sie hinaus in’s Freie, meist von Kreuzer’s Jüngstem, dem kleinen George, begleitet, der sich vom ersten Tage an traulich an sie geschlossen hatte, und hier schien bei dem Mädchen oft im lustigen Tollen der den Tag über unterdrückte Kindersinn zum Durchbruch zu kommen. George war es auch, mit dem sie nach und nach englisch plaudern lernte, und der ihr auf diesen Wanderungen erzählte, da drüben im Walde wohne ein amerikanischer Major mit zwei Söhnen, von welchen der Eine „Advocat“ studire, und der Andere „amerikanischen Officier“ lerne.

Fast noch sonderbarer, als zwischen Mutter und Tochter hatte sich das Verhältniß zwischen der Letzteren und dem ältesten Sohne des Hauses gestaltet. Ihr eigenthümliches Wesen bei ihrem Auftreten hatte dem Burschen imponirt, und er konnte das Gefühl nicht wieder loswerden, so sehr sich auch sein Selbstbewußtsein, das noch niemals in seiner Umgebung etwas über sich anerkannt, dagegen sträubte. Er spottete über des Mädchens Eigenthümlichkeit, erst innerlich, dann mit Blicken und Mienen, und zuletzt laut. Mary hatte wohl im Anfange das Auge nach ihm gewandt, als wolle sie fragen, was sie ihm zu Leid gethan; bald indessen schien sie kein Ohr mehr für seine hingeworfenen höhnischen Worte zu haben – wenn sie aber dann oft an ihm vorüberging, als sei er gar nicht in der Welt, dann zuckte es sonderbar in seinem Gesichte, und seine Augen folgten ihr, als könne er sie von der schlanken Gestalt nicht losreißen.

Es war eines Abends, und Mary hatte sich allein nach dem Walde gewandt, als Heinrich ihr mit einem Arm voll Maiskornstengeln für die Kühe entgegenkam. Sie hatte nur einen Blick nach ihm geworfen, glaubte aber den gewöhnlichen Hohn schon um seinen Mund spielen zu sehen, und wollte eine Seitenrichtung einschlagen, um ihm nicht zu begegnen. Kaum schien er aber ihre Absicht errathen zu haben, als auch seine Last auf der Erde lag und das Mädchen sich an beiden Armen gehalten fühlte. „Darfst Du mir nicht einmal guten Abend sagen, daß Du mir aus dem Wege gehst?“ sagte er, und Mary sah in ein Paar seltsam erregter Augen. „Jetzt gib nur einen Kuß dafür, wie sich das für eine Schwester gehört!“

Mary stand einige Secunden, als wolle sie sich von der Ueberraschung erholen. „Du wirst meine Arme loslassen, Heinrich,“ sagte sie dann, während sich ein Beben in ihrer Stimme geltend machte, als unterdrücke sie mit Macht ihre innere Bewegung.

„Nicht eher, als bis Du thust, was ich will!“ erwiderte er mit einem Lachen der Befriedigung, während seine Augen im dunkeln Feuer auf des Mädchens Gesichte ruhten.

Mary wurde bleich, um ihren Mund legte sich ein Zug unbeschreiblicher Verachtung. „Ein schwaches Mädchen verhöhnen und sich an ihr vergreifen, weil sie sich nicht wehren kann, das sind Deine Heldenthaten, pfui! Zwinge mich doch,“ fuhr sie, den Kopf [642] höher haltend, fort, „und ich werde morgen so gewiß von der Farm gehen, als es für eine Waise, die arbeiten will, wohl noch einen andern Schutz geben wird!“

Er sah ihr einen Augenblick ungewiß in das blitzende Auge und ließ dann langsam seine Hände von ihren Armen gleiten.

„Ich habe Dir nichts zu Leide thun wollen, Mary,“ sagte er sichtlich herabgestimmt, „wenn Du aber meine Schwester sein willst, warum thust Du so stolz, daß es mich böse macht, und warum gehst Du mir aus dem Wege oder thust, als sähest Du mich nicht?“

Sie hielt den Blick wie im stillen Forschen auf sein Gesicht geheftet. „Soll ich Dir etwa noch freundlich für Dein höhnisches Gebahren danken?“ erwiderte sie nach einer kurzen Pause. „Was habe ich armes Mädchen Dir gethan, daß Du mir so begegnest?“

„Mary,“ sagte er eifrig, „warst Du es nicht zuerst, die mich von oben herab behandelt hat? Bist Du nicht überall mir aus dem Wege gegangen, als wäre ich für Dich nicht da – ich, Dein Bruder?“

„Du hast mich wie ein Bruder behandelt, Heinrich? Hast Du mich nicht stets verfolgt mit harten, höhnischen Worten, als ich zu Euch kam als Wildfremde – wenige Tage darauf, nachdem ich meinen armen Vater begraben und meine Seele noch wund und zerrissen war von meinem unsäglichen Unglück? Sollte ich da auf Alles das eingehen, was Du einen Spaß nennst?“ sagte sie, und mit jedem Worte klang es mehr, als mache sich eine lang unterdrückte Stimmung Luft. „Du kannst Dir wohl gar nicht denken, wie so einer Waise zu Muthe ist, und wie sie behutsam angefaßt sein will, wenn ihr nicht Alles weh thun soll, und wie sie sich verschließt, wenn sie keine Liebe findet, und jedem schlimmen Worte ängstlich aus dem Wege geht –“

„Aber ich habe Dich lieb – weiß Gott, ich habe Dich lieb!“ unterbrach sie der Bursche, auf’s Neue ihre Arme fassend. „Ich habe mich geärgert über Dein stolzes Behaben – jetzt aber mußt Du mich wieder lieb haben, Mary!“

Sie wand leicht ihre Arme aus seinen Händen. „Sei Du nur nicht böse und herzlos,“ sagte sie, als suche sie ihre eben ausgebrochene Bewegung zu unterdrücken, „und ich werde auch noch lernen, anders zu sein!“

Sie drehte sich weg und schritt dem Walde zu. Heinrich folgte ihr mit den Augen, zog dann die Stirn kraus und schlug mit der rechten Faust in die linke Hand. „Sie wird doch nicht anders, ich weiß es schon!“ sagte er und wandte sich langsam dem hingeworfenen Kühfutter wieder zu.

Von da ab stellte sich indessen zwischen Beiden ein anderes Verhältniß als bisher heraus. Blieb auch Mary ihrem Wesen im Allgemeinen treu, so schien sie doch immer einen freundlichen Blick für Heinrich zu haben, der, als könne er sich ihrem Einflusse nicht entziehen, sich ein Geschäft in ihrer Nähe machte, sobald er nur das Haus betrat, oft aber auch finster ihr nachschaute, wenn ein Zufall sie hinderte, ihn zu bemerken. Gesprochen ward wenig zwischen Beiden.

So gingen Spätsommer und Herbst mit ihren Arbeiten hin. Der alte Kreuzer, dessen Blicke oft mit großer Theilnahme auf dem Mädchen ruhten, fühlte sich unwillkürlich zu ihr hingezogen und zeigte dies ganz offen dadurch, daß er sie stets auf seinen Ausflügen nach dem benachbarten Marktflecken mitnahm und sie den dort eingetroffenen Nachbarfamilien vorstellte. Mit dem Englischen war Mary in den sechs Monaten, welche sie bereits auf der Farm verbracht, eben so wunderbar schnell vertraut geworden, als sich unter der steten Arbeit und Bewegung ihr Körper überraschend entwickelt hatte. Ihre feinen magern Glieder begannen an Fülle zu gewinnen, ihre zerbrechliche Gestalt hatte eine kräftige Elasticität angenommen und ihr Gesicht sich zu einem blühenden feinen Oval gerundet. Und sah man ihren Händen auch wohl an, daß sie die Arbeit kannten, so hatte doch selbst diese deren Zierlichkeit nur wenig Eintrag thun können.

Die erste wehe Rückerinnerung, die Mary trotz aller errungenen Selbstcontrole nicht zu überwinden vermochte, kam ihr, als schon längst der Schnee die Felder deckte und der Weihnachtsabend niederdämmerte. Seit der eingetretenen Kälte waren die sämmtlichen Hausbewohner einen großen Theil des Tages und den vollen Abend auf das Familienzimmer angewiesen, und das Mädchen hatte schwer ihre gewohnten Streifereien in’s Freie vermißt, die ihr sonst immer das rechte Gleichgewicht mit sich selbst wiedergegeben. Sie hatte Wolle spinnen lernen, hatte ihre ganze Geschicklichkeit im Nähen zusammengesucht, um der Frau bei Instandsetzung der Leih- und Hauswäsche behülflich zu sein; trotz der emsigen Arbeit aber lag es an manchem Abende wie ein Alp auf ihr, wenn der alte Kreuzer, langsam die Tabakswolken von sich blasend, schweigend im Schaukelstuhle saß und stundenlang vor sich Hinblicken konnte, ohne sich kaum einmal zu rühren; wenn Heinrich, die Stuhllehne gegen die Wand gelehnt, in lauten Tönen schnarchte, die Magd neben dem großen Kamin nickte und das trübe brennende, von der Frau selbst gegossene Talglicht die geräuschlose Arbeit in ihren und der Hausmutter Händen beleuchtete. Und als nun der Weihnachtsabend kam, ohne daß die gewohnte Ordnung sich in einer andern Weise zu ändern schien, als daß die Magd einen wilden „Turkey“ (Truthahn), den Heinrich geschossen, zu rupfen bekam und Kreuzer sich mit der Bemerkung in den Schaukelstuhl setzte, daß er morgen, um auch einmal Christmeß zu feiern, bei Zeiten in die Stadt gehen werde, und wer mit wolle, seine Festtagskleider heute noch zurechtlegen solle, da tauchten in Mary’s Seele alle frühern Bilder selig verbrachter Weihnachtsabende auf – ihres Vaters Gesicht, als er sich niedergebogen und das beschenkte Kind geküßt, trat vor sie, und auf ihr Herz begann es sich immer schwerer wie ein drückendes Gewicht zu legen, daß sie endlich meinte, ersticken zu müssen, wenn sie sich nicht ausweinen dürfe. Geräuschlos erhob sie sich und verließ das Zimmer. Neben der Kammer der Magd, im hintern Giebel des Hauses, war ihr eine kleine Stube eingeräumt worden. So lange das Haus stand, war freilich noch nie hier geheizt worden, und auch jetzt herrschte eine eisige Luft darin, welche durch den klaren hereinfallenden Mondschein fast noch kälter zu werden schien. Mary aber, die dorthin geeilt war, schien nicht darauf zu achten, setzte sich auf ihr Bett und legte das Gesicht in beide Hände. Den Kopf in das Kissen gedrückt weinte sie heftig und lange.

Als sie sich endlich wieder erhoben hatte, ging sie nach ihrem Koffer, kniete dort nieder und nahm zwischen ihrer Wäsche die wohlverwahrte Uhr ihres Vaters und dessen Handschuhe, welche er bis zum Tage seiner Krankheit getragen, heraus und drückte Beides an ihre Lippen. „Mein Vater – mein lieber Vater!“ schluchzte sie laut. Dann barg sie die Erinnerungszeichen an ihren frühern Ort, schloß den Koffer, trocknete sorgfältig ihr Gesicht und ging so lautlos, als sie gekommen, nach dem untern Zimmer zurück, wo ihre Abwesenheit kaum bemerkt worden war. Nur des alten Farmers Blick haftete lange auf ihr, als sie das verweinte Gesicht tief auf ihre Näherei bog.

Als später Mary mit einem „gute Nacht, Mutter!“ der Frau die Hand gereicht und zu dem Farmer trat, hielt dieser ihre Finger einen Augenblick fest. „Es wird morgen wenigstens eine Abwechselung geben,“ sagte er, ihr aufmunternd in die verweinten Augen sehend, „im Uebrigen soll man sich aber nicht so viel Gedanken um verlorene Dinge machen, es nimmt den Muth, Kind, und wenn man auch noch so ein tapferes Herz hat.“ Sie zwang sich ein Lächeln ab, und er legte mit einem befriedigten Kopfnicken die Hand auf ihr Haar. „Jetzt geh und verdirb Dir in der Nacht nicht den Spaß für morgen!“

Es war am Abend darauf, als Kreuzer’s Schlitten, der kaum mehr war, als ein viereckiger Kasten auf rohe, selbstgezimmerte Kufen gesetzt, aus der Stadt zurückkehrte. Konnte auch Mary, die in eine wollene Pferdedecke gehüllt neben dem Farmer saß, von großem Vergnügen, welches sie gehabt, nicht reden, so hatte doch das Neue einer amerikanischen Weihnachtsfeier, das Schießen und Tollen der Jugend auf der Straße, das Treiben der umherwohnenden Landbevölkerung, welche sich eingefunden, die zahllosen komischen Scenen, welche whiskeyselige Menschen dargestellt, sie aus dem Ueberrest ihrer trüben Stimmung gerissen.

Anders war es mit Heinrich, welcher den Vordersitz eingenommen hatte und die Pferde lenkte. Er hatte nicht allein Staat mit seiner schönen, städtisch geputzten Schwester gemacht, er hatte auch zum ersten Male den erwachsenen Burschen gespielt und öfter im Glase Bescheid gethan, als es für sein rasches Blut gut sein mochte. So ließ er denn die beiden Pferde nach Herzenslust laufen, jauchzte auf, wenn bei einer raschen Biegung der aufgerissene Schnee den Schlitten überschüttete, und erwiderte die einzelnen Worte des Alten, der ebenfalls in bester Laune zu sein schien, mit derben Witzen.

So lange die Straße zwischen freien Feldern hinführte, ging Alles vortrefflich. Der rasche Flug gewährte selbst dem Mädchen ein eigenthümliches Vergnügen; als aber der Weg nach der Farm abbog und sich nach dem Wald hinüberwand, begann erst der Schlitten [643] einzelne derbe Erschütterungen zu erhalten, wofür sich Heinrich an den Pferden rächen zu müssen glaubte. Aber kaum fünf Minuten darauf flog das Gefährt gegen einen Baumstumpf, daß die getroffene Kufe wie ein Rohr in Stücke barst und Mary es nur der breiten Basis des Farmers, gegen welchen sie fiel, zu danken hatte, daß sie nicht in den Schnee hinaus flog. Mit einem Satze war sie aus ihrer Decke heraus und auf den Boden gelangt; Heinrich folgte langsam. „Jetzt, Vater, schimpfe nicht,“ sagte der letztere gelassen, „es ist nur einmal Christmeß im Jahre, und an dem Rumpelkasten hier ist auch nichts gelegen!“

Der Alte brummte ein paar unverständliche Worte, schien aber die Richtigkeit des aufgestellten Satzes anzuerkennen, drückte dem Burschen die Zügel in die Hand und begann den angerichteten Schaden zu untersuchen. „Hier ist nichts zu machen,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „als ein paar junge Bäume zu holen und den Kasten darauf heimzuschleppen, so gut es geht. Gib die Pferde her und lauf nach dem Walde.“

Heinrich warf einen Blick nach der abgebrochenen Kufe und ging durch den Schnee davon. Kreuzer aber beruhigte die noch immer aufgeregten Thiere und sah dann nach dem Mädchen, die mit ihren dünnen Festtags-Schuhen den Schnee stampfte, um sich zu erwärmen. „Steig wieder in das Stroh hinein, bis der Heinrich zurückkommt!“ rief er ihr zu; seine nächste Aufmerksamkeit aber ward durch einen in ihrem Rücken rasch herankommenden eleganten Schlitten in Anspruch genommen, dessen Führer, kaum daß er den Unfall wahrgenommen haben konnte, das Pferd anhielt.

„Halloh, Mr. Kreuzer!“ klang es in englischer Sprache, „Schaden gelitten?“

„Nichts Besonderes, nur ein Christmeß-Zufall!“ erwiderte der Angerufene mit einer eigenen Kürze, nachdem er den Frager erkannt zu haben schien.

„Soll ich Ihnen helfen?“ rief der Andere und machte Anstalt aus dem Schlitten zu steigen.

„Ist nirgends nothwendig, Sir!“ sagte Kreuzer in derselben kurzen Weise, wie sie ihm sonst nie eigen war; „aber warten Sie!“ unterbrach er sich in einer plötzlichen Aenderung des Tons, „wenn Sie die junge Lady hier nach meinem Hause mitnehmen wollen, so wird es gut sein; ich weiß sonst nicht, wie lange sie hier wird im Schnee stehen müssen!“

Mary hatte bei dem ersten Klänge der jugendlichen Stimme den Kopf nach dem Fremden gehoben, und es ward ihr plötzlich, als ginge ein stilles, klares Licht in ihr auf. Trotz des weiten Rockes, welcher den Herangekommenen umhüllte, und dessen großer Mütze aus feinem Pelze hatte sie den jungen Amerikaner wiedererkannt, welcher ihr den ersten Morgengruß nach ihrer Ankunft geboten. Ohne sich Zeit zu einem Worte zu nehmen, war er jetzt von seinem Sitze gesprungen, und ein Lächeln angenehmer Ueberraschung glänzte in seinem Gesichte auf, als er herantretend die Züge des Mädchens zu unterscheiden vermochte.

„Sage der Mutter, was hier los ist, und daß uns beim Heimkommen ein heißer Kaffee gut thun würde!“ rief Kreuzer deutsch, als der junge Mensch seine Hand an Mary’s Arm legte, um sie in den Schlitten zu heben; diese aber hatte bei des letzteren Lächeln an ihre beiderseitige frühere Sprachverlegenheit denken müssen und rief jetzt englisch zurück: „Laß doch lieber den Schlitten bis morgen liegen, Vater, und reite mit Heinrich nach Hause!“

„Wird auch wohl so werden, da wir Dich jetzt los sind!“ antwortete der Alte in wiedergewonnener Laune; das Mädchen war mit einem kurzen Schwunge auf dem ihr bestimmten Platze, und in der nächsten Minute glitt das leichte Gefährt, sichtlich von kundiger Hand geleitet, davon.

Mary fühlte ein elastisches Sitzkissen unter sich, ihre Füße standen auf weichen Buffalofellen, und eine mit Pelz gefütterte Schlittendecke zog sich warm über ihre Kniee herauf – ein Gefühl von Behaglichkeit fing an sie zu durchrieseln, das sie an frühere Zeiten mahnte, als ihre Mutter noch lebte und ihr Vater noch der reichbesoldete Staatsbeamte war, und doch scheute sie sich jetzt fast, sich der wohlthuenden Empfindung hinzugeben.

„Sprachen Sie wirklich noch kein Englisch, Miß, als ich Sie zum ersten Mal sah?“ begann ihr Begleiter, sobald das Pferd einen ruhigen Trab angenommen hatte, und warf einen Blick in ihr Gesicht, das angehaucht von der kalten Luft wie eine Mairose aus dem dunkeln kleinen Sammthute hervorsah.

Sie sah ihn mit ihrem Lächeln an, das von so wunderbarer Helle sein konnte. „Ich war ja erst am Tage zuvor von Deutschland hier angekommen,“ sagte sie, „ich verstand wohl ein klein wenig französisch, habe aber nie vorher an das Englische gedacht!“

Ein Stoß, welchen der Schlitten erhielt, zwang ihn, seine Aufmerksamkeit auf den Weg zu lenken, und erst nach einer Weile wandte er den Kopf wieder nach ihr. „Es war eine ganz merkwürdige Ueberraschung, als ich Sie damals so unerwartet sah,“ begann er, „– aber wollen wir uns nicht selbst miteinander bekannt machen?“ fuhr er mit einem Lachen fort, als wolle er sich damit von einer inneren Befangenheit befreien. „Ich heiße James Osborne!“

„Und ich heiße Mary Kreuzer!“ lachte das Mädchen. „Kannten Sie diesen Namen in der That noch nicht?“

„Ich wußte ihn nicht, Miß,“ erwiderte er, die Augen wieder dem Pferde zuwendend. „Ich bin wohl an den drei Morgen nach unserm ersten Begegnen, die ich noch im elterlichen Hause vollbrachte, wieder Eichhörnchenschießen gewesen, bekam aber nichts von Ihnen zu sehen – und so bin ich erst gestern wieder nach Hause gekommen, um die Weihnachtstage hier zu verbringen. Sie sind eine Tochter oder eine Verwandte von Mister Kreuzer?“ fuhr er fort, den Blick von Neuem auf ihr Gesicht heftend.

