Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Philosophie“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 12 (1888), Seite 10161022
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Philosophie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 12, Seite 1016–1022. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Philosophie (Version vom 07.02.2022)

[1016] Philosophie (griech.). Dies Wort hat so viele Auslegungen erfahren, daß es schwer fällt, für alles, was unter diesem Namen auftritt, gemeinsame Züge aufzufinden. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß damit die Frucht des durch reine Liebe zur Sache angeregten, bis zu den äußersten Grenzen des Erreichbaren fortgesetzten Nachdenkens über die wichtigsten, das Sein, den Ursprung, Zweck und Wert der Dinge betreffenden Probleme sowie des durch reine Liebe zum Guten belebten und in allen wie immer gearteten Lagen des Lebens festgehaltenen sittlichen Wollens verstanden wird, daher die Philosophen vorzugsweise „Denker“ und „Weise“ genannt werden. Die P. nimmt daher ihrer „Idee“ (allerdings nicht immer ihrer Verwirklichung) nach den ersten Rang unter den menschlichen Bestrebungen ein, insofern in derselben das (theoretische) Ideal eines vollkommenen Wissens sowie das (praktische) Ideal eines vollkommenen Betragens verwirklicht erscheint. Im Bewußtsein der ihrer Verwirklichung entgegenstehenden Schwierigkeiten wird erzählt, daß Pythagoras auf die Bezeichnung der „Weisheit“ (Sophia) für die P. verzichtet und mit der bescheidenern der „Liebe zur Weisheit“ (Philo-Sophia) sich begnügt habe. Auch diese erscheint noch [1017] zu weit, wenn man bedenkt, daß mit dem vollkommensten Wissen (theoretische Weisheit) das vollkommenste Betragen (praktische Weisheit) nicht immer (wie es z. B. bei Sokrates wirklich der Fall war) notwendig verbunden sein muß. Die neuere Zeit insbesondere hat sich gewöhnt, bei dem Namen P. sich an die erstere Bedeutung zu halten. Als Liebe zum Wissen umfaßt die P. (im Gegensatz zur einseitig auf das Wissen von der Natur, vom Geist etc. gerichteten Natur-, Geistes- etc. Forschung) alles Wissen, im Gegensatz zu Scheinwissen und Afterweisheit (Sophistik) nur echtes Wissen. Infolge des erstern Umstandes macht sie nicht nur alles von andern Wissenschaften „Gewußte“, sondern auch das von keiner andern Gewußte, das „Wissen“, zum Gegenstand; infolge des letztern stellt sie nicht nur das Ideal echten Wissens und ebensolcher Wissenschaft auf, sondern gestaltet sich selbst diesem Ideal gemäß. Als alles umfassendes Wissen ist die P. Universal-, als dem Ideal des Wissens entsprechendes Wissen zugleich Normalwissenschaft. Da nun das Wissensall nur eins, das Wissensideal aber ein mannigfach verschiedenes ist, so kann es in ersterer Hinsicht nur eine P., in letzterer dagegen mancherlei Philosophien geben. Die übliche Unterscheidung zwischen Vernunft- (rationalem) und Erfahrungs- (empirischem) Wissen wirkt daher zurück auf den Charakter der beiden entsprechenden Philosophien. Wird das rationale Wissen als echtes Wissen angesehen, so entsteht eine rationalistische, wird das Erfahrungswissen als Wissen betrachtet, eine empiristische P. (Rationalismus, Empirismus). Es kann aber auch eine P. geben, die beide Gattungen des Wissens als Wissen gelten läßt und daher einen gemischten Charakter trägt. Zu den ungemischten Philosophien gehört der reine (positive) Rationalismus, der die Erfahrung, und der reine Empirismus, der die Vernunft ausschließt. Jener ist Apriorismus, weil er das vor aller Erfahrung (a priori) vorhandene (angeborne) Wissen, Idealismus, weil er das als Idee (idea) in der Vernunft enthaltene Wissen für Wissen gelten läßt. Dieser, welcher sowohl (sensualistisch) durch den äußern als auch (intuitiv) durch sogen. innern Sinn Erfahrenes als Wissen gelten läßt, ist Aposteriorismus, weil er (nach der Geburt, a posteriori) erworbenes, Realismus, weil er (von außen oder von innen) verursachtes (res) Wissen für Wissen erklärt. Der reine Sensualismus (Positivismus, sinnliche Anschauungsphilosophie) schließt die innere, die reine Spekulation (Mystizismus, übersinnliche Anschauungsphilosophie) schließt die äußere Erfahrung aus. Die gemischte (rational-empirische) P. erkennt sowohl rationales als empirisches Wissen als Wissen an, sucht aber zwischen beiden Übereinstimmung herzustellen, indem entweder die Vernunft durch die Erfahrung bestätigt (empirischer Rationalismus) oder die Erfahrung durch die Vernunft (von den ihr anhaftenden Mängeln: Widersprüche, Lücken etc.) gereinigt wird (rationalisierte Empirie). Die Gattungen können durch nähere Bestimmungen weitere Arten der P. bilden, woraus die bekannte Mannigfaltigkeit der historisch aufgetretenen Philosophien sich erklärt. Als universale Wissenschaft ist die P. Encyklopädie, als