MKL1888:Deutsche Litteratur

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Deutsche Litteratur“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 4 (1886), Seite 733766
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Deutsche Litteratur. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 4, Seite 733–766. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deutsche_Litteratur (Version vom 09.03.2023)

[733] Deutsche Litteratur, im weitesten Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen Volkes, insofern dieselben Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten Anteils sind oder doch einen bestimmten geschichtlichen Wert für gewisse Perioden und Kulturentwickelungen gehabt haben. In der Regel unterscheidet man die deutsche Nationallitteratur von der wissenschaftlichen (gelehrten) Litteratur der verschiedensten Gebiete.

A. Nationallitteratur.

Der Begriff der Nationallitteratur, die uns hier zunächst und hauptsächlich beschäftigt, kann mit einer gewissen Willkür bald verengert, bald erweitert werden; immer aber bleibt es unzweifelhaft, daß die poetischen Schöpfungen im Mittelpunkt der Nationallitteratur stehen und den wichtigsten Teil derselben bilden. „Unter den Denkmälern der Litteratur sind die poetischen insofern die wichtigern, als sie, ihren Zweck in sich selbst tragend, auf eine freiere, deutsches Gemüt und deutschen Geist entschiedener aussprechende Weise entstanden sind als die meisten Werke der Beredsamkeit, das Wort im weitern Sinn verstanden, da bei deren Abfassung in der Regel praktische oder wissenschaftliche Zwecke vorzugsweise gewaltet haben“ (Koberstein). Die außerhalb der Dichtung stehenden Werke der Nationallitteratur können im wesentlichen nur solche sein, welche sich durch eine durchgebildete, schöne Form auszeichnen und in gewissem Sinn eine ästhetische Wirkung hervorzubringen vermögen. Die Aufgabe der Geschichte der deutschen Litteratur bleibt es daher, der Entwickelung des deutschen Volksgeistes und der deutschen Sprache, wie sie sich in den Tausenden von Schriftwerken der bezeichneten Art darstellt, treu und sorgsam nachzugehen, die Wechselwirkung zwischen dem nationalen Leben und unsrer Litteratur klar zu machen, den Reichtum von Besonderheiten, die doch wieder einem allgemeinen Gesetz untergeordnet erscheinen, zu erfassen, die Entwickelungsbeziehungen zwischen den einzelnen Zeiträumen und Schöpfungen der Litteratur darzulegen, und durch historisch-ästhetische Betrachtung zum Genuß litterarischer Schöpfungen anzuleiten. Die Werke der deutschen Litteratur stellen eins der kostbarsten Besitztümer des deutschen Volkes dar; sie sind in verhängnisvollen Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher Eigenart. Von den ältesten Tagen bis auf die Gegenwart gehen in Vorzügen und Mängeln bestimmte erkennbare Grundzüge durch die Entwickelung der deutschen Litteratur; allem Wandel und Wechsel der Zeiten, der Sitten und Zustände, selbst der Sprache trotzend, treten, meist unbewußt und unbeabsichtigt, die geheimsten Regungen der Volksseele, die besondern Eigentümlichkeiten des deutschen Wesens in den Schriftdenkmälern zu Tage. Liegt auch die Periode der ausschließlichen Pflege der Litteratur und eines durchaus litterarischen Charakters der deutschen Kultur schon längst hinter uns, so wird doch keine Zeit aufhören können, an den Leistungen und Ehren der Nationallitteratur warmen, ja leidenschaftlichen Anteil zu nehmen.

Die Geschichte der deutschen Litteratur zerfällt naturgemäß in zwei große Hauptabschnitte, deren erster von den Anfängen und ältesten Zeugnissen der Litteratur bis zum Ausgang des Mittelalters, der zweite von da bis zur Gegenwart reicht. Die Untereinteilungen ergeben sich durch die Hauptperiode in der nationalen Geschichte, des deutschen Kulturlebens, aus denen die Litteratur gedeihend und blühend oder in kümmerlicher Entfaltung erwachsen ist, mit denen sie in so engem Zusammenhang, so unablässiger Wechselwirkung gestanden hat, daß neuerlich eine Auffassung herrschend werden konnte, welche die Bedeutung der besondern Elemente und der individuellen Begabungen so gut wie verneinte. Zeigt es sich indessen, daß, je näher jede geschichtliche Darstellung der neuern Zeit rückt, je reicher die Quellen fließen, aus denen wir unsre Kenntnis über die einzelnen Träger der poetischen Litteratur schöpfen, die Mitwirkung jener Eigenart, der zufolge jeder Mensch gleichsam eine Welt für sich darstellt, immer bedeutsamer wird: so ist ein Anteil hoch stehender Einzelnen an der Entwickelung der Dichtung auch für jene Zustände und Gebiete anzunehmen, in denen für uns längst das Besondere im Allgemeinen untergetaucht erscheint.

Vorepoche. Heldensage und Heldensang.

Den Perioden der deutschen Litteratur, die sich historisch fixieren lassen, an deren Ein- und Ausgang bestimmte Werke und Namen stehen, und von denen spärliche oder reiche schriftliche Denkmäler und Zeugnisse vorhanden sind, ist eine Entwickelung, ja, wie man neuerdings geneigt ist anzunehmen, eine hohe Blüte deutscher Dichtung vorangegangen, deren Nachklänge weit in die Zeiten des Mittelalters hereinreichen. Unerkennbar bleibt, wann und wo die poetische Gestaltung der Götter- und Heldensage angehoben hat, deren Anfänge vielleicht schon jene Arier auf ihrem Zug von Asien nach Europa begleiteten, welche sich vom gemeinsamen indogermanischen Stamm ablösten und nach mancher dazwischenliegenden Entwickelung als Germanen mehrere Jahrhunderte vor Christo Norddeutschland bis zu den Mündungen des Rheins und die Küsten der Nord- und Ostsee bevölkerten, die Kelten süd- und westwärts vor sich herdrängend. Große Stämme dieser Germanen, vor allen das Volk der Goten, saßen noch weit im Osten zur Zeit, als Rom vor den Teutonen zitterte, welche schließlich die Feldherrnkunst des Marius überwand, als Cäsar mit Ariovist kämpfte, als das Heer des Varus vor den germanischen Stämmen im Teutoburger Wald erlag, und als in den Tagen Kaiser Trajans Tacitus in seiner „Germania“ die erste genauere Kunde über die germanischen Völker gab und die rauhen, jugendfrischen, kriegerischen und häuslichen Tugenden derselben im Gegensatz zu der übersteigerten und alt werdenden Kultur der römischen Welt schilderte. Bei allen oder doch bei einer Mehrzahl der germanischen Stämme fanden sich nach dem Zeugnis der Römer Lieder, die schon Tacitus als „alte“ bezeichnet. Der eine jener beiden „Merseburger Zaubersprüche“, die im 9. Jahrh. aufgeschrieben wurden, klingt an eine altindische Spruchformel an und deutet um Jahrhunderte zurück. Auch die ältesten Fassungen der Siegfriedsage, die Anfänge jener Tiersage, in deren Mittelpunkt der Fuchs steht, mögen weiter zurückreichen als die historische Kunde von unsern Urvätern. Aus der Vergleichung der Reste altheidnischer Gedichte mit den Dichtungen der Skandinavier und Angelsachsen, mit den uralten Rechtsformeln hat man mit einiger Sicherheit geschlossen, daß allen ältesten Gesängen durch Allitteration Form und Gestalt gegeben worden sei, eine Form, die besonders geeignet erscheint, ebendiese Lieder dem Gedächtnis einzuprägen und so von Mund zu Mund zu überliefern. Beweise im strengsten Wortsinn sind hier nicht möglich; [734] auch daß bei dem „Singen und Sagen“, welches nach dem Bericht des Tacitus gemeinsam geübt wurde, das Wort die Hauptsache, die „Musik“ dagegen sehr unentwickelt war, läßt sich doch immer nur mit Wahrscheinlichkeit vermuten. Beweise, denen nicht zu widersprechen wäre, gibt es für diese Vorzeit, in welcher Überlieferung und Wiedergabe unmittelbarer Eindrücke, Mythe und lebendige Erinnerung, Namen der Stämme und Völker, historisch Beglaubigtes und Sagenhaftes ineinander verschwimmen, eben nicht. Auch als in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt die Germanen immer entschiedener in den Vordergrund der Geschichte treten, als mit der Periode der Völkerwanderung und des Ansturms deutscher Stämme gegen das zerbröckelnde römische Weltreich Menschen und Dinge deutlicher werden, bleibt die Kunde von der deutschen Dichtung dürftig und unzulänglich. Wohl hat der geistvolle Forscher und Darsteller recht, der sagt: „Verlorne Gedichte sind ebenso wichtig wie erhaltene, wenn man ihre Existenz beweisen und ihre Nachwirkungen feststellen kann“ (Scherer). Und nicht minder wahr ist, daß es nicht leicht einen stärkern Beweis von der schöpferischen Macht einer Dichtung geben kann, als daß sie ohne schriftliche Fixierung wesentlich unverändert fortlebt, daß ihre Situationen, Gestalten und Hauptzüge zum Teil bis auf den Wortlaut zu spätern Geschlechtern gelangen. Immer aber ist es nur ein Rückschluß, der aus den spätern Gestaltungen der großen Heldensage, aus verwandten Erscheinungen bei den germanischen Völkern über dem Meer und aus einzelnen ganz unbedeutenden Resten auf die Blüte einer großen epischen Dichtung, unmittelbar nach der Völkerwanderung, gemacht wird. Die gewaltigen und erschütternden Kämpfe, durch welche die deutschen Völker im ersten Halbjahrtausend der christlichen Zeitrechnung hindurchgingen, konnten nicht anders als befruchtend auf den poetischen Geist und den poetischen Gestaltungstrieb wirken; Eindrücke und Erinnerungen von fortreißender Macht, das Hervortreten einzelner Heldengestalten, ungeheure Schicksalswechsel fanden ihren Widerklang in Heldenliedern, deren Mannigfaltigkeit sich mehr und mehr auf einzelne große Gruppen (Sagenkreise) konzentrierte. Wie stark die großen historischen Ereignisse, an denen die deutschen Stämme kämpfend und leidend Anteil nahmen, und in denen sie zum Teil ihren Untergang fanden, auf die Phantasie wirkten, ist aus den spätern mittelalterlichen Erneuerungen der Heldensage der Völkerwanderungszeit noch zu erraten. Der Grundcharakter dieser Poesie war heidnisch; an die heidnische Vergangenheit der Völker und die alten Überlieferungen knüpften die Dichter, oder wie man sie immer nennen will, auch dann noch an, als die Bekehrung der meisten deutschen Völker zum Christentum längst erfolgt war. Bei allen deutschen Völkern oder vielmehr Völkervereinen, deren hervorragendste in den Zeiten der großen Völkerwanderung Goten, Langobarden, Burgunder, Franken, Alemannen, Bayern, Thüringer, Sachsen und Friesen waren, werden in Fortbildung der ältern Lieder und unter den Einwirkungen der neuen Erlebnisse eigne Heldenlieder existiert haben, die inzwischen bald mannigfach aufeinander bezogen wurden und ineinander übergingen. Nachklänge der bei Tacitus erwähnten verlornen Lieder von Hermann dem Cherusker scheinen in andern Sagen vorhanden; Züge der gotischen Dichtungen von den Königsgeschlechtern der Balthen und Amaler und späterhin von Odoaker und Theoderich wurden weit verbreitet; die Gestalt Attilas (Etzels), des Hunnenkönigs, der mit seiner Augenblicksmacht Freiheit und Existenz beinahe aller germanischen Stämme gefährdete, kehrt in den verschiedenen Sagenkreisen wieder. So ist der Sagenforschung und der Kritik, welche den wesentlichsten Inhalt der alten, noch bis zum Schluß des ersten Jahrtausends erklingenden epischen Lieder festzustellen sucht, ein weites und wichtiges Feld eröffnet, und das Bewußtsein, daß eine mächtige, stoffreiche, von großartigem Leben und tausend Erinnerungen getränkte Dichtung vor der Zeit der geschriebenen Litteratur vorhanden war, muß festgehalten werden. Die Dichtungen selbst aber, von denen nach glaubhaften Berichten noch Karl d. Gr. im 8. und 9. Jahrh. einen großen Teil aufzeichnen ließ und lassen konnte, sind fast vollständig verloren gegangen. Als schriftliche Denkmäler der heidnischen und halbheidnischen Völkerwanderungsepoche besitzen wir nur unbedeutende Bruchstücke. Die beiden von G. Waitz 1841 in Merseburg aufgefundenen sogen. „Merseburger Zaubersprüche“, die ähnlichen von Miklosich 1857 entdeckten Formen sind minder wichtig als das um 800 von zwei Fuldaer Mönchen aufgezeichnete „Lied von Hildebrand und Hadubrand“, in der That die einzige volle Probe der Form und des Wesens der großen, einst allverbreiteten Heldenlieder. In zweiter Linie stehen lateinische Niederschriften eines im 10. Jahrh. von Ekkehard von St. Gallen in Hexametern bearbeiteten Gedichts von „Walther und Hiltgund“ („Waltharius von Aquitanien“), welches offenbar zu seiner Entstehungszeit ein deutsches Vorbild hatte, und eines an der Grenzscheide des 10. und 11. Jahrh. von dem Tegernseer Mönch Fromund in leoninischen Hexametern niedergeschriebenen Gedichts: „Rudlieb“. Einzelne Vorstellungen, die aus altheidnischen Gedichten in die kümmerlichen deutschen Dichtungsversuche der Geistlichen des 10. und 11. Jahrh. hereinragen (so im „Wessobrunner Gebet“ und in den Versen vom Jüngsten Gericht: „Muspilli“), die eigentümliche, an die alte epische Poesie gemahnende Auffassung des Erlösers als des Heerkönigs und reichen Volkskönigs im altsächsischen Gedicht „Heliand“, die Vergleichungen mit angelsächsischen und altnordischen Liedern kommen der Vorstellung, welche das Hildebrandslied gewähren kann, zu Hilfe. Letztes Resultat bleibt doch nach Jakob Grimms Wort: „Von althochdeutscher Poesie sind uns nur kümmerliche Bruchstücke gefristet, gerade so viel noch, um sicher schließen zu dürfen, daß Besseres, Reicheres untergegangen ist. Aber das Vermögen der Sprache, den nationalen Stil der Dichtkunst erkennen lassen uns nur die angelsächsischen und altnordischen Lieder, jene, weil sie dessen älteste, diese, weil sie eine noch heidnische Auffassung sind.“

I. Zeitraum
Zeit der althochdeutschen geistlichen Dichtung.

Seit dem 4. Jahrh. war zuerst den in das römische Reich eindringenden, späterhin den andern deutschen Völkern das Christentum gepredigt worden. Am Ausgang des 8. Jahrh. bekehrte Karl d. Gr. die bis dahin heidnisch gebliebenen Sachsen mit Anwendung der äußersten Gewaltmittel. Mit den Heidenbekehrern, die ihre Klöster als Mittelpunkte des neuen kirchlichen Lebens im ganzen deutschen Land errichteten, kam auch die Herrschaft der lateinischen Sprache für kirchliche und geistliche Zwecke, für die neue christliche Bildung. Freilich übertrug schon im 4. Jahrh. der gotische Bischof Ulfilas (Wulfila) die Bibel (mit Ausnahme der Bücher der Könige) und hinterließ in dieser teilweise erhaltenen Übersetzung eins der kostbarsten Denkmäler für die Geschichte der deutschen Sprache, das einzige wesentliche Zeugnis [735] des sonst untergegangenen Gotischen. Aber das mutige Beispiel des arianischen Bischofs fand keine entsprechende Nachahmung, und nur das äußerste Bedürfnis drang den fränkischen, irischen und angelsächsischen Bekehrern im eigentlichen Deutschland nach und nach Übersetzungen einzelner Predigten, Glaubens- und Beichtformeln ab oder reizte zu eigenen Abfassungen in der im ganzen doch für barbarisch erachteten Sprache. In der Hauptsache war es „dürftige Prosa“, was auf diesem Weg entstand. Dem Reichtum und der eigentlichen Macht der deutschen Sprache wichen die Geistlichen eher aus, als daß sie ihn suchten. Da sie die Lust des Volkes an den alten Liedern, welche in dieser Zeit der wandernde Spielmann noch von Herd zu Herd trug, als verderblich erachteten, in der Erinnerung an die kriegerischen Sagenhelden nicht mit Unrecht Rückfall ins Heidentum witterten, da sie sich lange in einem völligen Gegensatz zu der Vorstellungs- und Sinnesweise des Volkes befanden und das Gefühl dieses Gegensatzes in den Klosterschulen auch bei der heranwachsenden Generation genährt ward, so währte es geraume Zeit, bis ein Einklang zwischen der eigentlichen Volksnatur und Volkssitte und der neuen kirchlichen Ordnung eintrat. Spärlich waren unter solchen Umständen auch die poetischen Versuche, welche aus der neuen christlichen Bildung und aus den Reihen der Geistlichkeit hervorgingen. Einige Gesänge aus dem 9. Jahrh. („Bittgesang an den heil. Petrus“, ein „Loblied auf den heil. Georg“, eine Bearbeitung des 138. Psalms), das „Wessobrunner Gebet“ und das vom Jüngsten Tag handelnde Gedicht „Muspilli“, welches mit der heidnischen Vorstellung vom großen Weltbrand durchsetzt ist, zeigen die Dürftigkeit der Vorstellungen, die Ungelenkheit der Form. In poetischer Hinsicht wichtiger sind die beiden christlichen Hauptdichtungen der karolingischen Zeit: der in altsächsischer Mundart nach dem Evangelium des Matthäus und der Tatianischen Evangelienharmonie verfaßte, kräftig-einfache „Heliand“ (Heiland), den ein niederdeutscher Dichter in den Tagen Ludwigs des Frommen (vielleicht im Auftrag desselben) schrieb, und der im direkten Anschluß an die Weise der allitterierenden Heldengesänge die tiefere Teilnahme des neubekehrten Sachsenvolkes an dem mächtigen Sohn Gottes als dem Völkerherrn und Landeswart zu wecken suchte, und die hochdeutsche „Evangelienharmonie“ des Weißenburger Mönches Otfried vom Ende des 9. Jahrh., in welcher der Dichter den Franken ein christliches Heldengedicht zu schaffen beabsichtigte. Otfried war der erste, welcher an die Stelle der Stabreimform den Reim setzte und regelmäßigen Strophenbau einführte, womit er für einen Teil der folgenden Dichter vorbildlich wurde. Ungefähr derselben Zeit gehört das von einem Geistlichen verfaßte weltliche „Ludwigslied“ an, welches einen Sieg Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt (881) feiert. In der Weise dieses auf ein Zeitereignis bezüglichen Liedes haben nach zuverlässigen Zeugnissen noch andre Lieder existiert, die namentlich während des 10. und im Übergang zum 11. Jahrh. zahlreicher wurden. Auch gemischt lateinische und deutsche Gedichte scheinen zu erweisen, daß zwischen der Spielmannsdichtung und der Poesie der Kleriker sich allmählich eine Wechselwirkung herstellte. In der lateinischen Klosterlitteratur dieses Zeitraums entwickelten sich überdies mancherlei Keime, welche später in der deutschen Litteratur aufgehen sollten, und so muß der ältesten Anfänge der Weihnachts- und Passionsspiele in kleinen lateinischen Dramen sowie der lateinischen Stücke der Gandersheimer Nonne Hroswitha (Roswitha) vom Ende des 10. Jahrh. gedacht werden, mit denen sie den in den Klöstern vielgelesenen Terenz verdrängen wollte.

Die Litteraturdenkmäler, auch im 10. Jahrh. noch vereinzelt, werden im 11. etwas zahlreicher; es treten bestimmtere Autorennamen, man kann noch nicht sagen erkennbare Dichterpersönlichkeiten, hervor. In der Zeit der sächsischen und fränkischen Kaiser (von der Thronbesteigung Heinrichs I., 919, bis zum Tod Heinrichs III., 1056) bestanden im wesentlichen die großen Formen der karolingischen Monarchie, des „theokratischen Kaisertums“ fort; die emporstrebende streng kirchliche Auffassung samt der ganzen Vorstellungswelt der Geistlichkeit drang auch in die Volksmassen ein, obwohl mit Spott und Entrüstung bezeugt wird, daß die „Bauern“ fortfuhren, von Siegfried und Dietrich von Bern zu singen. Die Legendenpoesie, mit den Pseudoevangelien, mit heimischen und fremden Wundergeschichten genährt, trat in den Vordergrund, fand inzwischen erst im 12. Jahrh. künstlerische Gestaltung. Dem 11. Jahrh. gehören die deutsche Psalmbearbeitung des St. Gallener Mönches Notker Labeo (gest. 1022), die Auslegung des „Hohenliedes“ des Fuldaer Mönches Williram (gest. 1085 als Abt des Klosters Ebersberg), die biblischen Gedichte des Scholastikus Ezzo, auch das vielbesprochene kosmographische Gedicht „Merigarto“ an. Im Übergang zum 12. Jahrh. verfaßte eine Frau Ava (gest. 1127 zu Göttweih) ein größeres Gedicht: „Vom Leben Jesu und vom Antichrist“, ihr angeblicher Sohn Heinrich ein Gedicht „Von des Todes Gehügede“. Die meisten Gedichte und poetischen Bruchstücke dieses Zeitraums erscheinen kunstloser, verwilderter; in manchen wechselt Poesie und Prosa. Die eigentlich althochdeutsche Sprache, von der die ganze Litteraturperiode den Namen der althochdeutschen führt, klingt mit Notker aus. Auch die altniederdeutsche (altsächsische) Sprache bewahrte höchstens bis zu diesem Zeitraum die alte Kraft und Fülle; die Zeugnisse eines litterarischen Lebens blieben ganz vereinzelt, der „Heliand“ fand keine Nachahmung.

II. Zeitraum.
Zeit der Kreuzzüge. Aufschwung der Dichtung. Beginn der ritterlich-höfischen Poesie.

Im Wendepunkt des 11. zum 12. Jahrh. beginnt eine neue, hochinteressante und reiche Entwickelung der deutschen Litteratur, im wesentlichen an das Emporkommen und die weitere Durchbildung der als Mittelhochdeutsch bezeichneten Schriftsprache gebunden. Den stärksten Anteil an dem raschen Aufblühen einer großen geistlichen Litteratur in deutscher Sprache und einer ihr kühn zur Seite tretenden ritterlichen Dichtung hatten die Eindrücke der bewegten Zeit. Der unter Heinrich IV. beginnende Riesenkampf zwischen der weltlichen Gewalt und den Weltbeherrschungsansprüchen der Hierarchie, die gewaltigen, bunten und wechselnden Eindrücke der Kreuzzüge, die tausendfach neuen Lebensverhältnisse selbst, die in Deutschland aus dem Emporkommen der Landesfürsten, dem gesamten Lehnssystem und Städtewesen erwuchsen, die Aufwühlung der Volksseele bis in ihre Tiefen und die Erweiterung des Gesichtskreises förderten gleichmäßig das Gedeihen der Litteratur, welche sich fast ausschließlich in den Formen der Poesie darstellt und selbst in Weltbeschreibungen, Lebensgeschichten und historischen Werken die Übermacht einer gesteigerten Phantasie erkennen läßt. Das tiefe innige Glaubensleben, das sich in [736] dieser Zeit geltend machte, schloß eine freudige, kräftige, selbst verwegene Weltlichkeit nicht aus, ja durchdrang sich in wundersamster Weise mit derselben; aus heimischem Leben und Fremde, aus Lektüre und Anschauung strömte den Dichtern eine Fülle der Stoffe wie der Empfindungen zu. Die niemals erstorbene und von den wandernden Spielleuten weiter getragene Volksdichtung erwacht gleichzeitig mit der ritterlichen Poesie zu neuem Leben, zieht höher strebende poetische Kräfte zur Neugestaltung ihrer alten großen Stoffe an, und das Mittel der Schrift wird für einzelne ihrer Bildungen in umfassenderer Weise in Anspruch genommen. Die ganze volle Entfaltung all dieses poetischen Lebens fand erst in der folgenden Periode unter den hohenstaufischen Kaisern statt, aber immerhin darf die Zeit von der Mitte des 11. bis gegen das Ende des 12. Jahrh. schon eine litterarisch reiche genannt werden.

Mit dem „Annolied“, zu Ehren des 1075 verstorbenen heil. Anno, Erzbischofs von Köln, gedichtet, mit der poetischen „Kaiserchronik“ (bis 1147 reichend), die ältere Dichtungen in sich aufgenommen hat, mit dem „Lied von Alexander“ des niederrheinischen Pfaffen Lamprecht, dem aus einem französischen Gedicht übersetzten „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad, die sämtlich der ersten Hälfte des 12. Jahrh. angehören, betreten wir das große Gebiet der epischen Dichtung, deren Stoffmischung sich schon hier offenbart. Gedichte von „König Rother“, „Orendel“, „St. Oswald“, die Sage von „Pilatus“, die „Legende der heil. Veronika“ von Wernher vom Niederrhein weisen zum Teil auf die weltliche Spielmannsdichtung hin. Wie die alten Stoffe weiter bearbeitet wurden, geht aus „Reinhart Fuchs“ von Heinrich dem Gleißner (Glichesäre), einem Elsässer, der nach französischem Vorbild dichtete, hervor. Vertreter der eigentlichen Kunstlyrik und der Anfänge des nachmals so ausgebreiteten Minnesanges treten gleichfalls in der ersten Hälfte und um die Mitte des 12. Jahrh. auf: so der Österreicher von Kürenberg (zwischen 1120–40?), der sich der Nibelungenstrophe bedient, und dem darum einzelne Forscher die Dichtung des Nibelungenliedes selbst zuschreiben wollen; so sein Landsmann Dietmar von Aiste, der Schwabe Meinloh von Sevelingen, der Burggraf von Regensburg und Friedrich von Hausen, der als Kreuzfahrer 1190 im Heiligen Land blieb. Mit dem letztern begann die Herübernahme der Weisen romanischer Lyrik in die deutsche Dichtung; rasch entfaltete sich eine große Abwechselung der Formen und der Liederarten. Die „Taglieder“, „Klagelieder“, „Leiche“, „Tanzlieder“, „Lob- und Rügelieder“, „Kreuzlieder“ in der weltlichen Lyrik, die „Marienlieder“ in der geistlichen begannen von allen Seiten zu erklingen.

III. Zeitraum.
Die Blütezeit der mittelhochdeutschen Dichtung. Zeit der Hohenstaufen (Staufer).

Die höchste Blüte der mittelhochdeutschen Dichtung, vom Ende des 12. Jahrh. an, fiel mit der ruhmreichen Herrschaft der Kaiser aus dem staufischen Haus zusammen. Selbstgefühl, Thatkraft und Wohlstand aller Stände des deutschen Volkes waren mächtig gehoben, die gewaltigen Herrschergestalten Friedrichs I. (Rotbart), Heinrichs VI. und Friedrichs II., die fortwirkenden Eindrücke großen Weltverkehrs und siegreicher Kämpfe, gesteigerter und freudiger Lebensgenuß, namentlich an den Höfen und in den Kreisen des ritterlichen Adels, gaben der Periode den Charakter einer Glanzzeit. Die poetische Litteratur in allen Formen der erzählenden Dichtung, der Lyrik und Lehrdichtung, spärlich nur in dramatischen Gebilden, erlangt eine beinahe überwältigende Fülle und erstaunliche Breite. Ihre Hauptrepräsentanten waren jetzt nicht mehr Geistliche, sondern Männer ritterlichen Standes. Nahmen an der Minnedichtung Fürsten und Herren, selbst die staufischen Kaiser und Könige Anteil, so machten doch vorwiegend Glieder des niedern Adels, denen sich vereinzelt bürgerliche Meister anschlossen, die Dichtung zum Lebensberuf und suchten durch unablässiges Anrufen der „Milde“ hochgepriesener Gönner Unterhalt und gelegentlichen Überfluß zu gewinnen. Daß neben diesen ritterlichen Sängern die fahrenden Spielleute nicht verschwanden, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Soweit Namen und Gestalten erkennbar sind, bevorzugten die ritterlich-höfischen Dichter die neuen weltlichen welschen Stoffe, die ihnen meist aus französischen Quellen zuflossen; indes bleibt es Thatsache, daß die endgültigen Gestaltungen der großen, auf rein deutschen Überlieferungen beruhenden Nationalepen, das „Nibelungenlied“ und „Gudrunlied“, in die Blütezeit der ritterlichen Dichtung fallen und in Südostdeutschland der Entfaltung der ritterlichen Epik auf Grund fremder Sagen und Erfindungen zur Seite standen, vielleicht vorangingen.

