Textdaten
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Autor: Hermann Alexander von Berlepsch
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Titel: Der Schneesturm im Gebirge
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 661–663
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[661]
Der Schneesturm im Gebirge.[1]

Das Ausgraben der Verschütteten.

     – – Tollheit ist
Der Muth des Menschen,
wenn ein Gott ihm zürnt.
     Stollberg

Zu den ungestümsten und schreckenserregendsten Naturerscheinungen des Hochgebirges gehören die Schneestürme. Von ihrer Heftigkeit, Gewalt und quantitativen Dichtheit der Schneemenge, welche durch die Lüfte getragen die Möglichkeit zuläßt, daß binnen wenig Minuten kurz vorher noch sichtbare Wege gänzlich vergraben und fußhoch überdeckt werden, kann nur derjenige sich einen lebhaften Begriff machen, der die wilden Kraftäußerungen der Elemente im Gebirge schon in anderer Weise kennen lernte. Der Schneesturm in den Alpen ist gleichsam der entgegengesetzte Pol einer anderen, ebenso furchtbaren atmosphärischen Erscheinung, nämlich des Samum der Wüste. Wie dort der rasend einherbrausende Flügelschlag des Wüstenwindes unberechenbare Milliarden glühendheißer Sandkörnchen emporhebt und in jagender Flucht durch die Lüfte trägt, tiefe Mulden hier aufwühlt, um neue, vorher nicht dagewesene, haushohe Hügel dort abzuladen, – so erfüllt der Schneesturm die Luft auf große Entfernungen hin mit dichten, ringsumher Alles verfinsternden Wolken kleiner feiner Schneekrystalle, die Alles durchdringen, an Alles sich einbohren und mit der Atmosphäre eine völlig verschmolzene Masse zu sein scheinen. Die Verwandschaft der mechanischen Thätigkeit dieser beiden schrecklichen Lufterscheinungen ist frappant und bietet selbst bis in die kleinsten Einzelheiten Parallelen dar, freilich eben immer unter den Bedingungen der äußersten Temperatur-Gegensätze.

Der Schnee des Hochgebirges ist, sowohl nach Gestalt und Umfang, als nach Dichtheit und specifischer Schwere seiner einzelnen Körpertheilchen, in der Regel wesentlich verschieden vom Schnee der Tiefebene und des Hügellandes. Wenn er auch unter gleichen Bedingungen entstehen mag, so ist doch höchst wahrscheinlich sein Bildungsproceß ein viel einfacherer; ja, es fragt sich, ob er nicht unmittelbar aus jenen Elementarkörperchen besteht, aus deren nach organischer Anordnung erfolgender Conglomeration sich die Schneeflocke, wie man sie drunten im Lande allgemein kennt, erst construiert. Denn in die Geheimnisse der Schneekrystallisation sind die Naturwissenschaften bis jetzt erst wenig eingedrungen; nur Vermuthungen und Wahrscheinlichkeitsgründe konnten sie darüber aufstellen, in welcher Region und unter welchen meteorologischen Einflüssen die erste Schneebildung beginnt, – und es ist noch eine schwebende Frage, ob der stets nach dem Gesetz der drei- oder sechskantigen oder sechsstrahligen Form sich darstellende, symmetrisch-schöne Schneestern durch das Anschließen kleiner, unendlich feiner, aber schon vorhandener Eisnädelchen entstehe, – oder ob er durch Anhängen (Adhäsion) der dunstförmig im Aether schwebenden Wasserbläschen und deren Gefrieren seine allmähliche Bildung vom Centrum aus herbeiführe. – Die beiden Schneearten, nämlich der Hochschnee und der Flockenschnee, verhalten sich etwa zu einander wie der chemische Gehalt und das specifische Gewicht der schweren, mit vielen Stoffatomen gesättigten Luft tiefliegender Regionen, gegenüber jener feinen, dünnen, leichten, reinen Bergluft, die, je höher man in den Dunstkreis empordringt, um so mehr sich verflüchtigt.