normale Wissenschaft Musterbild der besondern Wissenschaften. In jener Eigenschaft vertritt, in dieser kritisiert sie die übrigen Wissenschaften. Infolge der erstern muß jede wirkliche Wissenschaft im System der P. ihren gebührenden Platz (auf dem globus intellectualis [Bacon] ihren geographischen Ort) finden. Infolge der letztern muß jede Wissenschaft, wenn sie den Namen verdienen will, den Forderungen der P., welche das Wissenschaftsideal aufstellt, sich anbequemen. In beiden Hinsichten ist P. die „Wissenschaft der Wissenschaften“. Die P. kritisiert aber nicht bloß die nicht in ihren Umfang gehörigen (nichtphilosophischen) so gut wie die ihren eignen Umfang ausmachenden (philosophischen) Wissenschaften, sondern auch sich selbst als „Liebe zum Wissen“. Dieselbe ist ursprünglich (wie jede Liebe) blinder Drang, der das Gelingen (die Erreichung des Wissens) stillschweigend voraussetzt. Wie die Liebe durch Gewahrwerden der „Täuschung“, wird die P. durch Gewahrwerden des „Irrtums“ aus ihrem Wahn geweckt („sehend“ gemacht), das Vertrauen in Mißtrauen, der Glaube in Zweifel an der Möglichkeit des Wissens (transcendentale Skepsis) verwandelt. Vor demselben herrscht Ruhe, während desselben Unruhe, welche entweder nach Erkenntnis der Unmöglichkeit des Wissens zur Resignation (Verzichtleistung auf Wissen) oder nach Erkenntnis der (unbeschränkten oder beschränkten) Möglichkeit zur Affirmation (Befestigung desselben) führt. Die erste dieser Stufen, welche (wie obige Gattungen nebeneinander) nacheinander in der Geschichte der (einzelnen wie der ganzen) P. auftreten, ist naiver Dogmatismus; die zweite, durch die (transcendentale) Skepsis eingeleitete (Sokrates ist durch die Sophisten, Kant durch Hume aus dem „dogmatischen Schlummer“ geweckt worden) Skeptizismus oder (nach Kant) Kritizismus; die dritte, je nach ihrem das Wissen total verneinenden oder (total oder teilweise) bejahenden Charakter, entweder Nihilismus oder kritischer (transcendentaler) Dogmatismus. Jene stellt (gleichsam) das Kindes-, die zweite das Jugend- (Übergangs-), die dritte das (arm oder reich gewordene) Reifealter der P. dar. Da die obere Stufe die untere, der Skeptizismus den (naiven) Dogmatismus, die oberste die obere negiert, während die beiden auf dieser letztern befindlichen Philosophien sich untereinander ausschließen, so geht die Entwickelung der P. durch einen beständigen Streit nicht nur der einzelnen Stufen derselben P., sondern durch ebensolchen der einzelnen Gattungen der P. untereinander und der P. überhaupt mit den übrigen Wissenschaften vor sich. Nicht nur der naive Dogmatismus wird durch den Skeptizismus negiert und letzterer sowohl durch den Nihilismus als durch den diesen ausschließenden kritischen Dogmatismus beseitigt, sondern auch die ungemischte P. schließt die gemischte, der reine Rationalismus den reinen Empirismus, der Positivismus den Mystizismus und die wissenschaftliche P. die unphilosophische Wissenschaft aus; die letztere hört eben dort auf, wo die P. anfängt. Während die Aufgabe der (besondern) Wissenschaften darin besteht, sich von den Gegenständen Begriffe zu machen, macht die P. als kritische Normalwissenschaft sich deren Begriffe zum Gegenstand. Ihr Unterschied von der (unkritischen) Wissenschaft liegt nicht darin, daß sie andres, sondern darin, daß sie anders weiß. Dieselbe gleicht einem Läuterungsfeuer, durch das alle (vermeintliche) Wissenschaft hindurchgehen muß, um das edle Metall von der Schlacke zu sondern. Darum hat es zwar eine P. erst gegeben, als Wissenschaft vorhanden war; aber solange es diese gibt, wird es auch P. geben. Weder die Katastrophe, welche die P. am Ausgang des Altertums, als sie durch das Christentum, noch diejenige, welche dieselbe in unsern Tagen traf, als sie durch die Beschäftigung mit den positiven Wissenschaften verdrängt wurde, hat die P. erstickt; vielmehr ist aus der erstern eine „christliche“, aus der letztern die „positive“ P. neu hervorgegangen. Dieselbe [1018] hat durch die Berührung dort mit dem „Himmel“, hier mit der „Erde“ frische Kräfte empfangen. Weder ihr zeitweiliges Unterliegen noch ihre Vielgestaltigkeit darf an der P. irre machen. Jenes geht aus ihrem Wesen, welches nicht fertiges Wissen, sondern Streben nach Wissen ist (die Wahrheit ist, nach Lessing, „für Gott allein“), diese geht aus der Vielgestaltigkeit des Wissens selbst hervor. Die (oben genannten) Gattungen der P. verhalten sich zu dieser wie die verschiedenen auf der Erde herrschenden Religionen zur Religion. Die (oben genannten) Stufen der P. stellen das Verhältnis der aufeinander folgenden Konfessionen derselben Religion, z. B. der christlichen, zu dieser dar. In diesem Sinn läßt sich sagen, daß, wenn auch keine der Philosophien die ganze P., das Ganze der Philosophien eine P. sei.