Auf alle Fälle sind die Volksepen, voran „Der Nibelungen Not“, die großartigsten Denkmäler dieser Blütezeit deutscher Poesie. Das „Nibelungenlied“ vereinigt die hervorragendsten Gestalten des niederrheinischen und burgundischen mit einzelnen des gotischen Sagenkreises; es sucht an erzählender und charakterisierender Kraft, an innerm Reichtum und gewaltiger hochdramatischer Steigerung, namentlich in der zweiten Hälfte, seinesgleichen. Wieviel auch in einzelnen Liedern und Abenteuern vorhanden gewesen sein mag, an der nun niedergeschriebenen Gestaltung, die in den Anfang dieser Periode hinaufreicht, muß eine mächtige dichterische Begabung entscheidenden Anteil gehabt haben. In minderm, aber noch immer hohem Grad begegnen uns die eindringlichen Vorzüge der volkstümlichen Epik im „Gudrunlied“, welches friesisch-normännische Sagen mit dem Hintergrund der See- und Raubzüge und der Kämpfe altgermanischer Seekönige gestaltet und namentlich im unübertrefflich schönen, seelisch tiefen letzten Teil auf einen großen Dichter zurückweist. Ferner im Zeitalter der ritterlichen Dichtung entstandene und wahrscheinlich ritterlichen Sängern angehörige Gestaltungen alter Sagenstoffe waren: „Die Rabenschlacht“ und „Dietrichs Flucht“ (beide von einem Heinrich dem Vogler), „Alphart“, „Walther und Hildegunde“ (von einem steirischen Dichter, nur bruchstückweise erhalten), „Ortnit“, „Wolfdietrich“, „Der große Rosengarten“, „Biterolf“, „Laurin“, „Der kleine Rosengarten“, „Der Nibelungen Klage“, „Das Eckenlied“, „Dietrichs Drachenkämpfe“, „Goldemar“ (von einem Tiroler Ritter, Albrecht von Kemenaten), von denen denn freilich ein Teil nur in spätern Überarbeitungen und Handschriften erhalten blieb.

Die ritterlich-höfische Epik im engern Sinn, mit Trägern, von deren Leben und Schicksalen wir meist einige Nachrichten besitzen, Dichtern, denen mehrere Werke angehören, und die beinahe alle auch in den Reihen der Lyriker (Minnesänger) stehen, hatte einen raschen Aufschwung, eine glänzende Entfaltung und verhältnismäßig raschen Verfall. Ihr erster namhafter Vertreter war Heinrich von Veldeke (zwischen 1175–90), aus dem Limburgischen, ein Edelmann vom Niederrhein, der auch sprachlich insofern Bedeutung hat, als er den Übergang vom „Mitteldeutschen“ [737] zum eigentlichen Mittelhochdeutschen vertritt. Er schrieb außer einem legendarischen „Servatius“ und Minneliedern seine „Eneide“ (nach französischem Vorbild), deren Anlage und Ausführung auf die nachfolgende ritterliche Dichtung stark einwirkte. Gleichzeitig und wenig später entstanden der „Eraclius“ des Meisters Otto, der „Karlmeinet“ eines ungenannten Dichters, das „Lied von Troja“ (Trojanerkrieg) des Herbart von Fritzlar. Höher in Weltauffassung und Kunst erhoben sich die großen Epiker der ersten Jahrzehnte des 13. Jahrh.: Hartmann von Aue, der in den Gedichten: „Der arme Heinrich“, „Erec“, „Gregorius vom Stein“, „Iwein“ die verschiedensten Stoffe behandelt; Gottfried von Straßburg, dessen viel angefochtener „Tristan“ durch glutvolle Leidenschaft und höchste Formvorzüge wie kein andres Gedicht der Zeit ausgezeichnet ist; Wolfram von Eschenbach, der tiefsinnigste, innigste, sprachgewaltigste und phantasiereichste ritterliche Dichter des deutschen Mittelalters, welcher im „Parzival“ die über Frankreich nach Deutschland gelangte keltische Sage in wunderbarer und eigenartiger Richtung neu gestaltete, im Gedicht „Willehalm“ einen Stoff des karolingischen Sagenkreises bearbeitete, im unvollendeten „Schionatulander“ aber auf seine frühere Stoffwelt zurückgriff. Der Blütezeit gehören an Dichtungen von tieferm Gehalt und durchgebildeter Kunst noch an: „Flore und Blanscheflur“ des Konrad Flecke, „Wigalois“ des Wirnt von Gravenberg, „Lancelot“ des Ulrich von Zatzikhoven. Gottfried von Straßburg fand später Fortsetzer in Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, Wolfram von Eschenbach gleichfalls in dem Türheimer, in Ulrich von dem Türlin, Albrecht von Scharffenberg und den unbekannten Dichtern des „Wartburgkriegs“ und des „Lohengrin“. Auch die Zeit zwischen 1220–60, obschon den ritterlichen Dichtern bereits minder günstig, brachte noch hervorragende Leistungen. Der Stricker dichtete außer den größern Epen „Daniel von Blumenthal“ und „Karl“ einzelne Fabeln und die im „Amis“ vereinten Schwänke; Rudolf von Ems bewährte sich als fruchtbarer und glücklicher poetischer Erzähler im „Guten Gerhard“, „Baarlam und Josaphat“, „Wilhelm von Orlienz“, im „Alexander“ und der unvollendeten „Weltchronik“; der „Pleier“, aus einem steirischen Geschlecht, vollendete nicht weniger als drei Epen aus dem Artuskreis: „Garel vom blühenden Thal“, „Tandarois und Flordibel“, „Meleranz von Frankreich“. Am höchsten unter allen erzählenden Gedichten der Nachblüte steht wohl der vortreffliche „Meier Helmbrecht“ von Wernher dem Gartener, einem bayrischen Geistlichen zwischen 1234 und 1250. Selbst rein geistliche Stoffe wurden im Stil des höfischen Epos behandelt, so: „Die Kindheit Jesu“ von Konrad von Fußesbrunn und die „Himmelfahrt Mariä“ von Konrad von Heimesfurt. Gegen den Schluß des Jahrhunderts, unter ungünstigen Zeitumständen und bei rasch eintretender Kunstverwilderung, erhob sich noch ein fruchtbarer, phantasievoller Dichter bürgerlichen Ursprungs, Meister Konrad von Würzburg, der in lyrischen Gedichten und einer besondern „Klage der Kunst“ freilich schon andeutet, daß guter Gesang jetzt bei Hof minder gefällt als schmähliche Worte, aber mit einer ganzen Reihe von erzählenden Gedichten: „Alexius“, „Silvester“, „Die goldene Schmiede“, „Engelhart und Engeltrud“, „Kaiser Otte“, „Das Herze“, „Partonopier und Meliur“, und dem ungeheuerlich großen Gedicht „Der Trojanische Krieg“ die spröden Zeitgenossen zu gewinnen trachtete.

Neben der Epik blühte eine reiche ritterliche Lyrik. Außer Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und Gottfried finden wir Heinrich von Morungen, Reinmar von Hagenau (Reinmar der Alte), Ulrich von Singenberg, Christian von Hameln, Leutold von Säben, Gottfried von Neifen, Burkard von Hohenfels, Ulrich von Lichtenstein (dessen „Frauendienst“ zugleich ein lebendig anschauliches Bild des ungesund gewordenen Minnewerbens und Minnedienstes gewährt), Hildbold von Schwangau, Ulrich von Winterstetten, Reinmar von Zweter, alle überwiegend der weltlichen Minne huldigend, gelegentlich auch (namentlich in Marienliedern) ihrer religiösen Empfindung Ausdruck gebend oder zur politischen Lyrik hinüberneigend. Der größte lyrische Dichter der Periode, Walther von der Vogelweide (gest. 1230 bei Würzburg), wahrscheinlich ein Tiroler oder Franke, der in Österreich am kunstsinnigen Hof der Babenberger „singen und sagen gelernt“ und am Hof Landgraf Hermanns von Thüringen gesungen, beherrscht das ganze Gebiet des Liedes. Seine Lieder lassen sich zwischen 1198 und 1228 fixieren. Ihm gelang es, in den künstlichsten Strophen der ritterlichen Lyrik die volle Frische des volkstümlichen Liedes zu erhalten; er ist „der vielseitigste, tiefste, männlichste lyrische Dichter Deutschlands“. Unter seinen Zeitgenossen und Nachfolgern bilden Nithart von Reuenthal, der Tannhäuser, Steinmar, Konrad von Kirchberg u. a. durch die Anlehnung an die volksmäßigen (dörfischen) Reigen eine besondere Gruppe innerhalb der ritterlichen Lyrik.

Auch die didaktischen Gedichte des Zeitraums stellen höfische Sitten und Tugenden (Hofzucht) in den Vordergrund, so: „Der Winsbeke“ und (minder wertvoll) „Die Winsbekin“; „Der welsche Gast“ des Thomasin von Zerclaere; Freidanks „Bescheidenheit“, des Tannhäusers „Hofzucht“ und „Der Renner“ des Hugo von Trimberg, der am Ausgang dieser Zeit (zwischen 1260 und 1309) entstand und einen allgemeinern Ton der Sittenpredigt anschlägt.

IV. Zeitraum.
Der Verfall der ritterlichen Dichtung und der Übergang zur bürgerlich-lehrhaften Poesie.

Am Ausgang des 13. Jahrh. war es entschieden, daß die ritterliche Dichtung keine Zukunft habe; der höfische Adel hatte aufgehört, Träger der besten Bildung der Zeit zu sein. Die edlen Sänger wurden wieder abgelöst von fahrenden Leuten bürgerlichen Ursprungs, welche freilich noch eine Zeitlang mit den Mitteln zu wirken suchten, durch welche die großen erzählenden Dichter und Lyriker der vergangenen Periode gewonnen hatten. Allegorie und übel angebrachte Gelehrsamkeit verdrängen das wirkliche Leben aus den epischen Dichtungen. So in der „Martina“ des Deutschordensritters Hugo von Langenstein (um 1293 gedichtet), so im „Alexander“ des Ulrich von Eschenbach (zwischen 1270–84), so im „Apollonius von Tyrland“ des Wiener Arztes Heinrich von der Neuenstadt (um 1300), so in der „Deutschordenschronik“ des Nikolaus von Jeroschin (um 1350). Einfacher blieben die großen Dichtungen geistlichen Stoffs und Gepräges, die jetzt in dem mannigfach heimgesuchten Deutschland wieder größern Beifall gefunden zu haben scheinen. Die große Legendensammlung eines ungenannten Dichters: „Das große Passional“ (100,000 Verse), die legendarische „Geschichte der heil. Elisabeth“, die „Marienleben“ von Bruder Philipp dem Kartäuser und Walther von Rheinau gehören hierher. Das rein allegorische Gedicht, welches im Anfang der Verfallzeit noch mit einer gewissen [738] Frische vereinbar war, wie „Die Jagd“ des Hadamar von Laber erweist, wird bereits im „Maidenkranz“ des Heinrich von Mügeln (um 1340) immer gespreizter und trockner. „Die Mörin“ und „Der goldene Tempel“ von Hermann von Sachsenheim (nach 1400) sowie „Die Blume der Tugend“ von dem Tiroler Konrad Vintler (1411) leiten zu den völlig didaktischen und in ihrer Lehrhaftigkeit rein ungenießbaren allegorischen Dichtungen hinüber, als deren letzte namhafte noch am Ausgang des 15. Jahrh. der „Teuerdank“ Kaiser Maximilians I. hervortritt. Auch die wenigen ritterlichen Lyriker, die verspätet noch sangen, wie Graf Hugo von Montfort, Oswald von Wolkenstein, suchten sich durch didaktische Wendungen und geistliche Mahnungen gleichsam zu rechtfertigen. Sie trafen hierin mit den bürgerlichen Didaktikern und strafenden Satirikern zusammen. Schon Heinrich zur Meise (Frauenlob, gest. 1318) hatte nach dieser Richtung eingelenkt, ebenso Heinrich der Teichner mit seinen Spruchgedichten und Peter Suchenwirt (in der zweiten Hälfte des 14. Jahrh.); der Dominikaner Ulrich Boner gestaltete seine moralisierende Fabelsammlung: „Edelstein“ (1330–1340) zu einem Lehrgedicht, das wiederum Spätern zum Muster diente. Die umherwandernden Dichter vom Handwerk wandelten sich allmählich in „Meistersänger“ um; sie legten großes Gewicht auf die Forterhaltung der künstlichen Formen der ritterlichen Kunst, deren Geist sie freilich in der völlig veränderten Zeit nicht erhalten konnten. Indem das bürgerliche Element mehr und mehr in den Vordergrund trat, begann sich rasch eine Scheidung zwischen den seßhaften, in den Städten die Kunst neben ihrem Handwerk ausübenden Meistersängern und den Vertretern des Meistergesanges zu vollziehen, welche „auf ihre Kunst ihr Brot suchten“. Die spätern Meistersänger beriefen sich allerdings noch auf umherziehende Meister, wie Bartel Regenbogen, den Schmied (vom Ende des 13. Jahrh.), auf Muskatblüt, den Gegner der Hussiten (erste Hälfte des 15. Jahrh.), auf Michael Behaim (1421–74), Weber, Kriegsmann und Berufsdichter, der, neben geistlichen und weltlichen Meisterliedern in 14 Meistertönen, die chronikalischen Gedichte: „Das Buch von den Wienern“ (Aufruhr der Wiener gegen Friedrich III., 1462) und „Das Leben des Pfalzgrafen Friedrich I. bei Rhein“ (1469) verfaßte. Im allgemeinen aber scheint dem in besondern „Zünften“, namentlich in den oberdeutschen Reichsstädten, gepflegten Meistergesang von vornherein eine Tendenz zum Bürgerlich-Ehrbaren, Ernst-Lehrhaften, ja, wie die Beziehung einzelner Meistersängerzünfte zu Begräbnisbrüderschaften etc. erweist, zum Erbaulichen und Andächtigen innegewohnt zu haben. Freilich vermochten die biedern bürgerlichen Meister weder die Ausschreitungen einzelner Genossen zu hindern, welche um die Wette mit den fahrenden Leuten, mit Geistlichen und Mönchen in derben und unzüchtigen Schwänken, Schmaus- und Trinkliedern den großen Haufen unterhielten, noch wußten sie mit ihren verschnörkelten und erkünstelten Weisen und Tönen den allgemeinen Verfall der eigentlich poetischen Kunst und die wachsende Sprachverwilderung aufzuhalten. Die gemeinsame mittelhochdeutsche Schriftsprache der großen Blütezeit verschwand im 14. und 15. Jahrh. in einer Art sprachlichem Chaos. Mundartliche Besonderheiten drängen sich überall vor; der Sinn für Reinheit der Reime, für den Wechsel von Hebungen und Senkungen im Vers, für Feinheit und Anmut wie für die Würde des Ausdrucks verlor sich völlig. Der Drang zum Neuen und Charakteristischen, der unverkennbar in dieser Verfallzeit sich geltend machte, kam zunächst doch mehr der Prosa als der Poesie zu gute, welche in diesem Zeitraum meist vom Abhub der verrauschten glänzenden Zeit lebte.

Von wirklicher Bedeutung für die Weiterentwickelung der Litteratur wurde die allmähliche Erstarkung der dramatischen Dichtung. Schon im 13. Jahrh. und zu Anfang des 14. Jahrh. waren die geistlichen Spiele, ursprünglich an kirchliche Feste geknüpft und in lateinischer Sprache geschrieben, teilweise vollständig deutsch geworden; in einem und dem andern lassen sich Spuren der höfischen Kunst erkennen, im allgemeinen aber gingen die Dichter und Bearbeiter der Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsspiele (denen sich verhältnismäßig wenige Legendenspiele nach fremden Mustern hinzugesellten) ihren eignen Weg. Die poetische Individualität hatte hier zunächst wenig Raum; ein Spiel, entlehnt aus dem andern, geht in das andre über; gleichwohl trat eine wachsende Mannigfaltigkeit der frei erfundenen und detaillierten Szenen ein, welche den Spielen einen stets volkstümlichern Charakter gab. Von den Spielen dieser Art sind hier das „St. Gallener Weihnachtsspiel“ und „St. Gallener Osterspiel“, das „Niederhessische Weihnachtsspiel“ und „Kremnitzer Weihnachtsspiel“, das „Wiener Osterspiel“, „Innsbrucker Osterspiel“, das „Redentiner Osterspiel“ (in niederdeutscher Sprache), die ausgedehnten, auf mehrtägige Darstellung berechneten „Passionsspiele“ von Alsfeld, Friedberg, Frankfurt a. M. zu nennen. Unter den Himmelfahrtsspielen bietet das Tiroler besonderes Interesse. Apokrypher waren die Spiele von der „Kindheit Jesu“, „Mariä Himmelfahrt“, das höchst eigentümliche, 1322 zu Eisenach aufgeführte „Spiel von den klugen und thörichten Jungfrauen“, dessen Dichter man auch das Erfurter Spiel „Von der heil. Katharina“ zuschreibt. Unter den Legendenspielen, welche Leben der Heiligen dramatisierten, finden wir das „Spiel vom heil. Georg“, das Kremsmünsterer „Spiel von der heil. Dorothea“, Spiele von „Susanna“, „Vom heil. Meinhard“, „Vom heiligen Kreuz“ (die Legende der Helena, der Mutter Konstantins, behandelnd), fast alle dem 15. Jahrh. angehörig. Den bedeutendsten dramatischen Anlauf nahm im „Spiel von Frau Jutten“ der Mühlhäuser „Meßpfaffe“ Theodorich Schernbeck (1480).

Vom 15. Jahrh. an treten selbständig neben den geistlichen Spielen, in denen es an derben und possenhaften Szenen nicht mangelt, die Fastnachtsspiele hervor, welche in den Städten von Gesellschaften junger Leute, zunächst wohl in Privathäusern, umherziehend gespielt wurden, besondere Bedeutung in Nürnberg gewannen, wo zwei volkstümliche, auch als Dichter erzählender Schwänke und Meistersänger auftretende Poeten, Hans Rosenplüt (zwischen 1440 und 1480) und der Bader Hans Folz, sie weiterbildeten. Der reinere von ihnen war unzweifelhaft Rosenplüt, während der „Barbierer“ Folz durch die üppigsten und zweideutigsten Scherze zu wirken suchte, vor keiner Unflätigkeit zurückschrak, aber viel frisches Leben und größere Gewandtheit im Aufbau und der Durchführung der Spiele entwickelte. Gelegentlich spielen die geistige Bewegung der Vorreformationsperiode (von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 16. Jahrh.), die Abneigung gegen das Treiben der entarteten Geistlichkeit, selbst der Anteil am politischen Leben und namentlich die Furcht vor den Türken herein. Zahlreiche Fastnachtsspiele sind ohne Namen der Dichter aufbewahrt, noch zahlreichere jedenfalls verschwunden.

[739] Die alte Sagendichtung wie die ritterlich-höfische Epik erlebten in dieser Periode eine letzte eigenartige Wandlung. Wohl gab es noch einige wenige poetische Bearbeiter; noch am Ausgang des 15. Jahrh. dichtete der Maler Ulrich Füterer für Herzog Albrecht IV. von Bayern ein Epos über „Lancelot und die Tafelrunde“, welches mit dem Argonautenzug beginnt. Im allgemeinen aber entsprach es dem realistischen Sinn der unkünstlerisch gewordenen Zeit, daß die alten großen Epen in Prosaerzählungen aufgelöst wurden. Mit wirklichen Vorzügen und der kostbaren künstlerischen Form der Gedichte verschwanden gleichwohl auch einzelne Mängel. Da es sich um gedrängte Wiedergabe der Handlung und Charakteristik handelte, traten viele Äußerlichkeiten zurück; das Standesgefühl, welches die höfische Poesie erfüllt hatte, wich einer andern Auffassung der Dinge, die vielfach aus den sogen. Volksbüchern zu uns spricht. Großen Einfluß auf die rasche Entstehung und Verbreitung dieser Erzählungen in Prosa hatte die Erfindung des Buchdrucks, die überhaupt vom Ende des 15. Jahrh. an die Entwickelung der Litteratur mit bestimmte. Bis tief ins 16. Jahrh. hinein währte die im 15. beginnende Abfassung dieser Volksbücher, welche die Reste des Reichtums der mittelalterlichen deutschen Poesie mit einzelnen Bearbeitungen späterer fremder Dichtungen zugleich einer völlig veränderten Zeit überlieferten. „Loher und Maller“, „Hug Schapler“, „Melusine“, „Fierabras“, „Die Haimonskinder“, „Die schöne Magelone“, „Kaiser Octavianus“, „Herzog Ernst“, „Wigalois“ und „Tristan“, die Schwanksammlungen: „Peter Leu“ und „Tyl Eulenspiegel“ bis zu den erst am Ende des 16. Jahrh. hervortretenden Volksromanen: „Doktor Faust“ und „Die Schildbürger“ vergegenwärtigen, wie trotz der vorwaltenden Verstandesrichtung der Zeit die Ansprüche der Phantasie auch in breiten Lebensschichten fortbestanden.

Daß in dem in Rede stehenden Zeitraum die Bedeutung, Ausbreitung und die Wirkung der Prosa, der geschichtlichen, beschreibenden und lehrhaften Litteratur, wuchsen, ward schon angedeutet. Einen entscheidenden Anteil am Gewinn einer auch formell wertvollen und die geistige wie sprachliche Weiterbildung der Nationallitteratur fördernden Prosa hatten vor allen die deutschen Mystiker des 14. Jahrh., unter denen Meister Eckhart (zwischen 1260 und 1327) der älteste war. Außer seinen Schriften wurden die von Nikolaus von Basel, Johann Tauler (gest. 1361, „Nachfolgung des armen Lebens Christi“), Heinrich Suso (gest. 1365, „Büchlein von der ewigen Weisheit“), Rulmann Merswin (gest. 1382, „Buch von den neun Felsen“), Otto von Passau („Die vierundzwanzig Alten, oder der güldene Thron der minnenden Seelen“), ferner das Büchlein „Deutsche Theologia“ von einem Frankfurter Priester (Ende des 14. Jahrh.) und die Predigten des spätern Johann Geiler von Kaisersberg (1445–1510, namentlich die über Seb. Brants „Narrenschiff“) von besonderer Wichtigkeit. In der darstellenden Prosa versuchten einzelne Chronisten sich schon jetzt zur Geschichtschreibung zu erheben, ohne daß ihnen dies sonderlich geglückt wäre. Die „Limburgische Chronik“ des Stadtschreibers Johannes (um 1350), die „Thüringische Chronik“ des Johannes Rothe von Eisenach (um 1420), die „Berner Chronik“ von Diebold Schilling und die „Chronik der Eidgenossenschaft“ von Petermann Etterlin ragen aus der Menge der Versuche hervor; ihr litterarischer Wert liegt in Ansätzen zu lebendigen Einzelschilderungen und sprachlichen Eigentümlichkeiten.

V. Zeitraum.
Das Reformationsjahrhundert.

Um die Mitte des 15. Jahrh. hatte während der langen ruhmlosen Regierung Kaiser Friedrichs III. der Verfall des Deutschen Reichs stetige Fortschritte gemacht; die kirchlichen Verhältnisse waren trotz der Reformkonzile von Konstanz und Basel immer unerquicklicher, die Entsittlichung und Verweltlichung der Geistlichkeit immer ärger geworden. Dabei trat eine weitreichende Veränderung aller frühern realen Lebensverhältnisse ein, deren Ursachen man nur vereinzelt begriff, deren Druck aber ganze Volksklassen und Stände traf, so daß schon durch diese Vorbedingungen eine Epoche der Gärung und des Kampfes gegeben gewesen wäre. Regten sich nun, wie es überall in Deutschland der Fall war, dabei Tausende von gesunden Kräften und Bestrebungen im einzelnen, drängten sich zwischen den absterbenden Bildungen des Mittelalters neue hochbedeutsame Lebensbildungen hervor, begegnete dem tiefreichenden Unmut und der weithin sichtbaren Zerrüttung anderseits ein frischer Aufschwung des Volksgeistes, Sehnsucht und zuversichtliche Erwartung einer Reform an Haupt und Gliedern, einer großen Veränderung zum Bessern: so mußte daraus ein Zustand chaotischer, aber frischer und im ganzen hoffnungsfreudiger Bewegung hervorgehen. So trafen die großen Bewegungen des Humanismus und der Reformation auf eine außerordentliche Empfänglichkeit der Einzelnen wie der Massen. Das Studium der Sprachen und Schriftwerke des klassischen Altertums gewann vom Ende des 15. Jahrh. an eine kaum abzuschätzende Verbreitung, Bedeutung und Einwirkung auch auf das deutsche Leben. In bemerkenswertem Gegensatz zum italienischen Humanismus zeigte der deutsche zunächst einen schwer wiegenden Ernst, pädagogisch reformatorische Tendenzen. Die Anfänge der großen geistigen Bewegung knüpften an die Fortbildungen der Mystik an; der Zusammenhang der ersten hervorragenden Humanisten mit den niederdeutschen Brüdern vom gemeinsamen Leben darf mit Recht betont werden. Die geistigen Grundstimmungen, aus denen der deutsche Humanismus erwuchs, und die er wiederum großzog und nährte, erfüllten auch einen Teil der Litteratur in der Volkssprache. Die moralisierende und satirische Richtung, die beständige Forderung und Erwartung einer kirchlichen Erneuerung, die sich in den lateinischen Schriften der Humanisten finden, beleben auch die deutschen Dichtungen und Prosawerke der Vorreformation. Der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der deutschen politischen und sozialen Zustände um die Wende des 15. und 16. Jahrh. entsprach eine ähnliche Mannigfaltigkeit der geistigen Leistungen und Versuche. Aber das eigentliche Ideal der Zeit blieb bewußt und unbewußt die kirchliche Reform, und die mächtige Bewegung der Kirchenreformation, die mit dem Auftreten Luthers 1517 ihren Anfang nahm, überwältigte und verschlang in Deutschland bald alle andern Bewegungen und Bestrebungen. Durch sie wurde der Volksgeist wie nie vorher oder nachher bis in seine letzten Tiefen erregt. Erlebte in der Reformation der vom Humanismus und der emporstrebenden Weltlichkeit bedrohte und im Kern mittelalterliche Geist ausschließlich kirchlich-religiöser Lebensrichtung seine gewaltigste Auferstehung, so verband er sich doch mit Elementen, die ausschließlich der neuern Zeit angehörten, und entfesselte, indem die große europäische Kircheneinheit des Mittelalters endgültig gebrochen ward, die freie Überzeugung und Empfindung der Individuen. Das [740] Jahrhundert gewaltiger Erschütterungen und Kämpfe, eines großartigen geistigen Ringens, an dem fast jeder einzelne nach Maßgabe seiner Kraft Anteil zu nehmen hatte, zeitigte starke und eigenartige Charaktere. Die deutsche Dichtung und Litteratur des 16. Jahrh., zunächst von den Doppelwirkungen des Humanismus und der Reformation durchdrungen, trat im Verlauf der letztern immer ausschließlicher in Abhängigkeit von der kirchlichen Bewegung. Die religiösen Kämpfe und das neue Glaubensbewußtsein durchdrangen alles Dasein, also auch alles litterarische Streben. Eine Fülle von Kraft und Leben, von geistiger Gewalt und fortreißender Überzeugung war der Litteratur besser verbürgt als die künstlerische Durchbildung und Läuterung. War sonach, wie Uhland hervorhebt („Geschichte der deutschen Dichtkunst im 15. und 16. Jahrhundert“), „die Dichtkunst dieses Zeitraums nur ein Werkzeug andrer Zwecke, so war doch dieses Werkzeug ein kräftig bewegtes, eine klingende, Funken schlagende Waffe. Sie ist oft mehr eine Fechtkunst als eine Redekunst, oder sie ist die Rede eines Predigers im Lager, der Gesang eines Landsknechts. Ohne Zartheit und Anmut, ist sie oft derb bis zur Roheit, ungeschliffen, wenn sie nicht Schärfe hätte; wo sie kunstreich sein will, wird sie steif und trocken; will sie sich zierlich gebärden, so wird sie ungelenk; hat sie Frieden, so wird sie langweilig. Aber auf dem Kampfplatz oder auf der Bühne frischer Volkslust offenbart sie ihre eigentümlichen Tugenden: Kraft im Ernst und im Scherz, tüchtigen Witz, gesunden Welt- und Hausverstand. Man muß sich zu den Streitgedichten immer den Mann und seine Kampfstellung hinzudenken, dann wird das starre Rüstzeug sich klirrend bewegen.“

Alle bezeichneten Eigenschaften der Reformationslitteratur sind in jenen Werken vom Ausgang des 15. Jahrh. bereits vorhanden, welche aus den Kreisen der Humanisten hervorwuchsen, und deren Verfasser nachmals nur teilweise sich der Reformation anschlossen. Hier begegnen uns Seb. Brant (1458–1521) mit seinem weitgepriesenen, wirkungsreichen und viel nachgeahmten „Narrenschiff“; Thom. Murner (1475–1536) mit den satirisch-didaktischen Dichtungen: „Schelmenzunft“, „Narrenbeschwörung“ und „Gäuchmatt“; ferner die schweizerischen Dichter Pamphilus Gengenbach von Basel, Niklaus Manuel von Bern als Verfasser von frisch schildernden Gedichten und reformatorisch gestimmten Fastnachtsspielen; Johannes Pauli (Pfeddersheimer) mit den Erzählungen „Schimpf und Ernst“. Hierher gehören aber auch die deutschen Schriften des interessantesten ritterlichen Vorkämpfers der humanistischen Bewegung, des stürmischen Ulrich v. Hutten (1488–1523), die in ihrer spröden Rauheit noch auf die Periode zurückweisen, in welcher sich eine neuhochdeutsche Schriftsprache erst herauszuringen begann. Die niederdeutsche Litteratur empfing im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrh. im ideellen Zusammenhang mit der ganzen geistigen Bewegung der Zeit eine wertvolle Bereicherung durch die erneute Bearbeitung des „Reineke Fuchs“ von 1498.