Sie schüttelte leise den Kopf. „Ich bin nur angenommenes Kind,“ sagte sie, „meine Eltern führten einen andern Namen, sie sind aber Beide todt.“

„Aber wenn Sie mit Kreuzer nicht verwandt sind, wie kommen Sie zu uns in den Hinterwald?“ fragte er angeregt, „ich sah doch auf den ersten Blick, daß Sie nicht unter die Leute gehören, zwischen denen Sie leben; – ich meine damit nicht,“ setzte er, wie sich besinnend, hinzu, „daß Mr. Kreuzer und seine Frau nicht so brav wären, als sich nur erwarten läßt –“

„Ich weiß schon, was Sie sagen wollen,“ unterbrach sie ihn, „aber ich denke nicht, daß ich etwas verliere, wenn ich tüchtig wirthschaften lerne. Was ich vielleicht sonst noch weiß, behalte ich doch, und dazu muß ich es ja als ein großes Glück betrachten, als Tochter des Hauses gehalten zu werden, für das ich nicht genug danken kann!“ Und damit begann sie zu erzählen, wie sie mit ihrem Vater nach New-York gekommen, von seiner Krankheit und seinem Tode; es war ihr nicht, als säße sie neben einem fremden Menschen, sondern als müßten sie Beide sich schon längst gekannt haben; erzählte dann, wie sie in Kreuzers Haus gekommen, ging aber über alle Kämpfe, welche sie im Anfange zu bestehen gehabt, hinweg und sprach nur von der Freundlichkeit des alten Farmers; – und der junge Mann warf hier und da eine Frage über ihre früheren Verhältnisse in Deutschland dazwischen, ließ oft lange den Blick in ihrem Auge ruhen und schien nur an das, was sie sprach, zu denken, bis ein Stoß des unebenen Wegs ihn wieder an seine Lenkerpflicht mahnte. Die Farm lag endlich vor Beiden, ehe Mary nur recht daran glauben wollte, und als ihr Begleiter sie an dem Thore der Einzäunung aus dem Schlitten hob und die Hoffnung aussprach, sie noch einmal zu sehen, ehe er die Farm seiner Eltern wieder verlasse, reichte sie ihm mit einer Vertraulichkeit die Hand, als könne das nach der gehabten Unterhaltung kaum anders sein.

Die Frau saß, als Mary in die Stube trat, mit George am Tische und blätterte in dessen Schulbüchern, während der Knabe ihr eifrig die einzelnen Bilder darin erklärte. Sie hörte ruhig den Bericht des Mädchens an, sah aber groß auf, als diese den Namen ihres Begleiters nannte. „Und Vater hat selbst gesagt, er soll Dich nach Hause bringen?“ fragte sie.

„Wie soll ich denn sonst dazu gekommen sein, Mutter?“ war die Antwort, bei welcher aber Mary das Blut in ihr Gesicht steigen fühlte, ohne daß sie sich doch eine Ursache dafür angeben konnte.

Mit einem kurzen Kopfschütteln wandte die Frau den Blick wieder nach ihrer früheren Beschäftigung.

Mary eilte nach ihrem Zimmer, entledigte sich ihrer Umhüllungen und war bald am Küchenofen beschäftigt; sie fühlte sich so leicht wie noch nie, seit sie sich auf der Farm befand, und war, froh, mit sich allein sein zu können. Es war das trübste Weihnachtsfest, das sie bis jetzt erlebt; dennoch leuchtete es in ihrer Seele wie heller, beglückender Weihnachtsschimmer, und sie gab sich der wohlthuenden Stimmung hin, ohne zu fragen, woher sie ihr gekommen.

Sie hatte kaum den Blechkessel mit dem dampfenden Kaffee vom Ofen gehoben, als sie auch die beiden Zurückgebliebenen mit den Pferden ankommen hörte. Eilig ordnete sie das nothwendige Geschirr und machte sich damit auf den Weg nach dem Vorderzimmer, [644] damit den Ankommenden gleich beim Eintritt der wärmende Trank entgegendufte; der alte Farmer war ihr aber bereits zuvorgekommen, und hart hinter ihr trat Heinrich ein. Keiner von Beiden schien sich in guter Laune zu befinden, denn mit einern einsylbigen Gruß legte Kreuzer seinen Hut bei Seite, während der Bursche einen trotzigen Blick über das Mädchen laufen ließ und sich dann wortlos auf einen Stuhl warf.

Die Frau schien die Unfreundlichkeit Beider kaum zu bemerken und hob erst eine Weile nach deren Eintritt in ihrer kalten Weise den Kopf. „Ist es wirklich so, Kreuzer, daß Du das Mädchen mit einem von den Osborne’s heimgeschickt hast?“ fragte sie.

„Das ist so, Mutter!“ erwiderte der Sohn an Stelle des Vaters, „und ich habe schon auf dem Wege gesagt, was ich davon halte. Wenn die Mary zur Familie gehört, so soll sie kein Wort mit den Osborne’s reden; mit James, dem hochmüthigen, dummen Jungen, aber am allerwenigsten!“

„Wie ist das, Kreuzer?“ fragte die Frau, streng zu dem Alten aufsehend.

„Das ist gerade so, wie es ist!“ erwiderte der Farmer, ruhig seine Pfeife vom Kaminsimse nehmend, „und wenn Jungen erst ihren Vater meistern wollen und wenn sie darin von ihrer Mutter unterstützt werden, anstatt eins auf die Zähne zu bekommen, so thut unsereins am Besten, schreien zu lassen, was schreit, und seinen Weg allein zu gehen!“

Die Frau warf einen forschenden Blick in das Gesicht des Alten, der, ohne eine Erregung kund zu geben, sich seine Pfeife anbrannte. „Ich habe meinethalber gefragt,“ sagte sie dann, „und kaum gehört, was der Heinrich gesprochen!“

„Dann war es jetzt am allerwenigsten die Zeit zu fragen,“ erwiderte Kreuzer. „Weil es aber einmal so weit ist, so will ich ein paar Worte sagen, damit wenigstens das Mädchen weiß, woran es ist, und nicht noch meint, sie habe selber ein Verbrechen begangen. Gib mir eine Tasse Kaffee her, Mary, er riecht ganz gut!“

Mary hatte dem kurzen Gespräche mit einer Art heimlicher Angst zugehört, der ganze Weihnachtsschimmer in ihr war davor erloschen, und auch die letzten Worte des Farmers vermochten nicht, ein Gefühl von Druck, das plötzlich über sie gekommen, von ihr zu nehmen. Kreuzer hielt ihre Hand fest, als sie ihm den Kaffee brachte, „’s ist da eine alte Geschichte zwischen uns und den Osborne’s, die Du jetzt erfahren sollst,“ sagte er; „aber wenn ich auch dem Major nicht vergessen kann und darf, was er gegen mich gethan, so wäre es doch vielleicht für eine Frau und die jungen Leute besser gehandelt, wenn sie hülfen, daß unter ihnen begraben würde, was einmal geschehen ist, als daß die Feindschaft immer von Neuem frisch gemacht und weiter fortgepflanzt wird.“

„Sie haben erst zu uns zu kommen, wenn von Vergessen geredet werden soll!“ warf die Frau mit finster zusammengezogenen Augen ein.

„Du weißt noch nicht viel von den Amerikanern, Mädchen,“ fuhr der Alte fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, „darum muß ich Dir sagen, daß ein Theil davon umgänglichere Leute sind, als wir Deutschen es gegen Fremde vielleicht jemals werden können, daß aber auch ein anderer Theil, in denen das alte englische Adelsblut steckt, den eingewanderten Bauer und Arbeiter wie einen ganz andern, geringeren Menschenschlag ansieht, dem sie am liebsten das wenigste Recht in diesem Lande gäben und mit dem sie nirgends etwas zu thun haben wollen. Und zu dieser Sorte gehörte – ’s ist nun schon ein Jahrer zehn oder länger her – der Major Osborne. Aber er bekam doch mit dem Michel Kreuzer, der gerade eingewandert war und sein gekauftes Land baar bezahlt hatte, zu thun, und er hat hart daran beißen müssen. Die Landvermessungen hier herum waren alle längst gemacht, aber es mußte ein gutes Theil Unordnung darin herrschen, denn der Major behauptete, der größte Theil von dem wilden Lande, das ich gekauft, gehöre zu seiner Farm, und als ich mein erstes Blockhaus aufrichten wollte, kam er mit seinen Knechten und drohte mich niederzuschießen wie einen tollen Hund, wenn ich nicht mache, daß ich fortkomme. Es waren noch zwei Deutsche und ein Amerikaner aus der Nachbarschaft bei mir, die mir helfen wollten, das Haus aufzurichten; sie redeten mir Alle ab, mich mit Gewalt zu widersetzen; der Major habe Anhänger rings herum, und ich könne nicht gegen ihn aufkommen, ich solle mein Recht vor Gericht suchen. Der Amerikaner brachte mich auch zu einem Advocaten, der sein Geschäft wohl verstehen mochte, aber aus der Sache auch die besten Pfeifen für sich selber schnitt. Ein Jahr nach unserer Ankunft hier lagen wir allesammt noch immer in der „Tavern“ am „Point“; das Land war uns endlich zugesprochen, aber unser Geld war aufgezehrt und zumeist für Advocaten-Gebühr darauf gegangen, wir kamen in Noth, und keins von uns wußte, was werden solle. Da drängte uns der Advocat zu einer Entschädigungsklage gegen den Major, wofür er nichts haben wolle, bis wir selbst unsere Entschädigung hätten. Die Sache ging los, und es mußte wohl ordentliches Feuer dahinter gemacht worden sein, denn drei Wochen darauf ließ mir der Major sagen, ich solle zu ihm kommen, er wolle sich mit mir vergleichen. Ich ließ ihm melden, er habe gerade so weit zu mir, als ich zu ihm; im Uebrigen aber überlasse ich die Sache meinem Advocaten. Es dauerte noch zwei Monate, da hatte ich mein früheres Geld wieder und auch den Advocaten bezahlt; der Major aber ließ mir wissen, wenn sich Eins von uns auf seinem Lande blicken ließe, werde er ihm mit einer Kugel den Weg weisen. Das war freilich kein Gruß, um gute Nachbarschaft zu beginnen, und zudem konnte uns kein Geld die Sorgen und die schlaflosen Nächte, die wir ausgehalten, bezahlen. Ich hatte bis dahin noch nicht gewußt, was es heißt, Jemand von Herzensgrunde hassen – damals aber lernte ich es.

„Wir fingen unsere Arbeiten hier an, und wenn es sich zufällig traf, daß ich dem Major auf der Straße begegnete und er mit einem so kalten Gesichte gerade aussah, als habe er mich mit keinem Blicke bemerkt, hätte ich ihm oft die Fäuste unter die Nase halten mögen; da das aber zu nichts helfen konnte, als dem Manne das Recht zu einer Klage gegen mich zu geben, vielleicht die größte Freude, die ich ihm hätte machen können, so ließ ich es unterwegs. Desto tiefer aber grub sich der Groll in mir ein, und Mutter hier, die dem Heinrich jeden Tag erzählte, weshalb er niemals ein Wort mit dem Jungen des Majors reden dürfe, war auch nicht faul, mir das Herz immer noch bitterer zu machen – sie hatte während des langen Jahres voll Sorgen vielleicht auch noch mehr gelitten, als ich selber.

„Das ist aber, wie gesagt, länger als zehn Jahre her. Währenddem siedelten sich mehr Deutsche hier herum an, und die Amerikaner fingen an zu merken, daß wir ihnen über den Kopf wuchsen. Ich hatte den Rest von meinem Vermögen aus Deutschland bekommen und konnte bald ordentlich in’s Zeug gehen, so daß ich mit der Zeit so viel unter den Deutschen galt, als der Major unter seinen Amerikanern, und wenn einmal eine Wahl vor der Thür stand, kam mancher von dessen Freunden zu mir und meinte, ich solle meinen Groll nicht andern Leuten entgelten lassen, die, wenn sie auch Amerikaner wären, ihn nicht verdient hätten. Ich wußte, daß jetzt der Major noch bitterer gestraft wurde, als damals, wo er Proceßkosten und Entschädigung hatte zahlen müssen – und wenn ich ihm auch keinen Finger aus Gefälligkeit hätte hinhalten mögen, so kam mir doch oft genug der Gedanke, daß es unrecht sei, die Feindschaft der Eltern auch auf die Kinder zu übertragen, von denen noch keins weiß, wie es einmal das andere brauchen kann – kam mir besonders, wenn ich die Jungen vom Major thun sah, als wüßten sie von dem alten Streite kein Wort –“

„Du magst thun, wie Du willst, Vater, und ich werde es auch thun!“ unterbrach Heinrich den Sprechenden. „Mir soll Keins von den Osborne’s guten Tag zu bieten haben, und meine Meinung ist, wer sich von den Jungen einen Gefallen thun läßt, der hat auch schon dem Alten die Hand geboten!“

Kreuzer legte langsam die Pfeife weg, erhob sich und schritt auf den Burschen los. „Und wenn ich nun dem Alten die Hand bieten wollte,“ sagte er mit gerunzelter Stirn, Heinrichs Arm fassend, „willst Du Kieck in die Welt, der sich noch mit Kornmehl-Papp füttern ließ, als Deine Eltern ihr Leiden durchmachten, mir etwa sagen, was ich zu thun habe? Gefällt Dir das nicht, was Dein Vater für recht findet, so magst Du zusehen, ob es Dir bei andern Leuten besser behagt, es steht Dir frei –“

„Kreuzer, jetzt habe ich auch ein Wort darein zu sprechen!“ erhob sich die Frau.

„Ich sage, Frau, es wird jetzt nichts mehr über die Sache geredet!“ erwiderte Kreuzer, sich langsam herumdrehend. „Was die Eltern mit einander haben, mögen sie unter sich abthun, aber nicht vor den Kindern, und so lange ich noch hier im Hause lebe, sollen meine Jungen mir keine Vorschriften machen, und wäre auch die Mutter wirklich so unverständig, daß sie sich mit ihnen gegen den Vater verbündete!“ Es war ein ungewöhnlich heller Ton, welcher in des Alten letzten Worten klang, und die Bedeutung desselben schien der Mutter wie dem Sohne hinlänglich bekannt; keine Sylbe [645] folgte als Erwiderung; Kreuzer aber schritt ruhig nach dem Tische zurück, trank seinen Kaffee aus und brannte dann seine Pfeife wieder an. „Ich denke, es ist Zeit, zu Bette zu gehen,“ sagte er nach der kurzen Pause, „und was ich noch sagen wollte,“ wandte er sich an Mary, „wenn es auch nicht nothwendig ist, daß Du Dich groß um die Osborne’s bekümmerst, Kind, so hast doch Du die wenigste Ursache, ihnen aus dem Wege zu gehen, wo Du sie etwa treffen solltest!“

Heinrich ließ eine Art brummenden Laut hören, erhob sich von seinem Stuhle und ging geräuschvoll nach der Thür, die Frau wandte sich in dem Tone unterdrückten Aergers nach dem kleinen George und befahl ihm, seinem Bruder zu folgen, und als Mary an Sie herantrat, um zu fragen, ob noch etwas für sie zu besorgen sei, traf das Mädchen nur auf ein unbewegliches Gesicht, ohne daß ihr eine Antwort wurde. Leise stellte sie das Kaffeegeschirr zusammen und verließ damit das Zimmer, um ebenfalls ihr Bett zu suchen. Lange aber lag sie hier mit offenen Augen im trüben Sinnen, was die Zukunft in diesem Hause wohl für sie bringen könne. Als sie endlich mit einem Lächeln, das nichts mehr von Trübsal erzählte, einschlief, waren es die letzten Worte des Farmers, die sie in ihre Träume begleiteten: „Du hast die wenigste Ursache, den Osborne’s aus dem Wege zu gehen, wo Du sie etwa treffen solltest!“

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Autor: Otto Ruppius
Titel: Mary Kreuzer
aus: Die Gartenlaube 1860, Heft 42, S. 657–661
Fortsetzungsroman – Teil 3


[657] Der Winter verging und der Frühling kam, ohne daß sich in den äußern wie innern Verhältnissen der Hausbewohner viel geändert hätte. Heinrich schien während der Tage bis zu Neujahr von einer steten Unruhe gepeinigt zu sein; bei jedem Tritte, welchen Mary aus der Hausthür that, sah sie die Augen des Burschen ihr folgen, und erst als George eines Mittags die Nachricht heimbrachte, daß er die „Jungen“ des Majors mit ihren großen Koffern habe fortfahren sehen, schien er beruhigt zu werden; in seinem Wesen dem Mädchen gegenüber aber begann von da ab ein eigenthümlicher Trotz sich geltend zu machen, während seine Blicke, wenn er sich unbeobachtet glaubte, doch oft in stillem Glühen wie festgebannt an der zu voller Jungfräulichkeit aufblühenden Gestalt hingen. Nur der Alte war unverändert sich gleich geblieben, und Mary fühlte in der ganzen Art seines Benehmens, daß er ihr für die ruhige Haltung, welche sie bewahrte, Dank wußte und gut zu machen suchte, so viel er vermochte.

Es war Ausgangs Juni, als von der Familie einer benachbarten amerikanischen Farm die Einladung zu einem Picknick im Grünen einlief. Der gewöhnliche Farmwagen wurde andern Tages bespannt, und Kreuzer mit Sohn und Tochter – die Mutter hatte die Einladung abgeschlagen – die ersteren Beiden im besten Farmerstaate, die Letztere in einem einfachen Kleide, in welchem sie sich indessen wunderbar zwischen ihren Begleitern heraushob, traten, versehen mit allerhand Lebensmitteln, die Fahrt nach dem nur wenige Meilen entfernten Festplatze an. Sie hatten diesen noch nicht ganz erreicht, als ihnen schon helles Mädchengelächter durch die Büsche entgegenklang; surrende Menschenstimmen, durchbrochen von einzelnen Violintönen, ließen sich hören, und bald lag ein offener Rasenplatz, belebt von den verschiedensten Gruppen, vor ihnen. Den Mittelpunkt bildeten die Quarré’s tanzender Paare, zu deren Seite ein fidelnder Neger auf einem Fasse stand, zugleich die Touren der Quadrille ausrufend und den Takt mit dem Fuße tretend, während zu seiner Seite auf dem Boden ein alter weißer Mann, dem die deutsche Ergebenheit in allen Zügen geschrieben stand, sich mit Secundiren abplagte. Rings umher lag ein anderer Theil der eingeladenen Gäste in bunten Gruppen im Grase – weiter hinten brannte ein helles Feuer, neben welchem ein letzter Theil der Gesellschaft sich in voller Heiterkeit mit Kochen und Braten zu beschäftigen schien – es war ein Bild von überraschender Lebendigkeit, was sich plötzlich zwischen den Bäumen des Urwaldes aufthat, und Mary’s Herz begann beim Anblicke desselben in einem Vergnügen zu klopfen, das ihr nach der eintönigen Stimmung des verflossenen Jahres fast fremd geworden war.

Kreuzer fuhr einer Waldecke zu, wo die Pferde und Wagen der übrigen Gäste zerstreut unter den Bäumen standen – die Ankunft der Familie war aber bereits bemerkt worden, und eine sichtliche Genugthuung drückte sich in des Alten Gesicht aus, als er den Festgeber mit seinem Sohne herankommen und ihm, noch ehe das Gefährt anhielt, die Hand zum Willkommen heraufreichen sah. Der letztere, dessen sich Mary aus einigen flüchtigen Begegnungen in der Stadt erinnerte, schüttelte kräftig des Mädchens Hand, nickte dem jungen Kreuzer einen Gruß zu und hob die Erstere nach einem kurzen Sträuben derselben vom Wagen. „Es fehlt gerade noch ein Paar, Miß, kommen Sie rasch mit mir!“ sagte er, während er das leichte Tuch von ihren Schultern nahm und ihr zugleich beim Entledigen ihres Hutes behülflich war, und ehe sich das Märchen nur recht besinnen konnte, sah sie sich schon lustig fortgezogen.

„Nur los, Mary, ’s ist nicht alle Tage Picknick!“ rief ihr der Alte nach, und sie folgte dem jungen Manne, wenn sie auch in ihrer augenblicklichen Verwirrung von dem wortreichen Gespräche desselben kaum etwas hörte.

Erst als sie in unmittelbarer Nähe der tanzenden Paare waren, hielt sie ihren Schritt an und überflog mit einem besorgten Blicke das heitere Schauspiel vor ihr. Sie verstand kein Wort von dem, was der Neger auf seinem Fasse ausschrie, und doch richteten sich augenscheinlich die Bewegungen der Tänzer danach; ein zweiter Blick aber zeigte ihr längst aus Deutschland bekannte Quadrillenfiguren, die Lust vergangener Kindertage erwachte plötzlich in ihr, und mit einem hellen Lächeln reichte sie ihrem Begleiter wieder die Hand, mit diesem einem offenen Platze in der Tänzergruppirung zueilend.

Kreuzer, der inzwischen Pferd und Wagen besorgt, wendete sich wieder dem Tanzplatze zu, und sein Auge hatte schnell Mary’s feine Gestalt unter der Menge der Uebrigen herausgefunden. Das Mädchen bewegte sich mit einer Sicherheit und Grazie in den Verschlingungen der Touren, die sie vor allen übrigen Tänzerinnen auszeichneten, ihr Gesicht strahlte von Heiterkeit und Erregung, während sie dennoch in den Ruhepausen den eifrigen Worten ihres Tänzers nur mit einer Gehaltenheit horchte, die fast über ihre Jahre ging.