Die Einteilung der P. geht aus ihrem Begriff hervor. Da sie Universalwissenschaft ist, muß sie nicht nur alles „Gewußte“ (Reales und Ideales), sondern das „Wissen“ selbst umfassen. Da sie Normalwissenschaft ist, kann sie sowohl vom „Gewußten“ (Realem wie Idealem) als vom Wissen nur normales, d. h. geläutertes, Wissen zulassen. Jenem zufolge zerfällt die P., wie die Wissenschaft überhaupt, in Wissenslehre (Noetik, Logik, Dialektik), Seinslehre (Ontologie, Physik), Ideallehre (Lehre vom praktischen Ideal: Ethik; Lehre vom künstlerischen Ideal: Ästhetik). Diesem zufolge umfaßt sie normale (nach ihrem eignen Wissensideal berichtigte) Wissens-, Seins- und Ideallehre. So ist z. B. die Seinslehre des reinen Rationalismus nur rational (Metaphysik), die des Positivismus nur sensual (empirische Physik); die Ideallehre des Rationalismus apriorisch (das Ideal aus der Vernunft), die des Empirismus aposteriorisch (das Ideal aus der Erfahrung geschöpft); der (theoretische) Nihilismus, der an der Erkennbarkeit des Seins verzweifelt, hat keine Seinslehre; der (ästhetische und praktische) Nihilismus, der an der Erkennbarkeit eines praktischen oder ästhetischen Ideals verzweifelt, hat keine Ideallehre; der logische Nihilismus, der überhaupt kein Wissen für möglich hält, hat auch keine Einteilung nötig. Im allgemeinen ist man übereingekommen, drei Wissenschaften, die rationale oder empirische (induktive) Wissenslehre, die rationale oder rationalisierte empirische Seinslehre und die rationale Ideallehre, als philosophische auszuzeichnen und mit den hergebrachten Namen Logik, Metaphysik und (als Lehre vom sittlichen Ideal) Ethik (Sittenlehre, Moralphilosophie) oder (als Lehre vom Schönheitsideal) Ästhetik zu belegen (vgl. die betr. Artikel). Dagegen pflegt man denjenigen, welcher das praktische Ideal, statt aus der Vernunft, aus der Erfahrung schöpft, keinen Moralphilosophen, sondern einen Moralisten (s. d.) zu nennen; der Positivismus aber protestiert selbst dagegen, daß seine „Seinslehre“ etwas andres als emrirische Physik sei. Nach obigem Sprachgebrauch werden auch die Unterabteilungen der Metaphysik (rationale und rational-empirische Theologie, Kosmologie und Psychologie) sowie die sich an die Ideallehre anschließenden Kunstlehren (Pädagogik, Politik als Anweisungen zur Realisierung des ethischen, Kunsttechnik als solche zur Verwirklichung des ästhetischen Ideals) philosophisch genannt. Dem Positivismus gelten jene ebensowenig als Wissenschaften wie die Metaphysik selbst.

Geschichte der Philosophie.

Von Geschichte der P. kann in dem Sinn, in welchem das Wort bei der Geschichte der exakten und induktiven Wissenschaften genommen wird, nicht die Rede sein. Dagegen stellen innerhalb der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des Wissens die Gegensätze zwischen (unphilosophischer) Wissenschaft und P., innerhalb dieser selbst die Gegensätze zwischen Dogmatizismus und Skeptizismus Stufen dar, deren eine die andre voraussetzt, und die demzufolge einander in der Zeit ablösen. Den Anfängen der P. im Altertum wie jenen derselben in der neuern Zeit geht ein Zustand voraus, in welchem zwar Wissen, aber keine „Liebe zum Wissen“ vorhanden war, sondern dasselbe im Dienst andrer Zwecke (politischer, religiöser, technischer) gepflegt wurde. Aus der Auflehnung gegen diese ist die P. entsprungen u. daher zu keiner Zeit mit günstigen Augen angesehen worden. Nachdem sie den Kampf mit den herrschenden Mächten des Altertums im Orient bei Chinesen und Indern, im Occident bei den Griechen aufgenommen und bis zum Ausgang des Römertums fortgesetzt hatte, suchte sie dem Unterliegen unter die herrschenden Mächte des Mittelalters im christlichen Abend- und islamitischen Morgenland dadurch zu entgehen, daß sie sich freiwillig zur „Magd“ der Theologie erniedrigte. Das Wiederaufleben der positiven Wissenschaften sowie die Wiederentdeckung der echten Quellen der P. des Altertums führten nach Ausgang der kirchlichen Weltherrschaft zur Wiedererstarkung des Wissenstriebs, dessen Frucht die neuere P. ist.

Die P. der Chinesen ist als theoretische teils Sensualismus, teils Mystizismus, als praktische Rationalismus; in ihrem Begriff des Philosophen sind Denker und Weiser vereinigt. Das Wissen von den Dingen reicht nach den Lehren der herrschenden P. (der Schüler des Konfutse um 550 v. Chr.) nicht über deren sinnliche Erscheinung hinaus; nach denen der unterdrückten P. (der Schüler des Laotse um 600 v. Chr.) liegt der phänomenalen Welt ein „farb- und klangloses“, sinnlich nicht wahrnehmbares Urwesen, Tao, zu Grunde. Als oberster Grundsatz der Moral gilt beiden die Einhaltung der richtigen Mitte. Die P. bei den Indern ist teils orthodoxe, sich an den Inhalt der heiligen Bücher (der Wedas) anschließende (streng genommen keine) P., wie in den beiden Systemen der Mimansa (Karma-Mimansa und Wedanta), teils heterodoxe, auf eignes Denken gestützte (also wirkliche) P., wie in den beiden Sankhyas des Kapila und Patandschali, in der Nyaya des Gautama und der Waiseschika des Kanada (sämtlich etwa zwischen 1000 und 600 v. Chr. entstanden). Beide Sankhyas berufen sich auf die Erfahrung als Quelle des Wissens: die erste auf die sinnliche (Sensualismus), die zweite auf die übersinnliche (Mystizismus). Durch jene kommt die Seele zur Einsicht, daß sie von der sinnlichen Natur verschieden, durch diese, daß sie mit der des übersinnlichen Urwesens (Brahma) eins und daher (im einen wie im andern Fall) von den am Sinnlichen haftenden Mängeln (Krankheit, Alter, Tod, Wiedergeburt) frei ist. Dasselbe (praktische) Ziel, die Glückseligkeit, wird der Nyaya zufolge durch die Vollkommenheit des (empirischen) Wissens erreicht, zu welchem Zweck eine Kunstlehre des Schließens und Streitens (Dialektik) entworfen wird. In dem System des Kanada werden die (physikalischen) Eigenschaften und Unterschiede der Dinge auf Gestalt, Zahl und Lage kleinster Körperteilchen (Atome) zurückgeführt, aus welchen dieselben zusammengesetzt sind. Verwandt mit der (ersten) Sankhya ist die Lehre des Buddhismus, welche als Ziel der P. die Erreichung des Nirwana als des (dem Nichtsein ähnlichen) Zustandes betrachtet, welcher jenem der Sansara (des Seins der sinnlichen [1019] Welt) entgegengesetzt und daher von den „vier Schmerzen“ derselben (Krankheit, Alter, Tod, Wiedergeburt) ausgenommen ist.

