Malerische Wanderungen durch Kurland/Edwahlen

Alschwangen Malerische Wanderungen durch Kurland
von Ulrich von Schlippenbach
Das Privatgut Schleck und die Stadt Pilten mit ihren Umgebungen
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Edwahlen.

Nur eine Meile von Alschwangen liegt die alte im 1275sten Jahre von dem Ordensmeister Walter von Nordeck erbaute Burg Edwahlen auf einem Hügel, der fast ganz von andern Anhöhen eingeschlossen ist. Einige von diesen haben die Form von Schanzen, und scheinen als solche benutzt worden zu seyn, andere, mit schrägerem Abhange, sind mit Feldern und Bauerwohnungen bedeckt oder tragen kleine Wälder auf ihren Spitzen, die bis an die zwischen den einzelnen Höfen liegenden Klüfte hinunterreichen. Einen Theil dieser Anhöhen durchströmt in einem tieferen Thale ein ziemlich breiter Bach, nachdem er erst die Schloßgraben und den großen Mühlenteich bey Edwahlen mit seinem Wasser gefüllt. Die Aussicht reicht hier nicht sehr weit, wird aber durch Gegenstände, [144] die ein schönes Naturgemälde bilden, beschränkt. Keines der alten Schlösser Kurlands, außer Dondangen, hat sich so vollständig als dieses mit allen seinen Umgebungen in dem ganzen Geiste der Vorzeit erhalten. Wenn man von der Brücke über den Schloßgraben in den Schloßplatz tritt, so glaubt man sich wirklich in längst entschwundene Jahrhunderte versetzt. Das Schloß selbst in seinem regelmäßigen Quadrat mit Thürmen an den Ecken ist noch ganz bewohnt, und nur ein paar neue Zimmer sind dem einen Flügel desselben angebaut worden. Ein hohes und breites Thor führt in den rund umher von einer Gallerie eingefaßten Hofraum, wo man auf einer Treppe in die im zweyten Stocke sich befindenden Wohnzimmer gelangt. Das Schloß ist nicht sehr groß, aber ehemals fest genug gewesen. Edwahlen ist ein Stammhaus der alten Familie von Behr, und der Senior dieser Familie, ein alter ehrwürdiger Greis von bald 80 Jahren, lebt hier in der Burg seiner Väter und erinnert selbst an den treuen redlichen Sinn der Vorwelt. Geliebt von seinen [145] Bauern, ein Wohlthäter vieler Armen, die in ihm ihre einzige Unterstützung finden, ein sorgsamer zärtlicher Vater und ein treuer Freund, wird dieser Greis von allen, die ihn kennen, innigst verehrt und geliebt. Sein Alter und seine Kränklichkeit haben selbst Gastfreundschaft, eine dem Kurländer noch aus alter Zeit angestammte Tugend, nicht verdrängt. Täglich sind Fremde im Schlosse, und trotz der körperlichen Leiden des ehrwürdigen Wirthes, ist sein Geist noch immer heiter genug, um in dem Umgange seiner Freunde Unterhaltung zu finden und zu gewähren[1]. Das treue Bild eines solchen ehrwürdigen Mannes giebt dem Gemälde der Vorwelt, das sich hier allenthalben darstellt, eine Lebendigkeit, die es vollendet.

Eine hohe Brücke führt über den Schloßgraben zum Garten, wo sich ein neuerbautes Gartenhaus befindet, das geräumig genug ist, um einer zahlreichen Familie zur Wohnung zu dienen. Der Garten ist groß, voll fruchtbarer Obstbäume und gut unterhalten, doch [146] ganz im alten holländischen Geschmack mit vielen Blumenbeeten, wo selbst manche für dieses nördliche Klima seltene Pflanze gedeiht. Die vielen langen mit einem Blättergewölbe bedeckten Lindengänge, die um den Garten herumgehen, und bey dem hellsten und brennendsten Sonnenschein dunkle kühle Schatten gewähren; machen hier den Spaziergang sehr angenehm. Solche Schattengänge, deren alte Form mit dem frischen Grün junger Blätter bekleidet ist, schienen mir hier im Angesicht der Ritterburg ein sprechendes Bild der Gegenwart zu seyn; wie sie sich allenthalben mit lebhaften frischen Farben um die Denkmäler der Vorzeit rankte. Einen bejahrten Gärtner, der in dem Garten wohnt, fand ich von seiner Arbeit ruhend mit der Laute in der Hand. Ihre Akkorde hallten mir wie Töne aus den Tagen der Vergangenheit. Ein Gewitter zog mit glühenden Blitzen aus der Ferne heran, und seine voreilende Verkünderin, eine röthlich flammende Wolke stand über dem Gipfel eines hohen Eichenbaumes, der am schroffen Abhange des Berges nach dem Teiche zu, [147] die starken Wurzeln wie Arme entblößt hatte, mit denen er die Muttererde dankbar umfaßte, die ihm, dem Greisenstamme — es ist die größte Eiche, die ich bis jezt in Kurland gesehen, und hat gegen 4 Faden oder 24 Fuß im Umfange — trotz dem, daß ihn die Zeit halb ausgehölt, noch immer Kraft genug gab, um ein hohes grünendes Haupt hoch über alle andere Bäume zu erheben. Näher kam das Gewitter und vor ihm her wehte der Sturm über das Blätterdach der Laube, unter der ich stand, und wiegte auf dem Spiegel des Teiches die einzelnen Blumen der Nymphäen, die mit ihren breiten Blättern hin und wieder auf dem Wasser schwammen. Die hallenden Töne der Laute schienen mir hier eine Sprache zu haben, die meine von dem erhabenen Schauspiel der Natur tiefbewegte Seele in Worten nachzuhallen versuchte.