Heinrich lehnte beobachtend an einem seitwärts stehenden Baume, [658] und ein sonderbarer Wechsel von Genugthuung und Bitterkeit ging durch seine Züge. Er mochte die Schönheit seiner Schwester noch nie so empfunden haben, wie jetzt, noch nie aber war es ihm wohl auch so klar geworden, wie weit die Verschiedenheit ihres Wesens sie von ihm trenne. Er hatte sich bis jetzt noch kaum um Mädchengesellschaft und Umgangsformen bekümmert, und seine ganze Schwäche kam ihm Angesichts des leichten geselligen Treibens, in das er sich nicht zu mischen wagte, zum Bewußtsein – mitten unter der Menge lachender Menschen erschien er sich einsamer, als er sich je gefühlt. Da traf sein Auge endlich auf ein bekanntes Gesicht – der Sohn eines benachbarten deutschen Farmers war es, welcher ziemlich eben so verloren als jener unter den Gruppen umher zu spazieren schien. Heinrich hatte nie viel auf die Freundschaft des unbedeutenden jungen Menschen gegeben; jetzt aber erschien sie ihm fast wie ein großes Glück. Er ging ihm entgegen, und noch niemals hatte ihm ein Gruß so wohl gethan, als die Herzlichkeit, mit welcher jener ihm die Hand entgegenstreckte. Bald sah er sich zu einer Gruppe deutscher Farmer-Familien, die sich den Amerikanern abgesondert und weiter rückwärts gelagert hatten, geführt und befand sich wieder unter einem Elemente, das eben sowenig als er selbst sich in dem leichten amerikanischen Gesellschaftstone heimisch fühlte und eben so wenig von den graziösen Schwingungen moderner Quadrillen verstand.

Der Tanz war zu Ende, und noch glühend von der letzten raschen Tour sah sich Mary von einer Anzahl junger Männer umringt, die sich herandrängten, um sich ihr durch ihren bisherigen Tänzer vorstellen zu lassen. Eine Reihe von Namen tönte an ihr Ohr, von welchen sie in der nächsten Secunde nicht einmal den allgemeinen Klang mehr wußte; hier hatte sie auf eine Bemerkung zu hören, dort auf eine Frage zu antworten, und sie hätte sich doch am liebsten nach Vater Kreuzer umgesehen. Da streckte sich ihr plötzlich eine Hand entgegen, und eine wohlbekannte Stimme fragte: „Ich brauche mich doch nicht erst vorstellen zu lassen, Miß Mary?“

Wie ein leiser, freudiger Schrecken blitzte es in ihrem Auge auf, als sie, emporsehend, in James Osborne’s belebte Züge blickte; ein hohes Roth aber übergoß ihr Gesicht, als sie ihre Hand von der seinigen festgehalten fühlte.

„Das ist ein Glück, was nicht alle Tage kommt, und ich hoffe, Sie sind nicht schon wieder versagt?“ fuhr er fort, während sein leuchtender Blick ihre ganze Erscheinung umfassen zu wollen schien, „sprechen Sie, Miß Mary!“

„Ich weiß noch kaum, ob ich überhaupt weiter tanze,“ erwiderte sie, ihre Hand leicht zurückziehend, „ich möchte mich erst nach Mr. Kreuzer umsehen.“

„O, der alte Gentleman steckt mit dem Vater irgendwo tief in der Politik, lassen sie ihn!“ lachte ihr bisheriger Tänzer; „erlauben Sie, daß ich Sie einen Augenblick zu Mutter und Schwester führe, und dann entziehen Sie sich uns nicht wieder!“

Er eilte mit ihr einer nahen Gruppe zu; die Bewillkommnungen wurden aber bald durch den Ruf und die Geige des Negers abgeschnitten; von allen Seiten flogen die Paare wieder nach dem Tanzplatze, und Mary sah sich bald an James Osborne’s Seite in einem der Quarré’s.

„Werden Sie mir glauben, Miß Mary, wenn ich Ihnen sage, daß es mich unendlich glücklich macht, Sie hier zu treffen? Welch ein Freudentag für mich!“ flüsterte er ihr zu. „Es ist ein reiner Zufall, der mich hergebracht!“

„Ich wußte nicht, daß Sie wieder in der Nachbarschaft waren!“ erwiderte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. Das frühere Roth war von ihrem Gesichte gewichen; um ihren Mund indessen spielte ein Zug wie tiefinnerliches Glück; sie hob kaum die Augen, aber ein aufsteigendes Lächeln deutete jedes launige Wort an, welches ihr Tänzer ihr hier und da in den Verschlingungen des Tanzes zuwarf.

„Sie wußten nicht, daß ich wieder in der Nachbarschaft war?“ begann er halblaut, als Beide wieder neben einander standen, „aber macht es Ihnen Freude, mich in Ihrer Nähe zu wissen? Wie gewiß hatte ich darauf gerechnet, Sie nach Weihnachten noch einmal zu sehen, ehe ich abreiste – ich habe manche Stunde im Schnee gestanden, um mir eine günstige Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, aber Sie hatten jedenfalls vergessen, daß ein Mensch wie James Osborne existire!“

Mary war bei seinen letzten Worten bleich geworden, sie hob wie in einer plötzlichen Sorge die Augen und ließ sie rasch über ihre Umgebung schweifen – die ganze Scene, welche ihre Heimkunft am ersten Weihnachtstage hervorgerufen, war vor sie getreten, und sie meinte jeden Augenblick Heinrichs finster beobachtendes Auge irgendwo entdecken zu müssen. „Sie reden, als stände nichts zwischen Kreuzer’s und Major Osborne’s Farm, als die Einzäunung!“ sagte sie nach einer Pause langsam aufsehend und begegnete einem eigenthümlich gespannten Auge, mit welchem der junge Mann ihr Gesicht beobachtet zu haben schien.

„Wir sind sogleich an der Reihe, Miß Mary,“ sagte er, das Auge rasch über die Tänzer werfend, „aber ich muß über das, was Sie andeuten, später mehr mit Ihnen reden!“

Das Mädchen fühlte einen kräftigen Druck seiner Hand, als sie ihm in die neue Tour folgte, sie sah, wie er fast nur mechanisch die Bewegungen des Tanzes ausführte und ungeduldig das Ende derselben zu erwarten schien, „lassen Sie uns austreten,“ raunte er ihr zu, als Beide ihre Plätze wieder erreicht hatten, „Sie bedürfen jedenfalls einer Erfrischung; – kommen Sie!“ fuhr er in dem Tone dringender Bitte fort, als er sie mit einem neuen Ausdruck von Besorgniß zögern sah, „es wird nirgends auffallen, und wenn der Tanz vorüber ist, finde ich wahrscheinlich keinen unbewachten Augenblick wieder, um ein nothwendiges Wort mit Ihnen zu sprechen!“

Sie war fast unwillkürlich seinem Drängen einige Schritte gefolgt, und lachend eilte er jetzt mit ihr nach dem Takte der Musik davon. Unweit der zum Kochplatz hergerichteten Stelle stand am Saume des Gebüsches ein Erfrischungstisch, beladen mit Gläsern und mehreren Holzeimern voll zubereiteter Limonade – der Wallfahrtsort der erhitzten Paare, welche von hier aus entweder dem Tanzplatze wieder zueilten, oder promenirend sich im Schatten der breitästigen Buchen verloren. Mary hatte der willkommenen Erfrischung zugesprochen und war dann neben ihrem Begleiter in einer Richtung, die sie Andere gehen sah, weiter geschritten. Indessen konnte sie das unangenehme Gefühl, das sie bei dem Gedanken an Heinrichs Gegenwart beschlichen, nicht von sich streifen.

James war eine Strecke den vor ihm gehenden Paaren gefolgt, bog aber dann in einen einsameren Pfad ein.

„Sagen Sie mir offen, Miß Mary,“ begann er hier, des Mädchens Hand fest ergreifend, „was ist Ihnen über die Osborne’s gesagt worden? Ist die alte Geschichte noch immer so lebendig, daß sie auch Ihnen das Herz damit verbittern mußten?“

„Vater Kreuzer hat mir Alles erzählt, weil es nothwendig war, daß ich es hörte!“ erwiderte sie, ihre Hand leise befreiend, „aber er hat nicht bitter gesprochen –“

„O, ich kenne den alten Gentleman,“ rief der junge Mann erregt, „und weiß auch, daß er längst vergessen hätte, was doch nun einmal geschehen ist, wenn er nicht immer einen neuen Stachel an seiner Seite hätte, der auch auf Ihre Unbefangenheit schon seinen Einfluß ausgedehnt hat. Meinen Sie, Miß Mary, ich hätte den Unterschied nicht schmerzlich gefühlt, der zwischen unserm ersten Gespräche im Schlitten, zwischen Ihrer vertraulichen Offenheit und der Aengstlichkeit, mit welcher Sie heute neben mir gehen und stehen, liegt? Und nun sagen Sie mir doch nur,“ fuhr er stehen bleibend und ihre beiden Hände fassend fort, „was habe ich denn in der ganzen Angelegenheit verbrochen, warum sollen Sie denn gegen Menschen eingenommen werden, nur weil sie Osborne heißen? Glauben Sie doch, daß mein Vater die Uebereilung, die er vor Jahren begangen, eingesehen hat, daß er Mr. Kreuzer so achtet, als es nur Jemand von dessen Nachbarn thun kann, und daß er diesem längst selbst die Hand geboten hätte, wenn er nicht wüßte, welcher feindselige Geist noch immer in Ihrem Hause erhalten und genährt wird. Ich habe geahnt, als ich während der Christzeit Tag für Tag um Ihre Farm streifte, ohne auch nur eine Spur von Ihnen zu sehen, daß der alte Groll sich zwischen uns gestellt habe – soll denn das aber wirklich geschehen, Miß Mary? Sollen denn zwei Menschen, die sich bei der ersten Begegnung schon verstanden, als wären sie alte Bekannte, sich wegen Dingen aus dem Wege gehen, mit denen sie nie etwas zu thun gehabt?“

Das Auge des Sprechenden ruhte mit einem so klaren, innigen Ausdrucke in dem ihrigen, daß sie den Blick nicht davon abwenden konnte. „Ich bin Ihnen nicht aus dem Wege gegangen und ich werde es nicht thun!“ erwiderte sie. „Vater Kreuzer hat mir selbst gesagt, ich brauche es nicht! Aber ich habe Rücksicht zu nehmen –“

„Hat er Ihnen das gesagt, der alte Gentleman? Gott segne [659] ihn dafür,“ unterbrach sie James, ihre sich leise sträubenden Hände fester fassend, „was kann es denn noch für Rücksichten geben, die Sie so unruhig machen?“

Es rauschte im Gebüsche, und Heinrich sprang plötzlich in Beider Weg, einen finstern Blick auf Mary und einen zweiten voll flammender Drohung auf ihren Begleiter werfend. „Was haben Sie hier mit meiner Schwester zu thun, Sir, hier, entfernt von der Gesellschaft im Walde?“ rief er mit bebender Lippe. „Lassen Sie ihre Hand los,“ fuhr er fast schreiend fort, „oder bei Gott, es geht nicht gut!“

Mary hatte in der ersten Ueberraschung ihre Hände aus denen ihres Begleiters ziehen wollen, aber dieser hielt ihre Rechte fest in seiner Linken. „Sind Sie ein Gentleman, Henry, daß Sie sich in Gegenwart der jungen Lady so gehen lassen?“ erwiderte der letztere mit völliger Ruhe, obgleich sein Auge einen seltsamen Glanz annahm und das Blut dunkel in sein Gesicht stieg. „Ich denke, Sie werden nicht verwehren wollen, was mir und Miß Mary recht scheint?“

Das Gesicht des jungen Kreuzer nahm den Ausdruck eines tödlichen Hasses an. „Was den Osborne’s recht scheint?“ stieß er hervor, „haben sie denn nicht bewiesen, daß Lüge und Unrecht bei ihnen zu Hause sind? Die Hand von dem Mädchen, sage ich zum letzten Male!“

„Heinrich, um Gotteswillen!“ rief Mary, welche die Hand des jungen Amerikaners plötzlich an der ihren zucken gefühlt, James aber war, ohne sie loszulassen, todtenbleich einen Schritt vorwärts getreten und stand dicht, Aug’ in Auge, vor seinem Beleidiger. „Wärst Du ein Mensch von Ehre,“ sagte er mit einem eigenthümlich heisern Klange der Stimme, „so würdest Du Deine Beschimpfungen bis zu einer Zeit aufgespart haben, wo mich nicht die Gegenwart einer Lady abhält, Dich nach Verdienst zu züchtigen –“

„Züchtigen – Du?“ brach es in einem schrillen Laute aus dem Munde des Andern, „da nimm es!“ und ein voller Faustschlag fiel in Osborne’s Gesicht.

Mary war mit einem Aufschrei zurückgefahren – einen einzigen Moment nur stand der Getroffene wie betäubt, im nächsten hatte er des Mädchens Hand losgelassen, den Burschen gefaßt und ihn zu Boden geschmettert, daß dieser, ohne auch nur noch ein Glied zu regen, liegen blieb, wie er den Boden berührt.

James blickte eine Secunde lang auf den bewegungslosen Körper, dann wandte er, sichtlich seine Aufregung niederdrückend, sich nach dem Mädchen.

„Kommen Sie, Miß, und entschuldigen Sie mich, er hat nur, was er verdiente. Ich werde dann nach ihm sehen.“

„Aber um Gotteswillen, er regt sich nicht!“ rief Mary, wie von Entsetzen gepackt, ihre Hände nach dem Niedergeworfenen ausstreckend.

„Er wird zu sich kommen, seien Sie ohne Sorge, und es ist besser, er findet sich allein,“ erwiderte er, ihren Arm unter den seinigen nehmend, „kommen Sie, der Ort taugt jetzt nicht für Sie!“

„Ich kann nicht, ich kann nicht!“ stöhnte das Mädchen, die Augen starr auf Heinrichs bleiches Gesicht geheftet, „gehen Sie zu ihm, sehen Sie, ob er Schaden genommen, um Gottes Barmherzigkeit willen lassen Sie ihn nicht so liegen!“

Mit finster zusammengezogenen Augen trat James an den Daliegenden heran und faßte ihn bei beiden Schultern, ihn heftig rüttelnd, aber nur eine todte Masse schien seiner Anstrengung zu gehorchen. Jetzt faßte er den Oberkörper und richtete ihn auf – schwer fiel der Kopf zurück und zwischen den Haaren hervor träufelte Blut; ein rascher Blick Osborne’s traf eine aus dem Grase hervorragende mit Blut gefärbte Felsenecke. Langsam legte er den Körper zurück und richtete sich auf. „Ich werde Wasser holen und bin auf der Stelle wieder hier,“ sagte er in einem eigenthümlich klingenden Tone. Mary aber sah in ein verstörtes, aschenfarbiges Gesicht, und als ihr Begleiter, ohne sich umzublicken, davon geeilt war, überkam sie in voller Macht das Entsetzen, dessen Anfänge sie eben erst empfunden. Er war todt, sie wußte es, sie hatte es in des Davoneilenden Zügen gelesen, und nur ihrem fast die Besinnung überwältigenden Schrecken folgend, flog sie den Weg zurück, um den alten Farmer zu suchen.

Nur wie eines Traumes entsann sie sich später der aufgeregten Menschengruppen, welche nach den ersten Worten, die sie zu reden vermocht, sie umgaben, entsann sich des verstörten Gesichts des herbeigestürzten Kreuzer, sah sich wieder neben Heinrichs leblosem Körper, um welchen die Menschen in vergeblichen Belebungsversuchen beschäftigt waren, bis er aufgehoben und davongetragen ward, und fand sich endlich von dem Sohne des Festgebers mit beruhigenden Worten nach einem der wartenden Wagen geführt. „Nehmen Sie alle Kraft zusammen, Miß,“ sagte der junge Mann, „es ist nöthig, daß die alte Lady auf das Unglück vorbereitet wird, ehe sie es durch Unberufene erfährt, und auch für Sie ist es am Besten, wenn Sie den Neugierigen aus dem Wege gehen.“

Damit hatte er die Widerstandslose in den Wagen gehoben, ihr Hut und Tuch eingehändigt und fuhr mit ihr davon.

Mary kam erst wieder zu rechter Besinnung, als sie das heimathliche Farmhaus erblickte; zugleich aber erwachte in ihr auch ein eigenes Gefühl von Angst, wenn sie sich den ersten Schmerzausbruch ihrer Pflegemutter vorstellte. Fast wollte es sie überkommen, als trage sie einen Theil der Schuld an dem entsetzlichen Unglücke. „Lassen Sie mich hier absteigen,“ sagte sie, als der Weg sich nach dem Thore der Umzäunung wandte, „Mutter muß gleich etwas Besonderes vermuthen, wenn sie mich in einem fremden Wagen ankommen sieht!“

Sie sprang zu Boden und folgte dem Gefährte langsam. Sie sah ihren Begleiter an der Hausthür absteigen und im Eingange verschwinden. Eine Minute stand sie harrend und glaubte jeden Augenblick einen Schrei aus dem offenen Fenster hören zu müssen, aber kein Ton wurde laut um sie her, und eine peinigende Unruhe trieb sie vorwärts. Mit hochklopfendem Herzen ging sie dem Hause zu und war nur wenige Schritte noch davon entfernt, als die Thür sich öffnete und die Frau, gefolgt von dem Farmerssohne, rasch heraustrat. Ihr Haar saß so glatt und fest am Kopfe wie gewöhnlich, und nur der krampfhafte Griff, mit welchem sie den Sommerhut in der Hand hielt, verrieth eine ungewöhnliche Aufregung. Ihr Gesicht war fast steinern, und der starre Blick suchte den Wagen. Mary fühlte, als solle ihr das Herz zerdrückt werden. „Mutter, Mutter!“ rief sie, ehe es noch der junge Mann mit einem Winke verhindern konnte. Die Frau aber schien sie nicht zu hören und schritt auf das Gefährt zu. „Ich weiß, daß er meine Stimme vernehmen wird, und hätte auch sein Geist schon halb den Körper verlassen,“ sagte sie, als der junge Farmer ihr beim Einsteigen behülflich war; „nur rasch, und es muß noch Alles gut werden!“

Das Mädchen sah die Beiden davonfahren, sie betrat das Haus, in welchem sich keine lebendige Seele außer ihr zu befinden schien, und wirre Bilder dessen, was die nächsten Stunden bringen würden, schossen durch ihren Kopf. Fast erschrak sie, als die Nase des zottigen Haushundes, der ihre Kleider beschnopperte, ihre Hand berührte. Mit einem Gefühle, als sei jeder Theil in ihrer Brust zusammengeschnürt und gepreßt, setzte sie sich an das offene Fenster, um die Heimkehr ihrer Pflegeeltern abzuwarten. Der ganze verhängnisvolle Vorfall trat in einzelnen Bildern noch einmal vor sie, bis ihre Gedanken an dem jungen Osborne hängen blieben – er war, seit er den Erschlagenen verlassen, nirgends wieder zu erblicken gewesen. Die Worte, welche er zu ihr gesprochen, klangen noch einmal in ihren Ohren wieder, sie sah sein klares Auge auf sich ruhen und fühlte noch einmal den Eindruck, welchen sein inniger Blick auf sie gemacht – dann trat es wie ein Gespenst vor sie, daß gerade Einer der Osborne’s es hatte sein müssen, durch welchen das Unglück herbeigeführt worden. Sie meinte den alten Kreuzer zu sehen, wie er im Schmerze um den Sohn den versöhnlichen Sinn verfluchte, welcher die erste Ursache zu dem Geschehenen gewesen – zwei große, schwere Thränen begannen sich aus ihren Augen loszuringen. Bald aber folgten deren mehr; sie legte den Kopf auf den Arm, und in heißem Weinen fing ihre gepreßte Seele an sich Luft zu machen, es war ihr, als müsse sie jammern über ein ganzes verlorenes Lebensglück.

Es war dämmerig geworden. Mary hatte langsam ihre Ruhe wiedergewonnen und ihre augenblickliche Lage ins Auge gefaßt. Sie war sich in keiner Weise bewußt, einen Vorwurf verdient zu haben, und doch, wenn sie an ihre Pflegemutter dachte, konnte sie die Ahnung von einem bösen Sturme, welchen sie zu bestehen haben werde, nicht von sich weisen, wenigstens aber wollte sie jeder Pein, welche die nächste Stunde für sie bringen konnte, standhaft entgegentreten. Jetzt sah sie eine Gestalt auf das Haus zukommen; es war die Magd, die, als sie das Mädchen am Fenster bemerkte, einen auffallend scheuen Blick nach ihr warf und dann nach der Küche am hintern Ende des Gebäudes eilte. Dieser eine Blick fiel wie ein Stich in Mary’s Herz, aber er befremdete [660] sie nicht; er galt ihr nur als Vorspiel dessen, was noch kommen werde; wußte doch Jeder, daß sie bei der That allein gegenwärtig gewesen war, und die Magd war jedenfalls schon von den Vorgängen unterrichtet.