Die große, breite, fette Flocke des Tieflandes ist eine Vereinigung vieler mehr oder minder vollständig ausgebildeter, flächenhaft-krystallisirter Eissterne, die deshalb, weil die Schwere der darin enthaltenen gefrorenen Wassertheilchen nach ihrem räumlichen Umfange in keinem Verhältniß zu der zu durchschneidenden Luft steht, langsam wie ein von den Windwellen getragenes Fallschirmchen aus der Höhe niederschwebt und nur dann eine beschleunigtere Geschwindigkeit annimmt, wenn sie in Temperaturschichten [662] herabsinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Frost gebundenen Wasseratome theilweise lösen und die ganze Flocke durchfeuchten.

Ganz anders verhält sich’s mit dem Hochschnee. Der erste Blick schon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er ist viel feiner, mehliger oder eigentlich sandähnlich, trockener und darum selbstständig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismenförmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber compacte keilförmige, sechskantige Pyramiden, theils aber stellt er sich auch in einer mehr der sphärischen Gestalt annähernden Weise dar, und zwar so, daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähnlich der mittelalterlichen Waffe des Morgensternes, kleine Spitzen nach allen Radien hin ausstrahlen. Daß solch ein seinem Umfange nach kleinerer, wahrscheinlich auch dichterer und darum schwererer Körper in ganz anderem Geschwindigkeitsmaße die Luft durchschneiden kann und darum bewegungsfähiger ist, wenn der Wind ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende Schneeflocke, ist begreiflich.

Vermöge seiner Feinheit profilirt der Hochlandsschnee aber auch die Gegenstände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren Contouren viel detaillirter und schließt den kleinsten Formgebilden sich ungemein schmiegsam, – gleichsam nur bestäubend an, wo die volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen Linien, oft ziemlich schwerfällig, die beschneiten Gegenstände zudeckt. Diese subtilen Candirungen kann man indessen nur im Herbste, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen wahrnehmen, wenn die Atmosphäre ihre Anfangsversuche im Bestäuben mit gleichsam gefrorenem Nebel macht. Dieses leichte Beschneien ist nicht zu verwechseln mit der auch im Hügel- und Flachlande vorkommenden verwandten Erscheinung des sogen. „Duft“ oder „Pick“, welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge krystallisirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrierpunkte stehender Temperatur über einer Landschaft lagert.

Es soll nun keineswegs behauptet werden, daß unter allen Umständen die Bildung von Flockenschnee in den Hochalpen unmöglich sei. Vielmehr versichert der bekannte schweizerische Bergsteiger, Herr Weilenmann, daß er während seiner Besteigung des Grand Combin am 10. August 1858 bei einer Höhe von circa 12,000 Fuß über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad Wärme in ein dichtes Schneegestöber des dicksten, schwersten Flockenschnees gekommen sei.

Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des Hochschnees ist es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit, welche sie auszeichnet. Diese ist Folge der in den oberen Regionen während des ganzen Jahres fast ununterbrochen herrschenden niederen Temperatur. Im normalen Zustande ist der Hochschnee so spröde, so abgeschlossen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärmeeinwirkung sich eben so wenig zusammenballen läßt, wie eine Handvoll trockenen feinen Sandes.

Mit diesem Material treibt nun der Wind auf den Höhen und in den Einsattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß übersteigen, sein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige Hunderttausend Kubikklaftern dieses feinen Eisstaubes, wirbelt ihn spielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort herrschenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichtesten Schneefalles oder zerstreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuschütteln, wo es ihm beliebt. „Der Montblanc raucht seine Pfeife,“ sagen die Thalleute von Chamonny, wenn’s von der Schneekuppel dieses höchsten europäischen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie Dämpfe aufsteigt und leise verweht wird. Oder der Wind, in seinem radicalen Fegen über die alten Firnwüsten, hebt irgend eine ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung solch trockenen Hochschnees auf und schleudert ihn unversehens in tiefere Bergbecken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schneebatterien und Querdämme aufbauend oder mühsam ausgeschaufelte Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit bedurft haben würde. Darum läßt sich auch zwischen diesen bösartigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen „Staublawinen“ oft keine bestimmte Grenze ziehen, weil die Wirkungen des Einen fast jenen der Anderen gleichkommen.