Im Mittelpunkt der gesamten deutschen Litteratur wie des gesamten deutschen Lebens des 16. Jahrh. stand die alles überragende Gestalt Martin Luthers (1483–1546). Der große Kirchenreformator ward auch der größte deutsche Schriftsteller der Zeit; mit seiner deutschen Übertragung der Bibel förderte, ja schuf er im eigentlichen Sinn des Wortes die neuhochdeutsche Schriftsprache, welche geistigen Schwung, Wortfülle, melodische Kraft, Biegsamkeit für die höchsten Aufgaben der Poesie und Redekunst erst erhielt und der Litteratur der Zeit einen epischen Hintergrund gab, „auf den nur zurückgedeutet werden durfte, um ganze Reihen von Vorstellungen und Empfindungen wie durch Zauberschlag zu erwecken“ (Gödeke). Die große Zahl der übrigen Schriften Luthers ward für die gesamte Kampflitteratur des 16. Jahrh. geistiger Quell und ein Wortschatz zugleich, dessen Reichtum Tausende nutzten. Als Dichter brach Luther dem evangelischen Kirchengesang mit seinen Liedern die Bahn, in denen die Kraft, die Glut, selbst der Trotz seines Wesens vom freudigsten Glaubensgefühl und herzinniger Liebe durchdrungen erscheinen. Eine ganze Reihe evangelischer Liederdichter schloß sich an Luther an, unter ihnen Justus Jonas, Paul Eber, Veit Dietrich, Johannes Matthesius, Johann Walter, die Nürnberger Lazarus Spengler und Sebaldus Heyd, die Straßburger Wolfgang Dachstein, Heinrich Vogtherr, Wolfgang Capito, Paulus Speratus, der Deutschböhme Nikolaus Hermann und die Niederdeutschen Nikolaus Decius, Johannes Freder, Andreas Knöpken, unzähliger andrer zu geschweigen. Schon der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gehören dann die kirchlichen Sänger Cyriacus Spangenberg, Ludwig Helmbold, Kaspar Melissander, Philipp Nicolai u. a. an. Unter den poetischen Polemikern der Reformation ragt Erasmus Alberus mit Liedern und dem „Buch von der Weisheit und Tugend“ (polemischen Fabeln) hervor. Die litterarischen Verteidiger der alten Kirche, wie Hieronymus Emser, Johann Cochläus, Georg Wicel, blieben beinahe wirkungslos. Auch die weltliche Dichtung bis herab auf die Unterhaltungslitteratur im gewöhnlichsten Sinn ward vom Geiste der Reformation ergriffen. Der größte und populärste weltliche deutsche Dichter des 16. Jahrh., der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494–1576), war einer der begeistertsten Anhänger Luthers. Hervorragender Meistersänger, vor allem aber Meister der volkstümlichen poetischen Erzählung, des Schwanks und des Fastnachtsspiels, Vorläufer oder Begründer des weltlichen deutschen Dramas in größerm Stil, zeichnete er sich als phantasievoller, frohsinniger, heiter-verständiger, witziger Vertreter des protestantisch gesinnten deutschen Bürgertums aus; die Fruchtbarkeit seiner durch umfassende Lektüre genährten Erfindungskraft ward durch eine glückliche sprachschöpferische Leichtigkeit des Ausdrucks unterstützt. Die kaum übersehbare Masse seiner lyrischen, allegorischen und didaktischen Gedichte, gereimten Erzählungen, Fabeln, Schwänke, seiner Tragödien und Komödien, seiner Fastnachtsspiele ward vorbildlich beinahe für die ganze erzählende und dramatische Dichtung der Zeit. Sachs schlossen sich auf dem Gebiet des Dramas an: Paulus Rebhuhn (mit einer „Susanna“ und „Hochzeit zu Kana“), Joachim Greff („Judith“), Peter Probst, Sebastian Wild (mit Schauspielen biblischen und romantischen Stoffes), Jakob Ruof von Zürich (biblische und patriotische Schauspiele: „Wilhelm Tell“, „Wohl- und Übelstand einer löblichen Eidgenossenschaft“), Leonhard Culmann; als Dichter von geistlichen Spielen, Fastnachtskomödien, als poetischer und prosaischer Erzähler, als einer der Mitbegründer des Romans wie als Übersetzer Jörg Wickram von Kolmar (zwischen 1520 und 1557 thätig). Als poetische Erzähler zeichneten sich aus Burkard Waldis („Esopus“), M. Montanus, H. W. Kirchhof („Wend-Unmut“). Von den sonstigen für die Litteraturentwickelung der Folge wichtigen Prosaikern der Zeit, deren doch keiner an Luther heranreichte, ist der bedeutendste, durch seine [741] geistige Vielseitigkeit und Selbständigkeit wie durch seine Beziehungen zu den radikalen Parteien der Reformation wichtige, viel angefochtene Sebastian Franck (um 1500–1545), dessen „Weltbuch“, „Zeitbuch und Geschichtsbibel“, „Chronika des deutschen Landes“ sowie die prächtigen Auslegungen der deutschen „Sprichwörter“ Muster trefflicher Prosa geheißen zu werden verdienen. Lebendiger Auffassung und Darstellung begegnen wir auch in der „Bayrischen Chronik“ des Johann Turnmayr von Abensberg (Aventinus, gest. 1534) und der „Schweizerchronik“ des Ägidius Tschudi. Der Franckschen Sprichwörtersammlung folgte 1566 die des Johann Agricola; den Geschichtswerken schließen sich die charakteristischen Autobiographien des Götz v. Berlichingen, Thomas Platter und des schlesischen Ritters Hans v. Schweinichen an.

Die deutsche Dichtung der zweiten Hälfte des 16. Jahrh., obschon im allgemeinen noch unter der Herrschaft derselben Einwirkungen und Antriebe stehend wie die der ersten Hälfte, zeigt doch bemerkenswerte Veränderungen. Die erste frische Begeisterung der großen Erhebung war verbraust, die Hoffnung auf eine einheitliche evangelische Nationalkirche und eine gleichzeitige Erneuerung der alten Herrlichkeit des Deutschen Reichs gescheitert; die reformatorische Stimmung war im Streite der alten und neuen Kirche, des Luthertums und des Calvinismus untergegangen, das Reich, obschon noch von keinem äußern Feind angegriffen, trotz Religionsfriedens innerlich zerrütteter als je zuvor. Der wüst werdende theologische Parteikampf und Wortstreit, in den ganz Deutschland wieder und wieder hineingezogen ward, erstickte und zertrümmerte alle nicht theologische Kultur; der Geist des Volkes verwilderte, die zunehmende Grausamkeit des deutschen Lebens machte sich gegen Ende des Jahrhunderts in der härtern, strengern Standesscheidung, den Greueln der Hexenprozesse, der stets barbarischer werdenden Justiz und tausend andern häßlichen Lebenserscheinungen mitten im materiellen Gedeihen geltend. In der Litteratur begann die volkstümliche Darstellung ins Rohe und Platte zu sinken; wo höhere Ansprüche erhoben wurden, drängten sich bereits unerfreuliche Nachahmung ausländischer Vorbilder und die Neigung zur Entfaltung von Gelehrsamkeit in die freischöpferische Thätigkeit herein.

Der hervorragendste deutsche Dichter und Schriftsteller der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. war Johann Fischart (Mentzer, zwischen 1540 und 1589), in den Kämpfen der Zeit auf protestantischer (calvinistischer) Seite viel beteiligt, scharfer Gegner der Jesuiten und der katholischen Gegenreformation, trotz umfassender Gelehrsamkeit eine auf volkstümliche Wirkung gestellte, kraftvolle, humoristische Natur, der in seinen satirischen wie ernsthaften Dichtungen: „Eulenspiegel reimsweis“, „Flöhhatz, Weibertratz“, „Das glückhafte Schiff von Zürich“, in kleinen Prosaschriften, vor allem aber in seiner Bearbeitung des Rabelaisschen „Gargantua“: der „Affentheuerlichen Geschichtsklitterung“, ein vielseitig sprachgewaltiges, mit selbstgeschaffenen Schwierigkeiten virtuos spielendes Talent entfaltete und die Fülle und den überwältigenden Reichtum der deutschen Sprache noch einmal vor einem langwährenden Niedergang vor Augen stellte. Neben ihm traten als poetische Erzähler Wolfhart Spangenberg („Ganskönig“), Georg Rollenhagen („Der Froschmeuseler“) auf; schon Bartholomäus Ringwalt („Christliche Warnung des treuen Eckart“, „Die lautere Wahrheit“) zeigt die wachsende Verdüsterung des Sinnes sowie eine zunehmende Plattheit des Ausdrucks. Erzähler in Prosa waren in diesem Zeitabschnitt Lazarus Sandrub, Eucharius Eyering, Erasmus Widmann u. a. Die dramatische Poesie ward nicht nur durch die Zeitrichtung, sondern durch von außen hereintretende Elemente, namentlich durch die äußerlich effektreichen Stücke der herumziehenden sogen. englischen Komödianten, stark beeinflußt. Die Schauspiele des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig (1564–1613) und die Dramen des nürnbergischen Dichters Jakob Ayrer (gest. 1605), dessen Tragödien, Lustspiele und Singspiele als die bedeutendsten dramatischen Produktionen vom Ende des 16. Jahrh. zu gelten haben, zeigen bei allen Vorzügen keinen reinen poetischen Sinn. Gegenüber der ersichtlichen Verwilderung der Empfindung und der Trivialität der Massenproduktion war es eine unvermeidliche Wendung, daß eine kleine Gruppe von Poeten sich in Nachahmung der gebildeten Dichter des Auslandes, der Italiener und Franzosen, von der volkstümlichen Litteratur schied und, edlere Formen, größere Würde der Poesie erstrebend, eine akademische Richtung begründete, welcher zunächst Ambr. Lobwasser, Paulus Melissus Schede, Peter Denaisius, Phil. von Winnenberg und vor allen Rudolf Weckherlin (1584–1651) folgten.

VI. Zeitraum.
Der Dreißigjährige Krieg und die gelehrte Dichtung.

Die Begründung einer neuen Kunst- oder vielmehr einer spezifischen Gelehrtendichtung, zu welcher die genannten akademischen Poeten im Beginn des 17. Jahrh. den Anlauf genommen hatten, fiel mit der größten Unheilszeit, die Deutschland durchlebte, mit dem greuelvollen, Land und Leute zerrüttenden und herabbringenden Dreißigjährigen Krieg, zusammen. Der Drang nach einer akademischen Poesie ging an sich nicht aus den Ereignissen und Folgen des Kriegs hervor, die deutsche Litteratur ward vom allgemeinen Zug des 17. Jahrh. mit ergriffen. Die Not und Verwüstung des Kriegs, die wachsende Verwilderung und Roheit des Volkes wurden für die Begründer und Fortsetzer der gelehrten Richtung eine Rechtfertigung und ein Sporn zugleich. Es schien eine rühmliche Aufgabe, sich durch eine vom Leben losgelöste Dichtung über den Jammer des umgebenden Daseins zu erheben. Doch drängte sich der Zeitgeist mit seiner blutigen Roheit, wüsten Plattheit und seinem geschmacklosen Prunk trotzdem in die Werke der gelehrten wie der ausklingenden volkstümlichen Dichtung herein. Die Barbarei, welcher das deutsche Leben durch den Krieg verfiel, wirkte in den Seelen der Poeten wie ihres Publikums nach und trat in Dichtungen zu Tage, welche geflissentlich die weitabliegendsten Stoffe in den unvolkstümlichsten Formen behandelten. Die deutsche Sprache verlor die Kraft, den Reichtum und die lebendige Beweglichkeit des 16. Jahrh., sank in Roheit und Schwulst oder erstarrte in Pedantismus; es durfte schon als ein Verdienst der gelehrten Dichtung angesehen werden, daß sie die barbarische Sprachmengerei, die im Gefolge des Kriegs auftrat, aus ihren Schöpfungen meist fern hielt. Die Zeit nach dem Krieg war womöglich noch trauriger als die wilde Kriegsperiode selbst. Die rohe Zuchtlosigkeit eines krieg- und blutgewöhnten Geschlechts, der nur mit hartem Regiment begegnet werden konnte, die schroffe Standessonderung, die Ausländerei der höhern Stände und namentlich ihre gegen den Ausgang des Jahrhunderts wachsende Abhängigkeit von Frankreich, der verhängnisvolle Einfluß des Hofs Ludwigs XIV., die gedrückte Servilität des einst so kräftigen und mächtigen, jetzt verarmten und herabgekommenen Bürgertums, die [742] Nüchternheit und Enge, die Brutalität und der Pedantismus aller nach dem Westfälischen Frieden herrschenden Lebensanschauungen und Lebensformen, die Verödung und herzlose Veräußerlichung der streitenden Kirchen, welche zu Münster und Osnabrück notgedrungen Frieden geschlossen hatten: alle diese hoffnungslosen Zustände und Erscheinungen drückten schwer auf das geistige, zumal das litterarische Leben Deutschlands. Allerdings begann gegen den Ausgang ebendieser Epoche neben der kunststörenden, herabdrückenden Einwirkung falscher Gelehrsamkeit auf die Litteratur auch der günstige, befreiende Einfluß wirklichen Denkens, innerlicher Aufklärung im besten Wortsinn. Obschon der große Philosoph Leibniz (1646–1716), der „genialste Polyhistor der Zeit“, wesentlich nur französisch und lateinisch schrieb, so übten die durchdringende Kraft seines Geistes, der Idealismus seiner Grundanschauungen einen tiefgehenden und heilsamen Einfluß auf das herabgekommene, innerlich verödete Geschlecht nach dem Krieg. Eine befreiende Wirkung ging auch von Leibniz’ Schüler und Nachfolger Christian Wolf (1679–1754) aus, dessen in deutscher Sprache vorgetragene Metaphysik bei ihrer encyklopädischen und formalistischen Natur für die Schulung der Geister Vorzügliches leistete. Chr. Thomasius (1655–1782) wirkte auf den verschiedensten Gebieten „vermischter philosophischer und juristischer Händel“ und erwarb sich um Geltung der Philosophie und vernünftiger Sittenlehre, um geistige Freiheit und weltfrohe Gewandtheit einer deutsch redenden Wissenschaft nicht hoch genug zu schätzende Verdienste. In entgegengesetzter Richtung, aber mit gleicher Wirkung gegen die Herrschaft einer kirchlichen Orthodoxie, die in starrsinniger Beschränkung und trostloser Äußerlichkeit das ganze lebenspendende Erbe der Kirchenreformation verloren hatte, half die pietistische Bewegung mit ihrer Verinnerlichung und ihrem wahrhaft religiösen Leben die Gemüter befreien und der Litteratur einen neuen Boden bereiten. In kleinen Kreisen wirkten die mystische Theosophie des dunkeln und tiefsinnigen Jakob Böhme, des Schuhmachers von Görlitz (1575–1624), in weitern die Lehren und Schriften der eigentlichen Begründer und Förderer des Pietismus, Philipp Jakob Spener (1635–1705) und Aug. Herm. Francke (1663–1727), nach. Langsam aber erwuchsen aus den so ausgestreuten Samenkörnern Keime, und bis sie aufgingen, herrschte die leben- und inhaltloseste gelehrte Poesie, der oft kaum der Name einer poetischen Rhetorik zuzusprechen ist. Daß das subjektive Talent in all dieser Öde und wüsten Geschmacklosigkeit nicht erlosch und sich unter günstigen Umständen über das Niveau der Zeit erhob, ändert an der Thatsache nichts, daß die deutsche Litteratur in das Zeitalter ihres tiefsten Verfalls getreten war.

Der gelehrt-akademische Charakter der litterarischen Weiterentwickelung Deutschlands sprach sich am Eingang des 17. Jahrh. in den gepriesenen Sprachgesellschaften aus, die mit der 1617 auf Schloß Hornstein begründeten „Fruchtbringenden Gesellschaft“ (Palmenorden) begannen. Die bis 1680 fortgesetzte, unter fürstlich anhaltischer und herzoglich weimarischer Protektion stehende Gesellschaft ward der florentinischen Crusca nachgebildet; sie erstreckte ihre Thätigkeit nur auf Reinhaltung der Sprache und erreichte selbst diese keineswegs bei allen ihren fürstlichen, vornehmen und gelehrten Mitgliedern. Noch unwichtiger waren die „Aufrichtige Tannengesellschaft“ (1633 in Straßburg gestiftet), die von Philipp Zesen ins Leben gerufene „Deutschgesinnte Genossenschaft“ in Hamburg (1643), welcher der „Elbschwanenorden“ (um 1660 von Johann Rist gegründet) folgte. Längeres Leben und eine gewisse Selbständigkeit zeigte der nürnbergische „Blumenorden“ oder die „Gesellschaft der Schäfer an der Pegnitz“ (durch Harsdörffer und Klaj 1642 gestiftet), in welcher eine besondere Richtung der Nachahmung italienischer Litteratur gedieh. Im ganzen waren die sämtlichen Orden und Gesellschaften durchaus ungeeignet, die Abhängigkeit der deutschen Dichtung ihres Jahrhunderts von fremden Mustern zu beseitigen oder auch nur einzuschränken.

Als „Vater“ einer neuen deutschen Dichtung von seiner Zeit gepriesen, in Wahrheit nur der Vater der unerquicklichen gelehrten Kunst und der Begründer der „schlesischen Dichterschule“, trat während des Dreißigjährigen Kriegs Martin Opitz (1597–1639) mit frostigen, aber im Sinn seiner im Büchlein „Von der deutschen Poeterey“ (1624) verkündeten Theorie mit korrekten und mustergültigen Gedichten auf, die sich auf Nachbildung antiker und Ronsardscher Dichtungen gründeten. Das Formprinzip, welches Opitz aufstellte, fand allgemeine Nachachtung, und selbst Dichter, die ihn an dichtender Kraft und Darstellungskunst weit überragten, bekannten sich als dankbare Schüler des „Boberschwans“. Unter den Genossen der ersten schlesischen Dichterschule wurden Andr. Tscherning, Dan. v. Czepko, A. Büchner, Dietrich von dem Werder bei ihren Zeitgenossen gepriesen. Über die gemachte Dichtung zur wirklichen, lebenerfüllten erhoben sich der Lyriker Paul Fleming (1609–40), der Dramatiker Andreas Gryphius (1616–64), dessen Tragödien große Züge wirklicher Menschendarstellung enthalten, und dessen Lustspiele: „Horribilicribrifax“ und „Peter Squenz“ samt den Bauernszenen im Singspiel „Die geliebte Dornrose“ bestätigen, daß er mehr von der aus seinen Lebensschicksalen erwachsenen Verdüsterung als von der Opitzschen Theorie in seiner vollen Entfaltung gehemmt ward; endlich der Epigrammatist Fr. v. Logau (1604 bis 1655). Einzelne echte lyrische Töne schlugen auch mitten im Ungeschmack die Männer des Königsberger Dichterkreises: Simon Dach, Heinrich Albert, Robert Roberthin, an. Dafür wurde die künstliche, verbildete und innerlich leere Litteratur durch die Thätigkeit der Nürnberger Pegnitzschäfer: Ph. Harsdörffer, Joh. Klaj, Siegmund v. Birken, durch die Romane und Dichtungen Phil. v. Zesens, durch Joh. Rist, Schottelius nur gefördert. Die Nachwirkungen der großen volkstümlichen Litteratur des 16. Jahrh. konnten freilich nicht mit einemmal verdrängt werden, und in einigen besondern poetischen Gattungen behauptete das wirkliche Leben noch eine Zeitlang sein Recht. Die evangelische geistliche Liederdichtung gedieh durch die tiefe Trostbedürftigkeit des in und nach dem Krieg duldenden Volkes zu einem neuen Aufschwung. Dichter wie J. Heermann, J. V. Andreä, Val. Herberger, Martin Rinckart, J. M. Dilher, Johann Frank ließ der größte geistliche Poet der Unheilszeit, der alle weltliche und geistliche Dichtung jener Tage an echter poetischer Kraft überragende Paul Gerhardt (1606–76; „Befiehl du deine Wege“), hinter sich. Im katholischen Deutschland vertraten der edle Jesuit Friedrich Spe mit seiner „Trutz-Nachtigall“ und der Konvertit Angelus Silesius (Scheffler, 1624–77) mit den Liedern „Heilige Seelenlust“ und den Sprüchen des „Cherubinischen Wandersmannes“ die religiöse Vertiefung, die seit der Gegenreformation auch auf dieser Seite eingetreten war. Den geistlichen Liederdichtern, die in [743] der Opitzschen Form einen wirklichen Empfindungsgehalt zu geben hatten, treten eine kleine Zahl von Schriftstellern zur Seite, welche die Fähigkeit bewahrten, Leben und Menschen mit voller Deutlichkeit zu sehen und zu schildern. Daß es zumeist unerfreuliches und unschönes Leben war, was sie wiederzugeben hatten, lag in der Zeit; daß auch sie unter den Einwirkungen des Auslandes, namentlich der spanischen Schelmenromane und Erzählungen, standen, gehört einmal zur Signatur der ganzen Litteraturperiode. J. M. Moscherosch (1601–69) mit den „Wunderlichen und wahrhaftigen Gesichten Philanders von Sittewald“; Johann Balthasar Schupp (1610–61) mit zahlreichen satirischen Schriften halb darstellender, halb didaktischer Natur, ferner Christoph v. Grimmelshausen (gest. 1675), welcher im Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ und einer Reihe Simplicianischer Schriften die Wirkungen des großen Kriegs auf das deutsche Volk mit innerstem Anteil und genialer Schilderungskraft am besten darstellte, im weitern Sinn der niederdeutsche Satiriker Joh. Lauremberg (gest. 1659) und am Ausgang des Zeitraums der burleske volkstümliche Moralist Abraham a Santa Clara (Ulrich Megerle, gest. 1709) gehören zu dieser Gruppe. Im ganzen aber ging die Umbildung der deutschen Dichtung zu einer reinen Gelehrtenpoesie, welche bei der Ausländerei der obern Stände und der tiefen Gedrücktheit und geistigen Armseligkeit des nichtgelehrten Bürgertums kein andres Publikum hatte als wiederum die Gelehrten, unaufhaltsam ihren Weg. Einige Jahrzehnte nach dem Frieden erlosch die Widerstandskraft der volkstümlichen Richtung. In der zweiten schlesischen Dichterschule verband sich jetzt eine höfisch und vornehm sein wollende Galanterie, eine gewisse Üppigkeit der Phantasie mit der brutalen und plumpen Unsitte, welche das deutsche Leben beherrschte, mit der rohen Grausamkeit, die in den Gemütern lebte, in wunderlichster und widerwärtigster Weise. Dabei suchte sich ein unausrottbarer philiströser und nüchterner Sinn mit der Versicherung zu beruhigen, daß diese Dichtung weder äußeres noch inneres Leben spiegele, daß ein andres gemeint, ein andres gedichtet werde. Die gefeierten Talente dieser Zeit: der lüsterne Lyriker Chr. Hoffmann von Hoffmannswaldau (1618–79), der umsonst Marinis weiche Sinnlichkeit und schmeichelnden Wohllaut der Sprache nach Deutschland zu verpflanzen suchte, aber Marinischen Schwulst in Ansehen setzte; der „große“ Dichter des neuesten Stils, Dan. Kaspar v. Lohenstein (1635–1683), welcher mit seinen von Schmutz und Schwulst starrenden rhetorischen Tragödien („Ibrahim Bassa“, „Agrippina“, „Ibrahim Sultan“), mit seinem von wüster und prahlerischer Vielwisserei und geschmacklos-hochtrabender Rhetorik aufgebauschten Roman „Großmütiger Feldherr Arminius nebst seiner durchlauchtigsten Thusnelda“ (Staats-, Liebes- und Heldengeschichte) nacheifernden Talenten die Wege zur Erhabenheit wies; ferner die Romandichter Andreas Heinr. Buchholtz (gest. 1671 als Superintendent zu Braunschweig) mit seiner „Wundergeschichte des christlichen deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Valisca“; Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (gest. 1714) mit „Aramena“ und „Octavia“; Hans Anselm v. Ziegler und Klipphausen (gest. 1697) mit dem gelesensten Buch der Zeit: „Asiatische Banise“, welche alle diese Wege wandelten, trieben die d. L. immer tiefer in Barbarei hinein. Die Dichtung ward mehr und mehr zu einem Mittel, äußeres Ansehen zu erwerben; das Übergewicht des schmeichlerischen und bombastischen Gelegenheitsgedichts ward offen anerkannt. Die „Hofpoeten“ R. L. v. Canitz, J. V. Pietsch, Johann v. Besser, Johann Ulrich König u. a. setzten die Lohensteinsche Richtung ebenso ins 18. Jahrh. hinein fort wie die Poeten der Hamburger „Oper“, welche, seit 1678 eröffnet, ein paar Jahrzehnte lang in Chr. Richter, Postel, Feind, Hunold u. a. fleißige Verfasser musikalischer Dramen mit schwülstiger Diktion besaß. Die schlesischen Lyriker Chr. Gryphius (Sohn des Andreas), Benjamin Schmolcke (der den Lohensteinianismus ins Erbauliche übersetzte), H. Aßmann Freiherr v. Abschatz, H. Mühlpfort, die Romanschreiber G. Ch. Lehms, Joachim Meier, Werner Eberhard Happel (der im „Asiatischen Onogambo“ und „Insularischen Mandorell“ Plattheit, Schwulst und die gespreizte Vielwisserei der Zeit wie kein andrer vereinigte), Aug. Bohse (Talander), Rost u. a. verstärkten lediglich das Bild allgemeiner Geschmacklosigkeit und Abwesenheit jeglichen Ideals. Als ein Fortschritt mußte es schon gelten, daß unter dem Einfluß der allmählich wachsenden Aufklärung und einer von vornherein nur allzu bewußten Verstandeskultur eine gegen den Schwulst der Lohensteinianer gerichtete, durch und durch nüchterne, platte Dichtung aufkam, die rasch genug in überschwemmende, wässerige Reimerei ausartete. Die Anfänge zu derselben finden sich bei Dan. Georg Morhof (1639–91) und dessen Schüler, dem Epigrammatisten Chr. Warnecke, der die Hamburger Opernpoeten verhöhnte; Hauptrepräsentant war der Zittauer Schulrektor Christian Weise 1642–1708), der in „Überflüssigen Gedanken der grünenden Jugend“, in sogen. „politischen“ Romanen („Die drei ärgsten Erznarren“, „Die drei klügsten Leute der ganzen Welt“), in zahlreichen als „Zittauer Schulkomödien“ aufgeführten Trauerspielen, Lustspielen und Schwänken trivial-gesunde Lebensanschauung, verständige moralische Tendenzen, äußerliche Fähigkeit der Charakteristik und Sprachbeherrschung an den Tag legte und vom Muster der Italiener auf das der neuern Franzosen hinwies. In seiner Richtung dichteten und schrieben Erdmann Neumeister, Joachim Burkard, Menke (Philander von der Linde), Daniel Stoppe, D. W. Triller, die zum Teil schon in eine andre Litteraturperiode hinüberreichen.