Es währte jetzt nicht lange, so machte sich das Geräusch eines herankommenden Wagens hörbar. Das Mädchen horchte scharf und trotz des gefaßten Entschlusses fühlte sie ihre Brust sich krampfhaft zusammenziehen. Sie hörte das Thor der Einzäunung öffnen – langsam nahte der Wagen und konnte endlich vom Fenster aus erblickt werden – Mary schlug die Hand vor die Augen und mochte nicht mehr hinsehen. Oben neben dem ausgestreckten Körper des Todten saß die Mutter und hatte den Kopf desselben in ihre Arme geschlossen; daneben ging der alte Kreuzer mit schlaff zu Boden gesenktem Haupte, an seiner Hand den schluchzenden George führend und von zwei andern Männern begleitet. Das Gefährt hielt vor der Thür, die Frau aber schien von nichts Notiz zu nehmen und blieb in der eingenommenen Stellung. „Mutter!“ sagte der Alte, so weich, als Mary noch kein Wort aus seinem Munde gehört, „Mutter, wir sind zu Hause, wir wollen ihn hereintragen!“

Die Frau fuhr auf und blickte um sich. „Ja, tragt ihn nur hinein, aber laßt mich erst sein Bett herrichten, ich habe ihn ja schon oft so in meinem Arme heimgebracht!“ erwiderte sie wie geistesabwesend, legte den umschlungenen Kopf behutsam auf das Stroh zurück und machte Anstalt aus dem Wagen zu steigen. Als aber einer der mitgekommenen Männer zu ihrer Unterstützung herzutrat, brach sie in seinen Armen zusammen.

Der zweite Begleiter der Familie hatte die Hausthür geöffnet und traf hier das Mädchen, welches beim Zusammensinken der Frau dieser zu Hülfe eilen wollte. Mit einem leichten Griffe faßte er ihren Arm. „Halten Sie sich bei Seite, Miß, bis der erste Schmerz vorüber ist,“ sagte er halblaut, „so ein halbgebrochenes Mutterherz redet oft mehr, als es später verantworten kann!“

Mary verstand instinctmäßig die Bedeutung der Worte, zugleich aber wallte ihr ganzes Gefühl dagegen auf, wie eine Schuldbewußte bei Seite treten zu sollen – lieber wollte sie einen ganzen Sturm von Ungerechtigkeit über sich ergehen sehen, „Lassen Sie mich, Sir; habe ich denn etwas verbrochen?“ erwiderte sie, während die Thränen ihr wieder in die Augen drangen, und zugleich trat sie hinaus, auf den alten Farmer zu, der sich soeben von seiner Frau wandte, welche in den Armen des Hülfeleistenden sich wieder aufgerichtet hatte.

„Vater!“ sagte sie weinend seine Hand fassend, „bin ich denn durch das Unglück Euer unwerth geworden, daß die Menschen mich von Euch weg halten wollen?“

Kreuzer drehte langsam das bleiche, tieftraurige Gesicht nach ihr und warf dann einen Blick nach seiner Frau, die von ihrem Begleiter unterstützt dem Hause zuging. „Geh’ nach Deiner Stube, Mary, daß sie Dich nicht sieht,“ erwiderte er wie unter schwerem Seelendrucke, „Deine Zeit zu reden wird kommen. Ertrage jetzt in Geduld, wo wir Schwereres zu tragen haben! – Geh’ zur Mutter!“ wandte er sich an George und schloß sich dann den Männern an, welche Anstalt machten, die Leiche vom Wagen zu heben.

Ein herbes Gefühl von Bitterkeit machte Mary’s Thränen versiechen. Sie hätte ohne Schmerz die schlimmste Aeußerung der Frau ertragen – gegen die kalte Abweisung dss Alten aber war sie nicht gewappnet gewesen. – Sie fühlte, sie war durch dies eine Wort Kreuzer’s außerhalb der Familie gestellt. Aber fast fand sie eine Art Beruhigung in diesem Gedanken – war ihr denn, so sehr sie auch alle Kindespflichten erfüllt, wirklich schon einmal ungetrübt das Gefühl gegönnt worden, Familienglied zu sein? War denn nicht die Zeit, welche sie hier zugebracht, ein stiller fortdauernder Kampf gegen Widerwillen und Unfreundlichkeit gewesen? Sie sollte ihr aus dem Wege gehen! sie wollte es thun; dann aber fielen von selbst auch alle Rücksichten, welche sie dem Hasse der Frau gegen die Osborne’s wohl zu bringen gehabt hätte.

Sie hatte sich langsam weggedreht und war nach der Hinterthür gegangen. In der Küche stand die Magd und lugte durch die Thürspalte nach den Vorgängen im Vorderzimmer, ohne die Eintretende zu bemerken. Mary nahm Leuchter und Kerze und schritt nach ihrem Zimmer im obern Stock hinauf. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, das Ganze ihrer Lage sich vor die Augen zu stellen; aber immer trat wieder das Gesicht des Todten, wie es in den Armen der geistesabwesenden Frau geruht, vor ihr Auge; und dann mußte sie wieder an James denken, wo er wohl hingekommen und ob er nicht vielleicht schon als Mörder festgenommen worden sei; und dann stand die Scene im Walde wieder vor ihr, und die Nachschauer des Entsetzens, welches sie gefühlt, rieselten über ihre Haut.

Es war dunkel im Zimmer geworden, und ein ihr bis jetzt noch ganz unbekanntes Gefühl von Grauen überkam sie; sie zündete das Licht an, legte den Kopf auf das Kissen zurück und schloß die Augen.

Sie wußte selbst nicht, wie lange sie so gelegen, als etwas wie ein innerer Schrecken sie wieder auffahren ließ. Sie sah nach dem Lichte, das schon zur Hälfte abgebrannt war und in langer Schnuppe kohlte, dann horchte sie – es war ihr, als müsse ein äußeres Geräusch in ihre wirren Träume gedrungen sein. Durch den dünnen Boden klang das Jammern und Wimmern der unglücklichen Mutter zu ihr heraus und schuf in dem Mädchen eine wehe Stimmung wie Verlassenheit und Heimathlosigkeit; noch niemals, wie jetzt, hatte sie so gefühlt, wie fremd sie bisher in der Familie gestanden, und nur zu deutlich trat die Erkenntniß vor sie, daß ihres Bleibens in dem Hause kaum noch lange sein könne. Sie wollte sich eben wieder zurücklegen, als ein behutsames Pochen an dem Fenster laut wurde, und es war ihr plötzlich klar, daß es dasselbe Geräusch gewesen, welches sie erweckt. Mehr gespannt, als erschrocken, sprang sie von ihrem Bette; sie wußte, daß das Küchendach, welches an ihr Fenster stieß, leicht zu erklimmen war, kaum aber frug sie sich, wer Nachts hier den Weg zu ihr suchen möge; das Außerordentlichste wäre ihr heute kaum unerwartet gekommen. Sie setzte das Licht auf die Seite und schob leise das Fenster auf.

„Miß Mary, erschrecken Sie nicht, ich muß zwei Worte mit Ihnen reden!“ flüsterte eine Stimme, und zugleich hob sich ein helles Gesicht vom Dache, auf welchem eine Gestalt im Schatten des breiten Schornsteins ausgestreckt lag.

Das Mädchen ward noch bleicher, als sie war, aber keine Miene zuckte, als sei ihr nur die Verwirklichung einer Ahnung entgegengetreten. „Halten Sie sich ruhig, Mr. Osborne, ich will das Licht löschen!“ antwortete sie kaum hörbar, und im nächsten Augenblicke lag Dach und Fenster im tiefen Dunkel.

„Die Deutschen machen von allen Seiten Jagd auf mich, und auch meines Vaters Haus bietet mir keine Sicherheit,“ hörte sie die flüsternde Stimme wieder, „ich mag ihnen nicht in die Hände fallen, aber ich überliefere mich noch heute dem Gerichte, wenn ich weiß, Mary, daß Sie Zeugniß für mich ablegen wollen. Es bedarf nichts, als der einfachen Wahrheit, um den Mord von mir zu nehmen, Sie wissen es ja, Mary; aber ich bin ein halbverlorener Mensch, wenn ich nicht die ganz bestimmte, unverdächtige Aussage eines Zeugen neben mir habe – und Niemand hat doch das Unglück mit angesehen, als Sie!“

In diesem Augenblicke ließ sich ein kurzes, dumpfes Knurren in nächster Nähe hören. „Um Gotteswillen, der Hund!“ stieß Mary mit unterdrückter Stimme hervor, und horchte mit angehaltenem Athem.

Das Geräusch von Schritten im Grase drang herauf, zugleich auch wurden die Sprünge des Hundes und ein kurzes freudiges Bellen laut. Das Geräusch wandte sich indessen der vordern Thür des Hauses zu, und bald ließ sich von dort das Winseln und Kratzen des ausgeschlossenen Thieres vernehmen.

„Jetzt fort, so lange der Weg frei ist!“ flüsterte das Mädchen dringend, „ich werde Alles sagen, wie es mir mein Gewissen gebietet – verlassen Sie sich darauf.“

„Und es soll Ihnen gelohnt werden, so mir Gott will!“ klang es zu ihrem Ohre; dann vernahm sie ein leichtes Rutschen, einen kaum hörbaren Fall, und Alles war wieder still.

Einige Secunden noch starrte das Mädchen in die Dunkelheit, dann legte sie sich, angekleidet wie sie war, zurück auf das Bett. Eine sichere Festigkeit und Ruhe war plötzlich in ihr Inneres eingezogen, sie wußte jetzt, wie sie stand, sie wußte, daß sie Partei zu nehmen hatte in dem neubelebten Hasse der Kreuzer’s gegen die Osborne’s, und daß sie nicht da stehen durfte, wo ihre jetzige Heimath sie hinwies. Sie grübelte nicht über die Folgen, sie fühlte nur die Befriedigung, mit sich selbst klar zu sein, und wußte, daß sie sich selbst nicht untreu werden konnte.

[661] Unter ihr waren die Klagen der Frau verstummt, dafür tönte es aber dumpf wie sprechende Männerstimmen, und sie hörte Kreuzer’s Tritt die Stube durchmessen. Bald klappte die Frontthür wieder, und eine neue Stimme wurde laut, von den gesprochenen Worten aber war nichts unterscheidbar, und bald hatte sich über Mary ein tiefer Schlaf gesenkt, jede Erinnerung an die Schrecken des Tages verwischend.

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Autor: Otto Ruppius
Titel: Mary Kreuzer
aus: Die Gartenlaube 1860, Heft 43, S. 673–678
Fortsetzungsroman – Teil 4


[673] Eine heitere Sonne war am Morgen über dem Trauerhause aufgegangen, als das Mädchen von ihrem Lager auffuhr. Es konnte nicht mehr früh sein, und doch schien sich in dem Hause noch nichts zu regen. Eine kurze Minute lang saß sie horchend auf ihrem Bette, dann rief sie sich alle durchlebten Ereignisse vor die Seele, sich sammelnd und festigend, ordnete hierauf ihren Anzug und nahm leise ihren Weg die Treppe hinab.

In der Küche herrschte wirre Unordnung; gebrauchte Kaffeetassen und Teller standen umher, das Kochgeschirr befand sich zerstreut am Boden, und der Ofen sah der Eintretenden mit ungeschlossenen Oeffnungen entgegen. Es schien während der Nacht für eine ganze Gesellschaft gekocht worden zu sein und die Magd noch von ihrer Anstrengung zu ruhen.

Einen Augenblick stand Mary unschlüssig, dann aber machte sie sich mit möglichster Vermeidung von Geräusch an’s Aufräumen. Eben raffte sie das umherliegende Holz zusammen, um Feuer anzuzünden, als sich die Thür nach dem Vorderzimmer aufthat und der alte Kreuzer in der Oeffnung erschien. Seinem ganzen Aussehen nach war er während der Nacht in kein Bett gekommen, noch trug er die Sonntagskleider, welche er zum Picknick angelegt, auf dem Kopfe saß sein Filzhut zerdrückt und verbogen, und das Gesicht erschien grau und erschlafft. Ein Blick voll tiefer Trübsal fiel in Mary’s aufschauendes Auge und machte deren Herz fast zittern vor Wehmuth über die gebeugte Gestalt des sonst so kräftigen alten Mannes.

„Es ist gut, daß Du da bist, Mary,“ begann er nach einer kurzen Pause, „komm herein, es müssen ein paar Worte gesprochen werden, ehe Weiteres geschieht.“

Er wandte sich in die Stube zurück und ließ, als das Mädchen ihm folgte, sich matt auf einem Stuhle nieder.

Im Schaukelstuhle neben dem noch unberührten Bette saß zurückgelehnt die Frau; die gerötheten Augen waren eingesunken und trocken, aber der matte Blick begann ein fast unheimliches Leben zu gewinnen, als sie ihn nach der Eintretenden wandte.

„Ich möchte über ein paar Umstände Auskunft haben,“ begann der Alte wieder, „sie können in dem furchtbaren Schicksale, das über uns gekommen ist, nichts ändern, denn todt ist todt –“ er hob beide Hände und preßte sie gegeneinander, als wolle er dadurch den neu in ihm aufsteigenden Schmerz zurückdrängen, „aber sie können helfen, daß der Coroner,[2] der bald hier sein wird, schnell klar sieht und mein armer Junge wenigstens ohne lange Umschweife seine Genugthuung bekommt. – Du hast selbst gesagt, Mary, als Du unter die Leute stürztest, daß James Osborne den Heinrich niedergeworfen und zum Tode gebracht habe – alle meine Nachbarn haben es sich auch die ganze Nacht kosten lassen, um den Mörder zu fangen; er hat sich aber selbst an das Gericht ausgeliefert, vermuthlich weil er auf das Geld seines Vaters pocht; aber alle Reichthümer sollen ihn nicht retten, denn im schlimmsten Falle können die Deutschen selber die Gerechtigkeit in die Hand nehmen. Aber ich wollte sagen,“ fuhr er wie sich sammelnd fort, „Du bist die Einzige gewesen, die mit angesehen, was vorgegangen ist – die Leute haben Dich mit James Osborne in den Wald gehen sehen – jetzt möchte ich nun zuerst von Dir selber hören, was Du dort mit dem Menschen zu thun gehabt – ich habe nachher wohl einen Begriff, wie das Uebrige gekommen sein mag –“

„Frage doch nicht erst lange!“ unterbrach die Alte, sich langsam aufrecht setzend, den Sprechenden, „der junge Kuckuk, der im Hänflingsneste ausgebrütet ist, hackt zum Dank auf seine Pflegemutter los, und was kümmert sich so ein Mädchen, das nicht unser Fleisch und Blut ist, das kein Herz für ihre neue Heimath hat, darum, ob sie uns alten Leuten die Seele zerreißt? Sie ist mit dem Osborne gegangen, weil es ihr so gefallen, weil sie sich nichts um uns zu kümmern hat, vielleicht weil sie’s dem Heinrich, der auf unsere Ehre hält, recht vor das Gesicht hat stellen wollen, daß Kreuzer’s Sachen nicht ihre Sachen sind – ach, allbarmherziger Gott!“ unterbrach sie sich zurücksinkend, und ein kurzes, krampfhaftes Schluchzen stieg aus ihrer Brust, während die Augen, die keine Thränen mehr zu haben schienen, sich nach der Decke richteten, „das ist der Fluch und die Strafe, daß man mit Gewalt verlangt, was der Himmel versagt hat, und fremdes Blut zum eigenen machen will –“

„Mutter, laß es gut sein jetzt!“ fiel ihr der Farmer in die Rede, während ein leiser Zug von Mißbehagen sich durch den Schmerz in seinen Mienen drängte, „laß sie erst reden, und wir werden dann sehen!“

Mary stand bewegungslos auf der Stelle, welche sie nach ihrem Eintritte eingenommen, ihr Gesicht war bei den Worten der Frau von Secunde zu Secunde bleicher geworden, und als sich jetzt Kreuzer nach ihr wandte, traf er auf denselben eigenthümlichen Ausdruck von Starrheit in ihren Zügen, der ihn an sein erstes Begegnen mit ihr in New-York erinnern mußte.

„Sprich, Mary,“ fuhr er fort, „und fürchte dich nicht!“

[674] „Ich fürchte mich nicht!“ erwiderte sie langsam, als werde ihr das Sprechen schwer, „und ich werde reden, da Ihr es verlangt. Ich bin mit dem jungen Osborne gegangen, weil er das einzige bekannte Gesicht rings um mich her zeigte und Vater mir gesagt hatte, daß ich ihm nicht auszuweichen brauche; ich bin willig mit ihm gegangen, weil er mit Liebe und Achtung von Vater Kreuzer sprach und mir erzählte, daß der alte Mr. Osborne gern schon längst die Hand zum Frieden geboten und das geschehene Unrecht auf irgend eine Weise wieder ausgeglichen hätte, wenn er nicht wüßte, daß hier im Hause die Feindschaft immer wieder neu geschürt würde. Und kein anderes Wort als von dieser Art ist aus seinem Munde gekommen. Da ist der Heinrich, den ich, seit wir auf den Platz gekommen, nicht gesehen, aus dem Gebüsche getreten wie ein Wüthender, hat ihn geschimpft und die Osborne’s von Vater zu Sohn Lügner genannt, und als ihm James gesagt, er werde ihn ein anderes Mal treffen und züchtigen, wo er nicht auf die Anwesenheit einer jungen Lady Rücksicht nehmen müsse, hat Heinrich die Faust gehoben und ihn in’s Gesicht geschlagen. Da hat James den Wüthenden gepackt und ihn zu Boden geworfen – und das ist Alles!“ Ein stiller Schauer schien ihren ganzen Körper zu überfliegen, aber kein Zug ihres Gesichts änderte sich. „Und nun will ich noch Eins sagen, weil ich es Euch schuldig zu sein glaube,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „es wird wohl kommen, daß ich Zeugniß von dem Geschehenen ablegen muß, und so kann ich nicht anders, als nach Wahrheit und Gewissen aussagen, daß James mit Gewalt zu einer That gedrängt worden ist, die er niemals beabsichtigt und an die er nie gedacht –“

„Siehst Du das Kuckuksei?“ richtete sich die Frau mit stechendem Blicke auf, „hörst Du, wie die Sachen stehen? James, James! so weit sind sie schon mit einander! Siehst Du endlich, was Du in’s Haus gebracht, Du alter bethörter Mann? Aber die Mutter wird wohl noch ihr Recht bekommen, und sollte sie meilenweit auf den Knieen rutschen, um die deutschen Männer gegen den amerikanischen Mörder und seine Liebste aufzurufen!“

Kreuzer, der bis zu diesem Augenblicke bleich und still dagesessen, erhob sich jetzt rasch und faßte den Arm der Frau. „Ruhig, Mutter, es wird Alles klar werden, aber ruhig jetzt!“

Durch des Mädchens Züge zitterte es, wie eine mit Gewalt unterdrückte innere Bewegung. „Mutter, wenn ich Dich noch so nennen darf,“ sagte sie, „warum beschimpfst Du mich? Ich weiß, daß ich nicht länger hier im Hause bleiben darf, daß ich Dir den großen Schmerz immer wieder zurückrufen würde; – aber bin ich Dir nicht ein gehorsames Kind gewesen? habe ich etwas gethan, was Du mir vorwerfen dürftest? warum beschimpfst Du mich jetzt, wo ich nur rede, was vor Gott und meinem Gewissen recht ist?“

Ein Pochen an der Vorderthür schnitt die weitern Worte ab. In dem langsam geöffneten Eingange erschien eine hohe, stattliche Männergestalt, in die leichte Tracht der amerikanischen Farmer gekleidet. Das volle, gebräunte Gesicht war von eisengrauem Haar umwallt, und die wie aus Gewohnheit leicht zusammengezogenen Augen schienen mit einem Rundblicke Alles, was das Zimmer bot, erfassen zu wollen.

„Mister Kreuzer!“ wandte er sich in ruhiger, wohltönender Stimme an den alten Farmer, „erlauben Sie, daß ich für einige Minuten Ihre Schwelle übertreten darf?“

Die Frau hatte sich bei seinem Anblicke langsam, als sähe sie ein Gespenst, aufrecht gesetzt. „Laß ihn nicht herein, Kreuzer!“ rief sie plötzlich, abwehrend die Hand ausstreckend, „das Unglück ist da, wo sie hintreten, er und was zu ihm gehört! Laß ihn nicht herein; was will er noch in dem Hause des Gemordeten?“

Ein Ausdruck von Trauer überflog die Züge des Angekommenen, ohne daß ihn indessen der gewordene Empfang zu überraschen schien; Kreuzer aber hatte mit einem bestimmten „Mutter, sei ruhig!“ von Neuem den Arm der Alten gefaßt und wandte sich dann mit einem Gesichte voll tiefen Ernstes nach dem Fremden. „Treten Sie ein, Major!“ sagte er.