Aber alle diese tollen Luftmanöver sind nichts weniger als eigentliche Schneestürme; der Charakter dieser fürchterlich tobenden Erscheinung ist weit wilder, zorniger, feindseliger. Wehe dem armen Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige „Tormenta“ – wie der Tessiner den Schneesturm bezeichnend nennt – geräth, – und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Unbilden des Wetters längst abgehärteter Mann, – wenn er ein Fremdling aus milderen Klimaten ist, der dem jähen Anprall und der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entschlossenheit, stählernen Muth, stramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu setzen vermag! Er ist, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind des Todes. Schon Tausende fielen dem Ungethüm als Opfer, wenn sie mit den Vorboten eines Schneesturmes unbekannt waren oder, wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortsetzten. Denn erfahrungsmäßig toben die „Guxeten“ am bösartigsten in jenen Alpeneinschnitten, durch welche Bergstraßen und Pässe hindurchführen, und zwar sonderbarer Weise beim Nordwinde an der südlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am heftigsten. Berüchtiget sind in dieser Beziehung ganz besonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des russischen Heeres unter Suwarow, bei der Retirade im October 1799 eine Beute der Schneestürme. Nach mündlichen Versicherungen der Bernhardiner Mönche ist in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Mensch am Großen St. Bernhard durch einen Schneesturm mehr um’s Leben gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bösen Gast anmelden. Die sonst matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone sich ablöst, wird bestimmter, dicker, gesättigter, man sieht ihr gleichsam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgszüge, deren nackte Felsenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erst leicht, dann aber immer trüber und dichter verschleiert, bis sie zuletzt ganz verschwinden. Die Luft ist ruhig, sehr kalt, ohne jene kräftige säuerliche Winterfrische zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubensitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; – trockene, frostige, harte Luft füllt die Atmosphäre. Dazu lagert ringsumher unbeschreiblich lautlose Stille über der erstorbenen Einöde. Das sprungfertige Volk der Gemsen, welches im Sommer tiefe Höhen belebt, wohnt jetzt in tiefer liegenden Forsten, – das pfeifende Murmelthier liegt im Winterschlafe erstarrt in seiner Höhle, und selbst die im Winter kreischend die zerspaltenen, schwer ersteigbaren Granitzinnen umkreisende Bergdohle hat sich in ihr Kluftennest geflüchtet; kein dürres Laub raschelt an den Aesten, denn in diesen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholische Legföhre und das Alpenrosen-Gebüsch schlummern tief unterm Schnee – kein Windhauch rieselt Schneekörner über die jähen Fluhsätze – allenthalben herrscht jene bange Stille, welche an schwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die einzigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, sind sein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Rosse (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge passirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.