Über Eichenzweige schwebet
Röthlich glühend Wolkensaum;
Wo sich Phantasie erhebet
zu der Vorzeit lichtem Traum.

[148]

Da, gewiegt auf Äthergluten,
Von der Wolke Flammenrand,
Blickt sie in die Zeiten-Fluten,
In ein längst entschwundnes Land.

Deckt’s der Nebel dunkle Schleyer —
Sie zerreißt der Blitze Strahl; —
Heller wird die Aussicht, freyer
In das unbekannte Thal.

Und der Vorzeit Helden wallen
Aus der Nebel grauem Flor,
Aus den schwarzen Wolkenhallen
Groß und lichtumstrahlt empor.

Wo des Erdenkörpers Hülle
Ihren reinen Geist umwand,
Ziehen sie in heilger Stille
Über das geliebte Land.

Doch Gewitterschläge rufen
Sie in’s dunkle Haus zurück;
Schaudernd, hin zu seinen Stufen
Folgt bewegt des Sehers Blick.

In der Edwahlschen Kirche, einem recht hübschen Gebäude in gothischer Form und sehr gut unterhalten, sind mehrere Denkmäler aufbewahrt. Unter diesen fielen mir ein paar an den Wänden aufgehangene Tafeln, die mit Gemälden und Schnitzwerk verziert waren, am meisten auf. Die eine Tafel stellt ein auf Nebelwolken knieendes [149] Kind vor, das mit einem Perlenkranz geschmückt, von einer Menge von Engeln mit Myrthenkronen geziert empor gehoben wird, unten steht folgende Inschrift, wo, wie nach Art der Chronodistichen eine Zeit, hier der Name durch Buchstaben bezeichnet wird.

Auf die duNkle MoNdes KlAge
MARterlos GAnz klaRE TAge
LOblich SchöNE PeRle trage.

Der Leser wird glauben, daß ich diese Inschrift aus einem neuen Musenalmanach entlehnt habe und als Beyspiel eines schönen poetischen Produkts anführen wollen. Ich kann aber ehrlich versichern, daß sie sich mit der Jahreszahl 1686 hier an der Kirchenwand befindet. Perlen bedeuten Thränen, sagt Emilia Galotti. Hier mögen sie wirklich Elternthränen bedeuten, und sollten diese nicht der schönste Schmuck für eine bessere Welt seyn? wo, wie bey den Feengeschenken, sich Staub und Späne in Gold und Edelsteine verwandeln. Eine zweyte Tafel, die ein verwelkter Blumenkranz, von Spinngewebe umflort, mit passender Deutung [150] schmückt, enthält das Gemälde eines kleinen Mädchens, das einen Rosenkranz fallen läßt, und nach einer aus röthlichen Wolken herabgereichten Hand faßt, mit der Unterschrift:

Du welker Blumenkranz fahr hin,
Die Lebenskron ist mein Gewinn.