„Ich danke Ihnen,“ erwiderte der Eingetretene herzlich, die Thür hinter sich schließend. „Mr. Kreuzer, ich weiß,“ fuhr er dann fort, „daß heute Ihr ganzes Haus mit schwer verwundetem Herzen, mit doppelt feindseligem Auge auf die Osborne’s blicken muß, und dennoch hat es mich gerade heute getrieben, zu Ihnen zu gehen, Ihnen meinen tiefen Schmerz über das entsetzliche Unglück, das Sie betroffen, auszusprechen und Ihnen die Versicherung zu geben, daß meinerseits keine Hand gerührt werden soll, um den vollen Lauf der Gerechtigkeit zu hemmen. Es ist mein Sohn, den ich seiner Sache und seinem Schicksale überlasse, wie Heinrich der Ihre war, – es ist Alles, was ich Ihnen jetzt als freilich trostlose Genugthuung bieten kann. Wollte doch Gott, Mr. Kreuzer, was so viele Jahre zurück zwischen uns gestanden, wäre christlich vergeben und nicht verpflanzt worden auf das junge Geschlecht –“

„Das ist es, das ist der Fluch, der jetzt über uns gekommen!“ sagte Kreuzer dumpf, die Augen auf den Boden heftend.

„O ja!“ fuhr die Frau mit einem unheimlichen Lachen auf, „und wer hat das junge Kreuzer’sche Geschlecht niederschießen wollen, wenn es sich auf fremdem Boden zeige? und das junge Geschlecht hätte nicht einmal wissen sollen, daß es sich zu wahren habe? O, die Redensarten sind jetzt schön, jetzt, wo es an den Hals des eigenen Fleisches zu gehen droht – aber“ fuhr sie mit gehobener Stimme und stier blickendem Auge fort, „der Heinrich ist gemordet worden, und so muß sein Mörder hängen! Der Deutsche ist nicht mehr der Fußschemel des Amerikaners – Leben um Leben heißt es! – Gehen Sie, Sir, das Reden hilft Ihnen nichts!“ rief sie und stieß die Hand ihres Mannes, der sich nach ihr gewandt, zurück; „gehen Sie, und nehmen Sie auch gleich diese da, die den Advocaten für die Osborne’s machen wird, mit!“

Der Eingetretene hatte, so lange die Frau sprach, keine Miene bewegt, als habe er sich vorgenommen, durch nichts seine Fassung stören zu lassen; bei den letzten Worten aber wandte er das Auge nach dem Mädchen, und ließ es angeregt über die ganze feine Gestalt laufen.

„Ich werde allein gehen, Mutter,“ erwiderte Mary, langsam den Kopf hebend, „und eine Waise, die arbeiten will, wird wohl ein Unterkommen finden, das sie frei von Verdacht hält. Vergib mir, wenn ich Dir irgendwo eine unzufriedene Stunde gemacht, wie ich Dir vergeben will, was Du mir jetzt gethan!“ Sie wandte sich zum Gehen, aber Kreuzer, der sichtlich unruhig dem Gespräche gefolgt, ließ ein hastiges: „Warte noch eine Minute, Mary!“ hören und wandte sich dann nach dem alten Osborne.

„Ich will die gute Gesinnung erkennen, die Sie hergeführt haben mag, Major,“ sagte er mit trübe zusammengezogenen Augen, „Sie werden aber einsehen, daß es jetzt die schlimmste Stunde ist, zu niedergebrochenen Elternherzen zu reden –“

„Ich gehe, Mr. Kreuzer,“ unterbrach ihn Osborne, die Thür in die Hand nehmend, „ich habe nur das erfüllen wollen, was ich Ihnen schuldig zu sein glaubte, selbst auf die Gefahr hin, anders behandelt zu werden, als Sie es jetzt, wie nur der Gentleman es konnte, gethan! Gott tröste uns Beide in unserm Unglück, Sir!“ Er warf einen Rückblick auf das Mädchen und schritt dann langsam hinaus.

„Wo willst Du hin, Mary?“ fragte Kreuzer, als sich die Thür geschlossen.

„Ich weiß es noch nicht, Vater, aber ich denke irgendwo für die nächste Zeit wohl einen Schutz zu finden!“ erwiderte sie ruhig.

„Natürlich! wenn das auch unter einem deutschen Dache hart halten sollte!“ warf die Frau ein. „Was fragst Du noch, Kreuzer? was kümmerst Du Dich darum? sie weiß selbst, wohin sie gehört! Denk’ an Deinen Sohn, den sie noch im Grabe beschuldigen will – er ist ja stumm und kann sie nicht Lügen strafen!“

Das Mädchen fuhr auf, als habe sie ein Stich in’s Herz getroffen. Der Alte aber faßte mit einem raschen Griffe ihren Arm und führte sie mit einem: „Sei ruhig und komm mit mir!“ nach der Küche. Dort saß George in eine Ecke gedrückt und sah den Eintretenden mit scheuen Augen entgegen. „Geh zur Mutter und bleibe bei ihr,“ sagte Kreuzer weich, „sie wird Dich heute mehr als jemals brauchen,“ und als der Knabe mit einem scheuen Blicke auf Mary davon gegangen, wandte jener das gedrückte Auge wieder nach dem Mädchen.

„Ich mag nicht in Dein Gewissen reden, ich will Dir glauben,“ begann er, „wenn es auch dreifach schmerzt, gegen sich zu haben, was einem an’s Herz gewachsen ist. Du mußt gehen, Mary, das ist so, denn die Mutter hat das erste Recht. Aber Du sollst trotz Allem, was geschehen ist, nicht verlassen sein. Geh hinüber nach dem „Point“, dorthin will ich Deinen Koffer schicken und Dir weitere Botschaft senden. Warte jetzt einen Augenblick!“

Er wandte sich wieder nach dem Zimmer und kam bald mit einem der ledernen, auf dem Lande gebräuchlichen Geldtäschchen zurück. „Hier ist der Schein über Dein Vermögen, und ein paar [675] Dollars habe ich für Deinen ersten Bedarf dazu gethan,“ sagte er, sichtlich seine Empfindungen niederkämpfend, „nimm es –“

„Vater, ich möchte kein Geld mitnehmen. Was ich heute zum Leben brauche, finde ich schon und ich habe auch noch eine Kleinigkeit!“ unterbrach sie ihn.

„Nimm es!“ wiederholte der Farmer und drückte ihr die Tasche in die Hand, „nimm es und geh mit Gott – Du sollst bald weiter von mir hören!“ Damit hatte er sich herumgedreht, als wolle er die Erregung in seinen Zügen verbergen, und verschwand in dem Eingange zum Vorderzimmer.

Mary’s Blick hing noch einige Secunden an der geschlossenen Thür, sie rang augenscheinlich mit einer sie überkommenden Weichheit; dann aber begann ihr Gesicht die stetige Ruhe eines bestimmten Entschlusses anzunehmen; langsam stieg sie die Treppe nach ihrem Zimmer hinauf und nach kaum zehn Minuten kam sie in dem Anzuge, den sie gewöhnlich trug, wenn sie den Alten nach der Stadt begleitete, zurück. Sie öffnete die Hinterthür und trat in’s Freie – dort kam ihr in ungeschlachten Sätzen der große Hund entgegen; sie bog sich zu ihm hinab und drückte ihr Gesicht in das zottige Fell, als wolle sie in ihm Abschied von ihrer ganzen bisherigen Heimath nehmen. Dann schlug sie raschen Schritts und ohne sich umzusehen, den Weg nach der Straße ein.

Noch hatte sie auf dieser den Anfang des Waldes nicht erreicht, als sie rasche Schritte hinter sich hörte und umblickend den Major Osborne gewahrte. Die Gehaltenheit in seinen Zügen, welche er in Kreuzer’s Hause bewahrt, hatte einem deutlich ausgeprägten Ausdruck von Sorge Platz gemacht, und ohne sich Mühe zu geben, seine Empfindung zu verbergen, sprach er das Mädchen an.

„Sie haben den alten Leuten gesagt, Kind, daß Sie für die Unschuld meines Sohnes zeugen werden?“ fragte er, sich ohne Ceremonie zu ihr gesellend.

„Ja, Mr. Osborne!“ erwiderte sie aufsehend.

„James hat mir heute Morgen wissen lassen, daß er mit Ihnen gesprochen,“ fuhr er fort, „und es war hauptsächlich die Hoffnung, mit Ihnen ein paar Worte reden zu können, welche mich nach Ihrem Hause trieb. Es ist der dümmste Streich, den der Junge begehen konnte, und wenn auch Ihr Zeugniß die Sache schnell klar machen muß, so ist doch wieder ein Feuerbrand unter die ganze deutsche Bevölkerung geworfen. Sie werden Kreuzer’s Haus verlassen, wenn ich heute recht gehört habe?“

„Ich habe es bereits verlassen, Sir!“

Er warf einen halb überraschten Blick auf sie. „Very well, so ist es das Beste, Sie folgen mir gleich nach meinem Hause – Sie haben doch wahrscheinlich im Augenblicke nicht viel zu wählen – wenn aber der Proceß vorüber ist, mögen Sie darauf rechnen, daß ich Ihnen ein anderes zufriedenstellendes Unterkommen verschaffen werde.“

Mary’s Augen richteten sich gerade aus, und ein leichtes Roth stieg in ihr bleiches Gesicht. „Ich habe Sie wohl noch nicht um ein Unterkommen angesprochen, Sir,“ erwiderte sie, „ich bedarf jetzt keiner Hülfe und bin auch in Betreff meiner Zukunft ziemlich klar.“

Sein Auge überlief wieder ihre ganze Gestalt. „Ich weiß nicht, Miß, ob ich mit meinem Anerbieten bei Ihnen angestoßen habe,“ erwiderte er mit hörbarer Aenderung seines bisherigen Tones, „aber es war gut gemeint, und vielleicht haben Sie Recht, den Aufenthalt gerade in meinem Hause auszuschlagen. Ich kenne Ihre Verhältnisse nicht, demohngeachtet möchte ich Sie auf etwas aufmerksam machen. James sagt, Sie gehörten nicht zu dem Schlage der hiesigen Deutschen, ich habe aber noch keine andern kennen lernen und ich darf Ihnen so viel sagen, daß sich keine Thür bei Ihren Landsleuten rings umher für Sie öffnen wird, wenn Sie auf unserer Seite stehen. Ich habe die Menschen in der vergangenen Nacht gesehen, wie sie meinen armen Jungen aufjagen wollten, als wäre er ein zehnmal der Gerechtigkeit entsprungener Verbrecher. Ich kann nach diesem Vorgange, wie nach den Worten der alten Kreuzer schon schließen, was etwa noch kommen wird, und ich muß Ihnen sagen, daß, wenn Sie unbelästigt und frei Ihr Zeugniß zu Gunsten der Wahrheit abgeben wollen, Sie sich jedenfalls einer amerikanischen Familie anschließen sollten – es ist nicht nur der besorgte Vater, der aus mir spricht, Miß, es ist der Mann, der seit langen Jahren die hiesigen deutschen Ansiedler kennt, von denen Mr. Kreuzer noch der vernünftigste ist, wenn er auch jetzt kaum anders können wird, als mit seiner Frau und der übrigen Menge in dasselbe Horn zu stoßen!“

Mary schritt eine Weile schweigend neben ihrem Begleiter her. „Ich habe mich so wenig um die Nachbarschaft gekümmert,“ sagte sie endlich, „daß ich besonders unter den Amerikanern die Familien kaum dem Namen nach kenne. Ich wollte nach der Stadt gehen, wo ich eines schnellen Unterkommens, wenn auch vorläufig in dienender Stellung, sicher war.“

„Wenn ich Ihnen nun aber einen Platz in einer amerikanischen Familie verschaffte, wo Sie keinesfalls die Abhängigkeit so fühlen würden, als unter Ihren Landsleuten,“ unterbrach er sie, „würden Sie damit einverstanden sein?“

„Ich weiß es noch nicht, Sir!“ erwiderte sie zögernd. Es widerstrebte mit Macht ihrem Gefühle, jetzt, wo aus dem stattgefundenen Unglücke eine Parteisache zwischen den beiden Nationalitäten gemacht zu werden schien, eine so bezeichnete Stellung, wie sie ihr Aufenthalt unter Amerikanern mit sich bringen mußte, einzunehmen. Zudem hoffte sie mit Sicherheit, den alten Kreuzer in der Tavern am „Point“ zu sehen, noch ehe sie einen bestimmten Entschluß über ihre Zukunft faßte; hatte er doch versprochen, „bald“ von sich hören zu lassen, und das mußte jedenfalls bei Sendung ihres Koffers geschehen. – „Das ganze Unglück mit seinen Folgen ist so schnell über mich gekommen,“ fuhr sie fort, „daß ich zwar das Eine weiß, was mein Gewissen von mir fordert, daß ich aber noch keine Minute gefunden habe, um über mich selbst mit mir zu Rathe zu gehen. Heute Abend erst geht die Postkutsche nach der Stadt, und bis dahin habe ich mich jedenfalls entschlossen –“

„Und wohin führt Sie Ihr Weg jetzt, Miß?“

„Nach dem „Point“, Sir!“

„Gut, so sehe ich Sie dort gegen Abend – ich rechne darauf, meinet- und Ihrethalber!“ Er neigte höflich den Kopf und wandte sich nach der nächsten Feldeinzäunung, die er leicht überstieg und dann zwischen den hohen Stengeln des Welschkorns verschwand.

Mary hatte ihm nur mit einem kurzen Blicke nachgesehen und ging jetzt schärfer vorwärts. Er hatte anfänglich in einer Weise zu ihr gesprochen, die sie heimlich verletzt; nicht in seinen Worten, aber in dem Tone derselben, in der umstandslosen Art, wie er sich zu ihr gesellt, lag es ausgedrückt, daß er sie zu Leuten zählte, die weit unter ihm standen, daß er die gewöhnliche Höflichkeitsform, „Ladies“ gegenüber, bei ihr nicht für nöthig hielt. Kaum hätte sie wohl so sehr darauf geachtet, wenn er nicht gerade der Vater von James gewesen wäre. Sie freute sich, daß ihre Antworten ihn zu einer Aenderung seines Tones vermocht, und dennoch hätte sie sich auch über ihre Kurzgebundenheit wieder ärgern mögen. Es war ihr, als müsse sie den alten Gentleman recht lieb haben können, wenn sie nur dürfe.

Als sie endlich das Blockhaus, welches die Tavern bildete, erreicht hatte, setzte sie sich still in eine Ecke des Zimmers, ohne sich weiter um ihre Umgebung zu kümmern, die fast nur aus Deutschen bestand und sie mißtrauisch betrachtete. Der Hunger stellte sich nach dem langen Marsche ein, sie bestellte ein frugales Mahl und verzehrte es. Sie fühlte recht wohl, daß sich das leise Gespräch der Deutschen um ihre Person drehte, achtete aber nicht darauf. Dann stützte sie den Kopf in die Hand und ließ die Bilder des ganzen jüngst verflossenen Jahres noch einmal an sich vorüberziehen. Das Schicksal hatte die Lösung der peinlichen häuslichen Verhältnisse selbst übernommen, sie fühlte nach den Erfahrungen des heutigen Morgens mehr als jemals, daß sie unter dem deutschen Elemente, wie es in der Umgegend lebte, niemals gedeihen könne. Der Vorschlag des alten Osborne, sich einer amerikanischen Familie anzuschließen, trat wieder vor ihre Seele, aber der Gedanke an dessen Sohn James hieß ihr den Antrag ablehnen. Er hatte sie bis jetzt als „junge Lady“, als Tochter eines reichen Farmers gekannt, und nun sollte sie Dienstbote da werden, wo vielleicht junge Ladies, die er zu seinen nächsten Bekanntschaften zählte, als ihre Herrinnen auftraten. Sie sah gedankenvoll vor sich hin, sie merkte nichts von dem Verrinnen der Zeit, und erst als das Rasseln eines Wagens in der Nähe der Tavern laut wurde, hob sie langsam den Kopf. Sie erkannte Kreuzer’s Fuhrwerk, sie sah ihren Koffer darauf, aber ein fremder Mann leitete die Pferde. Noch ehe der Wagen heran war, stand sie an der Außenthür, sie wußte, daß jetzt die Zeit gekommen war, einen bestimmten Entschluß zu fassen – das Gefährt hielt, der Mann lud den Koffer ab und sagte nach einem prüfenden Blick [676] auf die Dastehende: „Sie sind ja wohl die Jungfer Mary? hier bringe ich Ihre Sachen!“

„Und sonst haben Sie nichts zu bestellen?“ fragte das Mädchen, als Jener Miene machte, das Fuhrwerk wieder zu besteigen.

„Hat mir nichts weiter gesagt, der Mr. Kreuzer!“ war die einsylbige Antwort. Die Pferde zogen an, in den Rückweg einbiegend, und bald verschwand der Wagen hinter dem nächsten Welschkornfelde.

Mary hatte ihm nachgesehen, so lange er zu erblicken war, während es um ihren Mund wie eine gewaltsam unterdrückte Empfindung zuckte. Dann aber, als sei sie vollkommen mit sich klar und fertig, warf sie einen Blick nach der bereits tiefstehenden Sonne und setzte sich auf den am Rande des Weges stehenden Koffer nieder. Sie war noch immer zweifelhaft, was sie thun sollte – ob nach der Stadt fahren oder auf den Major warten. Das Schicksal sollte über sie entscheiden. Noch waren nicht zehn Minuten verflossen, als sie den Major Osborne zwischen den Maisfeldern hervorkommen und bei ihrem Erblicken einen schnellern Schritt annehmen sah.




Es war vierzehn Tage später, und das Countystädtchen bot ein Bild von Aufregung, wie es seit seiner Erbauung noch nicht erlebt worden war. Der Ort bestand fast nur aus einer langen Hauptstraße, deren Mittelpunkt das Court-(Gerichts-) Haus, umgeben von den hauptsächlichsten Hotels, Kaufläden und Trinklocalen bildete, und vor jedem dieser Geschäfts- und Erfrischungsplätze trieb sich eine sichtlich erregte Menschenmenge umher, gesticulirend und in englischer, wie deutscher Zunge durch einander redend. Die Meisten der Anwesenden gehörten augenscheinlich der Landbevölkerung an, doch fehlte es auch nicht an Gestalten, wie sie sich besonders in neugegründeten Landestheilen finden, Leute, von denen Niemand weiß, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen, wenn es nicht durch Vieh- und Pferdediebstahl, Spiel und Verbreitung von falschem Gelde geschieht, und die überall auftauchen, wo eine Aufregung sich der Bevölkerung bemächtigt.

Der Gerichtshof war heute zusammengetreten, um den Proceß gegen James Osborne, als Mörder des Heinrich Kreuzer, zu beginnen. Aus irgend einem Grunde aber war der Anfang der Verhandlung auf den nächsten Tag verschoben worden, und die aus allen Theilen des County’s zusammengeströmten Menschen waren in ihren Erwartungen getäuscht. Anfänglich schien es, als würde die in der Nähe des Courthauses angesammelte Menge ruhig auseinandergehen, bald aber begannen in den einzelnen Haufen, wie sie sich vor den Thüren der Trinklocale gebildet, die verschiedensten Gerüchte über die Ursache der Gerichts-Vertagung zu cursiren. Zuerst hieß es, die Jury sei aus lauter Amerikanern, alle vom Major Osborne bestochen, zusammengestellt, nun sei aber Einer davon krank geworden, und so müsse erst ein neuer zuverlässiger Mann gefunden werden. Dann kam eine andere Version. Nicht an der Jury liege es, aber dem Mädchen, welches den Hauptzeugen mache und zu Gunsten des Mörders aussagen solle, schlage das Gewissen so, daß sie erst wieder richtig bearbeitet werden müsse. Von anderer Seite aber wurde dem widersprochen – das Mädchen sei des Uebelthäters Liebste gewesen und denke gar nicht daran, sich ein Gewissen aus irgend etwas zu machen – der Grund der Vertagung liege in der Menge versammelter Deutscher, von denen man vermuthe, daß sie die im Voraus „gefixte“ und abgemachte Freisprechung des Mörders nicht ruhig hinnehmen würden, und es sei beschlossen, so lange ein Hinderniß gegen den Beginn des Processes zu finden, bis die Deutschen es müde würden, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Und es war wunderbar, wie schnell diese letzte Angabe die Runde machte und Anklang fand, wie sie durch die Bestätigung von den verschiedensten Seiten über allen Zweifel festgestellt und in dem Durcheinandertreiben der erregten Masse durch eine Menge der bestimmtesten Einzelheiten ergänzt wurde. Bald begannen sich die Trinklocale zu füllen, abwechselnd ihren Menscheninhalt wieder ausspeiend und einen neuen Strom aufnehmend. Die Aufregung fing sichtlich an zu steigen – aus dem Innern der Schenkzimmer klang das Schlagen der Fäuste auf die Tische, und außerhalb fielen Aeußerungen, drohend wie das erste Wetterleuchten bei einem aufsteigenden Gewitter.