Die P. bei den Griechen ist in der ersten Periode (von Thales bis Aristoteles) Liebe zur theoretischen Weisheit auf natürlichem Weg, in der zweiten, welche die Schüler der Stoa und Epikurs umfaßt, Liebe zur praktischen Weisheit, in der dritten, welche die Neuplatoniker enthält, abermals Liebe zum Wissen, aber auf übernatürlichem Weg. Der natürliche Weg ist (sinnliche) Erfahrung und Vernunft, der übernatürliche übersinnliche Anschauung (Vision). Die ersten griechischen Denker sind Physiker; die Ethik ist nur in der Form der Spruchweisheit (Gnomik) der (sieben) Weisen, eine Wissenschaft des Wissens gar nicht vorhanden. Ihre P. ist weder Universal- noch Normalwissenschaft, sondern bloße Naturlehre. Das Wesen der Dinge wird von den einen (den ältern und jüngern Ioniern) auf physischen Stoff, von den andern (den Pythagoreern, s. Pythagoras) auf mathematische und geometrische (Zahl und Gestalt), von den dritten auf ideelle Bestimmungen (ruhendes „Sein“: Eleaten, s. Eleatische Schule; fließendes „Werden“: Herakleitos, um 500 v. Chr.) zurückgeführt. Durch den Umstand, daß die Eleaten das „Werden“ (Bewegung), die Herakliteer das „Sein“, als dem Wesen der Dinge widersprechend, für Schein, jeder das Wissen des andern für Scheinwissen ausgeben, wird die Aufmerksamkeit zuerst auf die Betrachtung des Wissens, die Wissenslehre, gelenkt. Dieselbe lieferte zunächst (bei den Sophisten) ein negatives Resultat, indem alles Wissen für Scheinwissen, der „Mensch als Maß aller Dinge“ (Protagoras) erklärt wird, sodann (durch Sokrates, gest. 399) ein positives, indem das rationale (in Begriffsform auftretende) Wissen als echtes Wissen zu gelten hat. Zugleich wird durch Anwendung des so gewonnenen Wissens auf das Gute die dritte Wissenschaft (Ethik) durch Sokrates zu der vorhandenen Physik und Logik hinzugefügt und dasselbe bald als das Nützliche (Xenophon), bald (positiv) als höchste Lust (Hedoniker, s. Hedonismus), bald (negativ) als mindeste Unlust (Kyniker) Gewährendes, bald als das um seiner selbst willen Begehrenswerte (Platon) bestimmt. Durch die Aufstellung eines Ideals des Wissens (des rationalen) und die Vervollständigung des Umfangs des Wissens wurde P. als Universal- und Normalwissenschaft möglich und durch Platon (gest. 348) und Aristoteles (gest. 322) ins Werk gesetzt. Beide gingen davon aus, daß die normale Wissensform der Begriff und daher sowohl die Wissens- als die Seins- und Ideallehre dieser gemäß zu gestalten sei; in Bezug auf den Ursprung des Begriffs nahmen beide entgegengesetzte Standpunkte ein. Da der Begriff das Allgemeine (Eine) darstellt, welches Besonderes (Vieles) unter sich befaßt, so kann derselbe entweder so aufgefaßt werden, als sei das Besondere aus dem Allgemeinen (aus seinem Inhalt) entlassen (deduziert), oder als sei das Allgemeine aus dem Besondern (aus seinem Umfang) abstrahiert (induziert). Im erstern Fall ist das Allgemeine (Eine), in diesem das Besondere (Viele) das Ursprüngliche. Indem Platon die deduktive Form als die Wissensform ansah, kam er dazu, die Vielheit des Wissens aus Einem Wissen, in der Seinslehre das vielheitliche Seiende aus Einem Sein, in der Ideallehre die Vielheit der Güter aus Einem (höchsten) Gut abzuleiten. Aristoteles dagegen, welcher die induktive Form als Wissensform ansah, gelangte zu dem entgegengesetzten Resultat, die Eine Wissenschaft aus einer Vielheit von Wissenschaften, das Eine Sein aus einer Vielheit von Seienden, das Eine höchste Gut aus einer Vielheit von Gütern zusammenzusetzen. Beider Philosophien sind insofern Rationalismus, als ihnen nur das rationale (in Begriffsform [Einheit der Vielheit] gebrachte) Wissen für wahres Wissen, nur das in derselben existierende (rationale) Sein für wirkliches Sein und nur das in derselben aufgestellte (rationale) Ideal für das wahre Ideal gilt. Da der deduktive Rationalismus aber die Einheit, der induktive die Vielheit als das Ursprüngliche ansieht, so führt der erste dazu, das wahre Wissen für „angeboren“ (in der ursprünglichen Einheit der Vernunft enthalten), der andre, es für „erworben“ (von der ursprünglichen Vielheit der Erfahrung abstrahiert) anzusehen; führt der erstere zu einer monistischen (Ein Sein), nach welcher nur Allgemeines (Gattung), der letztere zu einer pluralistischen (individualistischen: viele Seiende) Metaphysik, nach welcher nur Einzelnes (Individuum) wahrhaft existiert; setzt der erstere das höchste Gut in die Eine Tugend, der letztere dagegen in die aus einer Vielheit von Lustgefühlen resultierende