Eine wirkliche Besserung erfolgte zuerst im Eingang des 18. Jahrh., wo eine Reihe individueller Talente, durch Naturell und Lebenseindrücke begünstigt, in der Nachahmung ausländischer Muster feinfühliger, der deutschen Dichtung zuerst wieder einen Inhalt, phantasievolle Erfindung, Leidenschaft und Wärme der Stimmung, eine gewisse Wahrheit der Schilderungen gaben und in sinniger Betrachtung oder munter-geselligem Ton sich vom Schwulst wie von der Plattheit entfernt zu halten trachteten. Hierher gehören Berthold Heinr. Brockes (1680–1747) mit dem breit ausgesponnenen, aber im einzelnen feinsinnigen und liebenswürdigen „Irdischen Vergnügen in Gott“; Christian Günther (1695–1723), der durch die Unmittelbarkeit und frische Sinnlichkeit seiner persönlichen Empfindung zur wirklichen Lyrik durchdrang und selbst das wild wuchernde Gelegenheitsgedicht der in seinen Tagen noch grünenden „poetischen Wälder“ in lebendige Poesie umwandelte, wenn auch sein Geschmack in Bildern und seine Diktion noch vielfach an die zweite schlesische Schule erinnern; hierher Albrecht v. Haller aus Bern (1708–1777), der gleichfalls noch von den schlesischen Marinisten beeinflußt war, aber sich durch aus lebendiger Anschauung und Freude an der Wirklichkeit stammende [744] Schilderung (namentlich im beschreibenden Gedicht „Die Alpen“) und durch einen Kern echter Empfindung über seine Vorbilder erhob; hierher der phantasievolle, wenn auch künstlerisch nicht durchbildete Romandichter Joh. Gottfr. Schnabel (1695–1750?), dessen weitverbreitete Robinsonade „Die Insel Felsenburg“ ein eigenartiges Stück Leben und die tiefe Sehnsucht zahlreicher Gemüter nach einem weltfernen, harmonischen, stillumfriedeten Dasein verkörperte; hierher der Liederdichter und poetische Erzähler Friedrich v. Hagedorn (1708–54), der sich an die heitern Dichtungen der Franzosen und jüngern Engländer anlehnte und zugleich das eigne Lebensbehagen im leichten Flusse seiner kleinen Gedichte ausdrückte. Indes tauchten alle diese Talente vereinzelt auf und blieben insofern wirkungslos, als man die Hauptsache, durch welche sie sich von der Masse der Schreibenden und Dichtenden unterschieden, die selbständige Empfindung und den Bezug auf das Leben, gar nicht wahrnahm. Die Vorstellung, daß die poetische Kunst ein Anhängsel der Gelehrsamkeit sei, daß alles, was zur „Belustigung des Verstandes und Witzes“ diene, entweder erworben werden könne, oder von Haus aus mit einer bestimmten Art der Bildung vorhanden sein müsse, die Überzeugung, daß eine vollendete und vollkommene Dichtung durch Befolgung gewisser Regeln und Vermeidung gewisser Irrtümer erreicht werden könne, war noch allgemein. Seit der Schwulst der zweiten schlesischen Schule, deren Blüte gerade in die Zeit fiel, wo die französische Litteratur ihren größten Aufschwung nahm, in Verruf gekommen war, richteten sich die hoffenden Blicke nach Frankreich. Ohne Verständnis dafür, daß die großen Leistungen der französischen Poesie aus den Tagen Ludwigs XIV. nur Resultat eines außerordentlichen Aufschwungs des gesamten französischen Lebens seien, ohne schärfere Empfindung für den innern Gehalt des Pariser Klassizismus und nur bemüht, die korrekte Form und klare Übersichtlichkeit der französischen Dichtungen zu erreichen, pries man die Mustergültigkeit französischer Poesie. Das eigentliche Haupt einer mit Verwerfung aller bisher geltenden Muster die Franzosen nachahmenden Schule in der deutschen Litteratur ward Johann Christoph Gottsched (1705–66), als Leipziger Professor der Poesie und Beredsamkeit in den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrh. der deutsche Geschmacksdiktator, welcher mit seiner „Kritischen Dichtkunst“, seinen verschiedenen Zeitschriften und zum Teil sehr verdienstlichen Sammlungen, mit seinen Briefen, seiner Deutschen Gesellschaft, mit zahlreichen Übersetzungen, eignen rhetorischen Gedichten und seiner nach französischen und englisch-französischen Vorbildern zurechtgeschnittenen Tragödie „Der sterbende Cato“ der deutschen Litteratur den Weg zur echten Klassizität zu bahnen vermeinte. Ehrlich für den Gedanken einer glänzenden und würdevollen Stellung der Litteratur begeistert, nicht ohne Verdienste um manche litterarische Einsichten, um die Wiederanknüpfung einer Verbindung zwischen dem Theater und der Litteratur, war er doch zu trocken und dürr, um auch nur den Pope, geschweige den Boileau und Racine Deutschlands vorstellen zu können, und erweckte sich überdies durch seinen Hochmut und seine beschränkte Rechthaberei zahlreiche Gegner. Eine treue Mitarbeiterin fand er an seiner Gattin Luise Adelgunde Viktorie, geborne Culmus (gest. 1762), eifrige Schüler an J. Lange, J. Joachim Schwabe, an dem Hamburger Kaufherrn Georg Behrmann (Dichter der Tragödien: „Die Horatier“ und „Timoleon“), an Otto, Freiherrn v. Schönaich (1725–1807), dessen steifes und wertloses Heldengedicht „Hermann“ Gottsched zum deutschen Nationalepos emporzuloben hoffte, an Christian Aug. Clodius, J. J. Dusch und einer ganzen Reihe von dichtenden Magistern und Übersetzern. Gottsched war der Hauptrepräsentant der unbedingten Nachahmung der Franzosen, der letzte Vertreter einer „gelehrten“ Dichtung im engsten und bedenklichsten Sinn des Wortes; beides aber, Franzosennachahmung und unlebendige Gelehrtenpoesie, erstreckten naturgemäß ihre Nachwirkungen noch weit in die folgende Periode und in alle Anstrengungen hinein, die gemacht wurden, um zu einer lebendigen, der gesamten Nation wiederum angehörigen Litteratur zu gelangen.

VII. Zeitraum.
Zeit der Übergänge und des beginnenden Aufschwungs.

Theoretisch waren die von Gottsched geübte Geschmacksherrschaft und die einseitige Dürftigkeit seiner litterarischen Anschauungen bereits seit den 30er Jahren von den „Schweizern“, d. h. den Züricher Gelehrten Joh. Jakob Bodmer (1698–1783) und J. J. Breitinger (1701–76), bekämpft worden, die in den „Diskursen der Maler“, in ihrer Vertretung Miltons, in Breitingers „Kritischer Dichtkunst“ (1740) im Grund nur den entscheidenden Satz verfochten, daß zur Dichtung ein positives Element gehöre und die Vollkommenheit nicht in lauter Negationen gesetzt werden dürfe. Bei dem verkommenen Zustand der deutschen Litteratur war auch das Fortschritt und Gewinn. Den Schweizer Kritikern schlossen sich Zollikofer, Heinr. Meister, K. F. Drollinger u. a. an. Wichtiger und folgenreicher erwies sich die Wirksamkeit einer Gruppe von jungen Poeten und Schöngeistern, die, größtenteils Sachsen und an der Universität Leipzig studierend, anfänglich von Gottsched beeinflußt, sich von ihm loslösten und, zunächst ein Publikum suchend, das der gesamten deutschen Litteratur fehlte, bei Franzosen und Engländern die gewinnenden, anmutigern Formen der Dichtung, die frische Wiedergabe von Eindrücken und Zügen des Lebens, die Fähigkeit des Unterhaltens durch die Litteratur zu erlauschen suchten. Das deutsche Leben selbst kam ihnen zu wenig entgegen, um ein rasches und volles Gelingen ihrer Absichten zu ermöglichen. Dennoch waren die „Bremer Beiträger“, wie sie wohl nach den von ihnen herausgegebenen, in Bremen verlegten „Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes“ genannt werden, die ersten Schriftsteller, deren Wirkungen wieder in weite und verschiedenartige Kreise reichten, „wieder die ersten wahrhaft volkstümlichen, fast möchte man sagen, die ersten wahrhaft deutschen Dichter und Schriftsteller“ (Hettner). Zu dieser Gruppe gehörten die Lyriker J. Anton Ebert, Karl Christian Gärtner, Nik. Dietr. Giseke, J. A. Kramer, Adolf Schlegel, ferner der Dramatiker J. Elias Schlegel (1718–49), dessen theoretische Erkenntnis und instinktive Einsicht in das Wesen des Dramas, wie er sie in seinen dramaturgischen Abhandlungen bethätigte, freilich seine eignen dramatischen Versuche in Tragödie („Kanut“) und Komödie („Der Triumph der guten Frauen“, „Die stumme Schönheit“) weit überragten. Unmittelbarer aus dem Leben schöpfte Friedr. Wilh. Zachariä (1726–77), der sich als deskriptiver Poet und Verfasser komischer Heldengedichte („Der Renommist“, „Die Tageszeiten“, „Murner in der Hölle“) geltend machte. Der gefeierte Satiriker unter den „Beiträgern“, Gottl. Wilh. Rabener (1714–71), konnte eben nur in seiner eignen schwächlichen Zeit als „der deutsche Swift“ angesehen [745] werden; seine Satire, der es an Schärfe, Kühnheit, vielleicht selbst an Einsicht in die wahren Gebrechen und Mißstände der deutschen Kulturwelt fehlte, die daher nicht die Thoren, sondern in schwächlichen Typen und höchstens in ganz untergeordneten Gestalten die Thorheit schilderte, sich in unwesentlichen Details und salzlosem Spaß in behaglichster Breite erging, interessierte aber gleichwohl das Bürgertum, das um die Mitte des 18. Jahrh. wieder Anteil an der Litteratur zu nehmen begann. Bleibende Bedeutung erlangte Chr. Fürchtegott Gellert (1715–69), der bei weitem einflußreichste Schriftsteller des zweiten Drittels des 18. Jahrh. Er hatte mit kleinen Liedern, mit Schäfer- und Lustspielen im französischen Stil („Sylvia“, „Die Betschwester“, „Das Los in der Lotterie“ etc.) begonnen, dann mit seinem Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin von G.“ einen kühnern Griff in die Wirklichkeit gewagt, ohne sich aus den Banden einer bis zur Unsittlichkeit und Roheit entstellten äußerlichen und konventionellen „Moral“ befreien zu können. Seine außerordentliche Popularität aber beruht hauptsächlich auf seinen „Fabeln und Erzählungen“, in denen er mit bisher nicht erreichter Leichtigkeit und Lebendigkeit des Vortrags sich als höchst selbständiger Schüler, nicht mehr als bloßer Nachahmer Lafontaines erwies und mit Schärfe und Feinheit, wenn auch immer mit moralisierender Tendenz sittliche und soziale Zustände der eignen Zeit wie allgemeine menschliche Thorheiten spiegelte. Mit seinen „Geistlichen Liedern“ erfüllte er das Andachtsbedürfnis seiner Zeit; auch seine prosaischen Schriften, wie die „Briefe“ nebst der „Abhandlung von dem Geschmack in Briefen“ und seine „Moralischen Vorlesungen“, übten eine kaum zu berechnende Wirkung. Gleichzeitig mit den Männern der „Bremer Beiträge“ löste sich eine Gruppe jüngerer Poeten, die persönliche Freundschaft während ihrer Studienzeit an der Universität Halle verbunden hatte, von der Gottschedschen Litteraturauffassung. Zur Halleschen Poetengruppe zählten Sam. Gotthold Lange (1711–81), der als Lyriker eine Zeitlang Ruf genoß und späterhin für seine unzulängliche Horaz-Übersetzung von Lessing hart verurteilt und einer unerfreulichen Unsterblichkeit überliefert wurde; Immanuel Pyra (1715–44), dessen Schrift „Beweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe“ die Streitschriften der Schweizer an Heftigkeit überbot; Nikolaus Götz (1721–81), der mit Uz die Oden Anakreons übertrug und in eignen Gedichten die griechischen Lyriker nachzubilden suchte; Peter Uz (1720–1796), der von leichten, tändelnden Gedichten im (vermeinten) Stil Anakreons, von Nachahmung der Popeschen komischen Epik im „Sieg des Liebesgottes“ späterhin zur ernsten Ode und dem Lehrgedicht überging; endlich Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803), seit 1747 Sekretär des Domkapitels zu Halberstadt, dem eine der wunderlichsten litterarischen Laufbahnen beschieden war. In allen Formen und nach allen Mustern ein anempfindendes Talent, als tändelnder Anakreontiker, patriotischer Liederdichter, Fabel- und Spruchdichter, Erzähler und redseliger Didaktiker von unerschöpflicher, nie versiegender Produktionslust, aber äußerlich und flüchtig bis zur völligen Flachheit, erhob sich Gleim nur in den vom Siebenjährigen Krieg hervorgerufenen „Liedern eines preußischen Grenadiers“ und in einer Anzahl Fabeln und Sinngedichten zu einiger Selbständigkeit. Vor vielen andern in äußerlich begünstigter Lage, voll guten Willens, allen Hilfsbedürftigen beizustehen, unterstützte und regte er überall die Talente an, „hätte ebensowohl des Atemholens entbehrt wie des Dichtens und Schenkens und gewann sich so viele Freunde, Schuldner und Abhängige, daß man ihm seine breite Poesie gern gelten ließ, weil man ihm für die reichlichen Wohlthaten nichts zu erwidern vermochte als Duldung seiner Gedichte“ (Goethe). Zum Kreis, den sich Gleim in Halberstadt zu bilden suchte, gehörten der Fabeldichter Magnus Gottfr. Lichtwer (1719–83), der Lyriker Joh. Georg Jacobi (1740–1814), der Fabel- und Operettendichter J. B. Michaelis (1746–72), Klamer Eberhard Schmidt (1746–1824) u. a. Der Richtung auf das Idyll und das leichte, beschreibende Gedicht, welche durch die Hallenser gegeben war, zeigte sich Chr. Ewald v. Kleist (1715–59) verwandt, dessen beschreibendes Gedicht „Der Frühling“ als ein Lenz auch für die Dichtung gepriesen wurde, und in dessen besten Gedichten uns eine feine Naturempfindung und das Gefühl männlicher Würde, das den ernst-soldatischen Dichter erfüllte, erfreulich entgegentreten.

Auch in den größern Formen der dramatischen Dichtung strebte man seit den 50er Jahren über Gottsched und die äußerlichste Franzosennachahmung hinauszukommen, sah sich aber freilich immer wieder zurückgeworfen und vermochte kaum die Fesseln der französischen Form (des Alexandriners) abzuwerfen, geschweige denn einen eignen Lebensgehalt künstlerisch zu gestalten. Die vielbelobten Anläufe, welche J. F. v. Cronegk (1731–59) mit dem Trauerspiel „Codrus“, J. W. v. Brawe (1738–58) mit den Tragödien: „Brutus“ und „Der Freigeist“, L. v. Ayrenhoff (1733–1819) mit „Aurelius“, „Tumelicus“, „Antonius und Kleopatra“, „Antiope“ u. a. nahmen, erwiesen, wie unselbständig und innerlich leblos die deutsche Dichtung in den Hauptsachen noch war. Auch die Lustspieldichter Joh. Chr. Krüger, J. Ch. Brandes, die beiden Stephani ragen nicht höher. Ein echter Repräsentant des Eklektizismus, der aus der Nachahmung so verschiedenartiger Muster erwuchs, aber immer wieder in die Abhängigkeit von der französischen Litteratur zurückfiel, war Chr. Felix Weiße (1726–1804), welcher als fruchtbarer Poet auf allen Gebieten, als Verfasser von ernsten und scherzhaften, Amazonen- und Kinderliedern, als Übersetzer, Bearbeiter, Jugendschriftsteller, als Opern- und Lustspieldichter wie als vielgepriesener Tragiker die Bescheidenheit und Genügsamkeit der Ansprüche des deutschen Publikums erwies. Daß die lange Gewöhnung an die Herrschaft des französischen Geschmacks noch bis in die Zeit des völligen Umschwungs hinein ihre Nachwirkungen hatte, zeigten Dichter wie Fr. Wilhelm Gotter (1746–97), der trotz seiner Beziehungen zu Goethe als Lyriker und Operndichter ein reiner Nachbildner der Franzosen war, wie die Leipziger Lustspielpoeten J. G. Dyk, Anton Wall u. a. bis zum Ausgang des Jahrhunderts. Indessen durften alle diese Produktionen und Bestrebungen als nichtsbedeutende von dem Augenblick an angesehen werden, in welchem wahrhaft schöpferische Geister der deutschen Litteratur selbständige, große Ziele gegeben und die tiefe Kluft zwischen Leben und Dichtung endlich geschlossen hatten.

In demselben Jahrzehnt, in welchem die frühsten bescheidenen Regungen eines neuen Geistes sich in den Arbeiten der „Bremer Beiträger“ kundgaben, erfolgte das Auftreten des ersten wahrhaft genialen Dichters, den Deutschland seit der Blütezeit der mittelhochdeutschen Poesie wieder erhielt. „Mit Klopstocks Erscheinung wurde offenbar, daß die Dichtung auf einer ursprünglichen genialen Begabung beruhe [746] und durch Studium nicht erlernt werden könne.“ Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) ward schon epochemachend durch die Anfänge seines bereits als Schüler geplanten, als Student begonnenen, erst nach Jahrzehnten (1773) vollendeten Gedichts „Der Messias“, dessen erste Gesänge die „Bremer Beiträge“ nicht ohne manche Bedenken ihrer Herausgeber 1748 veröffentlichten. Mit dem sichern Instinkt des Genies hatte Klopstock gefühlt, daß der religiöse Stoff zur Zeit der einzige sei, welcher auf Phantasie und Empfindung großer Kreise, namentlich des deutschen Bürgertums, zu wirken vermochte; ihn selbst erfüllten die erhabensten Vorstellungen von jener „heiligen Dichtkunst“, für die er nur ein erhabenes Vorbild, Milton, kannte. Da er aber eine überwiegend lyrische Natur voll hohen Schwunges, voll sittlichen Ernstes, voll Innigkeit und voll ursprünglicher Sprachgewalt war, zudem bewußtermaßen auf die Rührung seiner Leser hinarbeitete, so überwog in seinem epischen Gedicht eine Fülle rührseliger Stimmungen und wehmütiger Betrachtungen die feste Gestaltung, die Anschaulichkeit der Handlung und Charakteristik. Indes hatte seit Luther kein Dichter über den Reichtum und die Macht der Sprache geboten wie jetzt Klopstock, so daß der Enthusiasmus für seine in der That unvergleichliche Leistung voll berechtigt war. Neben dem großen epischen Gedicht verdankte Klopstock seinen Hauptruhm seinen „Oden“, deren ernster, feierlicher Ton, deren edle Rhythmik und sprachliche Schönheit die Generation, der alles dies neu war, wohl berauschen und sie über die eigentümliche Enge und Einseitigkeit der Klopstockschen Empfindung und Kunstanschauung hinwegsehen lassen konnten. Stärker trat diese Einseitigkeit hervor, als Klopstock nach Vollendung des „Messias“ sich in biblischen und patriotischen Dramen versuchte. „Adams Tod“, „Salomo“, „David“, namentlich aber die sogen. Bardiete: „Hermannsschlacht“, „Hermann und die Fürsten“ und „Hermanns Tod“ entbehrten allen dramatischen Lebens und selbst der lyrischen Innerlichkeit. Bei der Autorität, die Klopstock rasch erworben, folgten jedem von ihm eingeschlagenen Pfad zahlreiche ältere und jüngere Talente. Das biblische Epos fand Nachahmer; selbst der alternde Bodmer, der zu Klopstocks frühsten und glühendsten Bewunderern gehört hatte, dichtete ein Epos: „Noah“ („Die Noachide“), und eine ganze Reihe biblischer Dramen, der pietistische Staatsmann K. Friedr. v. Moser einen „Daniel in der Löwengrube“ (Heldengedicht in Prosa), S. Henning einen „Joseph“, Joh. Kaspar Lavater (1741–1801), der mit frischen und patriotischen „Schweizerliedern“ im Stil der Gleimschen Grenadierlieder begonnen hatte, einen zweiten „Jesus Messias“ und einen „Joseph von Arimathia“, Em. Wessely eine „Mosaide“. Andre versuchten die rhetorische Wirkung des Klopstockschen Epos zu übersteigern und verirrten sich, wie der letzte Klopstockianer, Franz v. Sonnenberg (1779–1805), in „Donatoa oder das Weltende“, in einen neuen sinnlosern Schwulst. Die Klopstockschen Bardiete gaben Anlaß zur Entstehung einer Bardenschule, deren Vertreter mit archaistischem Patriotismus und seelenlosen Phrasen Deutschheit und Tugend besangen, besten Falls ganz moderne Gesinnungen und Empfindungen in Phantasiestücke kleideten, bei denen keltische, deutsche und nordische Namen und Bilder wild durcheinander liefen. Hier glänzten der Wiener Jesuit Michael Denis (1729–1800) mit den „Liedern Sineds des Barden“, K. F. Kretschmann (1738–1809) mit dem „Gesang Rhingulfs des Barden“, D. G. Hartmann (Telynhard, 1752–75) und Heinr. Wilhelm v. Gerstenberg (1737–1823) mit den „Gedichten eines Skalden“ und dem tragischen Melodrama „Minona“, welchem sich unter den Anregungen der Sturm- und Drangperiode das Schauderdrama „Ugolino“ hinzugesellte. Von der Odendichtung Klopstocks wurde die gesamte deutsche Poesie berührt; als unmittelbare Nachahmer traten J. G. Willamov, Küttner u. a. auf. Selbständiger in Empfindung und Form, mit bewußter Nachahmung der Antike und einseitiger Pflege der Form dichtete Karl Wilhelm Ramler (1725–98), dessen Oden und lyrische Gedichte samt seiner Horaz-Übersetzung in ihrer formellen Glätte und pomphaften Äußerlichkeit, in der „die einfachsten und geringfügigsten Dinge zur Personifikation hohler Scheingestalten hinaufgeschraubt werden oder sich in volltönenden Worten die albernsten Umschreibungen gefallen lassen müssen“, einen großen Einfluß auf jüngere Dichter übten. Abseits von den norddeutschen Vertretern der Litteratur stand der Schweizer Salomon Geßner (1730–88), dessen zierliche, aber jeden natürlichen Hauches entbehrende Idylle derselben weichen Stimmung der Zeit entsprachen, welche die rührseligen Momente des „Messias“ allen andern des biblischen Gedichts vorziehen ließ. Hier war überall weder Innerlichkeit noch frische Natur, sondern ein unbestimmtes, hin- und hertastendes Sehnen nach der verlornen Innerlichkeit und der entrückten Natur.

Den schärfsten Gegensatz zu der Richtung, welche Klopstock der gesamten deutschen Litteratur zu geben suchte, bildete ein Schriftsteller heraus, dessen Anfänge ganz und gar unter den Einwirkungen Klopstocks gestanden, und der die höchsten Gipfel der seraphischen Poesie im ersten Anlauf zu ersteigen gesucht hatte. Chr. Martin Wieland (1733–1813), dessen epikureische, liebenswürdig heitere und weltlich verständige Natur schon früh über die anempfundene Schwärmerei und das moralisierende Pathos siegten, entwickelte in einem langen Leben voll der mannigfaltigsten Thätigkeit eine in der deutschen Litteratur völlig neue Anmut, schalkhafte Lebendigkeit und graziöse Leichtigkeit. Von seinen frühsten erzählenden Gedichten: „Musarion“, „Idris“ und „Der neue Amadis“, und den Romanen: „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“, „Agathon“, „Der goldene Spiegel“ bis zu den Meisterwerken der 70er und 80er Jahre: dem „Oberon“, der „Geschichte der Abderiten“, den spätern poetischen Erzählungen entfaltete Wieland eine beständig wachsende Sicherheit und lebensfrohe Behaglichkeit des Erzählens und Darstellens, die sich, obschon er französischen Mustern viel verdankte, sehr wesentlich von der frühern unselbständigen Franzosennachahmung unterschieden. Daneben erwarb er als Herausgeber des „Deutschen Merkur“, der ersten bedeutsamen litterarisch-belletristischen Zeitschrift in Deutschland, durch zahlreiche größere und kleine Arbeiten gemischter Natur, seine wichtige Übersetzerthätigkeit (erste deutsche Übertragung der Werke Shakespeares 1762–66) einen außerordentlichen Einfluß, zog sich freilich auch den ganzen Haß der strengern Naturen zu, welche nur Klopstocks Art und Weise innerhalb der deutschen Litteratur gelten lassen wollten. Die mittelbare und unmittelbare Nachwirkung Wielands brachte der deutschen Dichtung eine Fülle von heiterer Anmut, guter Lebensbeobachtung, seither nicht gekannter Beweglichkeit und litterarischer Vielseitigkeit; zugleich aber rief sie bedenkliche Frivolität und Flachheit, geschmacklose und hohle Vielproduktion hervor, denn gerade an Wielands schwächste Seiten, an die gelegentliche [747] Lüsternheit und den Eudämonismus seiner Lebensanschauung, heftete sich das Heer der Nachahmer. Unter den bessern von Wieland angeregten Schriftstellern gediehen der frivol-graziöse M. A. v. Thümmel (1738–1817), der Verfasser des prosaischen Gedichts „Wilhelmine“ und der „Reise in die mittägigen Provinzen von Frankreich“, und Karl Aug. Musäus (1735–87) mit dem „Deutschen Grandison“ und den unterhaltend erzählten „Volksmärchen der Deutschen“ zu bleibenden Leistungen. Sonstige Belletristen ähnlicher Richtung waren: Joh. Tim. Hermes (1738–1821), dessen Roman „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ ein Lieblingsbuch der Zeit ward; Wielands Jugendgeliebte Sophie v. La Roche (1730–1807), Verfasserin der „Geschichte des Fräuleins von Sternheim“; A. G. Meißner (1753–1807), dessen „Skizzen“ und Roman „Alcibiades“ nebst einer langen Reihe von historisch-romantischen Gemälden nicht ohne das Verdienst einer gewissen Anschaulichkeit und Lebendigkeit waren; der Lustspiel- und komische Romandichter J. Fr. Jünger (1759–97); Ad. v. Knigge (1752–96), dessen Buch „Über den Umgang mit Menschen“ seinen Namen länger erhielt als seine Reiseschilderungen und Romane; der scherzhafte Erzähler F. A. Langbein (1757–1835) u. a. Indessen konnten sie alle nur vorübergehende Bedeutung haben. Auch die Nachahmer der Wielandschen romantischen Epik, J. B. Alxinger (1755–97) mit den Rittergedichten: „Doolin von Mainz“ und „Bliomberis“, L. H. v. Nicolay (1737–1820), der seine Poesie hauptsächlich aus Ariost schöpfte, und die travestierenden Poeten, welche Wielands Ironie und humoristische Behandlung des Ernsthaften popularisieren halfen, wie Al. Blumauer (1755–98, „Travestierte Äneide“) und K. A. Kortum (1745–1824, „Jobsiade“ und „Adams Hochzeitsfeier“), erwiesen, wie rasch sich die Gegensätze zu dem ehrbar-steifen, gelehrt-würdevollen Ton des vorausgegangenen Menschenalters herausgebildet hatten. Die satirischen Werke von Lichtenberg (1742–99) sind hier gleichfalls zu erwähnen.

