Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ethik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 879881
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Ethik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 879–881. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Ethik (Version vom 05.03.2022)

[879] Ethik (grch.), als philosophische Wissenschaft s. v. w. Sittenlehre (Moral- oder praktische Philosophie), ist mit der nicht selten mit dem gleichen Namen belegten Sittenkunde (Moralitätslehre; moralische Statistik) so wenig zu verwechseln wie der Ethiker (Moralphilosoph) mit dem Moralisten (Menschenkenner). Letztere handelt von den Sitten, wie sie sind (sie seien lobens- oder tadelnswert), die E. dagegen von den Sitten, wie sie sein sollen. Jene ist eine beschreibende, diese eine vorschreibende Wissenschaft. Dasjenige, was sie vorschreibt, ist das Gute, das (sittliche) Ideal des Wollens; derjenige, dem sie es vorschreibt, ist der menschliche (Einzel- oder gesellschaftliche) Wille; diese Vorschrift selbst ist das (oberste) Sitten- (oder Moral-) Gesetz (s. d.). In der (durch den Willen) vollzogenen Verwirklichung des (sittlichen) Ideals besteht das (einzige wahre) sittliche Gut, in dem Gehorsam gegen das (sittliche) Gebot die (sittliche) Pflicht, in der Dauerhaftigkeit und (weder durch Hoffnung auf Lohn noch durch Furcht vor Strafe beeinflußten) Freiwilligkeit des letztern die (sittliche) Tugend. Wird das Willensideal autoritativ durch den Inhalt einer (wahren oder vermeintlichen) göttlichen Offenbarung (des Heiden-, Juden-, Christen- oder Mohammedanertums) bestimmt, so entsteht die positive (heidnische, jüdische, christliche oder islamitische) E.; wird dasselbe durch eigne unabhängige Vernunft- oder empirische Forschung erkannt, so entsteht die philosophische E. (Moral, praktische Philosophie). Letztere muß, wenn sie [880] ihrem Begriff als Wissenschaft vom Seinsollenden entsprechen will, von der Metaphysik (theoretische Philosophie, Physik) als Wissenschaft vom Seienden sich frei erhalten, da nach Kants klassischem Worte das Sollen aus dem Sein sich nicht „herausklauben“ läßt. Daher kann Erkenntnisquelle des Willensideals weder die Erfahrung (wie die ethischen Naturalisten) noch die theoretische Vernunft (wie die metaphysizierenden Ethiker wollen), sondern einzig das Gebot der praktischen Vernunft (der kategorische Imperativ: Kant) oder die (untrügliche, weil unwillkürliche) Stimme, sei es des Gefühls (wie die Verteidiger des sogen. sittlichen Gefühls: Shaftesbury, Hutcheson, Jacobi; des Wohlwollens: Cumberland; der Sympathie: A. Smith; des Mitleids: Schopenhauer) oder des praktischen Urteils (wie die Verteidiger des Schicklichkeitsurteils: Clarke, und des sittlichen Geschmacksurteils [Gewissensurteils]: Herbart, wollen), sein. Das sittliche Ideal selbst läßt sich entweder so darstellen, daß dem Wollen ein gewisser Gegenstand als begehrenswert (als ein Gut), oder so, daß ihm, sei es eine gewisse Persönlichkeit (Tugendmuster), sei es eine gewisse Handlungsweise (Mustertugend), als nachahmenswert (als ein Muster) bezeichnet wird. Im erstern Fall nimmt die E. die Form einer Güter-, im zweiten die einer Tugend- (eigentlich Tugendmuster-), im dritten die einer Pflichten- (besser Mustertugend-) Lehre an. Als Beispiel der ersten Art kann die E. des Aristoteles dienen, welcher das Willensideal in die Erreichung der Glückseligkeit (Eudämonie) als des höchsten Gutes setzt; als Beispiel der zweiten Art die E. der stoischen Schule, welche die Nachahmung des Betragens des Weisen vorschreibt; als Beispiel der dritten die E. Platons, welcher das Willensideal in der Nachahmung der Harmonie durch die (drei) Teile der Seele zu finden glaubt.