Glückseligkeit. Der Umstand, daß bei dem erstern demzufolge der Begriff (als Allgemeines) von dem Seienden (als Gattung) nicht verschieden ist, gab zu der Folgerung Anlaß, daß der Begriff selbst das Seiende sei, Wissenslehre und Seinslehre (Dialektik und Metaphysik) in Eins zusammenfielen. Dem Begriff als Seiendem legte Platon den Namen Idee bei und bezeichnete ihn als Gegenstand eines über die Sinnlichkeit erhabenen Schauens (übersinnlicher Erfahrung: Mystizismus), dessen die Seele in einem vorweltlichen Zustand teilhaftig geworden sei, und dessen Wiedererinnerung (Anamnese) durch das Gewahrwerden ihm ähnlicher (nach seinem Muster geformter) Objekte in der Sinnenwelt in derselben erweckt werde. Aristoteles dagegen, dem der Begriff (als Allgemeines) für ein vom Seienden (als Individuum) Verschiedenes galt, sah denselben als Frucht eines auf die Objekte der Sinnenwelt gerichteten sinnlichen Schauens (sinnlicher Erfahrung: Sensualismus) und der an dasselbe sich anschließenden Denkoperationen des Begriffbildens, Urteilens und Schließens, als einen eine Mehrheit von Dingen zusammenfassenden und bezeichnenden Gedanken an. Die Lehre von obigen Denkoperationen gestaltete Aristoteles als besondere Wissenschaft, wodurch er der Vater der (formalen) Logik (Denkformenlehre) geworden ist. Beide Systeme wurden durch Schulen, jenes des Platon durch die (ältere, mittlere und neue) Akademie, jenes des Aristoteles durch die sogen. peripatetische, fortgepflanzt. Jene ging durch den Zweifel an der Möglichkeit übersinnlicher Erfahrung allmählich durch Arkesilaos und Karneades in Skeptizismus, diese durch die Ausbreitung des Wissens über alle Gebiete der Erfahrung allmählich in Beschäftigung mit den positiven Wissenschaften (insbesondere Naturwissenschaften) über. Die zweite Periode der griechischen P., in welcher die praktische Weisheit den Vorzug hat und das theoretische Wissen nur als Mittel zu dieser gilt, wird von den Schulen der Stoa (s. Stoiker), welche die Tugend, deren Folge die Glückseligkeit, und des Epikuros (gest. 268), welche die Glückseligkeit, deren Mittel die Tugend ist, als höchstes Gut ansahen, sowie durch jene der Skeptiker, welche das höchste Gut, die Gemütsruhe, durch die Verzichtleistung auf sicheres Wissen zu bewahren suchten, ausgefüllt. Die dritte Periode, in welcher bereits jüdische und andre orientalische Einflüsse (vornehmlich in Alexandria) sich einmischten, suchte dem eingerissenen [1020] Skeptizismus und Sensualismus durch die Wiederbelebung des Platonismus zu steuern und die Kluft zwischen der sinnlichen (Erscheinungs-) und übersinnlichen (Ideen-) Welt teils (theoretisch) durch stufenweises Sicherheben von sinnlicher zu übersinnlicher (intellektualer) Anschauung bis zu (mystischem) Einswerden des Endlichen mit dem Unendlichen, teils (praktisch) durch stufenweises Abtöten der Sinnlichkeit (Askese) zu überbrücken, woraus die Schule des Plotinos (3. Jahrh. n. Chr.), der Neuplatonismus, hervorgegangen ist, welche die Reihe originaler Philosophien des Altertums beschloß.

Das Mittelalter, in welchem im Abend- und Morgenland die P. nur im Dienste dort der christlichen, hier der islamitischen Theologie als Schulphilosophie (Scholastik) auftrat, hat keine solche hervorgebracht. Dasselbe schloß sich im Abendland (seit Scotus Erigena, gest. 880) dem Neuplatonismus und (entstellten) Platonismus, im Morgenland und in dem mohammedanischen Spanien seit der Herrschaft der Araber dem (mangelhaft bekannten) Aristoteles an. An dem Gegensatz beider in der Feststellung des Verhältnisses zwischen dem Allgemeinen (universale) zum Besondern (res) entzündete sich der Streit zwischen den sogen. Realisten (Platonikern), welche das Allgemeine für wirklich (universalia ante rem), und den Nominalisten und Konzeptualisten (Aristotelikern), welche dasselbe für ein bloßes Wort (nomen) oder einen zusammenfassenden Gedanken (conceptus, Begriff) erklärten (universalia post rem oder in re), in welchem anfänglich die erstern (Anselm von Canterbury gegen Roscelinus und Abälard, 11. und 12. Jahrh.), nachher (13. und 14. Jahrh.) die letztern (Albertus Magnus und Thomas von Aquino gegen Duns Scotus) die Oberhand behaupteten. Der herrschenden, aber der Theologie dienstbaren, ging eine unterdrückte, aber kirchlich unabhängige Richtung parallel, die im Morgenland als Sûfitum, im Abendland als (häufig ketzerische) Mystik das philosophische Problem, statt durch Vernunft oder sinnliche Erfahrung, durch innere Erleuchtung (Intuition, Inspiration) zu lösen versuchte.