Gewaltiger, tiefer und vielseitiger in die ganze geistige Bewegung der Zeit eingreifend, in eigenartiger Durchdringung von schaffender und kritischer Thätigkeit selbstgesteckte Ziele kühn erreichend und sich wie der gesamten deutschen Litteratur solche steckend, hinter denen man mit Ehren zurückbleiben kann, trat gleichzeitig mit Klopstock und Wieland Gotthold Ephraim Lessing (1729–81) hervor, der mit Recht ein Erwecker und Befreier der Litteratur geheißen werden durfte, insofern er auf den verschiedensten Gebieten das erlösende Wort sprach und mustergültige Originalwerke im höchsten Sinn schuf. In seinen Jugenddramen: „Der junge Gelehrte“, „Der Freigeist“, „Der Schatz“ noch französischen Vorbildern folgend, in seiner frühsten kritischen Thätigkeit von der herrschenden Anschauung und den ganzen Voraussetzungen der Gelehrtenpoesie noch mannigfach abhängig, durchbrach seine kühne und hochstrebende, nach klaren Anschauungen wie ganzen Leistungen ringende Natur rasch die Schranken. Durch die Nachempfindung und Nachbildung der englisch-bürgerlichen Dichtung hindurch, der seine Tragödie „Miß Sara Sampson“ entstammte, gedieh Lessing zu höchster Selbständigkeit und innerer Freiheit. Während seine großen kritischen Werke: die von ihm herrührenden Teile der „Litteraturbriefe“, „Laokoon, oder über die Grenzen der Poesie und Malerei“ und die „Hamburgische Dramaturgie“, die unerläßlichen Voraussetzungen und Grundbedingungen einer ganz auf eignen Füßen stehenden, Großes erstrebenden und leistenden Dichtung endlich und allmählich zum Bewußtsein brachten, schöpfte er in seinen dramatischen Meisterwerken (Meisterwerke vor allem nach der Seite einer konsequent entwickelten Handlung und einer geistvollen, lebendigen Charakteristik): dem Soldatenlustspiel „Minna von Barnhelm“, der bürgerlichen Tragödie „Emilia Galotti“ und dem Drama „Nathan der Weise“, mit fester Sicherheit aus der Fülle des umgebenden Lebens und aus der Tiefe der die Zeit erfüllenden großen Kämpfe, an denen er so unerschrocken wie würdevoll Anteil nahm. Wo die Erkenntnis durchdrang, daß die Dichtung in erster Linie Menschendarstellung sei, empfand man auch die Macht des Lessingschen poetischen Talents trotz des Mangels an lyrischem Stimmungshauch und Farbenfülle. Gesellten sich hierzu die beinahe unberechenbare Wirkung der mannhaften, edlen und ernsten, gegen alles Scheinwesen, alle Halbheit und anmaßende Mittelmäßigkeit gerichteten Lessingschen Polemik, seines furchtlosen Wahrheitsdranges, der ihn zum „Aufklärer“ im besten Sinn des Wortes erhob und doch von der flachen und selbstgefälligen Begnügsamkeit der spezifischen Aufklärung unwiderruflich schied, die bildende Kraft seiner geistreich geschmackvollen Behandlung der verschiedensten ästhetischen, litterarischen, philologischen, philosophischen und theologischen Fragen, der geistige Reiz seines klar durchgebildeten Stils, den selbst die kleinsten Arbeiten aufwiesen: so ergibt sich, wie allseitig und tiefgehend die Wirkung von Lessings Leben und Thun für die Litteratur werden mußte. Seine Stellung war bei alledem immer eine isolierte gewesen; eigentliche Schüler und Nachfolger konnte er um so weniger haben, je seltener sich die kritisch-dialektische Schärfe und der produktive poetische Trieb vereinigt finden. In den Kreisen der Berliner Aufklärer, in denen Lessing viel gelebt, erhob man wohl den unberechtigten Anspruch, seine Richtung allein zu vertreten und weiterzubilden, und setzte sich unter irrtümlicher Berufung auf Lessing gegen den Ausgang des Jahrhunderts jeder bedeutsamen Weiterentwickelung der Litteratur entgegen. Der Mitherausgeber der „Litteraturbriefe“, der Buchhändler Friedr. Nicolai (1733–1811), vertrat in zahlreichen Schriften den Standpunkt der „Aufklärung des Verstandes“, welche ihm meist mit der plattesten Nüchternheit und Utilitätsrichtung zusammenfiel und sich eng an die preußischen Zustände der Zeit Friedrichs d. Gr. anschloß. Von seinen Werken mit poetischem Anspruch war der aufklärerische Roman „Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“ der bedeutendste und fand manche Nachahmer, so in Joh. Gottwerth Müller (1744–1828) mit „Siegfried von Lindenberg“ und dem komischen Roman „Emmerich“, in Chr. W. Kindleben (1748–85) mit „Wilibald Schluterius“ und „Emanuel Hartenstein“. Viel höher als alle diese stand J. J. Engel (1741–1802), in seinen Schauspielen: „Pflicht und Ehre“, „Der Edelknabe“, in den Abhandlungen und kleinen Erzählungen des „Philosophen für die Welt“ und dem bürgerlichen Roman „Lorenz Stark“ der letzte namhafte, nicht unverdienstliche Vertreter der ausschließlichen Verstandesrichtung in der poetischen Litteratur. Der Einfluß Lessings auf das Drama gab sich hauptsächlich durch die eifrige Pflege der bürgerlichen Tragödie und des bürgerlichen Schauspiels nach englischem Muster kund; die wilde Flut von Soldatenlustspielen, die der „Minna von Barnhelm“ folgte, hatte keine Bedeutung für die Litteratur und erwies nur, [748] daß der kaum hergestellte Zusammenhang zwischen der Gesamtentwickelung der Dichtung und der deutschen Bühne jeden Augenblick wieder durch das theatralische Bedürfnis in Frage gestellt ward. Die Schau- und Lustspiele von Fr. Ludw. Schröder („Das Porträt der Mutter“), H. P. Sturz („Julie“), Otto Heinr. v. Gemmingen („Der deutsche Hausvater“), G. W. Großmann („Nicht mehr als sechs Schüsseln“, „Henriette“) ragten schon zum Teil in die Sturm- und Drangperiode hinüber und wurden von deren geistigen Stimmungen ebenso beeinflußt wie von den Lessingschen Dramen. Ward Lessing selbst der Hauptbegründer einer klassischen deutschen Prosa, so daß ein großer Teil der besten Prosaisten des nächsten Zeitraums sich wesentlich nach ihm bildete, so waren doch neben ihm eine Reihe andrer Schriftsteller auf verschiedenen Gebieten aufgetreten, die durch die Form ihrer Werke die Entwickelung der Nationallitteratur fördern halfen. Noch dem vorigen Zeitraum hatten Gottfried Arnolds „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“, Mascovs „Geschichte der Teutschen“ und H. v. Bünaus „Teutsche Kaiser- und Reichshistorie“, die Anfänge einer pragmatischen deutschen Geschichtschreibung, angehört. Der größte Zeitgenosse Lessings, Johann Joachim Winckelmann (1717–68), übte durch seine epochemachende „Geschichte der Kunst des Altertums“ (1764) eine tiefgehende, befreiende Wirkung auf die gesamte deutsche Litteratur und das Erwachen einer lebendigen, sichern, aus Anschauung und Genuß erwachsenden Empfindung für das Schöne. Viel unbedeutendern, aber immerhin nicht zu vergessenden Einfluß erlangte J. A. Sulzer (1720–79) mit seiner „Theorie der schönen Künste“. Als Popularphilosophen, welche einzelne Untersuchungen und Betrachtungen in mustergültiger Form weitern Kreisen der Bildung vermittelten, sich mit Lessings Bestrebungen vielfach berührten, ohne ihm irgend gleichzukommen, traten hervor Moses Mendelssohn (1729–86), der erste Israelit, welcher eine maßgebende und einflußreiche Stellung in der deutschen Litteratur gewann, der Verfasser des „Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele“ und der „Morgenstunden, oder Vorlesungen über das Dasein Gottes“; der Schweizer Isaak Iselin (1728–82) mit den „Philosophischen und patriotischen Träumen eines Menschenfreundes“ und der Abhandlung „Über die Geschichte der Menschheit“; der Österreicher Joseph v. Sonnenfels (1733–1817), der direkt Lessing nachahmte, aber mit seiner mannigfach aufklärenden Vielgeschäftigkeit sich zu dauernd wertvollen Leistungen nicht erhob, obschon seine „Briefe über die wienerische Schaubühne“ und die Abhandlung „Über die Abschaffung der Tortur“ zu ihrer Zeit hoch gepriesen wurden; Thomas Abbt (1738–66) mit den Abhandlungen: „Vom Verdienst“ und „Vom Tod für das Vaterland“; Joh. Georg Zimmermann (1728–95) mit den vielgelesenen „Betrachtungen über die Einsamkeit“; Christian Garve (1742–98), der in seinen „Versuchen“ und „Vermischten Aufsätzen“ mannigfache Themata des Lebens, der Moral und Litteratur mit bemerkenswerter Klarheit und Schönheit der Darstellung vom Standpunkt der Aufklärung aus besprach.

VIII. Zeitraum.
Die Sturm- und Drangperiode und die Periode der klassischen Dichtung.

Die Herrschaft der Aufklärung, wesentlich gefördert durch die lange und auf allen Gebieten ruhmreiche Regierung Friedrichs d. Gr. in Preußen, welcher die aufklärenden und aufgeklärten Fürsten in den mittlern und kleinern deutschen Gebieten nachfolgten, war um das Jahr 1770 entschieden. Trotz mannigfacher Irrtümer, Härten und Ausschreitungen wirkte der aufgeklärte Despotismus segensreich und beseitigte den größern Teil der noch nachwirkenden Folgen des unseligen Dreißigjährigen Kriegs. Während aber der Kampf dieses Systems mit verrotteten Mißbräuchen und trübseligen öffentlichen Zuständen noch fortdauerte und auch ein guter Teil der deutschen Schriftsteller in diesem Kampf seine Hauptaufgabe erblickte, bereitete sich schon ein neuer, größerer Umschwung vor. Auch die siegreiche Aufklärung hatte nichts oder nur wenig zur Überwindung der engen, gepreßten, harten und nüchternen Lebenszustände und Lebensgewohnheiten gethan, welche mit der emporstrebenden Bildung, namentlich der bürgerlichen Schichten, in so unerfreulichem Widerspruch standen. An hundert Stellen zugleich erwachte daher das Gefühl, daß die gesamte Aufklärungsbildung doch öde, unzulänglich und armselig sei, daß das deutsche Leben aller Frische und innern Fülle entbehre, daß Kultur und Sitte der letzten Jahrhunderte mit der menschlichen Natur in einen argen Zwiespalt geraten seien, der am besten durch die Rückkehr zur Natur überwunden werde. Das Auftreten Jean Jacques Rousseaus in Frankreich übte auf die Bewegung und Stimmung der Geister in Deutschland einen außerordentlichen Einfluß. Aus der allgemein werdenden Sehnsucht, das Leben poetischer zu gestalten und die Poesie nur mit wirklichem Leben zu erfüllen, ging eine denkwürdige geistig-revolutionäre Bewegung, die Sturm- und Drangperiode, hervor, welche mit dem wildesten Ansturm gegen alle seither geltenden Schranken in Leben und Kunst begann, und aus der schließlich in der That eine Neugestaltung des deutschen Lebens und eine letzte, höchste Erhebung der Nationallitteratur erwuchsen. Es ist daher im höchsten Grad einseitig, im „Sturm und Drang“ nur einen Rückfall in die Barbarei zu sehen und die gesamte Periode als die einer Entfesselung der egoistischen Begehrlichkeit, des überreizten Selbstgefühls, des pflichtlosen Verlangens nach Glück und der zügellosen Leidenschaft zu verurteilen. Alle diese Dämonen waren naturgemäß mit entfesselt, aber sie verursachten und trugen nicht allein die Bewegung; höhere Kräfte und bessere Antriebe standen im Vordergrund, und mit innerer Notwendigkeit wurden alle bedeutendern Naturen in die wilde Gärung hineingezogen, während es nur den besten und kräftigsten beschieden war, an der nachfolgenden Läuterung Anteil zu nehmen. Die litterarische Seite der großen Bewegung war die wichtigste, weil Hunderttausende die in der Wirklichkeit zunächst versagte Befriedigung der neuen Herzensansprüche und Phantasieforderungen in der Dichtung suchten und die poetisch-litterarische Thätigkeit eine bisher nicht erhörte Bedeutung und Wirkung gewann. Es war das Eigentümliche der Sturm- und Drangperiode, daß in ihr die verschiedensten, ja die gegensätzlichsten geistigen Richtungen und Bestrebungen gleichzeitig die Köpfe und Gemüter der Menschen ergriffen und in unbestimmtem Enthusiasmus und Originalitätsdrang zu einer Einheit zusammenflossen. So konnte es geschehen, daß in denselben Jahrzehnten und zum Teil von denselben Kreisen die Gefühlsphilosophie der Hamann und Jacobi und die unerbittliche logische Kritik Kants, die machtvolle, lebenswarme Dichtung Goethes und die wesenlose poetische Rhetorik der Stolberg und Schubart, der scharfe Realismus Justus Mösers und die Phantastik Lavaters neben- und miteinander [749] bewundert wurden. Der gemeinsame Grundzug aller Bestrebungen und Zeitstimmungen blieb der Gegensatz zur phantasielosen Nüchternheit, zur begnügsamen Halbheit und zur hohlen Selbstgefälligkeit des Rationalismus.

Der größte Repräsentant des „Sturms und Dranges“ (wie die Bewegung später nach dem Titel eines wildphantastischen Dramas von F. M. Klinger getauft ward) war Johann Gottfried Herder (1744 bis 1803), in dessen zahlreichen und vielartigen Schriften sich alle geistigen Elemente der Bewegung begegneten. Die Genialität, der Gedankenreichtum und die ethische Hoheit Herders wirkten mächtig auf die ganze Litteratur der Zeit ein; speziell für die Dichtung wurde seine Anschauung über das Wesen der Ur- und Volkspoesie ganz entscheidend. Was Herder in den Hauptwerken seiner zweiten klassischen Periode, dem Buch „Vom Geiste der ebräischen Poesie“, den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1785–94), den Dichtungen und Abhandlungen der „Zerstreuten Blätter“ gab, war nur Läuterung und weitere Ausführung der in seinen Jugendarbeiten gegebenen Anregungen. Als selbständiger Dichter blieb Herder vorwiegend didaktisch und reflektierend; seinen eignen Forderungen an die Poesie kam er am nächsten in den von ihm übertragenen und gesammelten „Volksliedern“ und dem Romanzenkranz „Der Cid“. An Herders erster Entwickelung hatte eine kleine Gruppe von Königsberger Schriftstellern bedeutenden Anteil, die ihrerseits mit der geistigen Welt und den Lebensregungen des deutschen Pietismus zusammenhängen, der während der Sturm- und Drangperiode auch von andrer Seite her sich in der Litteratur Geltung verschaffte. Unter diesen Königsbergern finden wir J. G. Hamann (1730–88), dessen „Sibyllinische Blätter“ die Keime zu Herders Ideen einschließen, und Th. G. v. Hippel (1741–96), dessen humoristische Romane: „Lebensläufe nach aufsteigender Linie“ und „Kreuz- und Querzüge des Ritters A–Z“ eine denkwürdige Mischung rationalistischer und frommgläubiger Anschauungen und Empfindungen verbanden. Stärker noch erscheint das pietistische Element mit dem kraftgenialen gemischt in den Dichtungen und Volksschriften des „Wandsbecker Boten“ Matthias Claudius (1740–1815), der zu den ersten gehörte, welche den Ton des echten, herzgebornen Volksliedes wiederum trafen, und in den Schriften von Heinrich Jung, genannt Stilling (1740–1817), dessen Selbstbiographie „Heinrich Stillings Leben“ nebst den Romanen „Geschichte des Herrn von Morgenthau“ und „Florentin von Fahlendorn“ die eigentümlichen Lebensanschauungen und Erlebnisse der „Stillen im Lande“ spiegelten. Zu den Schwärmern und Mystikern hinüber neigte auch Fr. Heinrich Jacobi (1743–1819), dessen religionsphilosophische Schriften und Romane („Eduard Allwills Papiere“ und „Woldemar“) die bedenklichen Seiten eines schwelgenden Gefühlslebens und der Rousseauschen Einwirkungen offenbarten.

Die große dichterische Aufgabe der Zeit blieb die Rückgewinnung der Natur, und die jugendlichen Lyriker rangen mit allen Kräften, nicht nur den Ausdruck für die unmittelbare Empfindung, sondern auch neue, ausdruckswerte Gefühle zu gewinnen. Von besonderer Bedeutung hierfür ward die Gruppe junger Dichter, die sich im (Göttinger) sogen. Hainbund zusammengeschlossen hatte. Zu ihr gehörten außer H. Chr. Boie (1744–1806), dem Herausgeber des „Musenalmanachs“, zu welchem sich auch andre Kräfte scharten, die beiden Brüder Christian (1748–1821) und Friedrich Leopold (1750–1819), Grafen zu Stolberg, Johann Martin Miller aus Ulm (1750 bis 1814), der mit einigen Liedern und dem sentimentalen Roman „Siegwart, eine Klostergeschichte“ nachmals zu einer vorübergehenden Bedeutung gelangte, Karl Friedr. Cramer (1752–1807), Joh. Fr. Hahn (gest. 1779), Anton Leisewitz (1752–1806), dessen Tragödie „Julius von Tarent“ große, unerfüllt bleibende Hoffnungen erregte; ferner der liebenswürdige, naiv-fröhliche und innige Liederdichter Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748–76) und Johann Heinrich Voß (1751–1826), die eigentliche Seele des Bundes. Letzterer repräsentiert schon die Entwickelung vom Sturm und Drang zu klassischen, bleibend wertvollen Dichtungen. Seine Natur drängte ihn in der reinen Lyrik zur Reflexion und zum breiten Moralisieren; zur Vollendung gelangte er als Idyllendichter in einer Reihe kleiner Meisterstücke und den besten Episoden seines Gedichts „Luise“; die größte Wirkung und Nachwirkung aber gewann er durch seine meisterhaften Übertragungen der Homerischen „Ilias“ und „Odyssee“. Den Göttingern nahe stand, obschon er dem studentischen Dichterbund nicht angehörte, Gottfried August Bürger (1748–94), der die neuen Forderungen an den Dichter mit seinen besten Liedern und kraftvollen Balladen zuerst ganz erfüllte, zuerst echt volkstümliche, herzergreifende Töne, die unmittelbarste Lebendigkeit der Erzählung und Schilderung, sinnliche Frische und hinreißende Macht des Ausdrucks besaß. – Während die Lyriker solchergestalt zur vollen Selbständigkeit erwuchsen, vertauschten die dramatischen Talente der Sturm- und Drangperiode die seither geltenden Muster mit dem Anschluß an Shakespeare, der mit Homer, Rousseau und dem nebelhaften Ossian den ganzen Enthusiasmus der brausenden, nach Leben und Originalität begehrenden Jugend erweckte und nährte. Die meisten glaubten durch Nachahmung der vermeinten Formlosigkeit Shakespeares seine gewaltige Wirkung zu erreichen, und so entschiedene Anstrengung die damalige Bühne auch machte, mit der dramatischen Dichtung in Verbindung zu bleiben, so war die Entstehung zahlloser Buchdramen um so weniger zu hindern, als in sehr vielen Fällen das Drama nur den Vorwand abgab und Szenen und Dialoge zum Vehikel der gärenden Neuerungsideen und selbst, wie bei Lenz, subjektiver Grillen, ja Verrücktheiten dienten. Zu den Geniedramatikern gehörten M. F. Klinger (1752 bis 1771), dessen wildleidenschaftliche Dramen und spätere Romane uns Geist und innere Widersprüche der Zeit ebenso vergegenwärtigen, wie dies das Leben des Dichters selbst thut; M. Reinhold Lenz (1750 bis 1792), der in den Dramen: „Der Hofmeister“, „Die Soldaten“ und „Der neue Menoza“ Fratze und lebensvolle Genialität unerquicklich verband; Friedrich Müller („Maler Müller“, 1750–1825), dessen „Pfalzgräfin Genoveva“ und „Faust“ wenigstens Ansätze zu echter Charakteristik und Lebensdarstellung enthielten; Fr. v. Goué (gest. 1789), Heinrich Leopold Wagner (1747–83), Ludwig Philipp Hahn (1748–87), J. F. Schink (1755–1834) u. a. An Goethes „Götz von Berlichingen“ schlossen sich die Verfasser von Ritterdramen, Jakob Maier (1739–1784, „Fust von Stromberg“, „Der Sturm von Boxberg“), J. A. v. Törring (1754–1826, „Kaspar der Thorringer“, „Agnes Bernauerin“), Franz Marius v. Babo (1756–1822, „Otto von Wittelsbach“), an. Eine andre Gruppe von Dramatikern übertrug den Sturm und Drang, das Verlangen nach neuem Leben und die Darstellung desselben ins Bürgerliche. [750] Hier ging A. W. Iffland (1759–1814) allen voran, der in der langen Reihe seiner bürgerlichen Dramen und Rührstücke ein höchst charakteristischer Sprecher der gegen die alten Gesellschaftszustände aufbäumenden, mit Rousseauschen Ideen genährten Zeitstimmung war. – Die dehnbare und schwankende Form des Romans bot natürlich noch weit mehr Gelegenheit als das Drama, die Phantasien, die Empfindungen, die heftigen und leidenschaftlichen Wünsche und Weltverbesserungsansichten der jugendlichen Generation darzulegen. Eine Anzahl der „Kraftgenies“ und der ringenden Naturen der Periode bediente sich dieser praktischen Form; selbst eine so scharf verständige und kaustisch-nüchterne Natur wie Goethes Darmstädter Freund J. H. Merck (1742–91) entwarf einige kleinere Romane und Sittenbilder („Lindor“, „Herr Oheim der jüngere“). Unter den Stürmern und Drängern sind hier zu nennen: Wilhelm Heinse (1749–1803), in seinen Romanen: „Ardinghello, oder die glückseligen Inseln“ und „Hildegard von Hohenthal“ feurige Kunstbegeisterung und schwelgerisch-üppige Sinnlichkeit verbindend; J. K. Wezel (1747–1819, „Hermann und Ulrike“), Joach. Chr. Schulz (1762–98, zahlreiche Romane), Karl Ph. Moritz (1757–93); dessen „Anton Reiser“, ein autobiographischer Roman von eigentümlichster Bedeutung, einen vollen Einblick in die Gegensätze und die Gärung der Zeit verstattet. – An die Romandichter reihen sich jene Prosaiker der Periode an, welche in schildernden und historisch darstellenden Schriften die ganze bunte Mannigfaltigkeit, das Durcheinanderwogen der Bestrebungen und Meinungen repräsentieren, und unter denen es an einer Reihe von Originalgestalten, die Träger der entschiedensten geistigen Gegensätze waren, gleichfalls nicht fehlte. Hier sei erinnert an Justus Möser (1720–94), in seinen „Osnabrückschen Geschichten“ ein geistvoller Historiker, in seinen „Patriotischen Phantasien“ der beredte Lobredner des deutschen Individualismus und einer natürlich-gesunden Grundlage aller gesellschaftlichen Zustände; an den Weltumsegler Georg Forster (1754–94), dessen „Schilderungen aus der Südsee“ und „Ansichten vom Niederrhein“ von Rousseauschem Geist erfüllt waren; an den volkstümlichen Journalisten und Poeten Chr. Daniel Schubart (1743 bis 1791), den Herausgeber der „Deutschen Chronik“.

In und aus der wilden Gärung der eigentlichen Sturm- und Drangperiode rangen sich die größten Naturen und vorzüglichsten Geister der deutschen Litteratur zu reiner und bleibender Wirkung empor. Galt dies schon von Herder, Voß u. a., so kam es in erhöhtem Maß zum Bewußtsein bei den beiden größten Dichterbegabungen der Nation, welche mit ihren Anfängen und einem guten Teil ihrer Entwickelung im Sturm und Drang wurzelten und sich nur insofern von demselben lösten, als sie die bleibenden Lebenselemente und Forderungen, welche der Periode entstammten, in ihren Dichtungen zum unverlierbaren Besitz der Nation, zur Voraussetzung der gesamten deutschen Bildung wandelten. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), mit seinen Erstlingswerken, dem Drama „Götz von Berlichingen“ und dem Roman „Die Leiden des jungen Werther“, welche die Forderung warm natürlicher unmittelbarer Lebensdarstellung über die hochfliegendsten Hoffnungen hinaus erfüllten, sofort der gefeiertste Dichter der Sturm- und Drangperiode, erhob sich im Verlauf seiner mächtigen und einzigen Entwickelung zum größten Dichter der Nation und der letzten Jahrhunderte überhaupt. Lyriker von unvergleichlicher Tiefe und höchstem Empfindungsreichtum, als Epiker und Dramatiker Schöpfer einer ganzen Reihe von Werken des tiefsten Gehalts und der edelsten Form, die sämtlich die Macht seiner Phantasie, den Adel seiner Natur, die größte Weltkenntnis und Weltbeherrschung neben der unbeirrbaren Simplizität und beinahe unversieglichen Frische einer großen Künstlernatur erwiesen, wirkte Goethe tief auf die deutsche Entwickelung und weit über die Nation hinaus auf andre Litteraturen. Die eigentümlichste Durchdringung von objektiv angeschautem und dargestelltem Leben mit der Leidenschaft und dem subjektiven Gehalt seines Busens, die Versöhnung der ausgebreitetsten und vielseitigsten Bildung mit der ursprünglichsten Leidenschaft und Stärke, die ethische wie die künstlerische Läuterung seines Genius, für welche seine Werke Zeugnisse sind, wurden erst ganz begriffen, als die Reihe seiner größern und kleinern Werke, vor allen die dramatischen Dichtungen: „Egmont“, „Iphigenia“, „Torquato Tasso“, die epische Dichtung „Hermann und Dorothea“, die Romane: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“, die klassischen Spätlingswerke: „Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung“ und „Westöstlicher Diwan“, endlich die über Goethes ganzes Leben sich erstreckende Dichtung „Faust“ (das weltumfassendste und tiefste poetische Werk der neuhochdeutschen Litteratur überhaupt), die Fülle seiner Lieder und übrigen lyrischen Gedichte, die ganze Summe seiner schaffenden, forschenden und bildenden Thätigkeit, mit der er gestrebt hatte, sich ein Ganzes zu erbauen, überblicken ließ.

Einer raschern Wirkung erfreute sich Friedrich Schiller (1759–1805), der dem Freiheits- und Humanitätsdrang des 18. Jahrh. den mächtigsten und poetisch schwungvollsten Ausdruck in seinen Dichtungen gab. Mit den Dramen: „Die Räuber“, „Fiesco“, „Kabale und Liebe“ und „Don Karlos“ beginnend, deren jedes eine Sehnsucht und Forderung der Zeit gewaltig fortreißend aussprach und lebendig verkörperte, durch seine historischen Schriften („Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande“, „Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs“) bahnbrechend für eine gedankenreiche, farbenvolle und fesselnde Prosadarstellung, leitete Schiller mit seinen philosophisch-kritischen Abhandlungen (namentlich mit den „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“) die Versöhnung zwischen den Anschauungen der Gärungsepoche und der strengen Ethik der Kantschen Philosophie ein und dokumentierte jenen einzigen subjektiven Idealismus, jene wunderbare Selbstläuterung, jene Durchbildung zur künstlerischen Vollendung in seinem Sinn, welche ihn mit Goethe in geistigen Einklang setzte und alle Gedichte seiner zweiten Periode sowie die Reihe seiner Meisterdramen („Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Die Jungfrau von Orleans“, „Die Braut von Messina“, „Wilhelm Tell“, den Torso des „Demetrius“) durchdringt und verklärt.

