Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Löwen-Abenteuer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 664–665
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Kriegs-Erinnerungen.
Aus dem Tagebuche eines deutschen Officiers der Fremden-Legion in Algier.
II. Ein Löwen-Abenteuer.

Im Frühjahr 1857 befand ich mich mit einer meiner interimistischen Führung untergebenen Compagnie des zweiten Regiments der Fremden-Legion in einem Districte Algeriens, welcher noch am auffälligsten das frühere Gesammtaussehen dieses Landes beibehalten hat; eine um so mehr Wunder nehmende Erscheinung, als er von einer Hauptstraße – der von Oran nach Tlemcen führenden Chaussee – durchschnitten wird. Außer den Stationspunkten zum Wechseln der Pferde für die täglich mehrfach zwischen beiden Städten coursirenden Diligencen findet man kaum eine menschliche Wohnung auf der ganzen Ausdehnung der mindestens zwanzig Stunden langen Strecke, und doch ist die Gegend gut, das Klima gemäßigt, kein Wassermangel und Ueberfluß an Holz. Wer diesen Punkt Algeriens kennt, wird bald Auskunft geben können über den Mangel an Colonisation gerade da, wo das Land derselben alle Hülfsmittel und üppige Vegetation gewährt. Ein hoher und sehr verzweigter Gebirgszug. an dessen südlichem Abhange die Isser (Ouled Isser), ein reißendes und namentlich nach der Regenzeit höchst gefährliches Bergwasser, sich hinschlängelt, bildet den Mittelpunkt zwischen den zwei großen und – jede in anderer Weise – interessanten Städten Oran und Tlemcen. Die tiefen Schluchten, Felsenhöhlen und Thäler dieses Gebirges bergen, mit Ausnahme des Panthers, alle in Algerien heimischen Raubthiere, und namentlich deren König, den Löwen, in unglaublicher Menge. Trotz der häufigen, von Arabern wie von Franzosen angestellten Jagden, trotz aller Arten von Verfolgung, der die wilden Bestien fortwährend ausgesetzt sind, ist ihr Abnehmen kaum merklich, und der Schaden, den sie stiften, ist ungeheuer und schreckt vor jedem Colonisationsversuch zurück. Nur hin und wieder sieht man einen Stamm nomadisirender Araber (Beduinen), welche an einem guten Weideplatz ihr Zeltlager aufgeschlagen haben und die Nacht hindurch in dessen Nähe auf der Lauer liegen, um ihre zahlreichen Heerden vor Löwen und Hyänen zu sichern; auf verschiedenen Punkten der Straße liegen Truppendetachements vertheilt, deren schneeweiße, hohe Zelte aus weiter Ferne schon gegen den dunkeln Gebirgshintergrund sichtbar sind und deren Bestimmung es entweder ist, an der Chaussee die tausenden Reparaturen auszuführen, oder die für größere und schwierigere Erdarbeiten detachirten Strafgefangenen zu bewachen, wobei sie in beiden Fällen zugleich vorkommenden Falles zu strategischen Zwecken verwendet werden.

Meine Compagnie war in drei Posten getheilt, von denen ich den stärksten, ein Unterlieutenant den zweiten und ein Sergeant den dritten commandirte. Ich selbst lag mit 76 Mann und nahe an 100 Strafgefangenen an den malerischen Ufern der Isser, mein Unterlieutenant mit 25 Mann eine Stunde abwärts in der Richtung auf Tlemcen und der Sergeant mit nur 12 Mann in einer Entfernung von über zwei Stunden gegen Oran zu. Diese drei Detachements, sowie die Sträflinge, waren mit Ausbesserungen der Fahrstraße beschäftigt, welche, namentlich im Gebirge, in Folge der ungewöhnlich lange andauernden Regenzeit, erheblich gelitten hatte. Zugleich bildeten wir eine Art von Vorposten gegen die ganz nahe marokkanische Grenze, von welcher her nicht selten zahlreiche Banden von Raubgesindel Einfälle in die ihnen zunächst liegenden Theile der französischen Besitzungen machten und durch Mord, Brand und Plünderung dazu beitrugen, den ohnehin durch die Massen gefährlicher Raubthiere schon übel berüchtigten Landstrich in noch schlechteren Ruf zu bringen.