Dieses Bild, hier vor 106 Jahren aufgestellt, hat gewiß etwas schr rührendes; die Allegorie ist so natürlich, und wenn man die Spinngewebe um den verwelkten Blumenkranz, der an diesem Denkmale elterlicher Liebe herabhängt, betrachtet, so fällt das Gewebe der Zeit so leicht ein, das nun schon längst die klagenden Eltern zugleich mit ihrem geliebten Kinde im dunklen Grabe verhüllt. Auch ein Sächsischer Trompeter hat hier sein Andenken erhalten wollen, und zugleich das eines Schwedischen Collegen mit bewahrt. Ersterer bestimmte, als er hier starb, daß seine silberne Trompete, sein Huth und eine Art Schärpe mit Quasten in der Kirche aufgehängt werden sollten; doch während der Anwesenheit der Schwedischen Truppen in Kurland, nahm ihm ein Kunstbruder [151] die silberne Trompete und hing an deren Stelle seine eigene von Messing hin; er machte es auf diese Weise, wie mancher verbessernde Rezensent, und knüpfte sein Andenken an ein fremdes edleres und gehaltvolleres. Vor mehr als 100 Jahren war's in Kurland noch Sitte, daß bey Beerdigungen wohlhabender und vornehmer Personen verschiedene Fahnen, mehrentheils durch geharnischte Ritter dem Leichenzuge vorgetragen wurden. Hinter der Trauerfahne, auf die das Bild des Verstorbenen gemahlt war, folgten die Freudenfahnen mit allegorischen Bildern der Thaten des Verstorbenen ausgeschmückt, so, als hätten die guten Handlungen desselben ein frohes Gefolge bis an das Grab gebildet. Nach der Beerdigung wurden die Fahnen in den Kirchen aufbewahrt. Auch hier hängen einige dergleichen, die bey der Beysetzung des Ureltervaters des jetzigen Besitzers von Edwahlen gebraucht worden. Diese alte Sitte ist schön, und ich bedaure, daß sie abgekommen ist, schon wegen des schönen Bildes das sie darstellt; gute edle Handlungen [152] bilden ein Grabgefolge unvergeßlicher Freuden, die ihre Paniere auch auf das Grabmal der entschlafenen Redlichen pflanzen und sie vor den Augen der Nachwelt sich frey entfalten und wehen lassen. Solche Freudenfahnen sind glänzende Eroberungen, im Kampfe des Lebens, die erst der Tod mit seiner heiligen Weihe gesegnet, den Nachkommen übergiebt, damit sie dem Dienste der Tugend gewonnen, diese ihre Fahnen nie verlassen und ähnliche erringen mögen. Noch bemerkte ich die Aufschrift bey der Kanzel, die dem Prediger einen Denkspruch beständig vor Augen hält:

„Rufe getrost, schone nicht, erhebe deine Stimme[WS 1] wie eine Posaune und verkünde meinem Volke ihr Übertreten.“

Ich meine aber doch, daß dieser Zuruf von manchem Prediger zu sehr à la lettre genommen wird, der nur zu treu die Posaune nachahmt, seine Stimme zu wenig schont und der dadurch außer dem Verkünden der Übertretungen, auch die Strafe dafür dem Volke mit in den Kauf giebt, und [153] selbst das Wiederspiel anderer Prediger ist, die, wie Hupel erzählt[2], die Dudelsackbläser verfolgen, ja sogar excommuniciren, oder doch am Sonntage auf keinen Fall leiden wollen, was ich jedoch bey Gelegenheit des Kanzelspruchs angeführt, zur Vermeidung jeder Mißdeutung, hier auf keine Localität bezogen haben will, da ich den Prediger zu Edwahlen, der ein sehr rechtschaffener Greis seyn soll, gar nicht kenne.

Das Gewitter hatte die Luft abgekühlt, und auf einem geräumigen Bote umfuhr ich einen großen Theil des Schlosses, das sich prächtig mit seinen am Abhange des Berges stehenden hohen Ulmen in den Fluten spiegelte, und an dessen hohen Mauer und Thürmen jeder laute Ruf wiederhallte. Mitten in dem großen Teiche liegt auf einer Insel ein einsames Wasserhäuschen, zwey Stock hoch; in jedem ist ein geräumiges Zimmer. Hier bey einer guten Musik, wo die Aussicht auf das Schloß, die Mühle und Kirche vortreflich ist, müßte man in froher Gesellschaft [154] einen herrlichen Abend verleben können. So dachte ich und siehe! da standen sechs wohlgekleidete Musiker mit Flöten, Hörnern und Clarinetten hinter einer Gallerie, die das Zimmer abtheilte. Ach! sie waren nur gemalte, und ich dachte, daß sie die Harmonie der Musik im schweigenden Bilde so darstellten, wie es mir nur gelingen würde, die Harmonie der Naturschönheit, die ich erblickt hatte, dem Leser mit schwachen Worten zu beschreiben.



  1. Dieser redliche Greis starb im November 1807.
  2. Nordische Miszellen 4. Stück. S. 294.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Srimme; vergl. Druckfehler.