Neben den großen Gestalten Goethes und Schillers erschienen die Zeitgenossen kleiner, als sie waren. Das Publikum freilich ließ sich das Recht nicht nehmen, auf seine eigne Weise neben den Heroen Größen zu schaffen und anzuerkennen. Bald bewunderte es die geistvolle und phantasiereiche, aber fragmentarische und schon frühzeitig manieristische Weise von Jean Paul Friedrich Richter (Jean Paul, 1763–1825), dessen beste Romane, wie „Hesperus“, „Titan“, „Siebenkäs“, „Die Flegeljahre“, es einigermaßen rechtfertigten, wenn man ihn als den klassischen Humoristen bezeichnete; bald hielt es sich an Poeten, welche auf einem kleinen, beschränkten Gebiet Vorzügliches [751] oder Treffliches leisteten. Hierher gehören Lyriker wie der weiche und elegante Fr. v. Matthisson (gest. 1831), sein kräftigerer Freund J. G. v. Salis (gest. 1834), A. Mahlmann (gest. 1826), Chr. Aug. Tiedge (gest. 1840, „Urania“), J. A. v. Halem (gest. 1819), K. Ph. Conz (gest. 1827), Schmidt von Lübeck (gest. 1849, populär gewordene Lieder: „Von allen Ländern in der Welt“ etc.), Karl Lappe (gest. 1843, „Nord oder Süd“), Fr. Wilh. Aug. Schmidt von Werneuchen (gest. 1832), den Goethe in dem Gedicht „Musen und Grazien in der Mark“ verspottete, Ludw. Theobul Kosegarten (gest. 1818), dessen ländliches Gedicht „Jucunde“ eine Zeitlang viel bewundert ward, u. a.; hierher Dramatiker einer dürren Regelmäßigkeit, welche sich neben der eigentlich klassischen lebensvollen Kunst geltend zu machen suchte, wie Joh. Heinrich v. Collin (gest. 1811, „Regulus“, „Coriolan“), oder Originalgenies vom Schlag des derben, knorrigen J. G. Seume (1763–1810), dessen autobiographische Schriften („Spaziergang nach Syrakus“, „Mein Sommer“ u. a.) größeres Verdienst hatten als seine Dichtungen. Daneben standen jene Autoren in hohem Ansehen, welche die Gefühls- und Gedankenelemente der letzten Jahrzehnte mit den Überlieferungen der Aufklärungsperiode äußerlich und zum Zweck der Unterhaltung verbanden, so A. v. Kotzebue (1761–1819), der fruchtbare und erfindungsreiche, aber charakterlose Theaterschriftsteller, dessen Lustspiele und Dramen die Bühnen förmlich überschwemmten und fast in Alleinbesitz nahmen; so August Lafontaine (1758–1831), dessen rührselige Romane und „Gemälde des menschlichen Herzens“ Tausende von weichlichen Naturen entzückten; so Fr. W. v. Meyern (gest. 1829), dessen Roman „Dya-na-Sore“ ein echtes Produkt der Gärungsperiode am Ende des 18. Jahrh. war; so August v. Klingemann (1777–1831), der in hohlen Romanen und Dramen (er dichtete einen „Schweizerbund“ wie einen „Faust“) Schiller und Goethe die Spitze zu bieten suchte; so Heinrich Zschokke (1771–1848), der, mit Schauerdramen („Abällino, der große Bandit“) und sentimentalen Romanen („Alamontade, der Galeerensklave“) beginnend, sich zu einem gewandten Erzähler leichter Art wandelte. – Unter dem unmittelbaren Einfluß der weimarischen Freunde standen nur einige Talente zweiten Ranges, neben den Dichterinnen Sophie Mereau (gest. 1806) und Amalie v. Helvig, geborne v. Imhof (gest. 1831, „Die Schwestern von Lesbos“), Schillers Schwägerin Karoline v. Wolzogen (gest. 1847, „Agnes von Lilien“), Chr. Ludwig Neuffer (gest. 1839, „Die Herbstfeier“, „Der Tag auf dem Lande“), die Erzähler Friedrich Rochlitz (gest. 1842) und Ernst Wagner (gest. 1812, „Willibalds Ansichten des Lebens“, „Die reisenden Maler“). Höheres erstrebte Schillers begabtester Schüler, Friedr. Hölderlin (1770–1843), dessen schwungvolle lyrische Dichtungen, der Roman „Hyperion“ und das Fragment „Empedokles“, einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach einer höchsten, unerreichbaren Freiheit und Schönheit des Lebens Ausdruck geben. Zu klassischer Vollendung bildete J. P. Hebel (1768 bis 1826) in den „Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes“ die volkstümliche Erzählung aus und bewährte in seinen „Gedichten in alemannischer Mundart“ eine tief gemütvolle, schalkhaft-liebenswürdige Natur. Selbst Jean Paul fand Nachfolger und Nachahmer im Grafen Bentzel-Sternau (1767–1849), dessen Romane („Das goldene Kalb“ und „Pygmäenbriefe“) die Mängel des Vorbildes lebhafter empfinden lassen als die Vorzüge desselben; in August Emil, Herzog zu Sachsen-Gotha (gest. 1822, „Kyllenion“), Karl Julius Weber (gest. 1832, „Demokritos“) u. a. Auch die Prosalitteratur dieses Zeitraums nahm in fortwährender Wechselwirkung mit der Dichtung einen glänzenden Aufschwung. Der stärkste und segensreichste geistige Einfluß, der außer dem Goethe-Schillerschen auf die damalige und manche folgende Generation stattfand, ging von dem größten deutschen Philosophen, Immanuel Kant (1724–1804), aus, dessen Hauptwerke: die „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, die „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“, mit ihrer unerbittlichen Kritik eine klärende und mit ihrer Betonung des sittlichen Willens, des Prinzips der Freiheit, eine mächtig erhebende Wirkung ausübten. Die philosophischen Schriftsteller K. L. Reinhold, L. H. v. Jacob, J. F. Fries, G. E. Schulze halfen die Kantschen Ideen in weite Kreise verbreiten. Aus der Gruppe selbständiger und eigentümlicher Denker, welche zur kritischen Philosophie und zur klassischen Dichtung in Bezug treten, sind noch hervorzuheben: Wilhelm v. Humboldt (1767–1835), ästhetisch-philosophischer Schriftsteller von seltener Tiefe, und dessen jüngerer Bruder, Alexander v. Humboldt (1769–1859), der große Reisende und Naturforscher, der mit seinen in glänzender Darstellung auftretenden „Ansichten der Natur“ und dem Spätlingswerk „Kosmos“, in dessen Anlage und Stil die klassische Periode gleichsam noch einmal auflebte, nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Nationallitteratur angehört. Die Geschichtsdarstellung ward durch Johannes v. Müller (1752–1809) namentlich in den „Geschichten der schweizerischen Eidgenossenschaft“ auf die Höhe klassischer Litteraturleistungen erhoben und behauptete sich auf derselben mit den Werken von Ludw. Tim. v. Spittler („Geschichte des Papsttums“), Ludw. Heeren („Ideen über Politik, Verkehr und Handel der alten Völker“, „Geschichte der Staaten des Altertums“), Chr. Friedr. Schlosser („Geschichte der bilderstürmenden Kaiser“, „Geschichte des 18. Jahrhunderts“) u. a.

IX. Zeitraum.
Die Romantik und die Übergänge zur Litteratur des 19. Jahrhunderts.

Noch während der letzten Periode der schöpferischen Thätigkeit Goethes und Schillers, ehe die Ideale der klassischen Litteratur auch nur entfernt die Massen ergriffen und durchdrungen hatten, schien sich eine neue Entwickelung des deutschen Geisteslebens, speziell der Dichtung, vorzubereiten. Gleich dem „Sturm und Drang“ ging die neuauftretende Romantik vom Kampf gegen die Plattheit und Nüchternheit der in Norddeutschland noch immer herrschenden Aufklärung, von der Sehnsucht nach lebendiger Poesie und poetischem Leben aus, sah in ihren ersten Regungen die Goetheschen Jugenddichtungen als die eigentlichen Muster der echten Poesie an und strebte durch Aneignung der großen Dichter des Auslandes (Shakespeare, Dante, Cervantes, Calderon etc.) den eignen poetischen Horizont zu erweitern. Bald freilich gesellten sich neue Momente der Entwickelung hinzu. Die philosophischen Anschauungen J. G. Fichtes (1762–1814), dessen strenger Idealismus in seiner „Wissenschaftslehre“ alles, was außerhalb des geistigen Ichs liegt, als Produkt des Ichs betrachtete, und Friedrich Wilhelm Joseph v. Schellings (1775–1855), dessen Identitätsphilosophie das Ideale und Reale in der Idee des Absoluten aufzuheben strebte, und der speziell die Kunst als Offenbarung [752] des Göttlichen im menschlichen Geist betrachtete, dessen „System der Naturphilosophie“, „System des transcendentalen Idealismus“ die philosophische Begründung der romantischen Doktrinen abgaben, während sein Buch über „Philosophie und Religion“ die Verbindung der romantischen Litteratur mit der alten Kirche gewissermaßen anbahnte, wurden von entscheidender Bedeutung. Durften verwandte Bestrebungen, wie die ästhetischen Solgers, die „Symbolik“ Creuzers, die Naturphilosophie Steffens’, Schuberts u. a., vielleicht erst als Folgen der romantischen Poesie angesehen werden, so fand zwischen den bezeichneten Philosophen und den spezifisch litterarischen Begründern der Schule, denen im Beginn auch eine so eigentümlich geniale und universell gebildete Kraft wie der Theolog Fr. E. D. Schleiermacher (1768–1834) zur Seite trat, eine in der Kürze schwer definierbare tausendfältige Wechselwirkung statt. Die doktrinären Häupter der Schule wurden durch ihre kritischen Erstlingsschriften die Brüder Friedrich v. Schlegel (1772–1829) und Aug. Wilh. v. Schlegel (1767–1845), deren „Athenäum“ um die Wende des Jahrhunderts das erste spezifisch romantische Organ war. Sie verkündeten, daß es „der Anfang aller Poesie sei, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft wieder aufzuheben und uns wieder in die schöne Verirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen“, und stellten es als obersten Grundsatz der neuen romantischen, durch keine Theorie zu erschöpfenden, allein unendlichen wie allein freien Dichtart auf, „daß die Willkür des Dichters kein Gesetz (also auch nicht das der Natur und innern Wahrheit) über sich leide“. Welche Willkür, welche leidige Vermischung von Poesie, Religion und mystischer Philosophie, welche phantastisch schönfärbende Begünstigung entlegener Lebenserscheinungen (Ritter-, Heiligen- und Legendenpoesie), welche Exzentritäten und Monstrositäten durch diese Anschauungen veranlaßt wurden, ist in der Regel mehr hervorgehoben, als das wirklich bedeutsame Verdienst der Romantik um die Erkenntnis und Geschichte der eignen Vergangenheit, des deutschen Volkslebens wie um Erschließung großer geistiger Gebiete anerkannt worden. Die Brüder Schlegel, selbst mehr kritische als produktive Naturen, die dichterischen Versuche beider, lyrische Gedichte und Romanzen, Fr. Schlegels lüstern-prätentioser Roman „Lucinde“ und sein Drama „Alarkos“, A. W. Schlegels Drama „Ion“, hatten wesentlich nur formelle Verdienste; eine wahrhafte Bereicherung und Befruchtung der deutschen Litteratur gab A. W. Schlegel mit seiner unübertrefflichen Übertragung der Shakespeareschen Dramen. Tieferes poetisches Talent erwiesen einige andre Genossen der romantischen Schule, so vor allen der früh verstorbene Friedrich v. Hardenberg („Novalis“ genannt, 1772–1801), der in seinen gemütstiefen Liedern und dem bedeutsamen Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“ gleichsam die Inkarnation der romantischen Sehnsucht nach einer nicht sowohl Verklärung als vielmehr Auflösung des gesamten Lebens in Poesie darstellte. Zu längster Wirksamkeit gelangte Ludwig Tieck (1773–1853), der mit überlebendiger Phantasie und einem kühn improvisatorischen Talent mannigfache Eigentümlichkeiten einer nüchtern-verständigen, ja zersetzenden Verstandesanlage zeigte, dessen romantische Dramen, Märchen, Erzählungen wie seine spätern künstlerisch reinen und abgewogenen Novellen daher nicht nur die denkbarste Mannigfaltigkeit poetischer Gestalten und Situationen, sondern auch die größten Ungleichheiten, ja Zwiespältigkeiten des Wertes und Eindrucks aufweisen. Einheitlicher und mächtiger stellte sich das große Talent des Dramatikers und Erzählers Heinrich v. Kleist (1777–1811) dar, der zwar in Äußerlichkeiten und einzelnen Gefühlsmomenten von der übersteigerten Phantastik der romantischen Schule angekränkelt erscheint, aber im Kern eine schlichte, warme, gestaltungskräftige Dichternatur, die bedeutendste der Romantik blieb, dessen beste Dramen („Der zerbrochene Krug“, „Penthesilea“, „Käthchen von Heilbronn“, „Die Hermannsschlacht“, „Der Prinz von Homburg“) und Erzählungen die Behauptung von der nur vorübergehenden Bedeutung der ganzen Bewegung entscheidend widerlegen. Launenhafter und willkürlicher war Achim v. Arnim (1781–1831), dessen beste Novellen und der historische Roman „Die Kronenwächter“ die Wirrnis und Unerquicklichkeit andrer seiner Produkte wett machen. Arnims Schwager Klemens Brentano (1778–1842) hingegen repräsentiert nicht nur in der wilden Genialität seiner lyrischen und lyrisch-epischen Gedichte („Romanzen vom Rosenkranz“), seiner phantastisch-humoristischen Erzählungen und formlosen Dramen, sondern auch in seinen katholisierenden Tendenzen die äußersten Konsequenzen der ganzen Romantik. Auch der Dramatiker Zacharias Werner (1768–1823), der zwischen Schiller und der neuen Schule stehen wollte, seine dramatische Kraft in halben Zerrbildern ausgab („Kreuz an der Ostsee“, „Die Weihe der Kraft“, „Attila“, „Wanda“, „Der 24. Februar“) und der Begründer der sogen. Schicksalstragik ward, suchte im Schoß der alten Kirche Frieden und Zuflucht vor der eignen Phantastik. Zu den romantischen Talenten zweiten Ranges gehörten Friedr. de la Motte Fouqué (1777–1843), der in Epen, Romanen und Novellen die mittelalterliche Ritterwelt zu einem Scheinleben erweckte („Der Zauberring“, „Undine“ etc.); E. T. A. Hoffmann (1776–1822), der die romantische Neigung für die unheimlichsten Regionen der Phantasie und für Gespensterspuk in einer Reihe zum Teil vorzüglich erzählter Novellen voll befriedigte; Adalbert v. Chamisso (1781–1838), dessen Märchen „Peter Schlemihl“ zu den besten kleinen Schöpfungen der romantischen Periode zählt, während die lyrischen Gedichte und poetischen Erzählungen Chamissos schon zum Teil einen andern, modernen Geist atmen. Die „Nachromantiker“, Dichter, welche zumeist erst nach den Befreiungskriegen vor die Nation traten, zeichneten sich im allgemeinen dadurch aus, daß sie sich von den Extremen und Einseitigkeiten der ersten Romantikergeneration größtenteils frei hielten. Die kirchlich-katholische Tendenz vertrat unter ihnen nur Joseph v. Eichendorff (1788–1857), dessen lyrisches und novellistisches Talent daneben doch die erfreulichsten Blüten („Gedichte“, das prächtige Phantasiestück „Aus dem Leben eines Taugenichts“) trieb. Schwächlicher war der Epiker Ernst Schulze (1789–1817), dessen romantische Dichtungen („Cäcilie“ und „Die bezauberte Rose“) eine wahre Flut von Gedichten in Oktaven im Gefolge hatten. Als ein Talent ersten Ranges, der volkstümlichste und gesündeste aller Romantiker, in seiner durchsichtigen Klarheit den Klassikern, in der Kraft seiner vaterländischen Empfindung den Sängern des Freiheitskriegs verwandt, wirkte Ludwig Uhland (1787–1862), dessen lyrische Dichtungen und Balladen (nicht so seine Dramen: „Ernst von Schwaben“ und „Ludwig der Bayer“) tief in [753] alle Schichten des Volkes drangen und die Muster für die lyrische und lyrisch-epische Poesie der „schwäbischen Dichterschule“ abgaben. Zu der Gruppe mehr oder minder verdienstlicher württembergischer Poeten gehörten der mystisch-originelle Justinus Kerner (gest. 1862), ferner Gustav Schwab (gest. 1850), W. Waiblinger (gest. 1830), Karl Mayer (gest. 1870), Albert Knapp (gest. 1864), Eduard Mörike (gest. 1875, „Gedichte“, der Roman „Maler Nolten“), der frische und liebenswürdige Erzähler Wilhelm Hauff (gest. 1827, „Lichtenstein“, „Märchen“, „Phantasien im Bremer Ratskeller“). Eine minder erfreuliche Gruppe von dramatischen Dichtern, die „Schicksalstragöden“, folgte den Spuren Zacharias Werners, so A. Müllner (gest. 1829, „Die Schuld“, „König Yngurd“, „Die Albaneserin“), Ernst v. Houwald (gest. 1845, „Das Bild“, „Der Leuchtturm“) u. a.

Übrigens gelang es den Romantikern nicht, die d. L. dauernd oder ausschließlich zu beherrschen. Schon von den Dichtern der Befreiungskriege 1813–15 gehörte trotz der unzweifelhaft vaterländischen Gesinnung aller Romantiker und ihrer Verdienste um die Stärkung des vaterländischen Gefühls in der Zeit der Fremdherrschaft im Grund nur Max v. Schenkendorf (1783–1817) der eigentlichen Romantik an. Von den wirksamern Sängern der großen Erhebung stammte E. M. Arndt (1769–1860) aus einer ältern Poetengeneration; Theodor Körner (1791–1813), dessen „Leier und Schwert“ der poetische Ausdruck des Idealismus der Erhebung wurde, war in diesen Dichtungen wie in seinen Dramen („Zriny“, „Rosamunde“) ein Schüler Schillers. Auch in der Dichtung der Restaurationsepoche, so sehr dieselbe gewisse Richtungen und Tendenzen der Romantik begünstigte, machten sich die Nachwirkungen der klassischen Epoche und ihrer Humanitätsideale wieder entschiedener und stärker geltend. Zahlreiche Talente nahmen zwar die lebensvollen und vollberechtigten Elemente, welche die Romantik der deutschen Litteratur gebracht, mit in sich auf; aber ihr eigentlicher Lebensgehalt und ihre Kunstrichtung wurden nicht von der romantischen Doktrin bestimmt. Franz Grillparzer (1791–1872), der mit dem Trauerspiel „Die Ahnfrau“ als Schicksalstragöde begann, erhob sich in seinen spätern dramatischen Dichtungen („Sappho“, „Medea“, „König Ottokar“, „Des Meeres und der Liebe Wellen“, „Kaiser Rudolf II.“) in reinere und freiere Regionen. Friedrich Rückert (1789–1866), in seiner gesunden Klarheit eine Goethe verwandte Lyrikernatur, bewährte sich in überzahlreichen lyrischen („Geharnischte Sonette“, „Liebesfrühling“, „Ghaselen“ etc.) u. didaktischen Dichtungen („Weisheit des Brahmanen“) und Nachdichtungen orientalischer Muster als ein Sprachvirtuose ersten Ranges. Als Lyriker und Balladendichter zeichneten sich Wilhelm Müller (1794–1827, „Griechenlieder“), J. Chr. v. Zedlitz (1790–1862, „Totenkränze“, „Waldfräulein“, auch Dramen), Egon Ebert (1801–83), H. Stieglitz (1803–49), als didaktischer Poet und Novellist Leopold Schefer (1784–1862, „Laienbrevier“) aus. Den Bedürfnissen des großen Publikums näher standen die Dramatiker einer gewissen eklektisch-rhetorischen Richtung, der überfruchtbare Ernst Raupach (gest. 1852, Hohenstaufendramen), die deklamatorischen Tragöden E. v. Schenk (gest. 1841, „Belisar“, „Albrecht Dürer“), Michael Beer (gest. 1833, „Paria“, „Struensee“), Joseph v. Auffenberg (gest. 1857), ferner Fr. v. Üchtritz (gest. 1875), Ludw. Deinhardstein (gest. 1859, Künstlerdramen), Ferd. Raimund (gest. 1836, Zauberspiele: „Der Verschwender“ etc.). Novellistik und Romanlitteratur begannen in der leseseligen, stillen Friedenszeit zwischen 1815 und 1830 schon gewaltig ins Kraut zu schießen. Die federfertige Belletristik trug bereits so viele Siege über die anspruchsvollere und innerlich gehaltvollere Dichtung davon, daß ein hervorragendes Dichtertalent wie August Graf von Platen (1796–1835) am Ausgang dieser Zeit in der strengen Betonung einer gewissen Kunstwürde und in der Forderung formeller, sprachlicher Vollendung berechtigtes Pathos entwickeln und mit seinen formschönen Gedichten und Märchen („Die Abbassiden“, Märchenepos; „Die verhängnisvolle Gabel“ und „Der romantische Ödipus“, dramatische Satiren) der neuern Litteratur einen Pfad zeigen konnte. Von der Romantik zur modernen Poesie rang sich gleichfalls das kraftvolle, aber spröde und schwerflüssige Talent Karl Immermanns (1796 bis 1840) hindurch, dessen beste Dichtungen („Tulifäntchen“, „Alexis“, „Merlin“, die Romane: „Die Epigonen“ und „Münchhausen“) für die positive Entwickelung der deutschen Poesie wichtig wurden. Als letzten Romantiker und ganz moderne Natur feierte sich selbst Heinrich Heine (1799–1857), dessen träumerische, weich lyrische Anlage seltsam mit einem ätzend satirischen und spöttisch-frivolen Grundzug seines Wesen kontrastierte, so daß sich bei ihm der Bruch mit der Romantik in der Form ironischer und höhnischer Negation beinahe aller idealen Regungen vollzog. Heines satirische Geißel traf darum fast gleichmäßig Edelsinn wie Gemeinheit, ernste wie leere und verächtliche Bestrebungen. Die unvergänglichen Lieder und Romanzen des Dichters wirkten minder nachhaltig als seine journalistische Thätigkeit, deren verhängnisvolle Konsequenzen sich in der jungdeutschen Periode wie bis auf die Gegenwart geltend machen sollten.

Während der Zeit der Romantik und der Übergänge zur modernen Dichtung war auch die Zahl der hervorragenden Prosaiker nicht klein. Unter vielen, von denen ein und das andre Werk der Nationallitteratur bleibend angehört, sind hier in erster Linie die unvergleichlichen Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm zu nennen, die neben, ja in und mit ihren spezifisch gelehrten Leistungen dem deutschen Volk die volle Poesie seiner Sagen und seiner Märchen („Kinder- und Hausmärchen“, „Deutsche Sagen“) zum Bewußtsein zu bringen wußten. In der Geschichtschreibung zeichneten sich Fr. v. Raumer („Geschichte der Hohenstaufen“), Heinrich Leo durch Stilvollendung aus; als der eigentliche Meister erschien Leopold v. Ranke (geb. 1795), der feinsinnigste, bedeutendste und nach reinster Vollendung der Form strebende Historiker zweier Menschenalter. Auch Jak. Ph. Fallmerayer, der orientalische Fragmentist (gest. 1860), Karl Ritter, der Begründer der wissenschaftlichen Geographie (gest. 1859), und der vielseitig gebildete biographische und Memoirenschriftsteller K. A. Varnhagen von Ense (gest. 1858) sind hier anzureihen.

X. Zeitraum.
Die jungdeutsche und politische Gärungsperiode.

Die völlige Zersetzung der Romantik und die inzwischen eingetretene Umbildung aller Lebensverhältnisse, dazu die Reihe der politischen Umwälzungen und liberalen Bestrebungen, welche mit der französischen Julirevolution von 1830 begannen, riefen eine neue Gärungsperiode in der deutschen Litteratur hervor, welche man gewöhnlich unter dem Namen der „jungdeutschen Bewegung“ bezeichnet, die aber tiefere [754] Gründe und unendlich weitere Resultate hatte als die momentan bedeutsame Stellung, welche den Schriftstellern des sogen. jungen Deutschland zufiel. Auch in diesem Zeitraum übte die Philosophie auf die poetische Litteratur einen weitgehenden Einfluß. Die Philosophie G. F. W. Hegels (1770–1831) verdrängte die Schellingsche und erlangte eine Alleinherrschaft für ihren absoluten Idealismus, deren Bedeutung in tausend Verzweigungen in den litterarischen Schulen wie in zahlreichen poetischen Individuen erkennbar bleibt. Der allein stehende pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) bekämpfte umsonst die Hegelsche Geisteswissenschaft und gewann volle Wirkung erst auf die nachfolgende, nach 1848 auftretende Generation. Eine Radikalphilosophie eigenster Art begründete Ludwig Feuerbach (gest. 1872); auf die ganze litterarische Entwickelung wirkten die theologisch-kritischen Forschungen des Verfassers des „Lebens Jesu“, F. Strauß (gest. 1874), entscheidend ein, der später zu litterarhistorischen und biographischen Darstellungen überging, die den Stempel der Meisterschaft tragen („Ulrich v. Hutten“, „Voltaire“). Dazu aber gesellte sich der gänzlich neue Genuß der Besprechung der öffentlichen Zustände und ein schrankenloser Radikalismus des Subjekts, welcher die Verirrungen der Romantik noch überbot, eine Zeitlang geneigt war, die poetische Darstellung des Lebens in seiner Totalität für einen überwundenen Standpunkt zu erklären und von der ästhetisch im Grund höchst unbedeutenden fragmentarischen Belletristik und der philosophisch-politisch-belletristischen Diskussion auch der untergeordnetsten Tagesfragen das Heil der Nation und mindestens ein neues großes Zeitalter der Litteratur zu erwarten. So wurden momentan alle höhern Kräfte gering geachtet, der „Esprit“ überschätzt, bis die hervorragendsten Führer der Bewegung selbst die Unfruchtbarkeit dieser Bestrebungen erkannten und mit mehr oder minder Glück zur „veralteten“ Menschendarstellung zurückkehrten. Die Genossen des vom Bundestag so getauften „jungen Deutschland“ waren neben Heinrich Heine und dem scharf zersetzenden jüdischen Denker Ludwig Börne (1784–1834), der alles geistige Leben, also auch die ästhetische Kritik und die ethische Schätzung menschlicher Dinge, in den Dienst der politischen Tendenz stellte, die Belletristen L. Wienbarg (1802–1872), Gustav Kühne (geb. 1806), der erfolgreiche Dramatiker und Erzähler Heinrich Laube (1806–1884), Theodor Mundt (1807–61) und Karl Gutzkow (1811–78), letzterer entschieden der bedeutendste Repräsentant der Bewegung wie ihrer nachmals angestrebten Klärung. Von seinen publizistischen und kritischen Anfängen seit 1830 an behauptete sich Gutzkow beständig an der Spitze der geistigen Bewegung in Deutschland und errang in fast allen Gebieten der Litteratur (mit Ausnahme der Lyrik) bedeutende Erfolge. In bühnengerechten, pointenreichen, jederzeit in die Bewegung des Augenblicks einschlagenden Dramen („Savage“, „Werner“, „Pugatschew“, vor allem in den historischen Musterlustspielen: „Zopf und Schwert“ und „Das Urbild des Tartüff“ und der Tragödie „Uriel Acosta“) eroberte er der Zeittendenz das Theater. Seit der Revolution von 1848 warf er sich vorzugsweise auf den Roman und gab in mehreren umfangreichen Werken dieser Gattung („Ritter vom Geist“, „Der Zauberer von Rom“, „Hohenschwangau“ etc.) den Beleg für den ungemein scharfen geistigen Instinkt und die Kraft, mit welcher er die verschiedensten Kundgebungen und Wandlungen des nationalen Lebens zu erfassen verstand. Die jungdeutsche Tendenz radikaler oder wenigstens entschieden liberaler Reformbestrebungen beschränkte sich aber keineswegs auf das junge Deutschland; aus ihr ging auch die politische Lyrik hervor, ihr verwandt waren zahlreiche andre litterarische Bestrebungen der 30er und 40er Jahre. Vertreter der politischen und jener deskriptiven Lyrik, welche, wo nicht völlige Neuheit der Töne zu erreichen war, wenigstens Neuheit des Kolorits erstrebte, waren H. Hoffmann von Fallersleben (1798–1874), der seine Muse am Volkslied nährte und bildete; Karl Beck (1817–79); Georg Herwegh (1817–75), einer der schwungreichsten dichterischen Rhetoriker; Ferd. Freiligrath (1810–76), welcher neue Stoffe aus entlegenen Regionen in intensivster Farbenglut und Energie vorführte und seine realistische Lebendigkeit auch in der überreizten Grundstimmung seiner revolutionären Gedichte festhielt; der formgewandte und ironische Franz Dingelstedt (1814–81); ferner Robert Prutz (1816–72), Anastasius Grün (Graf Auersperg, 1806–76), Friedrich v. Sallet (1812–43, „Laienevangelium“), M. Graf Strachwitz (1822–1847), Alfred Meißner (1822–85, „Gedichte“, „Ziska“), Moritz Hartmann („Kelch und Schwert“) u. a. Als kritisches Zentralorgan der liberalen Opposition und der Tendenzlitteratur wirkten bedeutsam die von Ruge und Echtermeyer herausgegebenen „Halleschen (nachher „Deutschen“) Jahrbücher“ (1838 bis 1842). Den jungdeutschen Bestrebungen verwandt war die neue dramatische Sturm- und Drangschule: Buchdramatiker, welche Originalität um jeden Preis erstrebten. Zu ihnen gehörten Chr. D. Grabbe (1801 bis 1836, der Dichter der Dramen: „Die Hundert Tage“, „Barbarossa“, „Heinrich VI.“, „Don Juan und Faust“, „Hannibal“), ein gemütarmes, formloses, aber bizarr-charakteristisches Talent; ferner Georg Büchner (1813–37), dessen wildgeniale dramatische Skizze „Dantons Tod“ bleibendes Zeugnis für die Eigenart jener Gärungsperiode ist; Alex. Fischer, F. Marlow u. a. Eine zweite Reihe von Talenten rangen und strebten im Widerspruch ihrer naiven Begabung und der Zeitforderungen, so Nikolaus Lenau (1802–50), als Lyriker durch die innige Tiefe eines weichen, aber zu düsterer Schwermut neigenden Empfindungslebens ausgezeichnet, in den episch-lyrischen Dichtungen: „Faust“, „Savonarola“, „Die Albigenser“ von den Ideen des philosophischen und politischen Radikalismus ergriffen; Emanuel Geibel (1815–84), durch die Anmut seiner formschönen Lyrik der Liebling der Frauenwelt geworden, in seinen spätern Dichtungen auch von tieferm Gehalt; Julius Mosen (1803–67), ein volkstümlicher Lyriker, in den Dichtungen: „Ritter Wahn“, „Ahasver“ auf dem Boden der philosophischen Poesie stehend, in seinen Dramen meist tendenziöser Rhetoriker. Unter den Dichterinnen ragte durch fast männliche Kraft und Lebensfülle Annette v. Droste (1798–1848) über alle übrigen weit hervor; neben ihr seien noch die formensichere Luise v. Plönnies (gest. 1872) und Betty Paoli (Elisab. Glück) erwähnt. Die rein naiven Begabungen wurden meist zur Seite gedrängt; Auszeichnung erwarben: Karl Simrock (1802–76), der poetische Erneuerer des Amelungenliedes und Übertrager der großen Werke mittelalterlicher deutscher Dichtung; ferner A. Kopisch, Franz v. Gaudy, W. Smets, Gustav Pfarrius, J. N. Vogl, I. Castelli, J. G. Seidl, A. Frankl, K. Dräxler-Manfred, L. Bechstein, der auch auf epischem Gebiet („Haimonskinder“, „Totentanz“) thätig war; E. Duller, Fr. Daumer, W. Wackernagel, F. v. Kobell, A. [755] Bube, E. v. Feuchtersleben, die Elsässer Adolf und August Stöber, Ludw. Pfau, Alex. Kaufmann, Feodor Löwe, Fr. Kugler, Gottfr. Kinkel, der auch die lyrisch-epische Gattung („Otto der Schütz“ und „Der Grobschmied von Antwerpen“) mit Erfolg kultivierte; Titus Ulrich („Hohes Lied“), die geistlichen Liederdichter A. Knapp, Ph. Spitta u. a. Als Epiker versuchten sich außerdem O. Gruppe (gest. 1876, „Königin Bertha“, „Theudelinde“), Friedr. v. Heyden (gest. 1851, „Das Wort der Frau“, „Der Schuster von Ispahan“), Max Waldau (Spiller von Hauenschild, gest. 1855, „Cordula“). Der spezifischen Tendenzdichtung traten im Drama Friedr. Halm (Freih. v. Münch-Bellinghausen, 1806–71, „Griseldis“, „Sohn der Wildnis“), K. v. Holtei (1797–1880), in gewissem Sinn die Lustspieldichter Roderich Benedix (1811–73) und Eduard v. Bauernfeld (geb. 1802), die bühnenkundige Charlotte Birch-Pfeiffer (gest. 1868) entgegen, während R. Griepenkerl (gest. 1868, „Robespierre“), J. L. Klein (gest. 1877), A. Dulk (gest. 1884) u. a. das rhetorische Tendenz- und originelle Kraftdrama zu pflegen strebten. Der Roman und die Novelle zeigten einzelne große Begabungen ausschließlich in ihrem Dienst, so Wilibald Alexis (Wilh. Häring, 1797–1871), dessen Romane mit dem Hintergrund der preußisch-märkischen Geschichte, der norddeutschen Landschaft sich teilweise, namentlich in „Cabanis“, „Der falsche Waldemar“, „Die Hosen des Herrn von Bredow“, „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ und „Isegrimm“, zur vollen Höhe poetischer Meisterschaft erhoben; so Charles Sealsfield (Postel, 1793–1864), der in den Romanen: „Der Virey“ und „Der Legitime und der Republikaner“ Kraft der Gestaltung und glänzende Schilderungsgabe entfaltete; J. P. v. Rehfues (gest. 1843, „Scipio Cicala“), Jerem. Gotthelf (Bitzius, 1797–1854), der drastische und getreue Darsteller schweizerischen Volkslebens; Berthold Auerbach (1812–82), der durch seine „Schwarzwälder Dorfgeschichten“ der Erzählung neue Gebiete eröffnete, die er selbst in einer langen Folge von Novellen und größern Romanen („Auf der Höhe“, „Das Landhaus am Rhein“, „Waldfried“ etc.) bald frisch darstellend, bald allzu reflektiert bearbeitete. Auerbach fand zahlreiche Nachahmer, wie Jos. Rank („Aus dem Böhmerwald“), Melch. Meyr (gest. 1871, „Erzählungen aus dem Ries“), W. O. v. Horn (W. Örtel, gest. 1867). Im modernen und historischen Roman repräsentierten Heinrich König (1790–1869), Ida Gräfin Hahn-Hahn (gest. 1880) in ihren blasierten wie in ihren spätern ultramontan gefärbten Erfindungen, A. v. Sternberg (gest. 1868), L. Starklof u. a. die Nachwirkung der jungdeutschen Tendenzrichtung, während die Romane von Henriette Paalzow (gest. 1847, „Godwie Castle“, „Thomas Thyrnau“), die feinen Naturbilder und Novellen Adalbert Stifters (1800–1868) in den „Studien“ und „Bunten Steinen“, die Dichtungen von Ernst Koch (gest. 1858, „Prinz Rosa Stramin“), die vortrefflich erzählten, aber fast ausschließlich der leichtern Unterhaltung dienenden Schriften des fruchtbaren Karl Spindler (gest. 1855), die Romane von K. Herloßsohn, Aug. Lewald, K. v. Wachsmann, Robert Heller und zahlreichen andern erwiesen, daß das Publikum fortfuhr, ein Bedürfnis nach einer nicht oder minder tendenziösen Litteratur zu empfinden. Die jungdeutsche Litteraturauffassung war dem Erfolg glänzender und pikanter Reiseschilderer, weltgewandter oder weltgewandt scheinender Essayisten und humoristischer Schriftsteller mit scharfem Wortwitz und zeitgemäßen Einfällen besonders günstig. Unter vielen seien hier Fürst Pückler-Muskau (Semilasso, 1785–1871), Theodor v. Kobbe (gest. 1845), M. G. Saphir (gest. 1858), Adolf Glaßbrenner (gest. 1876, „Berlin wie es ißt und trinkt“, „Neuer Reineke Fuchs“), E. Detmold (gest. 1856, „Herr Piepmeier“) erwähnt. – In der wissenschaftlichen Prosa nahm die Zahl der vorzüglich geschriebenen Bücher während dieses Zeitraums zu, ohne daß man alle vortrefflich geschriebenen Werke von ihrem Fachgebiet hinweg zur allgemeinen Nationallitteratur rechnen dürfte.