Meine Zeit war zwischen Beaufsichtigung meiner Mannschaft und dem Vergnügen der Jagd getheilt. Dieser letzteren gab ich mich um so eifriger hin, als dieselbe eine sehr reiche und ergiebige war, und ich in derselben an dem Kaïd der Beni-Djorfa einen vorzüglichen und unermüdlichen Partner gefunden hatte. Wie unter allen – civilisirten wie uncivilisirten – Nationen das aristokratische Element mehr oder weniger vertreten ist, so ist dies auch, und zwar ganz besonders, bei den Arabern der Fall. Sidi Mohamed-ben-Bechir ist ein arabischer Aristokrat vom reinsten Wasser. Der französischen Herrschaft seit ihrem Entstehen entschieden zugethan, Freund der Civilisation und des Fortschritts, und selbst früher Officier in einem der Spahi-Regimenter, haben sein vielfach bewiesener Muth, wo es galt, die Widersacher Frankreichs zu unterwerfen, wie seine unwandelbare Treue zum gegenwärtigen Gouvernement ihm das Officierkreuz der Ehrenlegion und den höchst wichtigen und einflußreichen Posten eines Kaïd, höchsten Chefs, seines Stammes eingetragen. Zudem ist Mohamed-ben-Bechir ein enorm reicher und ein sehr liebenswürdiger Mann, spricht fast geläufig französisch und ist ein passionirter und erfahrener Jäger, der mit derselben Kaltblütigkeit sich einem Löwen entgegenstellt, wie er die Spur eines angeschossenen Wildschweins verfolgt oder einen Hasen schießt. Sein Stamm, welcher die nach Osten zu von meinem Lager gelegenen fruchtbaren und romantischen Thäler der Isser, in den letzten Ausläufen des sogenannten kleinen Atlas bewohnt, hat seit ungefähr zehn Jahren feste Wohnsitze genommen und das nomadisirende Leben aufgegeben; Ackerbau und Viehzucht bilden seinen Reichthum. Inmitten seines Volkes, in einer reizenden Gegend, hat der Kaïd sich eine wahrhaft fürstliche Wohnung gebaut, welche in anziehendem Wechsel orientalische Pracht mit europäischem Luxus und Comfort vereinigt und inmitten ausgedehnter, von tropischer Vegetation strotzender Gärten gelegen ist. Die Entfernung derselben von meinem Lager mochte kaum zwei Stunden betragen, und so kam es, daß ich häufig von der Einladung des alten Kaïd Gebrauch machte, um bei herrlichem Mocca und türkischem Knaster einige Stunden mit ihm zu verplaudern. Da saßen wir dann auf den schwellenden Polstern, unter der halb mit Strohmatten verhängten Veranda seiner Residenz, während junge Negerknaben und weiße Beduinenmädchen uns die kleinen aromatisch-duftenden Kaffeetassen kredenzten, uns die Pfeifen füllten und anzündeten und von Zeit zu Zeit durch Besprengen der Strohmatten eine angenehme und wohlthuende Kühle unterhielten.

Es war an einem Mittwoch, im Mai 1857, als ich mich, einer ausdrücklichen Einladung meines arabischen Freundes Folge leistend, zu Pferde nach seiner Wohnung auf den Weg machte. Mein Unterlieutenant begleitete mich, und gefolgt waren wir von vier Spahis, welche zu einem kleinen, zum Ordonnanzdienst meinem Commando beigegebenen Detachement gehörten. Gegen 2 Uhr Nachmittags trafen wir beim Kaïd ein, wo wir zahlreiche Versammlung fanden; die Vornehmsten seines Stammes und einige Chefs benachbarter Tribü’s waren auf seine Einladung erschienen. Es handelte sich darum, Ort und Zeit für eine große Löwenjagd festzusetzen und dazu die möglichst größte Anzahl von Theilnehmern zu gewinnen.