Die Geschichte der E. beginnt bei den Chinesen, wo Laotse als Ideal des Wollens das (aus Gewissenhaftigkeit) Nicht(handeln)wollen des Weisen, Konfutse als dasselbe die Einhaltung der unveränderlichen rechten Mitte aufstellte, während bei den Indern des Brahmanismus das Aufgehen in Brahma, bei jenen des Buddhismus das Aufgehen in Nichts (Nirwâna) als höchstes Gut (Glückseligkeit) angesehen und daher die E. in eine Asketik (Abtötungslehre) verkehrt wurde. Bei den Griechen entwickelte Sokrates, nachdem die sogen. sieben Weisen mit kurzen Sittensprüchen vorangegangen waren und die Sophisten (s. d.) für gut dasjenige erklärt hatten, was die Gesetze des Landes als solches festsetzen („ländlich, sittlich“), zuerst eine Wissenschaft vom Guten, welches nach ihm mit dem wahrhaft und allgemein Nützlichen zusammenfiel. Von Sokrates’ Schülern erklärte Antisthenes der Cyniker die Bedürfnislosigkeit, Aristippos der Hedoniker dagegen die Lust für das höchste Gut, während Platon als solches die Tugend, als Wesen der letztern aber die Harmonie der (drei) Seelenteile, Aristoteles dagegen die Glückseligkeit (Eudämonie) als solches und als Richtschnur des Handelns die Mitte zwischen den Extremen bezeichnete. Die stoische Schule fand in der Tugend die höchste Glückseligkeit und stellte als Grundsatz auf, der Vernunft zu folgen und mit der (vernünftigen) Natur in Übereinstimmung zu leben. Die Epikureische Schule dagegen sah in der Tugend nur ein Mittel (allerdings das gewisseste) zur Glückseligkeit, in dieser selbst aber den höchsten Zweck und stellte den Grundsatz höchstmöglicher Selbstbeglückung (selbstsüchtigen Lebensgenusses) auf. Gegen den Ausgang des Altertums hielten die an Zahl wachsenden Skeptiker an dem Grundsatz der Erhaltung der Gemütsruhe (Ataraxie) als des höchsten Guts fest, während die Neuplatoniker unter dem Einfluß orientalischer emanatistischer Weltanschauung die Glückseligkeit in dem Einswerden mit Gott und die (asketische) Tugend in der Abstreifung der sinnlichen Natur fanden. Im Mittelalter hörte unter dem Einfluß der monotheistischen Religionen des Abend- und Morgenlandes die philosophische E. gänzlich auf und wurde durch die positive Moral des jüdischen Dekalogs und des evangelischen Christentums im Abend-, des islamitischen Korans im Morgenland vertreten. Erst mit dem Wiederaufleben des klassischen Altertums trat auch die E. desselben in der ursprünglich Platonischen, Aristotelischen, stoischen und Epikureischen Form wieder hervor. Der originellen E. der Neuzeit ging, wie einst der Sokratischen, eine Zeit der skeptischen Leugnung der E. als Wissenschaft voraus, indem Montaigne, Mandeville u. a. den sophistischen Spruch: „Ländlich, sittlich“ wieder zur Geltung brachten.

Der Versuch der Wiederherstellung eines allgemein gültigen Willensideals ging zuerst von den Naturrechtslehrern (H. Grotius, Pufendorf u. a.) aus, welche dem positiven Recht ein aus der Betrachtung der allgemeinen Menschennatur geschöpftes Natur- (Vernunft-) Recht (jus quod natura omnia animalia docuit) entgegenstellten. Demselben entsprach die Begründung einer natürlichen E., welche das sittliche Willensideal (das Sollen) aus der Natur (dem Sein) des Menschen zu schöpfen versuchte und zu dem Ende die allgemeine (allen Menschen gemeinsame) als gute von der individuellen (nur dem Einzelnen eignen) als der schlechten Natur unterschied. Während die einen zu diesem Zweck ein allen Menschen gemeinsames Begehren aufsuchten, wandten sich andre zum Zweck eines gemeinsamen Willensideals an ein gemeinsames Gefühl, wieder andre an ein allen gemeinsames Urteil. In ersterer Hinsicht wurde von Grotius und Pufendorf der Geselligkeits-, von Spinoza der Selbsterhaltungs-, von Leibniz der Glückseligkeitstrieb als allen Menschen gemeinsames Begehren erkannt und demgemäß die Befriedigung desselben zum Willensideal erhoben. Während aber der letztere und seine Schule (die Wolfsche) als höchstes Gut die größtmögliche Summe der Glückseligkeit Aller (das allgemeine Wohl auf Kosten des Einzelnen) ansah, verstand die (eigennützige) Moral der