XI. Zeitraum.
Die Zeit nach 1848.

Die litterarische Entwickelung seit 1848 ward im allgemeinen dadurch charakterisiert, daß das Übergewicht und die Alleinherrschaft der Tendenzlitteratur aufhörten, obschon weder die bezüglichen Erscheinungen noch die Anstrengungen, ausschließlich diesen Erscheinungen zur Geltung zu verhelfen, völlig verschwinden konnten. Dafür machten sich nach 1848 und namentlich vom siebenten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts an eine unleugbare Herabstimmung der idealen Gesinnung und der künstlerischen Begeisterung (an der auch die große nationale Erhebung des Jahrs 1870 zunächst nur wenig zu ändern vermochte), weiterhin ein bedenklicher Einfluß des Industrialismus, der Massenproduktion selbst auf wirkliche Talente, die Übertragung der für die Wissenschaft fruchtbaren Spezialitätsrichtung und Arbeitsteilung auf das künstlerische Gebiet geltend, wo sie verderblich wirken mußte, weil das poetische und litterarische Talent auf Durchbildung und Darlebung seiner ganzen Natur, nicht auf technische Vervollkommnung einer besondern Fertigkeit angewiesen ist. Der Drang zu mühelosem Erwerb und rücksichtslosem Genuß mußte auf geistigem Gebiet manche Verwüstung hervorbringen, und eine immer stärkere Zersetzung der Begabungen, eine bedenkliche Überhebung und leichtfertige Urteilslosigkeit griffen in weiten Kreisen Platz, verwirrten und verwilderten das Publikum. Die Richtungen und Bestrebungen der neuesten Litteratur zeigen daher eine Reihe von harten Gegensätzen und Widersprüchen, eine so bunte Mannigfaltigkeit, daß nur wenige eigenartige Gruppen und besondere Naturen schon jetzt im Zusammenhang zu charakterisieren sind und die Aufzählung des mehr oder minder Vortrefflichen in den einzelnen Kunstformen genügen muß.

Die veränderte Stimmung des Publikums unmittelbar nach 1848 trat zuerst aus der Thatsache hervor, daß eine Art Nachromantik, hauptsächlich vertreten durch Oskar v. Redwitz mit seiner Dichtung „Amaranth“, vorübergehend geradezu glänzende Erfolge errang. Auf den Gang der Entwickelung im großen und ganzen hatten diese und noch flüchtigere äußerliche Neigungen des Publikums keinen entscheidenden Einfluß. Die nächsten Jahre brachten die Reife und die besten Leistungen namentlich solcher Talente, welche schon in den 40er Jahren hervorgetreten waren, und ließen eine Menge neuer Namen zur Geltung kommen. Daß die Zeit eine Zeit gewaltiger äußerer und innerer Kämpfe, schwerer Zweifel und eines die reinsten Wirkungen der Kunst mannigfach gefährdenden trüben Ernstes blieb, lehrte die gesamte Produktion eines so hervorragenden Dichters wie Friedr. Hebbel (1813–63), in dessen Dramen („Judith“, „Maria Magdalena“, „Herodes und Mariamne“, „Agnes Bernauer“, „Gyges und sein Ring“, „Die Nibelungen“ u. a.) und übrigen Dichtungen („Gedichte“, „Mutter und Kind“) sich eine gewaltige ursprüngliche Genialität und Naturkraft [756] mit einer Neigung zur zersetzenden Reflexion, ein tiefes Kunstgefühl mit phantastischen Übertreibungen und Verirrungen paaren. Den Neigungen des deutschen Publikums besser entgegenkommend zeigte sich die Entwickelung einer minder genialen, aber klaren, vielseitigen Dichterbegabung wie diejenige Gustav Freytags (geb. 1816). Mit Dramen beginnend, welche moderne Lebenskreise in einer eigenartigen Mischung von Ernst und Ironie darstellten („Die Valentine“, „Graf Waldemar“, „Die Journalisten“), in den sozialen Romanen: „Soll und Haben“ u. „Die verlorne Handschrift“ mit Glück das Leben und die Ideale des gebildeten Bürgertums von heute gestaltend, in der großen Romanfolge „Die Ahnen“ eine Reihe mehr oder minder wirksamer historischer Erzählungen gebend, welche die Entwickelung eines deutschen Geschlechts von den Tagen der Völkerwanderung bis zur jüngsten Vergangenheit verkörpern, als Essayist durch seine vorzüglichen „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ ausgezeichnet, nimmt Freytag einen hohen Rang auch für diejenigen ein, welche der spezifisch „realistischen Schule“, die er mit begründet, keineswegs die gesamte Zukunft der deutschen Poesie zusprechen. Dem Realismus gehörte auch die starke und tiefe, in Tragödien („Der Erbförster“, „Die Makkabäer“) und Erzählungen („Die Heithereithei“, „Zwischen Himmel und Erde“) bethätigte Dichterkraft von Otto Ludwig (1813–65) an. Andre realistische Poeten, die vielversprechend begannen, waren Edm. Höfer (gest. 1882, „Erzählungen aus dem Volk“, „Schwanwieck“, „Gedichte“, eine lange Reihe von größern Romanen, darunter: „Altermann Ryke“, „Unter der Fremdherrschaft“), M. A. Niendorf (gest. 1878, „Die Hegler Mühle“), Theod. Fontane (Balladen, „Vor dem Sturm“, Roman; „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“; stimmungsvolle Novellen), F. Chr. Scherenberg (gest. 1881) mit den Schlachtgemälden: „Waterloo“, „Leuthen“ und „Abukir“. In den zahlreichen Romanen und Erzählungen F. W. Hackländers (gest. 1877, „Bilder aus dem Soldatenleben“, „Namenlose Geschichten“, „Eugen Stillfried“ etc.) verflüchtigte sich der Realismus schon wieder zu äußerlicher Genredarstellung und Unterhaltungslitteratur. Über den spezifischen Realismus hinaus strebte das kräftige und originelle lyrische und erzählende Talent des Schweizers Gottfried Keller (geb. 1819), dessen „Gedichte“, der Roman „Der grüne Heinrich“, die Novellensammlungen: „Die Leute von Seldwyla“ und „Züricher Novellen“, die „Sieben Legenden“ sich den besten und selbständigsten poetischen Schöpfungen der jüngsten Periode hinzugesellen.

Die Berufung einer größern Zahl von poetischen und litterarischen Talenten durch den kunstsinnigen König Maximilian II. von Bayern gab Anlaß, von einer „Münchener Dichterschule“ zu sprechen, ohne daß sich indes bei den höchst verschiedenartigen Talenten, die um die poetische Tafelrunde des Bayernkönigs momentan vereinigt wurden, ein andrer gemeinsamer Grundzug nachweisen ließe als eine stärkere Betonung der poetischen Form und größere künstlerische Freude an derselben, als sonst der Litteratur der Gegenwart eigentümlich ist, eine Bevorzugung des formellen Elements, welche sich bei einzelnen schwächern, unselbständigen Talenten zu einer Art Alexandrinismus steigerte. Nächst Eman. Geibel, dessen bereits gedacht ist, erwies sich Paul Heyse (geb. 1830) in lyrisch-epischen Dichtungen („Novellen in Versen“, „Skizzenbuch aus Italien“, „Thekla“, „Syritha“), in Dramen („Elisabeth Charlotte“, „Ludwig der Bayer“, „Hadrian“, „Hans Lange“, „Kolberg“, „Alkibiades“, „Don Juans Ende“ u. a.), im Roman („Kinder der Welt“, „Im Paradies“), namentlich aber in einer langen Reihe von fein gestimmten, farbenreichen, zum Teil vollendeten Novellen als das glücklichste und vielseitigste Talent dieses Kreises. Demselben gehörten ferner an: Fr. Bodenstedt (geb. 1819), ausgezeichnet als Übersetzer, in den eignen lyrischen Dichtungen („Lieder des Mirza Schaffy“, „Einkehr“, „Aus Mirza Schaffys Nachlaß“ u. a.) formgewandt und voll naiv-heiterer, an Hafis anklingender Lebensweisheit; der farbenreiche Herm. Lingg (geb. 1820, „Die Völkerwanderung“, „Gedichte“), der kulturhistorische Schriftsteller und kräftige Erzähler W. H. Riehl (geb. 1824), der Poet und Essayist Fr. v. Löher („General Sporck“, „Reiseschilderungen“), Julius Grosse („Das Mädchen von Capri“ und andre epische wie lyrische Dichtungen), Will. Hertz („Gedichte“, „Lancelot und Ginevra“, „Bruder Rausch“), F. A. v. Schack („Durch alle Wetter“, erzählende Dichtungen; Meisterübertragung des Firdusi). – Eine andre charakteristische Gruppe in der modernen Poesie bilden diejenigen Dichter, welche aus der Fülle der gelehrten Detailforschung neue Elemente und Farben für die Litteratur zu gewinnen strebten. Dies führte teils zu originell lebensvollen, teils zu gewaltsam erzwungenen archäologisch-philologischen Produktionen, bei denen die Poesie zu kurz kam. Der bedeutendste, kräftigste, poetisch vollberechtigte Vertreter dieser Richtung ist Joseph Viktor Scheffel (geb. 1826) mit lyrischen und lyrisch-epischen Gedichten („Gaudeamus“, „Frau Aventiure“, „Der Trompeter von Säckingen“) und historischen Romanen aus der deutschen Vergangenheit („Ekkehard“, „Juniperus“). Ferner gehören hierher: R. Hamerling („Ahasver in Rom“, „Der König von Zion“, Epen; „Aspasia“, Roman), Georg Ebers (mit den ägyptischen Romanen: „Eine Königstochter“, „Uarda“, „Homo sum“, „Die Schwestern“, „Der Kaiser“), Franz Trautmann („Herzog Christoph“), Felix Dahn („Gedichte“, „Ein Kampf um Rom“, „Sind Götter?“, „Odhins Trost“, „Felicitas“) und zahlreiche andre. Hängt die Besonderheit dieser poetischen Richtung noch mit der Entwickelung der Wissenschaft und der wachsenden Teilnahme eines breitern Publikums an dieser Entwickelung zusammen und darf insofern autochthon genannt werden, so erscheint die Wandlung des Realismus in einen sogen. Naturalismus oder „Verismus“, der hauptsächlich im Häßlichen schwelgt und die Brutalität allein für „Wahrheit“ erachtet, durchaus als Nachahmung. Die Erfolge Zolas in Frankreich, diejenigen der naturalistischen Romandichter in Rußland haben eine Anzahl von deutschen Nachahmern erweckt, und die „Wahrheit“ wird der poetischen Gestaltung und der absichtslosen Lebensfülle echter Poesie ebenso entgegengestellt wie früher die politische Tendenz. Auch die Schule der Naturalisten wird eine vorübergehende sein und der wirklichen Poesie, die über aller Mode steht und jede Mode überdauert, wiederum Raum geben.

Bei vielen noch in der Entwickelung begriffenen oder auf ein kleines Gebiet beschränkten Bestrebungen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart erweist sich eine Gesamtcharakteristik und Gruppierung zunächst als unmöglich. Als talentvolle Lyriker erwarben sich Anerkennung: Wolfgang Müller von Königswinter; Julias Hammer (trefflich in gnomischen und lehrhaften Poesien); Julius Sturm, dessen Lieder keusche und wahre Frömmigkeit atmen; Otto Roquette, der volksmäßige Töne in jugendfrischen Liedern anschlug; Klaus Groth, dessen plattdeutsche Dichtungen von [757] seltener Gemütstiefe zeugen; J. G. Fischer (auch Dramen), Julius Rodenberg (auch Romane und lebendige Wanderstudien), Emil Rittershaus; ferner Karl Siebel, Felix Dahn, Karl Lemcke, W. Osterwald, A. Strodtmann, Ad. Stern, H. Leuthold, Ludwig Pfau, Otto Banck, Hugo Ölbermann, der „Platenide“ Albert Möser, Herm. Allmers, Albert Traeger, R. Leander, Max Schlierbach, Martin Greif, Ernst Scherenberg, Katharina Diez, Herm. Kletke. Als Dialektdichter sind die Österreicher Fr. Stelzhamer und K. A. Kaltenbrunner, die Bayern Franz v. Kobell und Karl Stieler, der Nordfranke Friedr. Hofmann, die Plattdeutschen Brinckmann und Hobein vor andern anzuführen. Auf dem Gebiet der philosophischen und philosophisch-didaktischen Dichtung versuchten sich: W. Jordan mit seinem umfangreichen Mysterium „Demiurgos“, einer Art moderner Theodicee; S. Heller („Ahasverus“), A. Schlönbach („Weltseele“), S. Lipiner, Dranmor etc.; in der epischen und episch-lyrischen Dichtung: Ad. Böttger („Habana“, „Ein Frühlingsmärchen“), O. Roquette („Waldmeisters Brautfahrt“, „Herr Heinrich“, „Hans Heidekuckuck“, „Gevatter Tod“), Ferd. Gregorovius („Euphorion“), R. Gottschall („Carlo Zeno“, „Maja“), Aug. Becker („Jungfriedel, der Spielmann“), Ad. Strodtmann („Rohana“), H. Neumann („Nur Jehan“), Ad. Stern („Jerusalem“, „Johannes Gutenberg“), der frische Rudolf Baumbach („Lieder eines fahrenden Gesellen“, „Zlatorog“, „Frau Holde“), W. Jordan („Nibelungen“), Eckstein („Schach der Königin“, „Venus Urania“), Wolfg. Müller („Die Maikönigin“, „Zauberer Merlin“), Julius Wolff („Der Rattenfänger von Hameln“, „Der wilde Jäger“, „Till Eulenspiegel“, „Tannhäuser“), Hans Herrig („Die Schweine“, „Mären und Geschichten“), Ed. Grisebach („Der neue Tannhäuser“, „Tannhäuser in Rom“).

Auch im Drama höhern Stils ergab sich die Dichtung nicht, wenn schon sie, namentlich seit den letzten beiden Jahrzehnten, auf der Bühne den Tagesproduktionen teils hausbackener, teils frivoler Natur immer entschiedener nachgesetzt ward und die Kluft zwischen den eigentlichen Aufgaben der dramatischen Dichtung und dem, was „theatralisch brauchbar“ heißt, sich täglich mehr erweiterte, so daß nur ein sehr geringer Teil des auf den Brettern Erfolgreichen auch nur den untergeordnetsten litterarischen Wert beanspruchen konnte. Den 50er und 60er Jahren gehörten die dramatischen Bestrebungen von Alfred Meißner („Das Weib des Urias“, „Reginald Armstrong“), Rud. Gottschall („Pitt und Fox“, „Mazeppa“, „Katharina Howard“), O. v. Redwitz („Philippine Welser“, „Zunftmeister von Nürnberg“), Julius Minding („Sixtus V.“), Hans Köster („Der große Kurfürst“), Melchior Meyr („Herzog Albrecht“), A. May („Cinq-Mars“, „Zenobia“), Ed. Tempeltey („Klytämnestra“), R. Prölß („Katharina Howard“), Moritz Heydrich („Tiberius Gracchus“) an. Eine mehr theatralisch-äußerliche Richtung als die Genannten verfolgten H. Mosenthal (gest. 1877, „Deborah“, „Die deutschen Komödianten“, „Der Sonnwendhof“), Arthur Müller, Hermann Hersch („Anna-Lise“). Glänzende Theatererfolge errang auch mit seinen originell-pikanten Dramen A. E. Brachvogel (gest. 1878, „Narziß“, „Adalbert vom Babanberge“, „Ein Usurpator“, „Die Harfenschule“). Auch in den letzten Jahrzehnten traten neue dramatische Kräfte hervor, die sich nur selten eines mäßigen Entgegenkommens seitens der Bühne erfreuten, so Joseph Weilen („Tristan“, „Graf Horn“), Albert Lindner („Brutus und Collatinus“, „Die Bluthochzeit“), Ferd. v. Saar („Kaiser Heinrich IV.“, „Die beiden de Witt“), O. Roquette („Sebastian“, „Des Hauses Ehre“), Adolf Wilbrandt (geb. 1837), das fruchtbarste poetisch-dramatische Talent des letzten Jahrzehnts („Der Graf von Hammerstein“, „Gracchus der Volkstribun“, „Giordano Bruno“, „Kriemhild“, „Natalia“, „Die Tochter des Herrn Fabricius“ u. a., die Lustspiele: „Die Maler“, „Die Vermählten“); K. Kösting („Kolumbus“), Ludw. Schneegans („Maria von Schottland“, „Der Weg zum Frieden“, „Jan Bockhold“), F. Koppel („Spartacus“), H. Kruse („Wullenweber“, „Moritz von Sachsen“, „Das Mädchen von Byzanz“), Arthur Fitger („Die Hexe“), Hans Herrig („Konradin“, „Alexander“), O. Girndt („Dankelmann“), F. Nissel („Agnes von Meran“), Ernst v. Wildenbruch („Harold“, „Die Karolinger“, „Der Mennonit“, „Väter und Söhne“). Volkstümliche Wirkungen erzielten Al. Rost („Der Schmied von Ruhla“), Ludw. Anzengruber („Der Pfarrer von Kirchfeld“, „Der Gewissenswurm“), Herm. v. Schmid (gest. 1880, „Der Tatzelwurm“, „Die Z’widerwurzen“), Ludw. Ganghofer („Herrgottsschnitzer von Ammergau“). Auf dem Gebiet des bürgerlichen Schau- und Lustspiels herrschten beinahe ausschließlich die gewandten Dramatiker, welche sich dem sogen. praktischen Bühnenbedürfnis unterordneten. Neben den früher erwähnten Roderich Benedix und Charlotte Birch-Pfeiffer erstrebten zunächst noch die Lustspiele von Karl Töpfer, Ed. Devrient u. a. Wirkungen auf ein anspruchsloses Publikum, das dem eigentlichen Wesen der Komödie noch mehr entfremdet schien als zu Kotzebues Zeiten. Höheres leisteten in der neuern Zeit Dramatiker wie G. zu Putlitz (mit zahlreichen größern und namentlich kleinen einaktigen, zum Teil recht feinen Scherzen, nachmals auch mit einigen ernsten Schauspielen), W. Jordan („Die Liebesleugner“, „Durchs Ohr“), F. W. Hackländer („Der geheime Agent“), E. Wichert („Ein Schritt vom Wege“, „Die Realisten“) um die Wette mit dem noch immer produktiven E. v. Bauernfeld („Moderne Jugend“, „Aus der Gesellschaft“). Große Bühnenerfolge erzielte Paul Lindau (geb. 1839) mit seinen an die Tagesinteressen angeknüpften feuilletonistisch belebten Stücken („Marion“, „Maria und Magdalena“, „Ein Erfolg“, „Johannistrieb“, „Gräfin Lea“, „Verschämte Arbeit“), ebenso Ad. L’Arronge (geb. 1838), der in „Mein Leopold“, „Doktor Klaus“ etc. beachtenswerte Anläufe zu gesunden Volksstücken nahm. Die Masse der Bühnenlieferanten schuf nur rasch vergängliche Tagesware; die Generationen der Lustspieldichter lösten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ab. Hier sind daher nur noch zu nennen: L. Feldmann, Lederer, Th. Apel, A. Görner, Berger, Zahlhas, Hippolyt Schauffert („Schach dem König“), Feodor Wehl, S. Schlesinger, Th. Gaßmann, Hugo Müller, Schleich, Julius Rosen, G. v. Moser, Hugo Bürger, J. B. v. Schweitzer, F. v. Schönthan, O. Blumenthal, R. Kneisel; endlich als Possenverfasser: A. Glaßbrenner, Nestroy, Wollheim, Th. Gaßmann, D. Kalisch („Hunderttausend Thaler“, „Berlin bei Nacht“ etc.), Fr. Räder („Der Weltumsegler wider Willen“, „Ella“) u. a.

Aus der fast unübersehbaren Masse der Romanlitteratur hoben sich einige Namen und Werke als bedeutend und von dauerndem Wert hervor. Freilich aber sehen sich die poetischen Talente der Gegenwart in überwiegender und fast bedenklicher Weise zu den Formen des Romans und der Novelle gedrängt, welche wohl die freieste und ungehemmteste Entfaltung der persönlichen Anschauung, der Lebensdarstellung [758] verbürgen, dazu der flüchtigen und rasch von einem zum andern eilenden Teilnahme des Publikums gewiß sind, doch für die volle künstlerische Durchbildung des poetischen Talents nur in den seltensten Fällen sich günstig zeigen und die von alters her mit ihnen verbundene Versuchung, außerpoetische Elemente und Aufgaben in den Kreis der Darstellung zu ziehen, unter heutigen Verhältnissen doppelt ausüben. Die bedenklichen Elemente, die sich in die Litteratur der Gegenwart hineindrängen, erscheinen im Roman um deswillen gefährlicher als in der dramatischen Litteratur, weil dem Publikum thatsächlich im Roman noch mehr als beim gangbaren Theaterstück die richtigen Maßstäbe fehlen. Der schlechteste Unterhaltungsroman, der irgend ein neues Element der Spannung in sich aufnimmt, kann dem poetischen Roman nicht bloß gleichstehend, sondern überlegen gefunden werden, weil auch der poetische Roman nur auf seine unterhaltenden, zerstreuenden oder in materieller Weise spannenden Momente hin beachtet wird und sich selten des Vorzugs erfreut, daß man der poetischen Grundidee und poetischen Ausführung einen besondern Wert beilegt. Der großen Zeitromane Gutzkows, welche zum Teil Beziehungen der Gegenwart tendenziös reflektieren, wurde schon gedacht. Die politischen und sozialen Fragen der Gegenwart behandelt Fr. Spielhagen (geb. 1829) in seinen geistvoll geschriebenen Romanen („Problematische Naturen“, „In Reih und Glied“, „Hammer und Amboß“, „Was die Schwalbe sang“, „Sturmflut“ etc.). Noch vor Spielhagen erregte Max Waldau (G. Spiller v. Hauenschild, gest. 1855) Aufsehen durch seine jean-paulisierenden Erstlingswerke: „Nach der Natur“ und „Aus der Junkerwelt“. Den höchsten und wohlverdienten Beifall erhielt Fr. Reuter (1810–74) durch seine in plattdeutscher Mundart vorgetragenen humoristischen Geschichten und Romane („Ut de Franzosentid“, „Ut mine Stromtid“, „Dörchleuchting“ etc.). Einen bedeutenden Anlauf nahm Luise v. François (geb. 1817, „Die letzte Reckenburgerin“, „Die Stufenjahre eines Glücklichen“, „Der Katzenjunker“) durch Charakteristik und Originalität der Darstellung. Reich an Erlebnis und Stimmung zeigten sich auch die Romane von Moritz Hartmann („Erzählungen eines Unsteten“, „Von Frühling zu Frühling“), Herm. Grimm („Unüberwindliche Mächte“), Hans Hopfen („Verdorben zu Paris“, „Juschu“, „Der graue Freund“). Ein glänzendes, wahrhaft poetisches Talent offenbarte sich in den Werken des Schweizers Konr. Ferd. Meyer (geb. 1825, „Georg Jenatsch“, „Der Heilige“), eine originelle Kraft in P. K. Roseggers (geb. 1843) großenteils dem Leben seiner heimatlichen Alpen entlehnten Romanen und Geschichten. Zur Unterhaltungslitteratur im besten und bessern Sinn gehören die meisten Romane von Hermann Kurz, Levin Schücking, Ernst Willkomm, Karl Frenzel, W. Genast, Otto Müller, Robert Byr (v. Bayer), Gustav vom See (v. Struensee), Herm. v. Schmid, Aug. Becker, Georg Hesekiel, Max Ring, Wilhelm Jensen („Minatka“, „Unter heißerer Sonne“, „Eddystone“, „Drei Sonnen“ etc.) u. a. Unter den Humoristen zeichneten sich Karl v. Holtei (gest. 1880, „Die Vagabunden“, „Christian Lammfell“), der originelle, aber bizarre Bogumil Goltz (gest. 1870, „Ein Jugendleben“, „Buch der Kindheit“, „Kleinstädter in Ägypten“), Hermann Marggraff (gest. 1864, „Fritz Beutel“), Ludwig Steub („Deutsche Träume“), Hermann Presber, Georg Schirges, A. Silberstein aus. Als poetisch bedeutender Humorist mit einem gewissen Zug zum Pessimismus erscheint W. Raabe (Jak. Corvinus) in den Romanen: „Der Hungerpastor“, „Abu Telfan“, „Der Schüdderump“, „Horacker“ und zahlreichen phantasievollen Erzählungen. Wunderliche Abirrungen der Romanlitteratur erstanden in den Gattungen des Kriminalromans, durch Temme, Bäuerle; des exotischen Romans, durch Gerstäcker, Ruppius, v. Bibra, Armand (v. Strubberg) u. a.; des politischen Sensationsromans, durch Leo Wolfram (Prantner, „Dissolving views“), Retcliffe (Goedsche), Gregor Samarow (Meding, „Um Zepter und Kronen“, „Europäische Minen und Gegenminen“); des sogen. biographischen Romans, durch. A. E. Brachvogel, Heribert Rau, vor allen durch die jede Lesewut stillende, geschmackverderblich wirkende Luise Mühlbach vertreten. Unter den vielen weiblichen Romanschriftstellern zeichneten sich rühmlicher aus: Eliza Wille („Felicitas“, „Johannes Olaf“), Fanny Lewald, Therese v. Bacharacht, Ottilie Wildermuth, Marie Nathusius, Julie Burow, Karl Detlef (A. Bauer), die Novellistinnen der „Gartenlaube“: E. Marlitt (Eugenie John) und E. Werner (Elisab. Bürstenbinder), Sophie Junghans, W. Heimburg (B. Behrens); Aline v. Schlichtekrull, Claire v. Glümer, Adelh. v. Auer (Charl. v. Cosel) etc. Zahlreiche Romane schrieben auch Fanny Tarnow, Amely Bölte, Ida v. Düringsfeld, Luise Otto, Franz v. Nemmersdorf (Frau v. Reitzenstein) u. a. – Die Novelle und kleinere Erzählung kam in der neuesten Zeit zu besondern Ehren, indem sie von der Romantik und Reflexion emanzipiert und von einer Reihe jüngerer Kräfte künstlerisch behandelt wurde. Hauptvertreter dieser Dichtungsgattung waren und sind (soweit sie nicht schon früher genannt wurden): Gottfried und Johanna Kinkel, Herman Grimm, Theodor Storm (geb. 1817, „Immensee“, „Geschichten aus der Tonne“, „Aquis submersus“ etc.), Wilh. Jensen, K. Heigel, O. Roquette („Luginsland“, „Euphrosyne“, „Das Buchstabierbuch der Leidenschaft“), Ad. Stern („Am Königssee“, „Neue Novellen“, „Aus dunkeln Tagen“, „Die letzten Humanisten“), L. Laistner, Hieronymus Lorm (Heinr. Landesmann), Stephan Milow, Golo Raimund, R. Waldmüller (Duboc), der phantastische M. Solitaire (Woldemar Nürnberger), Leopold Kompert („Geschichten einer Gasse“), der konservativ-religiös gesinnte Viktor v. Strauß, Karl Em. Franzos („Aus Halbasien“, „Die Juden von Barnow“), L. Sacher-Masoch, Rudolf Lindau u. a.; von weiblichen Talenten Marie Ebner-Eschenbach, Elise Polko u. a.