Zwischen dem Ausgang der Scholastik und dem Beginn der neuern P. liegt eine Übergangsepoche, in welcher unter dem Einfluß der beginnenden Naturwissenschaften und des klassischen Humanismus teils Philosophien des Altertums erneuert, teils (halb phantastische, an die Physik der Ionier erinnernde) Erweiterungen der neugewonnenen Naturauffassung (Nik. von Cusa, Giordano Bruno, Campanella) versucht wurden. Die philosophische, aus „Liebe zum Wissen“ entsprungene Erneuerung der P. wurde infolge des Zweifels an der Geltung des rationalen Wissens bei Bacon, des Zweifels am Wissen überhaupt bei Descartes herbeigeführt. Bacon (1561–1626) setzte dem deduktiven (das Besondere aus Allgemeinem ableitenden) Schlußverfahren (der Aristotelischen Syllogistik) das (übrigens gleichfalls Aristotelische) induktive (das Allgemeine aus dem Besondern ableitende) Schlußverfahren entgegen, allerdings mit dem (wesentlichen) Unterschied, daß er die unvollständige (nur wahrscheinliche) Induktion als ein Wissen gelten ließ. Descartes (1596–1650) setzte dem absoluten Zweifel die durch die Thatsache des Zweifelns bewährte Thatsache des eignen Denkens: cogito, entgegen, aus dessen Gewißheit die Gewißheit des eignen Seins: sum, unmittelbar folgt. Des erstern Ziel geht dahin, mittels Induktion aus der Erfahrung, des letztern Ziel geht dahin, mittels Deduktion aus dem selbst unmittelbar Gewissen das Ganze des Wissens zu gewinnen. Jener (Baconsche) Empirismus begriff unter Erfahrung sowohl äußere als innere, der seines nächsten Nachfolgers, Hobbes (1588–1679), dagegen nur äußere (Sensualismus), was zur Folge hat, daß das Wissen von Nichtkörperlichem (Immateriellem, Geist) ausgeschlossen und die Nichtexistenz des Immateriellen behauptet wird (Materialismus). Dieser (Cartesianische) Rationalismus begriff unter dem unmittelbar Gewissen angeborne Ideen, z. B. die Gottesidee, was zur Folge hat, daß zwar die Existenz der eignen (denkenden) Substanz (des Geistes) und die der Gottheit gewiß, die Existenz der (ausgedehnten) Substanz (der Materie, der Körperwelt) aber ungewiß und nur durch die Existenz Gottes, dessen Wahrhaftigkeit uns nicht kann täuschen wollen, verbürgt ist. Derselbe spaltet die (geschaffene) Welt in zwei für einander unzugängliche Hälften (Dualismus), deren Einwirkung aufeinander nur durch „göttliche Assistenz“ oder (nach Geulings) „okkasionalistisch“ dadurch hergestellt werden kann, daß Gott im Geiste die der körperlichen Bewegung korrespondierende Empfindung oder im Körper die der geistigen Empfindung korrespondierende Bewegung ins Leben ruft. Spinoza (1632–77) setzte diesem Rationalismus die Lehre von der all-einen Substanz (Monismus), deren Attribute Materie und Ausdehnung sind, Leibniz (1646–1716) die Lehre von der alleinigen Existenz einfacher (immaterieller) Substanzen (Monaden, daher Monadologie), durch welche die (ausgedehnte) Materie in ein bloßes Scheinwesen (phaenomenon) verwandelt wird, entgegen. Durch jene sollte dem Zufall wie der Willkür vorgebeugt, die unter sich identische Ordnung und Reihenfolge der Ideen wie der Dinge als notwendige unendliche Abfolge (natura naturata) aus der all-einen Substanz (natura naturans) nach genetischer Methode dargethan und auf diese Weise das Ziel seiner „Ethica“, die Beseitigung aller Affekte (der Furcht wie der Hoffnung), erreicht werden. Durch diese sollte gleichfalls dem Zufall und der Willkür vorgebeugt, die beiden scheinbar entgegengesetzten Reiche der wirkenden (blinden) und Zweck- (bewußten) Ursachen, der Natur und der „Gnade“, als identisch dargethan, die Welt, als von Anbeginn her harmonisch organisiertes Geisterreich (prästabilierte Harmonie) unter der Herrschaft des größten und besten Monarchen, als die (nicht mangellose, aber unter allen überhaupt möglichen) beste Welt erwiesen und dadurch die Klage über das Übel und die Unvollkommenheit derselben für immer beseitigt werden („Théodicée“). Diesem gesamten Rationalismus, der aus evidenten angebornen Ideen, insbesondere der Gottesidee, folgerte, setzte der Fortsetzer Bacons, Locke (1632–1704), den Nachweis entgegen, daß die Idee Gottes nicht angeboren, die Gesamtheit unsrer Ideen, sei es durch äußern (sensation), sei es durch innern Sinn (reflection), erworben und der Inhalt der Empfindung mit dem des Empfundenen keineswegs notwendig identisch, also sogar unsre Sinneserfahrung nichts weniger als untrüglich, weniger „real“ als „ideal“ sei. Dieser skeptische Wink, daß auch das empirische Wissen teilweise kein Wissen sei, wurde von Berkeley (1648–1753) dahin gedeutet, daß all unser Wissen von einer Körperwelt Scheinwissen (empirischer Idealismus), von Hume (1711–76) dahin erweitert, daß mit Ausnahme der analytischen Urteile (wie es die mathematischen seien) kein sicheres Urteil möglich sei und die Voraussetzung aller Erfahrung, das Verhältnis von Ursache u. Wirkung, auf bloßer durch Zeitfolge gewisser Erscheinungen hervorgebrachter Gewöhnung beruhe.