englischen (Hobbes) und französischen Sensualisten und Materialisten (Holbach, Helvetius, Volney) darunter die Glückseligkeit des Einzelnen (das individuelle Wohl auf Kosten Aller) und trug dazu bei, den Eudämonismus (das Streben nach Glückseligkeit) überhaupt in Verruf zu bringen. Kant war es, welcher zuerst die Entlehnung des Willensideals aus dem natürlichen (von Natur selbstsüchtigen) Begehren der Menschennatur verwarf und darauf bestand, daß sich aus dem „Sein“ (dem Menschen, wie er ist) kein „Sollen“ (kein Mensch, wie er sein soll) herausklauben lasse. Während andre (zunächst die englischen und schottischen Moralphilosophen) sich zur Bestimmung des Willensideals (von der begehrenden Menschennatur ab) an dessen fühlende, wandte sich Kant zu gleichem Zweck an dessen vernünftige Natur. Clarke berief sich zur Begründung des Sittlichen auf ein angebornes Schicklichkeits-, Hutcheson u. a. auf ein ebensolches moralisches Gefühl; Cumberland fand im Wohlwollen, Adam Smith in der Sympathie den Leitstern des Willens. Kant setzte an die Stelle des Ausspruchs des Begehrens und Fühlens den Ausspruch der praktischen Vernunft in der Form eines unbedingten Gebots (den kategorischen Imperativ), [881] dessen Formel lautet: Folge der Vernunft, d. h. handle so, daß die Maxime deines Wollens fähig sei, als allgemeines Gesetz zu dienen. Von seinen Nachfolgern vertauschte der realistische (Herbart) die Form des unbedingten Gebots mit jener des unbedingten Beifalls oder Mißfallens, welche die praktische Vernunft (das Gewissen, der sittliche Geschmack) über das Wollen ausspricht, dasselbe dadurch für sittlich oder unsittlich erklärend. Die idealistischen (Fichte und seine Nachfolger) verlegten das Ideal des Willens, welches Kant in dessen Gesetzmäßigkeit gefunden hatte, in die Freiheit desselben, so daß schlechthin freies und sittliches Wollen für eins gelten sollten. Schelling und Hegel haben die E. in die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte aufgelöst. Schleiermacher hat die E. als die Vollendung der Physik und die Ethisierung des Physischen als die höchste Aufgabe sittlicher Thätigkeit bestimmt. Schopenhauers den Engländern verwandter Versuch, das Fundament der E. auf das sympathetische Gefühl des Mitleids zu gründen, ist vereinzelt geblieben. In England haben Bentham und Mill die E. des allgemeinen Wohls als Utilitarismus, in Frankreich die sozialistischen Schulen (Fourier, Saint-Simon, Cabet) als Eudämonismus anerkannt, der Positivismus Comtes und H. Spencers die selbstverleugnende Moral des Altruismus (als Gegensatz des Egoismus) ausgeführt. Das thatfeindliche „Quietiv des Willens“, welches als praktische Folge des Pessimismus durch Schopenhauer in die E. eingeführt worden ist, hat bei dessen Nachfolger Hartmann thatkräftiger Förderung des höchsten Guts an Stelle des trost- und hoffnungslosen Pessimismus, der allgemeinen Selbstvernichtung, des buddhistischen Nirwâna den Platz geräumt.

Von den Hauptwerken der verschiedenen Richtungen sind hervorzuheben: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“; Fichtes und Schleiermachers „Sittenlehre“; Herbarts „Praktische Philosophie“; Schopenhauers „Fundamente der E.“ Vgl. außerdem Chalybäus, System der spekulativen E. (Leipz. 1850, 2 Bde.); Hartenstein, Grundbegriffe der ethischen Wissenschaften (das. 1844); I. H. Fichte, System der E. (das. 1850, 2 Bde.); Ziller, Allgemeine philosophische E. (2. Aufl., Langensalza 1886); Steinthal, Allgemeine E. (Berl. 1885); Rothe, Theologische E. (2. Aufl., Wittenb. 1867–71, 5 Bde.); Dorner, System der christlichen Sittenlehre (Berl. 1885). Zur Geschichte der E. vgl. Stäudlin, Geschichte der Moralphilosophie (Hannov. 1823); Henning, Prinzipien der E. in historischer Entwickelung (Berl. 1824); Janet, Histoire de la philosophie morale et politique (Par. 1858); Strümpell, Geschichte der praktischen Philosophie der Griechen (Leipz. 1861); Ziegler, Geschichte der E. (Bonn 1881, Bd. 1); Gaß, Geschichte der christlichen E. (Berl. 1881); Jodl, Geschichte der E. in der neuern Philosophie (Stuttg. 1881, Bd. 1).