Nähert sich nun die Katastrophe, dann hüllen massige graue Wolken auch die näherliegenden Bergspitzen ein und lasten so dick und schwer auf ihnen, als wollten sie für eine Ewigkeit hier Posto fassen. Noch immer ist’s Zeit, die schützende Cantoniera (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gastliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern ist, – aber auch immer dämmeriger wird’s, – der Abend scheint den Mittag übersprungen zu haben. Plötzlich erschreckt den besorglich eilenden, schon halb ermüdeten Reisenden ein heftiger, scharfer Windstoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann ist’s wieder ruhig, – still rundum, wie vorher. Diese intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pausen. Es sind die äußersten und letzten Erinnerungszeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein seltsames unheimliches Tönen in den Felsenkammern und Steinschluchten, erst leise und seufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengesetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, stärker, aber rasch weit und weiter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es ist, als ob ferne verwehte Stimmen um Hülfe riefen. Diese durch die Luft streichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber so getragen, so einförmig und hohl, so ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoctiums der Wind durch Kamin und Thürspalten seine jammernden Melodieen heult. – Das [663] Roß vorm Schlitten haut fester mit den Hufen in den unsicheren, lockeren Pfad, und schnaubt öfter und unwillig, – sein Instinct verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert strengt es seine Kräfte in erhöhtem Maße an, rascher fort zu kommen – und keuchend folgt ihm sein Treiber. Dem winselnden Unisono gesellt sich jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwischen liegenden Stimmen mehren sich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen schwillt das Getöse immer wilder, immer mächtiger, immer lauter an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke, und nun entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und senden einen Hagel feiner, nadelspitzer Eispfeile mit solch unbändiger Gewalt hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerzhafteste von ihnen getroffen werden. Der fast erschöpfte Wanderer kehrt der Seite, von welcher die Massen am tollsten herabwüthen, den Rücken zu; – aber was hilft’s? Die jagenden Fluthen der Eisnadeln schlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn zusammen, und so wie diese, zu Schaum zerspritzt, dem Orkane sich wieder entgegenwerfen, so ändern auch die seine Schultern bestreichenden Schneestaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiselndem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts sehen, und deckt wechselweise mit Arm und Hand und Tuch die Augen, die Wangen, das ganze Angesicht, welches von der schneidenden Kälte und den brennenden Stichen aufzuschwellen beginnt, – er kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie ätzendes Gift durch die Respirationsorgane in die Lunge und bohrt sich bei jedem Athemzuge wie mit tausend Spitzen fest. Er ist hereingebrochen, der furchtbare Schneesturm des Gebirges mit all seinem Entsetzen, seiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles, was in seinem Bereiche liegt. Das ist ein Hetzen und Peitschen durch die Lüfte, das tobt und stöhnt und pfeift und braust um die starren Felsenhörner, als ob die Atmosphäre wahnwitzig geworden wäre, und die Zntroduction zum letzten Gericht beginnen sollte. Und in Mitte dieses Aufruhrs steht der Mensch, der Herr des Erdballes, der mit Eisen und Dampf die Materie sich dienstbar gemacht und die Elemente seinem Willen unterjocht zu haben wähnt, – er steht da, ein armes, ohnmächtiges, verlassenes Geschöpf in grausenhafter Schneewüste, eine sichere Beute des Todes, wenn die Sinne ihm schwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.

Denn tritt auch eine kurze Pause in dem entsetzlichen Aufruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Secunden die Augen öffnen, so sieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr. So tief wie er, oft bis an die Kniee, im frischgefallenen und ab den Bergen zusammengewehten Schnee steht, eben so tief und stellenweise noch tiefer liegt derselbe überall. Darum hat die Vorsicht der Thalbewolmer diesseits und jenseits vielbegangener Pässe schon seit aller Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe Schneestangen vor Wintersanfang längs des ganzen Paßweges in’s feste Gestein zu setzen, die bei verwehetem Pfade als Allignement dienen. In ergiebigen Wintern ist’s indessen schon vorgekommen, daß an manchen Stellen auch diese Stangen unter dem von allen Seiten zusammengewehten Schnee verschwanden. Denn in der oberen Alpenregion, d. h. in der absoluten Höhe zwischen 5500 und 7000 Fuß über dem Meeresspiegel, nur in der subnivalen oder unteren Schneeregion zwischen 7000 und 8500 Fuß fällt der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht nur das Quantum des auf einmal gefallenen Schnees weit unbedeutender als im Gebirge ist, sondern wo auch steter Temperaturwechsel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder hinwegrollt.

Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinsinken vor Ermattung, allmähliches Schwinden der Besinnung und endliches Erstarren vor Kälte sind die Progressiv-Stadien des herbeischleichenden Todes. Jedes Jahr fordert seine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereignisse dieser Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße solcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von den vielen Beispielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.