Da begann ein Haufen Menschen sich unter Geschrei aus einem der größeren Locale zu wälzen, und von dem Spectakel angezogen, begannen von allen Seiten neue Haufen sich heranzudrängen. Bald war die Hälfte des freien Raums vor dem Courthause mit einer dichten Menge gefüllt, und aus der Mitte derselben tauchte, von unsichtbaren Kräften gehoben, eine einzelne Gestalt auf, den zerdrückten Hut auf dem rothen Gesichte nach dem Hinterkopfe schiebend und die massiven Hände, welche bis über die Knöchel aus den engen Aermeln des schäbigen schwarzen Fracks ragten, weit von sich streckend.

„Gentlemen!“ begann er englisch, und eine tiefe Ruhe lagerte sich über die Masse, „Gentlemen, so viel ich verstehe, handelt es sich hier um eine deutsche Sache, aber ich schere mich verdammt um nichts Anderes, als daß es eine gerechte Sache ist, und das ist sie!“ Ein einzelner jolender Beifallslaut wurde hörbar, dem aber, als sei er nur ein Signal gewesen, ein lautes Beifallsgeschrei der Masse folgte.

„Ich sage, Gentlemen,“ fuhr der Redner fort, „es ist eine Sache, die das Volk selber in die Hand nehmen sollte; es handelt sich darum, ob der Reiche, nur weil er reich ist und Advocaten, Zeugen und Jury bezahlen kann, nach Belieben einen Andern todtschlagen und frei ausgehen darf, während der Arme, der das nicht kann, hängen muß ohne Gnade – Gentlemen, ich habe den alten Vater des Gemordeten unter Ihnen gesehen, dem seine einzige Stütze geraubt ist. Ich habe von Ihnen gehört – und verdammt will ich sein, wenn Sie nicht gerade dem Dinge auf den Leib gingen, was wir jetzt brauchen – wollen Sie noch warten, bis der Mensch, der sein Verbrechen schon eingestanden hat, mit Hülfe seines Geldes sich auf und davon macht und Sie Alle betrogen sind? Eins will ich Ihnen nur noch sagen: Wäre dies nicht eine deutsche, sondern eine amerikanische Sache, so wäre schon längst geschehen, was nothwendig ist, wenn das Volk die Gerechtigkeit gegen Reichthum und Bestechung selbst in die Hand nehmen muß!“

Der Redner tauchte nieder in die Menge, die einige Secunden unbeweglich in einer unheimlichen Stille verharrte. Dann ließ sich plötzlich eine einzelne Stimme hören: „Drauf, holt ihn ’raus!“ und ein wirres hundertfältiges Geschrei folgte als Antwort. „Hängt ihn!“ klang es und: „hängt ihn!“ brüllte es nach. Ein wildes Wogen kam unter die Masse, bis der wiederholte Ruf: „Nach der Jail!“[3] der Bewegung eine bestimmte Richtung gab.

Ein Stück die Straße hinauf stand ein ausschließlich von Amerikanern besuchtes Gasthaus, und dort saß schon seit dem frühen Morgen Mary in einem Hinterzimmer, der Zeit gewärtig, in welcher sie ihr Zeugniß ablegen sollte.

Sie war vor vierzehn Tagen dem Major nach einer amerikanischen Farm gefolgt, entschlossen, sich gefaßt ihrem neuen Schicksale zu fügen, sei dies, welches es wolle. Indessen schien es in der Familie, die sie jetzt aufgenommen, Niemandem einzufallen, ihr eine Arbeit anzumuthen, der sie sich nicht freiwillig unterzog. Sie sah sich völlig als Gast behandelt, nur daß die Freundlichkeit, welcher sie begegnete, eine so kalte und gemessene war, daß sie herauszufühlen meinte, sie werde hier nur dem Major zu Liebe als der nothwendige Zeuge verwahrt, und ihr Aufenthalt hier werde ebensobald ein Ende nehmen, als man sie nicht mehr brauche. Aber selbst dann wäre sie nicht schlimmer daran gewesen als vor dem Eintritte in das Haus, und so, ohne sich vorzeitigen Sorgen hinzugeben, bat sie in voller Freundlichkeit darum, sich nützlich machen zu dürfen, erwähnte ihrer Fertigkeit mit der Nadel und schien hier einen leicht zugänglichen Punkt bei der Frau des Hauses getroffen zu haben. Sie erhielt eine Arbeit, wenn auch in einer Weise, als wolle man ihr nur den Willen thun. Als aber unter Mary’s leichten Fingern die Stücke sich wie im Spielen zusammenfügten, als sie neue Beschäftigung verlangte und der heimlich prüfende Blick der Hausfrau auf die sauberste Arbeit gefallen war, begann das Gesicht der alten Lady einen wärmern Ausdruck zu gewinnen. Die Tochter des Hauses, kaum viel jünger als Mary, obgleich sie noch eine Schule in der Nachbarschaft besuchte, setzte sich am Nachmittage zu dem Gaste und leitete ein Gespräch ein, an welchem auch bald die Mutter Theil nahm, und Mary hatte, wohlthuend von der größeren Herzlichkeit berührt, nach Kurzem einzelne Theile ihrer Geschichte mitgetheilt, ohne daß sie es nur recht beabsichtiget. Noch keine Woche hatte sie im Hause verbracht, als sich auch nach und nach unter den sämmtlichen Familiengliedern eine deutlich erkennbare Theilnahme für den jungen Gast geltend machte, und ein vertraulicherer Ton sich gegen sie herausbildete; wie absichtlich aber wurde niemals des gefangenen James erwähnt, oder auch nur der Name desselben genannt, und Mary selbst, so oft sie [677] auch an ihn dachte – und je näher der Tag der Gerichtssitzung kam, um so öfter – fühlte instinctmäßig, daß hier ein Punkt war, den sie nicht berühren dürfe; eine Ahnung des Grundes aber sollte ihr in der zweiten Woche werden.

Da kam der Major angefahren und mit ihm ein junger magerer Mann im schwarzen Fracke, mit stechenden Vatermördern, buschigem dunklem Haare und klug blickenden Augen. Der Hauswirth empfing sie und führte sie nach dem Vorderzimmer, wo Mary bei einer feinen Nätherei saß und bei dem Eintritte der Gäste die Stube verlassen wollte; der Major aber rief ihr zu, zu bleiben, sie hätten mit ihr zu reden. „Und wenn Sie, Nachbar,“ wandte er sich an den Farmer, „eine Viertelstunde abbringen können, so thun Sie mir den Gefallen, uns Ihre Gesellschaft zu schenken; es liegt nur daran, Jemand zum Zeugen zu haben, daß nicht auf unrechte Weise auf das Mädchen eingewirkt wird!“

In Mary’s Ohr klang wieder derselbe nachlässige Ton in Bezug auf sie, welcher sie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen mit dem Major verletzt hatte; er that ihr aber heute’, in Gegenwart der Uebrigen, noch weher. Sie sah groß und ernst aus und begegnete dem Auge des alten Osborne; dieser aber schien ihren Blick nicht einmal zu bemerken. „Well, Sir, ich denke, wir gehen gleich an’s Werk,“ wandte er sich an seinen jungen Begleiter, „stellen Sie Ihre Fragen an das Mädchen, und Sie werden ja dann selbst hören.“

„Einen Augenblick, Mr. Osborne,“ sagte sie mit ruhigem Ernste, „wollen Sie mir nicht erst sagen, wer der Gentleman ist, und was von mir verlangt wird? Ich glaube doch diese gewöhnlichste Rücksicht zu verdienen!“

Der Major hob die zusammengezogenen Augen nach ihr, und um seinen Mund zuckte es wie eine herbe Erwiderung, der er nicht gleich Worte zu geben wisse; sein Begleiter aber, dessen Blick schon seit seinem Eintritte Mary’s ganze Erscheinung umfaßt hatte, nickte wie in stiller Befriedigung und sagte mit einem höflichen Lächeln: „Erlauben Sie, Miß, daß ich mich Ihnen selbst vorstelle und Sie zugleich versichere, daß Sie Alles, was Sie jetzt vielleicht befremden mag, schnell klar sehen sollen. Ich bin der Vertheidiger des jungen Mr. Osborne und möchte wissen, wie weit ich auf ihr Zeugniß fußen kann, außerdem aber mir noch einige andere nöthige Fragen erlauben!“

Mary neigte leicht den Kopf. „Es ist Alles recht,“ erwiderte [678] sie, „es gibt mir aber noch keinen Aufschluß, warum Major Osborne mir in einer Weise entgegentritt, wie er es mit keiner andern jungen Lady, und wäre sie noch so arm, thun würde. Ich stehe so ganz allein, daß mich jede grundlose Unfreundlichkeit doppelt schmerzen muß –“

„Es ist gut, ich werde ganz klar und offen zu Ihnen reden, da Sie das zu verlangen scheinen,“ fiel ihr der Major in’s Wort, ohne seine Miene zu ändern, „lassen Sie uns aber zuerst die Hauptsache abmachen, und antworten Sie auf die Fragen des Gentleman hier!“

Er zog einen Stuhl herbei und setzte sich breit nieder; ihm folgte der Hauswirth, welcher mit sichtlichem Interesse der kurzen Scene beigewohnt; der Advocat aber machte erst von einem Stuhle Gebrauch, als auf einen höflichen Wink seinerseits Mary ihren Platz eingenommen hatte. Das Mädchen ward aufgefordert, die Vorgänge, welche den Mord herbeigeführt, zu erzählen; sie that es in klarer Kürze, und der Advocat nickte beifällig.

„Jetzt, Miß, komme ich zu einem andern Punkte,“ fuhr der Letztere fort. „Es wird wahrscheinlich Alles angewandt werden, um Ihr Zeugniß zu verdächtigen; so werden Sie gefragt werten, ob Sie sich nicht einen Grund für diesen so plötzlichen und seltsamen Angriff des Heinrich Kreuzer denken können, ob Sie nicht in einem nähern Verhältnisse zu James Osborne gestanden, durch welches der Verunglückte bei seinem Zusammentreffen mit Ihnen Beiden als Ihr brüderlicher Ehrenwächter hat aufgeregt werden müssen – und um mein Verhalten für alle Fälle regeln zu können, möchte ich Sie bitten, mir vollkommen wahr die Art Ihrer Bekanntschaft mit James Osborne anzugeben – das Verschweigen irgend eines bedeutenderen Umstandes, der während der Gerichtsverhandlungen zum Vorschein käme und auf den ich nicht vorbereitet wäre, könnte das Verderben des jungen Mannes werden, während eine rücksichtslose Offenheit jetzt mir die Macht geben würde, alle ungünstigen Fragen von Ihnen abzuhalten.“

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Autor: Otto Ruppius
Titel: Mary Kreuzer
aus: Die Gartenlaube 1860, Heft 44, S. 689–695
Fortsetzungsroman – Teil 5 // Schluß


[689] Mary hatte mit großen, ernsten Augen und erhobenem Kopfe die Worte des Vertheidigers angehört, während ein leichtes Roth in ihr Gesicht getreten war. „Ich habe auf alles das nichts zu verschweigen, aber auch nichts zu bekennen,“ sagte sie, als der Advocat innehielt; „ich habe vor dem Unglücke den jungen Mr. Osborne nicht mehr als drei Mal in meinem Leben gesehen.“ Sie berichtete in kurzen Zügen, wie sie, unfähig englisch zu reden, ihn an der Einzäunung getroffen – wie er sie später auf den Wunsch des alten Kreuzer in seinem Schlitten nach Hause gefahren – und wie er zuletzt ihr auf dem Picknick entgegengetreten. Sie gab sodann von der letzten nächtlichen Begegnung zwischen ihr und dem Gefangenen eine genaue Beschreibung.

Der Advocat hatte, während sie sprach, den Blick auf sie geheftet, als wolle er ihre ganze Seele durchdringen; des Mädchens Haltung schien aber darunter nur immer freier zu werden und an Würde zu gewinnen. „Und so glaube ich, Alles gesagt zu haben, was ich nur zu sagen weiß!“ schloß sie; Osborne aber richtete ungeduldig den Kopf auf und erhob sich.

„Es ist das Alles nichts und es muß gerade herausgesprochen werden,“ begann er, „ein Mädchen wird natürlich nicht von selber reden. Die Welt sagt, mein Junge habe ein Liebesverhältniß mit der Miß hier gehabt, Kreuzer’s Junge habe Beide bei ihren Zärtlichkeiten im Walde ertappt, und so sei das Unglück fertig gewesen. Und wenn ich mir das Weitere dazu rechne, so scheint mir die Geschichte sehr wahrscheinlich. Mein James, um gleich Alles zu sagen, hat an dem einen dummen Streiche nicht genug und erklärt mir ganz einfach, daß er, sobald er frei sei, das Mädchen, das um seinetwillen ihre Heimath habe verlassen müssen, heirathen werde. In Bezug auf die Heirath werden natürlich noch einige Worte geredet werden,“ setzte er ärgerlich lachend hinzu; „es läßt sich davon aber auf das Vorhergehende schließen, und wenn ich wünschte, Miß, Sie wären lieber irgend wo anders hin, als zu uns verschlagen worden, wenn ich aus dem Ganzen nicht viel Rühmenswerthes für eine Person, die eine junge Lady sein will, herausfinden kann, so werden Sie mich jetzt wohl verstehen. Das ist aber nur unter uns gesagt und weil Sie es so verlangten; der Jury gegenüber ist es etwas Anderes; da handelt es sich vor Allem darum, alle Fragen zurückzuweisen, durch welche Ihnen ein besonderes Interesse an meines Sohnes Freisprechung nachgewiesen und so Ihre Glaubwürdigkeit als Zeuge geschwächt werden könnte. – Fragen Sie, Sir, da die junge Lady jetzt wohl genug wissen wird,“ wandte er sich an den Advocaten, „und fragen Sie, wie Sie denken, daß es im Kreuzverhör geschehen mag, Sie werden dann wohl bald klar sehen!“

„Lassen Sie nur das Fragen, Sir,“ fiel Mary ein, in deren bleichem Gesichte die Augen in einem tiefdunklen, feuchten Glanze schimmerten, während ihre Stimme leise bebte; „ich werde sicher auf nichts mehr antworten; ich habe versprochen, mein Zeugniß abzulegen, aber nicht die fortdauernden, absichtlichen Beleidigungen eines Mannes zu ertragen, der mich hätte in Schutz nehmen sollen –“ sie nahm einen neuen Ansatz zum Sprechen, aber als fürchte sie den Ausbruch ihrer Bewegung, erhob sie sich plötzlich und that einige Schritte nach der Thür.

„Halloh, Miß, warten Sie einmal!“ rief Osborne, rasch aufspringend, „es hat kein Mensch daran gedacht, Sie zu beleidigen; aber bei einer Sache, wo es um Leben und Tod geht, muß voll herausgesprochen werden – und zuletzt verlangen Sie wohl auch noch von mir, ich soll zu dem letzten Einfalle meines Jungen Ja und Amen sagen, nur um Sie nicht zu beleidigen?“

Mary war stehen geblieben und hatte sich langsam umgedreht, ihr Blick war wieder klar und fest. „Was ich verlange, ist, daß Sie einem Mädchen, das für Sie gut genug ist, Ihren Sohn befreien zu helfen, das Sie hierher in eine achtbare Familie gebracht, ihre Ehrenhaftigkeit nicht nehmen – das Einzige, was sie besitzt. Sie möchten dem boshaften Geschwätz Recht geben, weil es vielleicht das Bequemste für Sie scheint, dadurch den ausgesprochenen Absichten Ihres Sohnes in den Weg zu treten; ich aber sage Ihnen, Major Osborne, daß ich erst würde gefragt sein wollen, was ich zu einer solchen Absicht sage, deren Erfüllung nur Alles bestätigen müßte, was jetzt über mich geredet werden mag. Ich bin jetzt eine Waise, Sir, die nur auf ihre eigene Kraft angewiesen ist; aber wenn die Erziehung dem Menschen eine Stellung geben kann, so glaube ich dieselbe Stufe einzunehmen und dieselbe Rücksicht zu verdienen, als Ihre eigenen Töchter, Sir, wenn Sie deren hätten. Seien Sie vollkommen wegen der Absichten Ihres Sohnes beruhigt, Mr. Osborne, mein Wort hat er nicht dazu!“

Sie wandte sich ab und ging hochaufgerichtet aus dem Zimmer. Einige Secunden lang herrschte das Schweigen der Überraschung unter den Zurückgebliebenen. „Wie alt ist das Mädchen?“ begann endlich Osborne, der bis dahin den Blick auf die geschlossene Thür geheftet.

„Sie kann nicht viel über sechzehn Jahre sein,“ erwiderte der Hausbesitzer mit einem langsamen Kopfnicken; „sie muß aber [690] nach dem, was sie uns und meiner Lucy, mit der sie Freundschaft gemacht, erzählt hat, schon viel Unglück erlebt haben, und das macht frühzeitig reif.“

„Ich halte das ganze Gerede über die junge Lady für einen böswilligen Schwatz der Kreuzer’s und ihrer Anhänger,“ begann jetzt der Advocat, „und ich traue meiner Menschenkenntnis; so viel zu, daß ich rathen möchte, nur das als wahr zu betrachten, was sie als geschehen angibt. Ihre Erscheinung und ihre Weise, einer grundlosen Anschuldigung entgegen zu treten, wird viel günstiger auf die Jury wirken, wenn wir der Gegenpartei vollen Spielraum lassen, als wenn wir einzelne Fragen der Anklage unbeantwortet niederschlagen!“

„Gerade meine Meinung!“ warf der Farmer ein, „und ich kann Ihnen nebenbei sagen, Major, daß Ihr James gar keinen übeln Geschmack hat!“

„Danke schön!“ brummte Osborne, „mein Geschmack sind aber diese Deutschen, mögen sie nun aussehen, wie sie wollen, niemals gewesen, und der dumme Junge soll eher an etwas Anderes denken, als an ein Mädchen, das ihr bisheriger Pflegevater in New-York auf der Straße aufgelesen hat!“ –

Mary war nach der Kammer gegangen, welche sie mit der Tochter des Hauses theilte. Bald aber kam diese, ihr verkündend, daß der Major mit seinem Begleiter das Haus verlassen habe – und von diesem Tage an fand Mary in der Familie eine erhöhte Herzlichkeit, eine Theilnahme, welche sich mehr in der Art, ihr zu begegnen, als in bestimmten Worten aussprach. James wurde zwar nach wie vor nicht erwähnt, desto mehr aber stand er vor Mary’s Seele, nicht als Bild geheimer Sehnsucht oder stillen Verlangens, sondern als edler Mensch, der ihr vergelten wollte, was sie um seinetwillen verloren – wenn sie jetzt auch selbst zurückweisen mußte, was sie unter andern Umständen wohl glücklich gemacht haben würde.

So kam der Tag der eröffneten Gerichtssitzung heran, und von dem Major, welchen die Nähe der Entscheidung völlig schweigsam gemacht zu haben schien, abgeholt, wie von ihrer neuen Freundin Lucy begleitet, hatte Mary den Weg nach der Stadt angetreten. Osborne hatte dort, um seinen Advocaten aufzusuchen, die beiden Mädchen im Hotel allein gelassen; bald aber verließ auch die lebendige Lucy, von dem entstehenden Lärm auf der Straße angezogen, das Zimmer. Mary’s Gedanken wandten sich, sobald sie allein war, der bevorstehenden Verhandlung, von welcher sie sich nur einen dunkeln Begriff zu machen wußte, zu; trotz des Unbekannten aber, welchem sie entgegen ging, fühlte sie einen Muth in sich, für die Sache des Angeklagten einzustehen, der ihr ganzes Innere hob und kräftigte.

Kaum einige Minuten indessen mochte sie mit sich selbst beschäftigt gewesen sein, als Lucy mit verstörtem Gesichte zur Thür hereinstürzte. „Um Gotteswillen, das gibt ein Unglück – sie wollen ihn lynchen – komm und sieh selbst!“ rief sie und ergriff die Hand der Freundin, diese mit sich aus dem Zimmer reißend.

Mary verstand nichts, als daß dem Angeklagten ein Unglück drohe, und selbst als sie, bleich von dem sie überkommenden Schrecken, auf dem Balcon des Hotels stand und mit mehreren der Inwohner, die sich dort bereits gesammelt, auf die heranziehende schreiende Menge blickte, konnte sie sich von der eigentlichen Natur des gefürchteten Unglücks noch keine rechte Vorstellung machen.