In den der Wohnung des Kaïd nahe gelegenen Gebirgsabhängen hatten sich seit Kurzem zwei bis drei Löwenfamilien niedergelassen, jedenfalls herbeigelockt durch die zahlreichen Schaf- und Rindviehheerden der Beni-Djorfa, unter denen die nächtlichen Räuber schon mehrfache Verwüstungen angerichtet hatten. Eine entscheidende Jagd, ein wahrer Vertilgungskrieg, ward beschlossen und verabredet, und es verstand sich von selbst, daß mein Camerad und ich in erster Linie unsere eifrige Theilnahme zusagten. Ich versprach außerdem, eine Aufforderung an alle mir bekannten Officiere der Garnison von Tlemcen zu schicken, da ich im Voraus wußte, daß derartige Einladungen stets mit großer Freude angenommen wurden. Die Jagd war auf den nächstfolgenden Montag angesetzt und ein zwischen der Wohnung des Kaïd und meinem Lager belegener Waldpunkt als Sammelplatz ausersehen. In der Nähe desselben sollte sich nach den Berichten arabischer Kundschafter die Höhle einer Löwenfamilie befinden, bestehend aus dem Löwen, der Löwin und zwei Jungen, welche nicht über einen Monat alt sein konnten.

Nachdem alle nöthigen Verabredungen getroffen und ein Theil der Eingeborenen den Heimweg bereits angetreten hatte, machte ich mit dem Kaïd und meinem Unterlieutenant einen Spaziergang in den Gärten, welche die Wohnung einschließen. Wir waren nach etwa halbstündigem Promeniren auf einem etwas erhöhten Punkte angelangt und weideten unsere Augen an dem herrlichen Panorama, welches der Blick auf die vor uns liegende, in allem Glanze des Frühlings prangende Ebene gewährte, als plötzlich ein markdurchdringender Angstschrei aus nicht zu großer Entfernung unser Ohr berührte. Im selben Augenblick sahen wir etwa zwanzig arabische Frauen und Mädchen in wilder Flucht und mit allen Gebehrden [665] des Entsetzens in der Richtung auf den Punkt, wo wir standen, heraneilen. Sobald sie unser ansichtig geworden, ertönten aus Aller Munde die Worte: „Eine Löwin hat Benika geraubt!“ – Benika war eine von den Töchtern Mohamed-ben-Bechir’s. Ich hatte sie nie gesehen, jedoch viel von ihrer außerordentlichen Schönheit gehört. Benika zählte 16 Jahre und war der Liebling ihres Vaters. Wie sie dies häufig that, hatte sie mit ihren drei Schwestern die zur Quelle allabendlich gehenden Frauen begleitet und war dort – wie die in wilder Hast Fliehenden uns berichtet – von einer riesigen Löwin überfallen worden.

Die Quelle war etwa 500 Schritte von der Gartenmauer entlegen, von der uns nur ein Sprung trennte. Das arme Kind jetzt noch lebend den Klauen des Raubthieres zu entreißen, war allerdings eine chimärische Hoffnung; allein jede Rücksicht, jede Ueberlegung schwanden bei der fürchterlichen Nachricht; es galt todt oder lebendig den Liebling meines Freundes dem Räuber zu entreißen. Mein Camerad und ich hatten die Absicht gehabt, nach Durchstreifung der Gärten an dem dem Wohnhause entgegengesetzten Ausgangspunkte von unserm Wirthe Abschied zu nehmen und den Heimweg anzutreten. An diesem Punkte befanden wir uns; unsere Spahi’s erwarteten uns mit den Pferden, im Nu saßen wir auf, das Gewehr in der Hand, und im rasenden Galopp ging’s der Quelle zu. Schon waren wir Angesichts derselben, als ein Schuß krachte, und im selben Augenblick sahen wir eine ungeheure Löwin auf dem neben der Quelle gelegenen Gebüsch in furchtbaren Sätzen auf uns zuspringen. Dunkles Blut schoß in reichem Strom aus der linken Seite des wüthenden Thieres. Nur ein geringer Zwischenraum lag noch zwischen uns und ihm. Ich parirte mein Pferd, zielte und gab Feuer. Die Kugel drang der Löwin in die Brust, aber im nämlichen Moment fühlte ich die Krallen des Unthiers auf meinem Schenkel. In rasender Wuth hatte es in einem letzten, mächtigen Sprunge mein Pferd erreicht und mit allen vier Tatzen sich an dasselbe angeklammert. Der fürchterliche Schmerz, den ich empfand, ließ mich die Besinnung nicht verlieren, ich hatte meine beiden Arme frei, da ich mein abgefeuertes Gewehr zur Erde geworfen. Mit Blitzesschnelle riß ich den Säbel aus der Scheide und bohrte ihn mit Aufbietung aller Kräfte der Löwin in die Brust. Noch einmal senkte sie ihre Krallen tief in meinen schon schlimm zugerichteten Schenkel und in Brust und Hals meines armen Pferdes und fiel dann, noch von Schüssen meiner Begleiter durchbohrt, neben mir zusammen. Was von diesem Augenblicke an geschah, war für mich nicht mehr da; der fürchterliche Schmerz und der bedeutende Blutverlust hatten mich besinnungslos gemacht. Als ich zu mir selbst kam, lag ich auf weichen Polstern im Hause des Kaïd; mehrere junge Weiber waren um mich beschäftigt, und ein alter Araber mit greisem Barte wusch und verband meine Wunden.