Zm Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetransport in die Lombardei gebracht und befanden sich auf dem Heimwege. Alle waren kräftige, gesunde Männer, die daheim schon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe überwunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 11/4 Stunde südlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Canton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo sie einkehrten, warnte man sie dringend, ihren Weg fortzusetzen, weil ein Schneesturm im Anzuge und deshalb die Passage lebensgefährlich sei. Allein angefeuert durch starken Veltliner Wein und im Bewußtsein des Vollbesitzes ihrer ungeschwächten physischen Kräfte, gaben sie allen Vorstellungen kein Gehör und rüsteten zur verhängnißvollen Reise. Damals bestand die gegenwärtige Kunststraße noch nicht, und das jetzt oberhalb der Victor-Emanuels-Brücke am kleinen Moësola-See stehende sturmestrotzige, feste steinerne Berghaus auf der Uebergangshöhe existirte eben so wenig. Es war somit vom Dorfe Bernardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbrochener Marsch von 31/2 Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem durch die gefallene Schneemenge erschwerten Fortkommen mindestens fünf Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbesonnenheit der Fremden konnte ein anwesender Landmann aus dem Dorfe Hinterrhein nicht mit ansehen, und er, der sich selbst nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, schloß sich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindestens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in seiner ganzen Furchtbarkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Passes erreicht hatten. Anfangs unter leichtsinnigen Scherzen, dann mit ernstlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpften sie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, – allein vergebens. So sehr der wackere Rheinwäldler Alles aufbot, um die Unglücklichen zu retten, so sank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtsein resignirend, dem Tode in die Arme. Lange bestrebte sich der opferfähige Gebirgsbauer, mindestens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er nur zu bald, daß er selbst unterliegen müsse, wenn er seinen Vorsatz nicht aufgebe und den geringen Rest der ihm übrig gebliebenen Kräfte auf seine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend seinen Geburtsort, – aber mit gänzlich erfrorenen Händen und Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward zum Dank für seine Menschenfreundlichkeit ein Krüppel.

Ein anderer tragischer Fall ereignete sich auf der Gotthardsstraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italienische Post, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Andermatt nach Airolo überschreiten sollte, hatte, durch enorme Schneemassen aufgehalten, sich bedeutend verspätet. Mit Pferden und Schlitten die Straße zu passiren war unmöglich, und Conducteur Simen entschloß sich deshalb, die Postfelleisen mit den Briefschaften und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern. Unter diesen Trägern befand sich auch Joh. Jos. Regli, Steinhauer von Profession. Als die Karawane Urseren verließ, stürmte es zwar wild und warf Schneemassen in dichter Menge nieder; indessen die muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dürfen und drangen tapfer vorwärts. Als sie jedoch etwas über das zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schneesturm über die Lucendro-Alp mit solch vehementer Gewalt herein und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung verloren. Rundum war es vollendet finstere Nacht. Der Sturm peitschte wie mit Skorpionen-Geißeln die seiner Vernichtungs-Wuth preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten sie Stand und suchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen. Endlich, als sie ziemlich auf der Höhe des Passes in der Gegend von San Carlo beim sogen. „Wasserloch“ (Valeggia) angelangt waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Cameraden, obgleich selbst schwer bepackt, versuchten es dennoch, ihren Schicksalsgenossen durch den mehr als drei Fuß hohen weichen Schnee mit fortzuschleppen; aber auch sie verließ allmählich die Kraft und sie erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den sicher drohenden Tod, wenn sie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklassen würden. Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken, brachte ihn unter eine schützende Felsenwand und ließ sämmtliche Felleisen und Transportgegenstäude bei ihm zurück, um möglichst rasch das Hospiz zu erreichen und Hülfe von dort zu requiriren. Es war nur noch zehn Minuten entfernt, und doch brauchten die Männer fast eine und eine halbe Stunde, bis sie das rettende Asyl erreichten. Sofort brach der Director dieses Samariterhauses, Herr Lombardi, mit Hülfsmannschaft, Geräthen und Laternen auf, den Unglücklichen zu retten. Er kam zu spät. Regli, ganz überschneit, daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.



  1. Als Probe aus dem demnächst bei H. Costenoble erscheinenden Buche: „Berlepsch, die Alpen in Natur- und Lebensbildern“, circa 30 Bogen mit 16 Abbildungen von E. Rittmeyer, dem Illustrateur der Tschudi’schen Alpenwelt. Berlepsch lebt bekanntlich seit elf Jahren in der Schweiz und kennt Land, Berge und Leute wie sich selbst.