„Da – sie wollen das Gefängniß stürmen, sie wollen ihn hängen! hörst Du?“ rief Lucy entsetzt.

„Das gibt eine fürchterliche Geschichte. Fast lauter Deutsche, zu denen man nicht einmal eindringlich reden kann, und eine Menge verdächtiges Gesindel darunter, das den Brand nur immer ärger schürt!“ klang die Stimme eines nebenstehenden Mannes; „sie meinen, der Gefangene soll der Untersuchung entzogen werden – die alte Geschichte, sie wollen kurzen Proceß mit ihm machen – in fünf Minuten müssen sie das Gefängniß erbrochen haben!“

Mary überblickte die sich an dem Hotel vorüber wälzenden Menschen, und das Verständniß der drohenden Gefahr stieg mit einer Klarheit, die sie fast erdrückte, in ihrer Seele auf. Ihr Auge flog umher, ob nicht irgendwo eine Macht dem wahnsinnigen Haufen entgegentrete; noch an die europäischen Begriffe öffentlicher Ordnung gewöhnt, schien es ihr unmöglich, daß selbst nur der Versuch zu einem Verbrechen, wie es hier beabsichtigt wurde, ungestraft gemacht werden könne. Aber in sichtlich sich immer steigernder Aufregung bewegte sich die Masse dem Countygefängniß entgegen, das unweit des Courthauses in einer Nebenstraße seine aus Balken gezimmerte, mit einer starken Thür versehene Vorderseite zeigte. Einige Aexte wurden plötzlich in den Händen der vordersten Gestalten, welche die Führer der ganzen Bewegung zu sein schienen, sichtbar; die Zeit konnte schon fast berechnet werden, in welcher die Thür vor dem Andrange zusammenbrechen mußte, und Mary meinte, ihr Herz sich wie in einem Krampfe zusammenziehen zu fühlen. „Soll denn das wirklich geschehen?“ wandte sie sich an die sie umstehenden Männer.

„Es ist eine Schande!“ erwiderte der frühere Sprecher, „aber wer will sich dem Mob entgegenstellen, wenn er sich nicht selbst opfern will?“

Da fiel Mary’s ruheloses Auge auf eine Gruppe, welche sich an einem der Häuser, einige Schritte abseits der wogenden Masse befand, und ihr Blick begann sich mit einem eigenthümlichen Feuer zu beleben. Der alte Kreuzer war es, der lebhaft gesticulirend zwischen drei oder vier Männern stand – kaum zwei Secunden ruhte des Mädchens Auge auf ihm, als sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, sich nach dem Innern des Hauses zurückwandte und von da die Treppe hinabeilte. Auf halbem Wege kam ihr hier der junge Advocat erhitzt und von Schweiß triefend entgegen. „Ist der Major oben?“ rief er ihr zu und faßte, da sie an ihm vorbei eilen wollte, als hätten seine Worte kaum ihr Ohr berührt, ihren Arm.

„Lassen Sie mich, lassen Sie mich!“ rief sie leidenschaftlich, „oder das Unglück geschieht, ohne daß Jemand helfen kann!“ Seine Hand löste sich, und sie stürzte weiter; er aber folgte, als wisse er nichts Besseres zu thun, dicht an ihrer Seite.

Mit fliegenden Schritten eilte das Mädchen der von ihr wahrgenommenen Gruppe zu und schob die Männer, welche den Alten umstanden, energisch zur Seite. „Vater, um Gotteswillen!“ rief sie, die Hand des sichtlich betroffenen Farmers ergreifend, „wenn Du nicht selbst zum Mörder mit werden willst, so sprich ein Wort zu den Leuten! Auf Dich werden sie hören, müssen sie hören, Du hast das Recht hier und sonst Niemand. Du weißt, Vater, daß ich Dein gutes Kind gewesen bin, das Dich lieb gehabt wie seinen leiblichen Vater und dem Du glauben darfst – Du weißt, wie der Heinrich um’s Leben gekommen ist, und daß Alles Bosheit ist, was in einer andern Weise gesagt wird; jetzt hilf, daß ein wirklicher Mord verhütet werde, der Dir nimmermehr Ruhe lassen würde, wenn Du ihn hättest verhindern können –“

„Ich möchte’s ja wohl, ich verdamme das ganze Treiben, ich hab’s eben gesagt! aber wie kann ich helfen – ?“ rief der Alte, das Auge von dem Mädchen abwendend, und über die tobende Menge, die kaum noch zwanzig Schritte von ihrem Ziele entfernt war, blickend; – da klang ein heller Laut durch den Lärm, und auf der Treppenerhöhung, welche nach der Gefängnißthür führte, erschien eine kräftige Gestalt mit grauem Haar, mit beiden Händen beschwichtigend über die Menge winkend.

„Der Richter – hört ihn!“ erklang es zugleich von verschiedenen Seiten; die Menge schien zu stutzen, und der Lärm minderte sich. Mit möglichster Anstrengung erhob der aufgetauchte Redner seine Stimme, und einige Secunden lang schien es, als solle er Gehör gewinnen; als aber die englischen Laute an die deutschen Ohren schlugen, begann der Lärm wieder zu steigen und wurde bald so arg, als er nur vorher gewesen. „Aus dem Wege mit ihm, er ist gerade so gut gekauft, wie die Andern!“ wurde eine brüllende Stimme laut, und das jetzt folgende Geschrei verschlang die letzten noch hörbar gewesenen Laute des Redners.

Mit zitternder Spannung, Kreuzer’s Hand fest in der ihrigen haltend, hatte Mary den Vorgang beobachtet. „Jetzt komm, Vater, sprich zu den Menschen, oder es wird zu spät!“ fuhr sie auf, als der bisherige Sprecher Miene machte, seinen Platz zu verlassen. Sie hatte in der Verwirrung des Augenblicks englisch gesprochen, und ein plötzlicher Hoffnungsschein ging über das Gesicht des Advocaten an ihrer Seite. – „Du mußt, Vater!“ fuhr sie energisch fort, als der Alte, wie im Kampfe mit sich, den Blick zur Seite wandte, „Du mußt, wenn Du an Dich selber und die Andern zu Hause denken willst; um Deinetwillen geschieht hier Alles, und auf Dich wird es allein fallen, wenn die That geschehen ist!“

„Sie hat Recht, Sir!“ trat der Advocat drängend hinzu; „zögern Sie keinen Augenblick, wenn Sie nicht um des fremden Gesindels willen, das nur des Spectakels wegen die Sache angezettelt hat, sich selber unglücklich machen wollen!“

[691] „Denke an Deinen guten Namen, Vater!“ rief Mary in ängstlicher Bitte; Kreuzer aber hatte den Blick über die ihn umgebenden Männer laufen lassen, hatte gesehen, wie die Augen bei Erwähnung einer möglichen Verantwortlichkeit die Blicke des Advocaten zu vermeiden suchten, wie eine Bewegung sich unter ihnen zeigte, als möchte Jeder bei der ersten Gelegenheit sich zurückziehen, und sein braunes Gesicht überflog ein dunkeles Roth des Aergers. Mit einem finstern Kopfnicken wandte er sich nach dem Advocaten: „’s ist schon recht, lassen Sie uns den kürzesten Weg suchen!“ und in der nächsten Secunde waren Beide, an den Häusern hineilend, zwischen den Menschen verschwunden.

Der Richter hatte nach einem erneuten Versuche, sich Gehör zu verschaffen, soeben mit einem trüben Kopfschütteln seinen Platz verlassen, und ein betäubendes Geschrei folgte seinem Verschwinden, als an derselben Stelle sich das unwillig verzogene Gesicht und die breite Gestalt des alten Farmers erhob.

„Kreuzer, Kreuzer! Hurrah für Kreuzer!“ rief es jetzt von allen Seiten; der Angerufene aber ließ finster den Blick über die Masse schweifen, und kaum schien es der mahnenden Rufe zur Ruhe zu bedürfen, um den soeben noch unstillbaren Lärm in ein erwartungsvolles Schweigen zu verwandeln.

„Hab’ ich hier Bekannte darunter?“ begann jetzt der Alte mit weithin tönender Stimme.

„Ja, ja!“ schrie es massenhaft von allen Seiten.

„Gut, denen spreche ich auch nur, und ich möchte ihnen blos hier laut und deutlich sagen, daß von meiner Seite nicht die geringste Ursache zu dem jetzigen Spectakel und was damit zusammenhängt, gegeben worden ist, und daß Jeder für das, was er etwa hier thut, selber die Verantwortlichkeit auf seinen Kopf zu nehmen hat. Das Unglück liegt schwer genug auf mir, als daß ich noch das, was aus der Geschichte hier entstehen muß, auf mich laden mag, und wer jetzt geglaubt hat, mir eine Freundschaft zu erweisen, der kennt nun meine Meinung. Uebrigens denke ich, wenn ich zufrieden bin, kann’s auch jeder Andere sein, der nicht blos des Krawalls halber hier losschreit und sich nichts daraus macht, ob er ordentlichen Leuten damit eine böse Suppe einbrockt. So, und nun mag Jeder thun, wozu er Lust hat.“

Mit einem kräftigen Kopfnicken trat er zurück und verschwand; die erhitzte Menge aber erschien wie plötzlich mit kaltem Wasser übergossen. Wohl wurden an verschiedenen Orten die frühern aufreizenden Rufe laut, aber die Antwort blieb aus, und die Menschen in ihren Bewegungen wandten sich nicht mehr dem Gefängnisse zu, sondern begannen durch einander zu wogen; die Masse schob sich auseinander, bald trennten sich hier und dort einzelne Haufen ab, denen andere nachfolgten, und in einer Zeit, so kurz wie es nach dem erregten Zustande der Menge kaum für glaublich gehalten worden wäre, hatte sich diese in zahlreiche, eifrig sprechende Gruppen zertheilt.

Eine Viertelstunde später gaben nur noch einzelne, vor den verschiedenen Trinklocalen versammelte kleine Haufen Zeugniß von der stattgehabten Aufregung.

Kreuzer hatte, als er die Treppenerhöhung verlassen, sich nach den Häusern zur Seite der Straße gewandt, um schnell dem Gewühl zu entkommen, fühlte aber kräftig seinen Arm gefaßt. Aufblickend sah er in des Majors Gesicht, in welchem sich noch alle Empfindungen, welche der stattgehabte Auftritt in ihm erzeugt, widerspiegelten. Zu seiner Seite befand sich der Advocat.

„Einen Augenblick nur kommen Sie mit mir, Mr. Kreuzer,“ sagte der Erstere, fast krampfhaft die Hand des alten Farmers fassend, „ich habe nicht verstanden, was Sie gesprochen haben, aber ich sehe es an den Menschen um uns; ich kann Ihnen jetzt nicht so danken, wie ich es möchte –“

„Haben mir nichts zu danken, Sir,“ unterbrach ihn der Alte, seine Hand zurückziehend, „wenn ich hier etwas gethan habe, ist es meinethalber und sonst keines andern Menschen wegen geschehen. Wollen Sie sich durchaus bedanken, so thun Sie’s bei der Mary, ohne die es mir gar nicht eingefallen wäre, ein Wort zu reden, und – ja das wollte ich sagen, weil es gerade so paßt – Sie haben jetzt das Mädchen bei Bekannten untergebracht; machen Sie gut an ihr, was sie durch das Unglück in meiner Familie verloren hat. Ich hätte sie nicht von mir gelassen, wenn es angegangen wäre; es ist ein Kind, so brav, als es nur eins gibt, war aber zu fein für uns, sonst wäre wohl auch Alles anders gekommen. Denken Sie daran, Sir, wenn Ihr Sohn ohne großen Schaden durchkommen sollte, daß Sie an der Mary vergelten mögen, was Sie an den Kreuzer’s nicht gut machen können!“ Er nickte ernsthaft und schritt dann zwischen die Menschen hinein.

„Wenn die Gefahr vorüberzieht, haben Sie wirklich der jungen Lady das Meiste zu danken, Major,“ sagte der Advocat, den Blick über die Menschen schweifen lassend, „und ich denke, das Schlimmste ist vorüber. Sie war die Einzige, welche das rechte Hülfsmittel erkannte, und als sie sich unter die Menschen warf, verstand ich selbst nicht eher, was sie wollte, bis ich sie den Alten fast zwingen sah, zu reden. Aber wo ist sie jetzt? Wir müssen jedenfalls nach ihr sehen! Und hier ist noch ein guter Gedanke,“ fuhr er fort, als Osborne, vor sich nieder blickend, an seiner Seite hinschritt, „der mir bei dem, was Kreuzer über die junge Lady geäußert, durch den Kopf geschossen ist –“ er schien auf eine Aeußerung seines Begleiters zu warten, Osborne aber gab keine Antwort und schritt, als habe er kaum gehört, mitten durch die sich zerstreuende Menge, dem Hotel zu.

Am nächsten Morgen war das Städtchen nicht weniger gefüllt, als am Tage vorher; ein einziger Blick aber belehrte das kundige Auge von der Verschiedenheit zwischen der heutigen und gestrigen Menge. In merkwürdiger Schnelle hatte sich die Nachricht von dem „dutch Mob“ in der ganzen Umgegend verbreitet und das gesammte Amerikanerthum für den Fall herbeigezogen, daß ein erneueter Auflauf der Deutschen stattfinden sollte. Von diesen ließ sich aber kaum hier und da ein Gesicht blicken, und die Gerichtsverhandlung nahm in voller Ordnung vor den gedrängten Zuschauern ihren Anfang.

Mary, unweit des Vertheidigers auf dem Zeugenplatze, verwandte bleich und ruhig den Blick nicht von dem Richter und dessen nächster Umgebung, selbst nicht, als die entstehende Bewegung unter den Zuhörern die Einführung des Angeklagten verkündete. Sie wußte, daß von heute wieder ein neuer Abschnitt ihres Lebens beginne. Der Major hatte gestern die beiden Mädchen, ohne mit einem Worte des Geschehenen zu erwähnen, wieder nach Hause gefahren, und so lebendigen Antheil auch die Mitglieder der Farmersfamilie an den stattgehabten Vorfällen nahmen und der Farmer ihr zum ersten Male erklärte, sie möge sein Haus, komme was da wolle, so lange als ihre Heimath betrachten, als sie einer solchen bedürfe, so fühlte sie doch mehr als je, daß sie es sich selbst schuldig sei, mit der Freisprechung des jungen Osborne, auf welche sie sicher rechnete, die unmittelbare Nachbarschaft zu verlassen. Sie hatte die bestimmte Ahnung, daß sich James von seinem Vater nicht abhalten lassen werde, ihr zu vergelten, was er ihr schuldig zu sein glaubte; die ganze Weise indessen, in welcher der Major sie behandelt, hatte einen Stolz in ihr wach gerufen, der ihr vorschrieb, eher jeden innern Schmerz und jede äußere Entbehrung zu ertragen, wenn sie dadurch die niedrige Meinung dieses Mannes über sie vernichten konnte, als durch ein Nachgeben ihrer eigenen Neigung alle die hämischen lautgewordenen Voraussetzungen zu rechtfertigen.

Die Anklage auf Mord war verlesen, der Gefangene hatte sein „Nicht schuldig!“ erklärt, und die Vertheidigung rief das einzige vorhandene Zeugniß zum Nachweis auf, daß nur ein Todtschlag, und zwar in Selbstvertheidigung erfolgt, vorliege. Mary gab nach ihrer Vereidigung das Geschehene in allen seinen Einzelheiten, und die anschauliche Klarheit, mit welcher dies geschah, verbunden mit der anfänglich leise bebenden Stimme und dem ruhigen, bleichen Gesichte machten auf Jury und Publicum einen sichtlich günstigen Eindruck. Jetzt erhob indessen der Staatsanwalt den Kopf und erklärte, wie Angesichts des nur zu deutlich ausgesprochenen Mißtrauens, das unter den deutschen Bürgern des County’s herrsche, die strengste Untersuchung eine gebieterische Pflicht werde, und begann hierauf das Unwahrscheinliche eines Angriffs, ganz ohne dazu gereizt worden zu sein, wie ihn der Todte gegen einen langjährigen Nachbar ausgeführt haben solle, darzulegen. Nicht allein diese ersichtliche Lücke in dem Zeugniß schwäche letzteres, erklärte er, sondern auch noch ein anderer Umstand. Nach den Ergebnissen der Coroners-Untersuchung habe der Mord in einem von dem Festplatze abseits gelegenen Theile des Waldes stattgefunden. Sicher aber folge eine junge Lady nur dem intimsten Bekannten so weit ab von der Gesellschaft, und die Anklage sei wohl berechtigt anzunehmen, daß ein Verhältniß zwischen der Zeugin und dem Angeklagten stattgefunden habe, welches die Erstere jetzt auf die natürlichste Weise bewege, die eigentliche Ursache des Streits [692] unerwähnt zu lassen. Das ganze Zeugniß sei deshalb äußern und innern Gründen nach von so geringer Bedeutung, daß die Jury sich hüten möge, ein besonderes Gewicht darauf zu legen. Die vollbrachte Tödtung sei von dem Angeklagten bereits zugestanden, und so müsse die Anklage bei einem gänzlich mangelnden annehmbaren Entlastungszeugniß auf ihren ursprünglichen Forderungen stehen bleiben.

Jetzt erhob sich der Vertheidiger und begann die traurige Stellung der Anklage zu geißeln, welche, um die Idee eines eingebildeten Verbrechens aufrecht zu erhalten, kein anderes Mittel wisse, als, trotz des von der Zeugin abgelegten Eides, nicht allein die Glaubwürdigkeit derselben auf die vagsten Voraussetzungen hin zu bezweifeln, sondern sich sogar nicht scheue, in verdeckter Weise die Ehre einer achtbaren jungen Lady, welche, nur ihrem Pflichtgefühle folgend, auf dem Zeugenstande erschienen sei, anzugreifen. Zufällig sei er diesmal im Stande, fuhr er fort, die hohe Respectabilität seiner Zeugin und die gänzliche Grundlosigkeit aller Voraussetzungen seitens der Anklage nachzuweisen, und damit zugleich die Freisprechung des Angeklagten über allen Zweifel zu erheben – wolle das Gericht ihm nur erlauben, einen Zeugen zur Feststellung des ersten Zeugnisses vorzuführen, dessen Glaubwürdigkeit in dem vorliegenden Falle wohl nicht wieder beanstandet werden könne. Er wandte das Gesicht nach dem Zuschauer-Raume, und zwischen den Menschen hervor trat der alte Kreuzer. Ein Summen und Murmeln erhob sich plötzlich, der tiefe Eindruck, welchen seine Erscheinung machte, war unverkennbar. Er leistete ernst den Zeugeneid und sprach dann unter einem tiefen Schweigen der Anwesenden:

„Ich bin aufgefordert worden, als ehrlicher Mann zu sagen, was ich über das junge Mädchen hier weiß, und ich muß es thun, wie auch die Sachen stehen mögen, denn es hat noch niemals ein wahreres und besseres Kind gegeben, als sie ist; das sag’ ich, wenn ich auch, als das große Unglück über mich kam, selbst Unrecht that in meinem Schmerze. Und so sage ich auch, weil es die Wahrheit ist, daß Alles, was da von Liebesgeschichten und dergleichen geredet worden ist, ihr nur im Hasse nachgesagt werden kann. Das Kind ist nicht eine Stunde des Tags aus meinen Augen gekommen, und nach dem Picknik, wo der schreckliche Schlag über uns kam, ist sie nur gegangen, weil ich es verlangte. Ich sage, es ist das Sündhafteste, einer elternlosen Waise, der das Schicksal ihre einzige Heimath, die sie hatte, genommen, auch noch die Ehre und den guten Ruf stehlen zu wollen – mich drängt es, das zu sagen, und mein armer Heinrich, der jetzt nichts mehr von irdischer Rache weiß, wird mir Recht geben, wenn er jetzt hierher sehen kann!“

„Vater Kreuzer!“ rief in diesem Augenblicke Mary aufspringend und die Hand des Alten erfassend.

„’s ist schon recht, Kind,“ erwiderte dieser, seine Linke auf des Mädchens Kopf legend; „es hat nicht sein sollen mit uns, wie ich es mir ausgedacht hatte; das Schicksal hat eine Wand zwischen uns gezogen, über die wir Beide nicht hinaus können. Aber so lange ich es verhindern kann, sollen sie Dir wenigstens Deine Reputation nicht nehmen!“

Er trat langsam in den Zuschauerraum zurück, während Mary ihren bisherigen Platz suchte, und noch eine volle Minute lang schien der Eindruck der Scene jeden Laut unter den Zuschauern niederzuhalten.