Meine erste Frage war nach des Kaïd’s Tochter. Sie war gerettet. Man hatte sie besinnungslos neben der Quelle gefunden, an Schulter und Hüfte von den Klauen des Raubthiers verwundet, welches – im Begriff mit seiner Beute davon zu eilen – dieselbe fahren lassen mußte, um sich gegen einen plötzlich erscheinenden Angreifer zu vertheidigen. Dieser Angreifer war einer der Brüder Benika’s, welcher, von der Jagd heimkehrend, durch Zufall sich in der Nähe befand und, bei dem wilden, entsetzten Geschrei der Weiber ein Unglück ahnend, der Erste war, der sein Gewehr auf die Bestie abgefeuert. Die Löwin, ihn nicht sogleich entdeckend und uns im gleichen Augenblick auf dem Kampfplatze erscheinen sehend, hatte sich auf mich, als den Vordersten, mit durch die erhaltene Schußwunde noch erhöhter Wuth gestürzt. Abdallah-ben-Bechir war der Erste, der seiner Schwester zu Hülfe eilte, und auf seinen Schultern gelangte das unglückliche Mädchen in’s Vaterhaus.

Drei Wochen hindurch fesselte mich dieser Vorfall an das Haus des braven Mohamed-ben-Bechir. Der durch meinen Unterlieutenant von der Katastrophe in Kenntniß gesetzte General, welcher in Tlemcen commandirte, kam am folgenden Tage in Begleitung zweier Militärärzte und vieler Officiere und Freunde von mir, mich zu besuchen. Die Aerzte erklärten die Wunden Benika’s für leicht, da dieselben nur durch die Bemühungen der Löwin entstanden, den Körper des Mädchens in eine solche Lage zu bringen, daß sie ihn mit den Zähnen leicht erfassen und fortschleppen konnte. Die Wunden, welche mir das auf’s Höchste gereizte Thier beigebracht hatte, waren bei weitem bedenklicher und erheischten, sobald ich den Transport ertragen konnte, meine Uebersiedelung in das Militär-Hospital nach Tlemcen, welches ich erst Ende September als völlig geheilt verlassen konnte.

Nachdem ich zu meinem Detachement zurückgekehrt, welches inzwischen seinen Lagerplatz verlassen und in gleicher, jedoch entgegensetzter Entfernung von der Wohnung des Kaïd Mohamed-ben-Bechir Position genommen hatte, galt natürlich diesem Letzteren mein erster Besuch. Mit aufrichtiger Freude empfing mich der alte Krieger und stellte mir sogleich seine ebenfalls vollständig genesene Benika vor. Dieses in der That bildschöne Kind Arabiens machte einen merklichen Eindruck auf mich. Der Alte merkte es wohl; mit betrübter Miene und kopfschüttelnd sagte er halblaut: „Schade, daß Du nicht rechtgläubig bist!“ – Und schnell führte er seine Tochter in die inneren Zimmer zurück. War mir doch durch den bloßen Anblick des lieblichen Mädchens schon eine unerhörte Gunst geworden.

Der Kaïd hatte während meines Schmerzenslagers die am Tage des oben erzählten Vorfalls beschlossene Jagd zur Ausführung gebracht. Es war gelungen, den Löwen zu erlegen und seine beiden Jungen lebendig zu bekommen. Ich sah die letzteren in einem wohlverwahrten Hofraum frei herumlaufen; man hatte ihnen einen ebenfalls eingefangenen jungen Schakal zum Gesellschafter gegeben, mit dem sie in größter Gemüthlichkeit spielten.

Kurz vor Beginn der Regenzeit verließ ich mit meiner Compagnie diese Gegend, um in unser Stabsquartier, Sidi-bel-Abbes, zurückzukehren. Ich habe seitdem meinen braven Sidi-Mohamed-ben-Bechir nicht mehr gesehen.