[1021] Diese äußerste Konsequenz des Skeptizismus, welche dem Empirismus und dessen in Frankreich unter den Encyklopädisten herrschend gewordenen Absenkern, dem Sensualismus (Condillac 1715–80) und Materialismus (Holbach, Lamettrie), wissenschaftlich ein Ende machte, wie dieser es dem (Cartesianischen) Rationalismus bereitet hatte, weckte den „Pförtner“ der neuern deutschen (d. h. der einzigen wirklichen) P. aus seinem „dogmatischen Schlummer“. Der Leibnizsche optimistische Rationalismus war von dessen Nachfolger Chr. Wolf (1679–1754) zu einem weitläufigen System verarbeitet, aber zugleich durch die (inkonsequente) Aufnahme der äußern Erfahrung als Wissensquelle in einen halben Empirismus verwandelt worden, wie er der dilettantischen Weise der Popular- und Aufklärungsphilosophie in Deutschland entsprach. Erst Kant (1724–1804) sah ein, daß fortan allen Erkenntnisversuchen die (transcendental-kritische) Frage nach der Tragweite des Erkenntnisvermögens vorausgehen und zu dem Ende das wirklich (vor aller Erfahrung, a priori) in demselben enthaltene (rationale) Wissen von dem durch Erfahrung a posteriori erworbenen (empirischen) gesondert werden müsse. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ hat durch den Nachweis, daß von den sogen. übersinnlichen Gegenständen (Gott, Welt, Seele), welche das Hauptthema der Metaphysik des Rationalismus bildeten, kein Wissen möglich sei, ein negatives, durch den Erweis dagegen, daß mittels der apriorischen Elemente des Erkenntnisvermögens (reine Anschauungsformen des Raums und der Zeit, Kategorien des Verstandes, Ideen der Vernunft) von den sinnlichen Gegenständen (Erscheinungen) eine allgemeine Erfahrung möglich sei, ein positives Ergebnis geliefert. In Bezug auf die letztere unterschied Kant ein subjektives (aus dem Subjekt) und objektives (aus dem Objekt der Erfahrung, dem „Ding an sich“, dessen Dasein auf dem Schluß von der Empfindung als Wirkung auf dasselbe als dessen übrigens unbekannt bleibende Ursache beruht, stammendes) Element, wodurch er den Anlaß zu der Spaltung seiner Nachfolger in eine idealistische und realistische Richtung gegeben hat. Jene wurde von J. G. Fichte (1762 bis 1814), welcher das „Ding an sich“ als eine Inkonsequenz beseitigte, diese von Herbart (1776–1841), welcher demselben nicht bloß den (realen) Anstoß zur Empfindung, sondern auch zu den von ihm wieder als objektiv reklamierten Formen des Raums und der Zeit zuschrieb, in direkter Fortführung der von Kant gegebenen Anregung eröffnet, während F. H. Jacobi (1743–1819) mittels des (angeblich) untrüglichen Gefühls den Rückweg zu dem von Kant ausgeschlossenen Übersinnlichen suchte. Nach der Beseitigung des Dinges an sich blieb auf der Seite des Idealismus das (transcendentale) Subjekt allein übrig; nach der Beseitigung der Idealität der reinen Anschauungsformen (Raum und Zeit) stand auf der Seite des Realismus dem Subjekt eine dem Sein und der Form nach objektive Welt gegenüber. Der Inhalt seines Bewußtseins konnte dem erstern nicht weitergegeben, sondern mußte von diesem gemacht werden; letzterm wird seine Erfahrung nicht (wie bei Kant) nur dem Stoff (als unverbundene), sondern[WS 1] dem Stoff und der Form nach (als verbundene Empfindung) gegeben. Die Aufgabe des Idealismus besteht darin, die Erfahrung (ohne Anstoß von außen) aus sich zu produzieren; die des Realismus darin, die ihm (von außen) gegebene Erfahrung, wenn sie Undenkbares enthält, nach den Anforderungen der Logik zu rektifizieren. Die Produktion aller möglichen Erfahrung a priori (mit Ausschluß der Erfahrung) ward die Sisyphusarbeit des Idealismus. Die Wissenschaftslehre Fichtes konstruierte den Inhalt des Selbstbewußtseins, die Naturphilosophie Schellings (1775–1854) jenen des unbewußten Seins (der Natur) a priori. Des letztern transcendentaler Idealismus konstruierte den Inhalt des absoluten Seins als bewußtlosen (Natur-) und bewußten (Weltgeschichte, an deren Ende „Gott sein wird“). Schellings Identitätsphilosophie versuchte nach dem Beispiel Spinozas Natur und Geist als die identischen Seiten des Einen Absoluten darzustellen und den Monismus der Substanz mit der Platonischen Ideenlehre zu verschmelzen. Hegel (1770–1831) glaubte nicht nur mittels der von ihm so genannten dialektischen Methode den Inhalt der reinen Vernunft, welche das einzige wahrhaft Wirkliche und das einzige Wissen ist, erschöpft und den Lieblingswunsch Kants, ein „Inventarium der reinen Vernunft“, durch die Reihe seiner Kategorien zur Erfüllung gebracht zu haben, sondern er wandte diese Methode auf die Vernunft als (logische) Substanz selbst an, um sie durch Selbstentäußerung in Natur und durch Selbstzurücknahme in absoluten Geist zu verwandeln, „die Substanz zum Subjekt zu erheben“ (Panlogismus). Dieser „Pantheismus der Vernunft“ gab nach Hegels Tode die Veranlassung zur Spaltung seiner Schule in eine rechte (theistische) und eine linke (atheistische) Seite, während das Zentrum am Pantheismus festhielt. Gleichzeitig aber wurde durch die inzwischen erstarkten Erfahrungswissenschaften gegen den Apriorismus, der dieselben entbehren zu können wähnte, ein berechtigtes Mißtrauen, von seiten der Fromm- wie der Freigesinnten gegen den Optimismus, der alles „Wirkliche“ vernünftig fand, eine nicht grundlose Opposition laut. Jene setzten dem Rationalismus, der nur den Begriff (das Allgemeine) für Wissen gelten läßt, den Empirismus entgegen, der nur in der Anschauung (der Einzelwahrnehmung) Wahrheit findet. Von diesen wiesen die Frommen auf die Existenz der Sünde und des Bösen, die Freigeister auf jene des Dummen und Widervernünftigen in der Welt hin. Der Materialismus stellte dem Rationalismus die äußere, der Pietismus die innere Erfahrung entgegen; Baaders (1763–1835) Theosophie und Schellings positive P. machten sich zu Verteidigern der Sündhaftigkeit, Schopenhauers (1788–1860) Pessimismus zum Anwalt der Schlechtigkeit der thatsächlichen Welt. Letzterer hat neben dem Materialismus das große Wort in der Gegenwart gewonnen und durch seine schriftstellerische Originalität über den unvermittelten Widerspruch zwischen der „Welt als Vorstellung“ (purer Idealismus) und „Welt als Wille“ (naiver Realismus) hinweggetäuscht. Neben ihm hat sich in Frankreich der alles Wissen von Immateriellem ausschließende Sensualismus in der „positiven“ P. Comtes (1798–1857), welcher auch die Psychologie in „Biologie“ und „Phrenologie“ aufgehen läßt, in England der Empirismus Lockes in der „induktiven“ P. John Stuart Mills (1806–73) geltend gemacht, während in Deutschland das Studium der Physiologie der Sinnesorgane hervorragende Naturforscher (Helmholtz, Rokitansky, Zöllner) zu einem dem Kantschen verwandten kritischen Idealismus zurückgeführt hat. Nach ihm hat in Deutschland E. v. Hartmann durch seine (an Schellings Naturphilosophie mahnende und an dessen „positive“ P. sich anschließende) „P. des Unbewußten“, welch letzteres Hegels „Idee“ und Schopenhauers [1022] „Willen“ in sich vereinigt, einen idealistischen (mystisch-pantheistischen), E. Dühring durch seine „P. der Wirklichkeit“ einen realistischen (atomistisch-materialistischen) Dogmatismus wiedererweckt, beiden gegenüber F. A. Lange (1828–75), auf Kant zurück- und von diesem fortschreitend, einen erkenntnistheoretischen Skeptizismus (Kritizismus) aufgestellt, welcher jeden Versuch einer (idealistischen wie realistischen) Metaphysik (mit Kant) für „Dichtung“, zugleich aber diese selbst (im Unterschied von Kant) für „die schönste und freieste“, vom ästhetisch-idealen Gesichtspunkt aus unentbehrliche Dichtung des Menschengeistes erklärt. Gleichzeitig macht sich in Frankreich dem Materialismus und Positivismus gegenüber eine durch die Schule Maine de Birans und des von Schelling und Hegel befruchteten V. Cousin (1792–1867) genährte idealistische Reaktion im Platonischen, in England dem Materialismus und Empirismus gegenüber eine solche (durch Collyns Simon, Fraser u. a.) im Berkeleyschen, durch (den zum deutschen Idealismus neigenden) Herbert Spencer im Hegelschen Geist geltend. In allen drei Ländern, in Frankreich seit der Restauration durch die Schulen Saint-Simons und Aug. Comtes sowie durch die „Radikalen“ Pierre Leroux und Proudhon, in England durch die Chartisten und englischen Positivisten Lewes, Buckle, Taylor u. a., in Deutschland neuestens durch Dühring und Lange, ist die P. (nicht eben zu ihrem Heil) mit der Gesellschaftswissenschaft und der sozialen Frage in Verbindung gebracht, ihr wissenschaftlicher Charakter aber (ähnlich wie in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts) durch Streben nach Popularisierung, Einmischung von religiösen, politischen und nationalen Parteitendenzen sowie Berufung auf den sogen. gesunden Menschenverstand vielfach geschädigt worden. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß, nachdem die P. aus Mangel eines herrschenden Systems lange Zeit bloß geschichtlich behandelt worden ist, für dieselbe infolge des kaum übersehbaren empirischen Materials, welches der kritischen Sichtung und systematischen Bearbeitung dringend bedarf, eine Zeit der Erneuerung auf Grundlage der Erfahrung und des Kantschen Kritizismus in Aussicht steht.

Vgl. über die Geschichte der P. außer den ältern Werken von Brucker, Buhle, Degérando, Tennemann (s. diese Artikel): Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der P. (2. Aufl., Berl. 1840–44, 3 Bde.); verschiedene Werke von V. Cousin (s. d.); Reinhold, Lehrbuch der Geschichte der P. (4. Aufl., Jena 1854, 3 Bde.); Ritter, Geschichte der P. (Hamb. 1836–53, 12 Bde.); Kuno Fischer, Geschichte der neuern P. (Heidelb. 1852–76, Bd. 1–6, mehrfach aufgelegt); Überweg, Grundriß der Geschichte der P. (7. Aufl. von Heinze, Berl. 1886–88, 3 Bde.); Erdmann, Grundriß der Geschichte der P. (3. Aufl., das. 1877, 2 Bde.); Lewes, History of philosophy (5. Aufl., Lond. 1878; deutsch, 2. Aufl., Berl. 1873–75); Zeller, Die P. der Griechen (4. Aufl., Leipz. 1876–81, 3 Bde.; „Grundriß“, 2. Aufl. 1886); Derselbe, Geschichte der deutschen P. seit Leibniz (Münch. 1872); Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie (Leipz. 1879); Dühring, Kritische Geschichte der P. (2. Aufl., das. 1873); Windelband, Geschichte der neuern P. (das. 1878–80, 2 Bde.); Falckenberg, Geschichte der neuern P. (das. 1886); Brasch, Die P. der Gegenwart (das. 1887); ferner Franck, Dictionnaire des sciences philosophiques (2. Aufl., Par. 1874); Noack, Philosophie-geschichtliches Lexikon (Leipz. 1878); „Archiv für Geschichte der P.“ (hrsg. von Stein, Berl. 1887 ff.), und die Abschnitte über P. in den Artikeln: Deutsche, Englische und Französische Litteratur.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sonderm