Die Anklage hatte auf das weitere Wort verzichtet, die Jury hatte sich nicht einmal von ihren Plätzen erhoben, sondern nach kurzem Wispern das „Nicht schuldig!“ durch ihren Vorsitzenden verkünden lassen, und der Angeklagte war im Nu von zahlreichen Freunden umringt, die, fast ehe noch der Richter die Verhandlung geschlossen, ihn in ihrer Mitte davon führten. Auch der Vertheidiger war dem allgemeinen Zuge gefolgt und Mary sah sich plötzlich allein, bis sie endlich ihre Freundin Lucy sich nach ihr durchdrängen sah.

„O, Mary, es war so rührend, und Du hast so viele Freunde gewonnen!“ rief diese ihre Hand fassend. Jetzt erschien aber auch der Vater der Sprechenden, nahm mit einem herzhaften: „So mußt’ es kommen!“ gegen Mary die Arme der beiden Mädchen unter die seinigen und führte sie zwischen den davon strömenden Menschen aus dem Saale.

„Ich denke, wir lassen jetzt die Osborne’s wo sie sind,“ sagie er, als das Courthaus hinter ihnen lag, „sie werden doch sobald von ihren Freunden nicht loskommen, und das Beste ist, wir fahren gleich nach Hause!“

„Nur noch einen Augenblick, Sir!“ rief Mary, ihren Arm frei machend. Sie sah den alten Kreuzer soeben unweit über die Straße gehen und war mit einigen Schritten an seiner Seite. „Vater Kreuzer, ich habe Dir noch nicht gedankt!“ begann sie, seine Hand ergreifend, „und wie geht’s zu Hause?“

Der Alte sah ihr trübe in das erregte Gesicht. „Du hast nichts zu danken, Kind,“ sagte er, „ich kam ja nur der Aufforderung Eueres Advocaten nach, um wieder in etwas gut zu machen, daß ich in meinem Leide Dich so allein in die Welt hinausgeschickt hatte. – Es geht nicht gut daheim, Mary,“ fuhr er den Kopf schüttelnd fort, „die Mutter, weißt Du, hat sich beinahe nur von der Hoffnung genährt, den James hängen zu sehen; dabei ist sie aber jeden Tag schwächer geworden und liegt nun schon seit ein paar Tagen fest. Sie hat mich gestern und heute in die Stadt getrieben – was aber mit ihr werden wird, wenn sie hört, daß der James Osborne ganz frei ausgegangen – und ich habe doch vor Gott und meinem Gewissen nicht anders handeln können – weiß ich nicht. Ich habe so einen Gedanken, Alles zu verkaufen und hinüber nach Missouri zu ziehen, wo das Land noch besser sein soll als hier herum – wir werden ja sehen, wie Alles kommt!“ Er nickte dem Mädchen trübe zu und schritt seines Weges weiter. –

Mary war mit ihren Freunden auf deren Farm angekommen, aber noch ehe eine Viertelstunde verstrichen war, hielt auch Osborne’s Wagen vor dem Thore der Einzäunung. Ein nervöses Zittern überkam das Mädchen, als sie von ihrer Kammer aus den Major und dessen Sohn auf das Haus zukommen sah. Als aber Lucy zu ihr hereinsprang, um sie von dem Besuche und dessen Wunsche, sie zu sehen, zu benachrichtigen, deutete nur noch eine tiefe Blässe ihre innere Erregung an.

Als sie die Vorderstube betrat, in welcher die Familie die Angekommenen umringte, eilte ihr James mit ausgestreckten Händen entgegen. „O, es war unrecht, Miß Mary, daß Sie sich so schnell davon machten, ohne uns nur ein Wort zu Ihnen zu gönnen!“ rief er. Dann aber, wie von ihrem Ernste betroffen, sah er ihr zwei Secunden lang schweigend in die dunkeln Augen. „Haben Sie denn keinen Gruß für mich, Mary?“ fragte er endlich.

„Es ist vielleicht das Beste, Mr. Osborne,“ erwiderte sie gedrückt, während ein leises Roth in ihre Wangen stieg und wieder ging, „wir haben überhaupt keinen Gruß mehr für einander. Sie erhalten sich damit die Zufriedenheit Ihres Vaters, und ich werde nicht mehr nöthig haben, um meinen guten Namen fürchten zu müssen!“

Sie sah ihm mit einem so bestimmten und doch so schmerzlichen Ernste in die Augen, daß ihm das Wort auf der Zunge zu sterben schien.

„Mary, ich weiß nicht ganz, was Sie meinen. Ich weiß aber doch, daß ich jetzt nicht so von Ihnen gehen kann!“ sagte er endlich, ihr auf’s Neue die Hand entgegenstreckend.

„Gehen Sie nur, Mr. Osborne,“ erwiderte sie, leicht ihre Hand in die seine legend, „und wenn Sie wirklich glauben, mir etwas schuldig zu sein, so lassen Sie dies als unsern Abschied gelten!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich aber plötzlich um und schritt aus dem Zimmer.

Der alte Major hatte mit steif zusammengezogenen Augen die Scene beobachtet. Der Farmer aber, als habe er kaum etwas Anderes erwartet, nickte nur mit dem Kopfe, als sich die Thür hinter dem Mädchen schloß.

Als Lucy der Freundin nach einigen Minuten folgte, fand sie die Kammerthür verschlossen, und erst am späten Nachmittag kam Mary mit rothgeweinten Augen wieder zum Vorschein. – Niemand im Hause aber schien es zu bemerken, keine Andeutung des stattgehabten Auftritts fiel, und erst mit beginnendem Abend drückte Lucy mit vielsagendem Blicke der Freundin ein kleines Couvert in die Hand. „Ich habe es soeben von ihm!“ flüsterte sie und wandte sich wieder davon.

Mary stand und hielt das erhaltene Papier, als dürfe sie kaum die Finger darum schließen. Als sie sich aber allein sah, stieg sie nach der gemeinschaftlichen Kammer hinauf, verschloß die Thür von Neuem und öffnete dann mit einem leisen Beben ihrer [694] Hände das Billet. Sie sah nicht nach der Unterschrift, sie begann langsam, als wolle sie jedes Wort erwägen, zu lesen:

„Theuere Mary!
Ich habe mit meinem Vater ein langes, ernstes Gespräch gehabt und begreife jetzt die Gründe Ihrer Handlungsweise, die mich heute Mittag vollkommen zu Boden schlug. Ich reise morgen früh von hier ab und werde Sie in zwei Jahren nicht wieder sehen – was mein Schicksal nach meiner Rückkehr sein wird, liegt einzig in Ihrer Hand.
Ich habe meinem Vater versprochen, nichts mehr als diese Nachricht Ihnen zugehen zu lassen, und ich will ehrlich gegen ihn sein, damit ich später auch volle Ehrlichkeit von ihm fordern kann.
Gedenken Sie Ihres
James Osborne.“

Noch als bereits die volle Dunkelheit hereinzubrechen begann, saß das Mädchen auf dem eingenommenen Platze, den erhaltenen Brief in der herabgesunkenen Hand und das Auge träumend durch das offene Fenster gerichtet.




Es war kein Wort über Mary’s fernern Aufenthalt in dem Hause geredet worden, aber unter den Familiengliedern herrschte ein Ton, als verstehe sich ihr längeres Bleiben von selbst. Wohl war es dem Mädchen in den ersten Tagen gewesen, als dürfe sie eine Rücksicht nicht annehmen, die kaum auf etwas Anderes als auf das Mitleid mit ihrer vereinsamten Stellung gegründet sein konnte. Indessen hätte sich eine Aenderung ihrer augenblicklichen Lage nur durch den Uebertritt in ein dienendes Verhältniß herbeiführen lassen, und so wenig sie auch früher den geringsten Anstoß daran genommen, so war es ihr doch jetzt, als müsse ein derartiger gesellschaftlicher Rücktritt ihr eine ganze Zukunft vernichten, die jetzt nur wie ein Traumgebild, das sie nicht zu berühren wagte, in ihr lebte. So schwieg sie und suchte in regem Bestreben sich nützlich zu machen, ihre neue Heimath zu verdienen, und das stille Lächeln der Hausfrau, wenn es in Lucy zu erwachen schien, als wolle sie nicht hinter der Freundin zurückbleiben, wie die launigen, wohlwollenden Worte des Farmers zeigten ihr eine Anerkennung, die ihr mit jedem Tage mehr ihre Sicherheit zurückgab.

Es war drei Wochen später, als an einem Nachmittage der kleine George Kreuzer auf der Farm erschien und in seiner Freude, die frühere Schwester wieder zu sehen, fast des Auftrags vergaß, der ihn hergeführt. Die Mutter sei so krank, berichtete er endlich, und wolle Mary gern sprechen, und Vater lasse recht sehr bitten, daß sie komme. Das Mädchen verfärbte sich einen Schatten, machte sich aber sogleich zum Mitgehen fertig.

Kreuzer mußte nach den Beiden ausgesehen haben, denn er kam ihnen schon auf halbem Wege nach der Einzäunung entgegen.

„Es ist ganz recht, Mary, daß Du kommst,“ sagte er, dem Mädchen trübe die Hand reichend, „ich denke, Mutter wird es nicht mehr lange machen – es sitzt ihr innerlich, weißt Du, wo kein Doctor dazu kann – aber komm herein!“

Mary überschritt die so bekannte Schwelle, und aus dem Bette im Vorderzimmer sah ihr die fast zum Skelett abgemagerte Gestalt der Frau entgegen. Sie machte einen Versuch, sich aufzurichten, als sie das Mädchen bemerkte, fiel aber matt zurück, und die Letztere beeilte sich, den Stuhl neben dem Bette einzunehmen.

„Ich mußte Dich noch einmal sehen, Mary,“ sagte sie mit einer Stimme, die von ihrem früheren Tone nichts als die eigenthümliche Härte behalten zu haben schien, „damit ich meinem Heinrich einen Gruß von Dir bringen kann. Er hat gemeint, Du wolltest nichts von ihm wissen, und der Osborne’s Junge müsse es Dir angethan haben; davon ist das ganze Unglück hergekommen, ich hab’s wohl gewußt. Und nun freut’s mich jetzt, daß ich ihm eine andere Nachricht bringen kann – ’s ist recht brav von Dir, daß Du den Andern hast ablaufen lassen! Er ist jetzt fort nach Europa, hör’ ich – wenn er aber auch an’s Ende der Welt ginge, wird er doch dem Wiedersehen mit meinem Heinrich nicht entlaufen können!“ Sie nickte einigemal still vor sich hin, dann sanken langsam ihre Augen zu, und als Mary sich über sie bog, war sie eingeschlafen.

Das Mädchen erhob sich leise, warf einen Blick durch das Zimmer, welches den gänzlichen Mangel einer ordnenden Hand verrieth, und traf auf den weichen Blick des Alten. „So hat sie bis jetzt noch keinen anderen Gedanken gehabt, als den Heinrich,“ sagte er halblaut; „komm heraus, daß wir sie nicht stören!“

„Ich denke, Vater,“ begann Mary, als sie in’s Freie traten, „ich komme jeden Morgen herüber und sehe nach der Wirthschaft, bis Mutter sich wieder erholt hat.“

„Wenn Du’s wolltest, Kind, es wäre gut für uns Alle!“ nickte Kreuzer, „vielleicht, wenn Alles wieder in rechten Zug kommt, wendet sich dann auch die Krankheit der Mutter; ich weiß sonst nicht, auf was ich noch eine Hoffnung setzen soll!“

„Morgen früh bin ich bei guter Zeit hier,“ erwiderte sie, dem Alten die Hand reichend, und von einem Händedruck begleitet, der fast zu wohlgemeint für ihre feinen Finger war, machte sie sich auf den Heimweg.

Als sie am andern Morgen Kreuzer’s Haus betrat, fand sie die Frau todt und das Haus von den nächsten Nachbarn gefüllt.




Die Zeit verging. Kreuzer hatte wirklich seine früher ausgesprochene Absicht ausgeführt, hatte seine Farm verkauft und die Gegend, die ihm so viel Herzeleid gebracht, verlassen. Sein Käufer aber war Osborne gewesen, und die Deutschen umher behaupteten, der Major habe nur einen so hohen Preis bezahlt, um den Alten bald aus der Nachbarschaft wegzubringen und so alle Erinnerungen an die vergangenen Dinge zu verwischen. Einigermaßen im Einklang damit stand wenigstens, daß der Käufer das Haus abbrechen und den Platz umher zu einem gewöhnlichen Maisfelde umpflügen ließ.

Mary, noch immer in der Familie des amerikanischen Farmers, war zu einer vollen, rosigen Jungfrau herangeblüht, und kein gesellschaftlicher Kreis in der Umgegend galt für vollständig, dem sie mit ihrer Freundin Lucy nicht beiwohnte. Lucy war bereits nach Jahresfrist Braut geworden; so viel begehrliche Augen aber auch auf Mary fielen, so viele halbe, prüfende Worte, trotz des bekannten geringen Vermögens, welches sie besaß, laut wurden, so wenig schien sie doch von dem Vorzug, welchen sie genoß, zu wissen oder auch nur den leisesten Unterschied in Behandlung der jungen Männer, welche sie umschwärmten, machen zu können. Mancher Besuch ward in der Familie mit augenscheinlich bestimmter Absicht abgestattet, aber niemals fiel seitens der „alten Leute“ auch nur das kleinste andeutende Wort gegen das Mädchen.

So war bereits der dritte Sommer herangekommen, welchen Mary in ihrer neuen Heimath verlebte, und sie war eines Morgens im Hinterzimmer mit Ordnung der Hauswäsche beschäftigt, als der Farmer hereintrat und sich mit einem eigenthümlichen Lächeln auf dem nächsten Stuhle niederließ. „Wir haben eine Einladung für morgen,“ sagte er, „und wenn wir Uebrigen auch nichts dagegen haben konnten, so habe ich doch in Bezug auf Sie noch nicht zugesagt. Der älteste Sohn vom Major Osborne, der Lieutenant, ist gekommen, um für eine längere Zeit Abschied zu nehmen; er ist nach irgend einem Fort hinten bei den Indianern commandirt, und so will der Vater zu seinen Ehren morgen noch eine „Partie“ geben.“

Das Mädchen sah starr auf ihre Wäsche nieder und schüttelte langsam den Kopf. „Sie glauben doch selbst nicht, daß ich bei der Einladung mit gemeint sein kann;“ erwiderte sie mit halber Stimme, „und wenn es wäre, so wissen Sie eben so gut, daß ich nach Allem, was mir der Major gesagt, zumal da er es nicht einmal eines Wortes der Entschuldigung gegen mich werth gehalten, nicht hingehen könnte!“

„’s ist schon recht und es war ungefähr, was ich vermuthete!“ nickte der Farmer, „er mag die Pille einmal schlucken. Uebrigens denke ich, Sie werden morgen nicht gar zu lange ohne uns sein!“ Er erhob sich mit einem sonderbaren Lächeln von Befriedigung und verließ das Zimmer.

Mary mochte etwas blässer sein als gewöhnlich, als die Familie am andern Tage nach des Majors Farm abfuhr, aber ihre, sichere Haltung beim Abschied sprach deutlich aus, daß sie der Gründe ihres Handelns sich voll bewußt war.

Fast zwei Stunden hatte sie im Vorderzimmer, eine Nätherei auf dem Schooße, verbracht, bald durch die offene Thür in die sonnige Waldlandschaft hinausblickend und ihren Gedanken nachhängend, bald, wie sich selbst auf verbotenen Wegen ertappend, eilig ihre Arbeit aufnehmend, als sie einen leichten Wagen an dem Thor der Einzäunung halten, und mit einem Gefühle, das wie [695] ein Schrecken ihren ganzen Körper durchzuckte, den Major herausspringen sah. Als der Angekommene in die offene Thür trat, stand sie, bleich wie die Wand, in der Mitte des Zimmers; Jener schien sich indessen kaum viel an das Aeußere ihrer Erscheinung zu kehren.

„Ich muß Ihnen sagen, Miß,“ begann er, während es wie unterdrückter Humor zwischen seinen Augen spielte, „daß ich es für unrecht halte, einem alten Knaben, wie mir, zwei Jahre lang Dinge nachzutragen, die längst vergessen sein sollten. Es war eine böse Zeit, damals, und es mag manches Wort gefallen sein, von dem ich heute nicht einmal mehr etwas weiß. Jetzt geben Sie mir Ihre Hand – ich sage Ihnen, es thut mir leid, was auch damals geschehen sein mag; wir kannten uns eben zu der Zeit noch nicht – und ich werde’s nicht wieder thun!“

Mary sah den so ungewohnten Ausdruck in dem Gesichte des Sprechenden, sah die ihr entgegengestreckte breite Hand, und ein fast krampfhaftes Zittern überlief ihren Körper. „Ich habe nie mehr verlangt, Major, als daß Sie mich mit andern achtungswerthen Mädchen auf eine Linie stellen!“ sagte sie leise, mit Macht versuchend, ihrer Herr zu werden, und legte ihre Hand in die dargebotene.

„So, das ist also abgemacht, jetzt reut mich auch nicht der Weg hierher;“ lachte der Alte in sichtlichem Vergnügen – Mary hatte ihn noch nie lachen hören – „und nun ziehen Sie sich ein anderes Kleid für die Gesellschaft an, ich warte so lange, und dann gehen Sie mit mir!“

Sie hatte das Zimmer verlassen, ohne sich dessen recht bewußt zu sein; als sie aber die Treppe nach ihrer Kammer hinauf sprang, klang es in ihr wie hundert Engelsstimmen. Sie hatte wohl noch nie so schnell als jetzt ihren Anzug beendet, und doch fühlte sie ihren ganzen Körper zittern; sie nahm sich nur noch Zeit, die Magd von ihrer Entfernung zu benachrichtigen. – Erst als sie, von dem flüchtigen Rappen gezogen, sich ein ganzes Stück von der Farm entfernt fand, kam sie zu eigentlicher, klarer Besinnung. Neben ihr saß wortlos der Major, das Pferd zur Eile treibend, aber mit demselben Zucken des Humors zwischen den Brauen, das Mary bei seiner Ankunft bemerkt; die Felder und Walkstrecken flogen an ihnen vorüber, und bald tauchte vor des Mädchens Blicken das große steinerne Wohnhaus auf, das schon, als ihr George zuerst davon berichtet, ihre Phantasie rege gemacht hatte.

Hinter dem Gebäude klang Musik, als der Wagen auf den geschmackvoll mit Ziergewächsen besetzten Vorplatz rollte; ein Knecht sprang herbei, um das Pferd zu halten, und Mary konnte es nicht vermeiden, sich von ihrem Begleiter aus dem Wagen heben zu lassen.

„Jetzt, damit es in der Freundschaft nicht wieder einen Riß gibt, kommen Sie einen Augenblick hierher!“ sagte dieser, des Mädchens Hand fassend. Sie sah sich in die breite, mit hohen Thüren besetzte Vorhalle geführt, eine der letzteren[WS 2] that sich unter seiner Hand auf – „so, wir sehen uns dann bei der Gesellschaft wieder!“ hörte sie noch, dann aber war ihre ganze Seele in ihr Auge übergegangen – in dem Zimmer vor ihr war James neben dem Fenster aufgesprungen.

Sie standen einander gegenüber, Beide dieselben und doch so verändert – sie in der vollen Blüthe der Jungfräulichkeit, aber wohl nie schöner, als in der Ueberraschung des Augenblicks – er männlich gebräunt und mit kräftig sprossendem Barte.

Eine halbe Stunde später suchte das Paar die auf dem waldigen Grunde hinter dem Hause sich vergnügende Gesellschaft auf; aber schon kam ihm der Major, wie von Ungeduld getrieben, auf dem Wege entgegen. Ein Blick in die Augen Beider schien ihm zu genügen, und er faßte derb des Mädchens Hand. „So, Miß Mary, und nun für jetzt kein Wort weiter, ich habe nur meinem James ein ehrlich gegebenes Versprechen gehalten – habe es gern und mit Freuden gehalten, weil der Junge gescheidter war, als sein Alter, und so wollen wir unsere Rechnungen gegenseitig quittiren!“ Er bog sich nieder und drückte einen warmen Kuß auf des erröthenden Mädchens Lippen. – –

Vier Wochen später zog Mary als junge Frau nach der Osborne’schen Farm, deren Bewirthschaftung James nach seiner Rückkehr übernommen.

Von Kreuzer’s wurde nichts wieder gehört, so oft sich auch Mary später Mühe gab, wenigstens den Aufenthaltsort des Alten zu erkunden.

Anmerkungen

  1. Der Verfasser der bekannten deutsch-amerikanischen Romane: „der Pedlar“ und „Gold und Geist“, ein geborner Thüringer, ist augenblicklich Redacteur des vielverbreiteten „Anzeiger des Westens“ in St. Louis und ein Liebling der deutschen Lesewelt in Amerika. „Mary Kreuzer“ ist ein Originalbeitrag des uns befreundeten Autors.
         D. Red.
  2. Der für die erste Untersuchung aller ungewöhnlichen Todesfälle angestellte öffentliche Beamte.
  3. Das Gefängniß.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Einwandern
  2. Vorlage: letztreen