Auch in der neuesten Zeit wußten einzelne Vertreter strenger Fachwissenschaft durch die klassische Vollendung und Schönheit ihrer Darstellung sich einen Platz in der Nationallitteratur zu sichern, so die Historiker H. v. Sybel („Geschichte der französischen Revolution“), W. Giesebrecht („Geschichte der deutschen Kaiserzeit“), Theodor Mommsen („Römische Geschichte“), M. Duncker („Geschichte des Altertums“), Jak. Burckhardt, Baumgarten, v. Noorden u. a., der oder die Verfasser des großen Generalstabswerks „Der deutsch-französische Krieg 1870–71“, die Litterarhistoriker Hermann Hettner, W. Scherer. Große Wirkungen in ihren Kreisen und auf ihren Gebieten gewannen außerdem die Essayisten Karl Hillebrand, M. M. v. Weber, Johannes Scherr, Julius Duboc, K. Frenzel, die Humoristen L. Walesrode, H. Schiff, Ernst Kossak, Ernst Dohm, Kalisch und Löwenstein („Kladderadatsch“), Julius Stettenheim („Wespen“), die trefflichen Reiseschilderer Kohl, Roß, Ad. Stahr, Ferd. Gregorovius, Scherzer, Moritz Wagner, Andr. Oppermann, Fontane, L. Passarge, W. Kaden, Max Eyth („Wanderbuch eines Ingenieurs“) u. a.

[759]
B. Wissenschaftliche Litteratur.

Von den verschiedenen Zweigen der wissenschaftlichen oder gelehrten Litteratur können im engern Anschluß an die Nationallitteratur und vermöge ihrer bestimmenden Einwirkung auf dieselbe nur die Philosophie und Theologie nebst der Geschichte nach ihrer geschichtlichen Entwickelung hier in Betracht kommen. Rücksichtlich der andern Gebiete muß auf die den einzelnen Disziplinen gewidmeten Artikel verwiesen werden.

Philosophie.

Wie unter den Völkern des Altertums den Griechen, so gebührt unter den neuern den Deutschen der Ehrenname eines „Volkes von Denkern“. Nachdem sie schon im Mittelalter durch Albert von Bollstädt (Albertus Magnus, gest. 1280), in der Übergangszeit durch Paracelsus (gest. 1541) und Jakob Böhme (gest. 1624) an der Entwickelung der Philosophie rüstigen Anteil genommen, beginnt die ihnen eigentümliche und vom Ausland unabhängige Methode zuerst mit Leibniz (1646–1716), dessen Universalismus die Selbständigkeit der Individuen mit der Harmonie des einheitlichen Ganzen und den Mechanismus der wirkenden mit der Freiheit der Zweckursachen zu vereinigen bemüht war. Während der Logiker Tschirnhaußen (gest. 1708) und der Rechtsphilosoph Thomasius (gest. 1728), beide durch Leibniz angeregt, einflußreich auf ihren Einzelgebieten wirkten, unternahm es Christian Wolf (gest. 1754) als der erste Deutsche, ein vollständiges, in sich mit wissenschaftlicher Strenge zusammenhängendes System der Philosophie aufzuführen, wodurch er der Gründer der ersten deutschen Philosophenschule, der nach ihm und seinem Meister sogen. Leibniz-Wolfschen Schule, ward. Der Einfluß derselben, der sich über alle Wissenschaften und selbst über die Grenzen Deutschlands hinaus erstreckte, nahm allmählich ab, als nach der Mitte des 18. Jahrh. die seit Locke bei den Engländern und Franzosen übliche empiristische Weise zu philosophieren in Deutschland Eingang fand. Während die eigentlichen Schüler Wolfs, wie Bilfinger (gest. 1750), Baumeister (gest. 1785), Baumgarten (gest. 1762), der Begründer der Ästhetik, und Meier (gest. 1777), an dessen mathematischer Methode und einseitig rationalistischer Erkenntnisquelle festhielten, suchten andre teils, wie Crusius (gest. 1775), demselben ein selbständiges, obgleich gleichfalls rationalistisches System entgegenzustellen, teils, wie der Mathematiker Lambert (gest. 1777) und die Philosophen der Berliner Akademie Friedrichs d. Gr., Locke mit Leibniz, Empirismus mit Rationalismus und die Erfahrung mit der Vernunft als Erkenntnisquelle zu verbinden, wodurch insbesondere der Erstgenannte dem in sich aus heterogenen Bestandteilen (Sinnlichkeit und reine Vernunft) gemengten Erkenntnisvermögen der Kantschen Kritik vorgearbeitet hat. Parallel mit dieser wissenschaftlichen ging eine populäre, der Aufklärung und dem Gemeinwohl zu dienen bemühte Richtung der Philosophie, die sich zum Teil, wie Reimarus (gest. 1765), Ploucquet (gest. 1790), Eberhard (gest. 1809), Platner (gest. 1818), an Wolf, zum Teil, wie Tetens (gest. 1805), an Locke hielt, zum Teil, wie die sogen. „Philosophie des gesunden Menschenverstandes“ und die moralisierende Schriftstellerei der Abbt (gest. 1766), v. Creuz (gest. 1770), Sulzer (gest. 1779), Basedow (gest. 1790), Mendelssohn (gest. 1786), Gellert (gest. 1769), Garve (gest. 1798) und Feder (gest. 1821), eklektisch verfuhr. Die Summe aller dieser Bestrebungen zog Immanuel Kant (1724–1804), welcher ursprünglich rationalistischer, dann infolge seiner eifrigen Beschäftigung mit Newton empirischer Dogmatiker war, durch den Skeptizismus Humes aus letzterm Schlummer geweckt wurde und nun als „Kritiker der reinen Vernunft“ dieser die Fähigkeit absprach, übersinnliche Gegenstände zu erkennen, zugleich aber auch als „Kritiker der Sinnlichkeit“ nachwies, daß diese, um zur „Erfahrung“ zu werden, der Ergänzung durch apriorische, d. h. durch reine Vernunftbeweise bedürfe. Rationalismus und Empirismus sollten auf diesem Weg ausgesöhnt, von der Vernunft die Form, von der Sinnlichkeit der Stoff aller auf die Welt der Objekte bezüglichen Erkenntnis geliefert, diese selbst aber auf die Objekte der sinnlichen oder Erfahrungswelt eingeschränkt werden, jenseit welcher als „dunkler Rest“ der übersinnlichen Welt das sogen. „Ding an sich“ als metaphysisches Substrat allein übrigbleibe. Die durch den „Kritizismus“ verursachte Einbuße von theoretischer Vernunfterkenntnis sollte durch das von Kant wiederbelebte Bewußtsein einer dem Menschen innewohnenden praktischen Vernunft oder eines von allen theoretischen Voraussetzungen und eudämonistischen Beweggründen freien moralischen Pflichtgefühls (kategorischer Imperativ) aufgewogen und der Kant am Herzen liegende Inhalt der natürlichen oder „Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ (Gott, Unsterblichkeit, Willensfreiheit), dessen Erkenntnis auf theoretischem Weg durch die „Kritik“ aufgehoben war, auf moralischem Weg durch die sogen. „Postulate der praktischen Vernunft“ wiederhergestellt werden. Kants Philosophie übte sowohl durch ihren negativen als durch ihren positiven Teil einen durchgreifenden Einfluß nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern bis auf die Gegenwart; er selbst hat als „Alleszermalmer“ überhaupt auf die intellektuelle wie durch seine sittliche Strenge und Reinheit des Pflichtgefühls auf die moralische Kultur der Besten seiner Nation umgestaltend gewirkt wie kein andrer vor ihm. Während der Skeptizismus z. B. in G. E. Schulzes (gest. 1833) „Änesidemus“ und der ältere Dogmatismus Eberhards und andrer, auch Kants ehemaliger Zuhörer, Herder (gest. 1803), den Kritizismus angriffen, suchten K. L. Reinhold (gest. 1823), Schiller (gest. 1805), Fries (gest. 1843) u. a. ihn weiterzubilden. Kants bedeutendster Nachfolger, J. G. Fichte (1762–1814), verwandelte, auf der von Kant vorgezeichneten Bahn fortschreitend, den halben Idealismus Kants in einen ganzen, indem er das Ich nicht nur für den Träger und die Quelle der Erkenntnis, sondern auch für das einzige Reale erklärte, dessen Vorstellung und That die Welt, einziger Grund der Erschaffung dieser letztern aber das Sittengesetz, die „sittliche Freiheit“, sei, weil diese, um sich als solche zu bewähren, einer „sinnlichen Welt“ als „Material der Pflichterfüllung“ bedürfe. Durch diesen Idealismus hat Fichte die deutsche Philosophie nach einer Richtung, durch seine patriotische Gesinnung und feurigen politischen Reden die „deutsche Nation“ vor den Befreiungskriegen bestimmt. Schelling (1775–1854) wendete die innere Entwickelungsgeschichte des Ichs, dessen That die Welt ist, auf die Natur als das unbewußte Ich an und brachte durch diese sogen. „Naturphilosophie“ einen Umschwung in der Behandlung der Naturwissenschaften, insbesondere der Medizin, hervor. Während er selbst in raschem Wechsel sein System zum Transcendentalidealismus durch Hinzufügung einer der Naturphilosophie entsprechenden Geschichtsphilosophie, unter dem Einfluß Spinozas zu einer diesem verwandten [760] Identitätsphilosophie und zuletzt, angeregt von Jakob Böhme und den theosophischen Mystikern, zu einer von ihm so genannten „positiven“ oder „Offenbarungsphilosophie“ fort- und umbildete, steigerte Georg Wilh. Friedrich Hegel (1770–1831) Fichtes ursprünglich subjektiven zum „absoluten“ Idealismus, indem er an die Stelle des allein realen und thätigen Ichs die unpersönliche Vernunft („die logische Idee“) und an die Stelle der schöpferischen That den dialektischen Prozeß („Selbstbewegung des Denkens“) setzte und die Vernunft zum allein wahren Wesen alles Wirklichen (Panlogismus), aber damit auch das Wirkliche zum Vernünftigen (Optimismus) erhob. Wie Kants unerbittliche Schärfe in die Tiefe, so hat Hegels universale, wenigstens dem Anschein nach willkürfreie Methode in die Breite der Forschung gewirkt und, wie einst die mathematische Methode Wolfs, zur Anwendung in fast allen Wissenschaften geführt, zugleich durch die Verkündigung der Vernunft als des Wesens des Wirklichen dem Rationalismus auf allen Gebieten Vorschub geleistet. Den Gegensatz zu dieser von Fichte bis Hegel in gerader Richtung fortschreitenden idealistischen Richtung bildet die gleichfalls an Kant anknüpfende, aber, wie Fichte einen halben Schritt vor, so einen halben hinter den Kritizismus zurücktretende realistische Richtung Herbarts (1776–1841). Während nach jenem die Philosophie ein Schaffen der Kant zufolge aus einem realistischen (Materie) und einem idealistischen (Form) Faktor bestehenden Erfahrung ist, stellt sie nach Herbart ein Empfangen derselben hinsichtlich der Form wie der Materie dar. Die Empirie bildet die Grundlage, durch deren Bearbeitung, Berichtigung und Ergänzung mittels der Denkgesetze eine in sich zusammenhängende, auch logisch befriedigende Wissenschaft entsteht. Durch dieses Ausgehen von dem erfahrungsmäßig Gegebenen und durch ihre exakte Methode, insbesondere durch ihre Anwendung der Mathematik auf die Psychologie hat Herbarts Philosophie namentlich auf die Naturforscher anziehend gewirkt, die sich durch die phantastischen Kombinationen der Schellingschen Naturphilosophie ebenso abgestoßen fühlten, wie sich die nüchternen Historiker der apriorischen Geschichtskonstruktion Hegels widersetzten. Außer den Vorgenannten haben unter den Nachfolgern Kants nur Fr. H. Jacobi (1743–1819) und A. Schopenhauer (1788–1860), letzterer erst in seinen letzten Lebensjahren, durchgreifenden Einfluß in weitern Kreisen der Leserwelt, beide zumeist durch ihre glänzende Begabung als Schriftsteller, geübt. Beide stimmen darin überein, daß sie den Intellekt zu gunsten einer andern psychischen Kraft, der eine des Gemüts, der andre des Willens, zurücksetzen. Jener erklärte das Gefühl für das Organ, dieser den Willen für das „Ding an sich“ der übersinnlichen Welt. Ersterm (Jacobi) haben sein Theismus und seine Gefühlsgläubigkeit unter den „schönen Seelen“, diesem sein Pessimismus und offen bekannter Unglaube unter den „starken Geistern“ zahlreiche Anhänger zugeführt. Von den Schülern der Vorgenannten haben einige zum Teil mehr oder weniger abweichende Richtungen eingeschlagen und selbst einen Kreis von Jüngern um sich versammelt. Strenge Kantianer waren Schultz (gest. 1805), Jakob (gest. 1827), Erh. Schmid (gest. 1812) u. a., während W. T. Krug (1770–1842) als äußerst fruchtbarer Schriftsteller sich um die Popularisierung der Kantschen Philosophie Verdienste erwarb und J. Fr. Fries (1773–1843) durch Verschmelzung mit der Jacobischen Glaubensphilosophie eine eigne Schule stiftete, welcher Apelt, Schleiden, Mirbt, v. Calker, De Wette u. a. angehörten. An Jacobi schlossen sich an: Köppen, Salat, Lichtenfels u. a. Fichtes Richtung verfolgten: Forberg, Niethammer, Schad, Mehmel; auch Fr. Schlegel (gest. 1829) und der Theolog Schleiermacher (gest. 1834), der später eine eigne Schule gründete, wurden durch ihn angeregt. Schellings Natur- und Identitätsphilosophie fand in H. Steffens, L. Oken, J. Görres, Fr. v. Baader, I. P. Troxler, K. J. Windischmann, G. H. Schubert, K. W. F. Solger, W. Nasse u. a. eifrige Bekenner, welche dieselbe auf die besondern, namentlich die Naturwissenschaften mit mehr oder weniger Glück anwandten. Schellings späterer sogen. positiver oder Offenbarungsphilosophie neigten sich zu: Beckers, Schaden, Schenach u. a. Sein anfänglicher Schüler Krause (gest. 1832) setzte dem Pantheismus der Naturphilosophie einen von ihm so genannten Panentheismus entgegen, der in Ahrens, Lindemann, Leonhardi u. a. Anhänger fand und durch den Erstgenannten auch nach Frankreich, Belgien und Spanien verpflanzt wurde. Als Verbreiter der Herbartschen Lehre sind besonders aufgetreten: Hartenstein, Drobisch, Exner, Bobrik, Strümpell, Taute, Th. Waitz, Lott, Wittstein, Schilling, Allihn, Thilo, Cornelius, Nahlowsky, Volkmann, R. Zimmermann. Die zahlreichste Litteratur hat die Hegelsche Schule aufzuweisen, deren Einfluß dank dem Formalismus ihrer Methode sich auf den Gebieten fast aller besondern Wissenschaften zeigt, wobei die Gegensätze der rechten (theistischen) und linken (pantheistischen), ja äußersten linken (atheistischen) Seite derselben scharf auseinander traten. Erstere führte bald zur Gründung einer besondern Theistenschule, der I. H. Fichte, Weiße, Ulrici, Wirth, Carriere, Reinhold der jüngere, Braniß u. a. angehörten; die letztgenannte, der sogen. „Junghegelianismus“, schlug zuletzt in völligen Materialismus um. Innerhalb des durch Hegel mehr oder weniger beherrschten Gedankenbereichs wurde die Logik durch Gabler, Hinrichs, Schaller, Werder, Erdmann, Kuno Fischer, Biedermann, die Naturphilosophie durch Schaller, Bayrhoffer, Menzzer, Schultz-Schultzenstein, Ernst Kapp, die Psychologie durch Rosenkranz, Michelet, Daub, Erdmann, die Rechtsphilosophie durch Gans, Göschel, Hinrichs, Besser, Bitzer, Oppenheim, Friedländer, Köstlin, Hasner, die Philosophie der Geschichte durch Chr. Kapp, Rosenkranz, Löser, Gladisch, Hermann, Wuttke, die Ästhetik durch Hotho, Rötscher, Carriere, Weisse, Vischer, Köstlin, Zeising, die Theologie durch Daub, Marheineke, Vatke, Rosenkranz, Conradi, D. Strauß, Br. Bauer, F. Chr. Baur, E. Zeller, K. Schwarz, die Moral und Ethik durch Daub, Henning, Michelet, Wirth, Vatke u. a. bearbeitet. Das besondere Verdienst, die Prinzipien der Hegelschen Schule kritisch auf die evangelische Geschichte und die christliche Dogmatik angewandt zu haben, erwarb sich David Strauß (1808–74), dessen philosophische Grundideen bis zur äußersten Konsequenz Ludwig Feuerbach (1804–1872) verfolgte. Den von letzterm angedeuteten Hauptgedanken des Humanismus entwickelte Arnold Ruge (gest. 1880) weiter, die humane Religion als die „Religion unsrer Zeit“ verkündend. In ihren Ausläufern Bruno und Edgar Bauer, Jellinek, Julius u. a. verirrte sich die Methode Hegels zum karikierenden Extrem und brachte Monstrositäten, wie die von Max Stirner gelieferte Apotheose des Egoismus, hervor, die schließlich zur Auflösung der Schule führten. Den dadurch (seit 1848) in der Litteratur frei gewordenen Raum haben teils ältere, bisher durch die Hegelsche Schule zurückgedrängte Philosophien, [761] wie Herbarts, Schopenhauers in weiterm, Krauses, des Theosophen Baader (gest. 1841), der von der römischen Kirche als Häretiker erklärten katholischen Denker Bolzano (gest. 1848), Hermes (gest. 1837), Günther (gest. 1862) in engerm Umkreis, teils die positiven Wissenschaften eingenommen, von denen namentlich die Naturwissenschaften, anfangs aller Philosophie feindlich, allmählich Ausgangspunkt neuer, teils materialistischer, teils idealistischer Philosopheme geworden sind. Schopenhauers System vertrat Frauenstädt, während Ed. v. Hartmann (geb. 1842, „Philosophie des Unbewußten“) eine Verbindung desselben mit Hegelschen Prinzipien durch Anlehnung an Schellings positive Philosophie, Bahnsen (gest. 1881) eine solche mit Herbartschen Prinzipien durch Auflösung des freien Willens in pluralistische Willensindividuen versuchten. Baaders Philosophie fand in Hoffmann, die Hermes’ in Braun, Elvenich u. a., die Günthers in Knoodt, Loewe, Frohschammer u. a. Verteidiger, während Ritter, Rothe u. a. Schleiermachers theologische Philosophie umbildeten. Den Naturwissenschaften gaben J. Moleschott, K. Vogt und der populär gewordene L. Büchner durch die Reduktion aller Lebenserscheinungen auf Kraft und Stoff eine materialistische, Lotzes (gest. 1881) an Leibniz und Fechners (geb. 1801) an Spinoza erinnernde Weltanschauung dagegen eine idealistische Grundlage. In dem daraus entsprungenen Streit zwischen Materialismus und Idealismus haben sich als Verteidiger des erstern besonders Wiener und Radenhausen, als Gegner desselben R. und A. Wagner, Schaller, Fortlage, Fabri, Frohschammer, Huber u. a. bekannt, während sich A. Lange (gest. 1875) durch seine „Geschichte des Materialismus“ verdient machte. Endlich sind durch die Ergebnisse der Physiologie der Sinnesorgane auch Naturforscher, wie Helmholtz, Wundt, Rokitansky, Czermak, Zöllner u. a., zu einer derjenigen Kants und Schopenhauers verwandten idealistischen Erkenntnistheorie, letzterer sogar zu einer idealistischen Naturbasis zurück-, andre, wie Fritz Schultze und Hankel, durch den Darwinismus zu einer evolutionistischen Naturphilosophie weitergeführt worden. Unabhängig hiervon haben von dem Boden andrer positiver Wissenschaften aus der Aristoteliker Trendelenburg (gest. 1872), der Sprachphilosoph Steinthal (geb. 1823) und der Völkerpsycholog Lazarus (geb. 1824) den Ausgang zu philosophischen Forschungen gewonnen. Während der Einfluß der deutschen Philosophie im Ausland (Kants in England, Hegels in Frankreich und Italien, Herbarts in Italien und Holland, Krauses in Belgien, Spanien und Südamerika) immer fühlbarer wird, macht sich die Wirkung englischer (Mill, Spencer u. a.) und französischer Denker (Comte) neuerdings in Deutschland (des letztern positive Philosophie namentlich durch Dühring) geltend, nachdem schon zur Zeit der Herrschaft Hegels ohne Erfolg durch Beneke (gest. 1854) auf dieselben hingewiesen worden. In der Gegenwart steht die deutsche Philosophie wieder unter dem Einfluß Kants, wie sie vor hundert Jahren darunter gestanden hat. Dieselbe zeigt sich einerseits in der sogen. „Kant-Philologie“, d. h. in der philologisch geschulten Behandlung und Kommentierung des Kantschen Textes (Cohn, Vaihinger u. v. a.), teils in der Schule des sogen. „Neokantianismus“, dessen Begründer A. Lange und dessen charakteristisches Merkmal die gänzliche Verwerfung der Metaphysik als Wissenschaft und deren Verwandlung in „spekulative Dichtung“ ist. Scheint auch die Zeit herrschender philosophischer Systeme für immer vorüber, so waltet auf den Gebieten der einzelnen philosophischen Wissenschaften, der Logik und Erkenntnislehre, Psychologie, Ethik, Ästhetik, vor allen aber der Geschichte der Philosophie rege Thätigkeit, um welch letztere sich insbesondere von Ältern Brucker, Tiedemann, Tennemann, Buhle, von Neuern Ritter, Zeller, Erdmann, Kuno Fischer, Röth, Schwegler, Chalybäus, Haym, Überweg u. a. und als Geschichtschreiber einzelner philosophischer Disziplinen Carus, Hinrichs, Stäudlin, I. H. Fichte, Prantl, R. Zimmermann, Lotze, Schasler u. a. Verdienste erworben haben.

Theologie.

Die Theologie war im Mittelalter die „Königin der Wissenschaften“ gewesen, zu welcher alle übrigen in einem dienenden Verhältnis standen. Der Zweifel, ob eine von Aberglauben der Menge und päpstlicher Autorität beschränkte Kenntnis und scholastische Begründung der Dogmen eine Wissenschaft genannt werden könne, tauchte erst gegen Ende des Mittelalters in einzelnen philosophisch und humanistisch gebildeten Köpfen auf. Aber nochmals sammelte die Reformation das Interesse aller bei dem großen Kampf der Geister beteiligten Gelehrten und Schriftsteller Deutschlands um theologische Probleme. Fast sämtliche Vorkämpfer der Reformation, Luther immer voran, nahmen auch auf dem litterarischen Gebiet ihrer Zeit den ersten Platz ein. Leidenschaftliche und verfolgungssüchtige Polemik, dialektischer Unfug und der gröbste Dogmatismus führten zwar wieder zu manchen Rückschritten und machten, daß die Litteratur dieser Zeit wenig Erfreuliches darbot; doch sind wenigstens die rein gelehrten Bestrebungen seither nie wieder zu absolutem Stillstand gebracht worden. Bekannt sind die Verdienste, welche sich die Benediktiner und andre Orden um geschichtliche und patristische Theologie erwarben, während die Protestanten sich besonders um biblische Philologie und Exegese verdient machten. Mit dem Wiederaufblühen deutscher Kunst und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. trat eine Krisis auch in dem theologischen Studium ein; die gleichzeitige Entwickelung der Philosophie übte einen entscheidenden Einfluß aus und regte zur gründlichen Prüfung des bisher nur auf Treu und Glauben Angenommenen an. So bildete sich neben der alten Schule der Rechtgläubigen zunächst unter dem Einfluß der Aufklärung eine freiere Auffassung des Christentums heran. Während aber der alte Kampf zwischen Rationalismus und Supranaturalismus allmählich nur noch unter erlahmender Teilnahme des Publikums fortgeführt wurde, hat Schleiermacher (1768–1834) auf Grund eines eigentümlichen Religionsbegriffs der ganzen Theologie einen neuen Inhalt und eine neue Form gegeben. Neben ihm haben nicht bloß De Wette (gest. 1849) die Friessche, Daub (gest. 1836) die Schelling-Hegelsche, Marheineke (gest. 1846) die Hegelsche Philosophie auf die Glaubenslehre angewandt, sondern es war auch der auf das Kantsche System gegründete Rationalismus hauptsächlich durch Röhr (gest. 1848), Paulus (gest. 1851) und Wegscheider (gest. 1849), minder scharf durch Bretschneider (gest. 1848) und Ammon (gest. 1850) vertreten. Die breite Mitte im theologischen Fahrwasser der 30er und der 40er Jahre bildete die von Schleiermacher nach rechts sich abzweigende, eine Zeitlang fast alle Fakultäten beherrschende „gläubige Theologie“, auch „Vermittelungs-“ oder „Schwebetheologie“ genannt, als deren hervorragende Vertreter von mehr reformierter Färbung Hundeshagen, Hagenbach, Heppe, auf lutherischer Seite Nitzsch, Twesten, Ullmann, [762] Umbreit, Dorner, Jul. Müller gelten können. Dagegen vertraten das spezifische Luthertum Klaus Harms, Scheibel, Sartorius, Rudelbach, Guerike, Harleß, Höfling, Philippi, Hofmann, Martensen, Luthardt, Kahnis, Kliefoth, Delitzsch, Vilmar. Ihnen schloß sich mit der Zeit auch Hengstenberg (gest. 1869) an, dessen streng rückläufige Richtung besonders in den 50er und 60er Jahren obenauf kam und alles zur Unterdrückung der sogen. Schleiermacherschen Linken that, welche von Krause, Pischon, Jonas, Sydow, Eltester vertreten war. Auf dem Gebiet der einzelnen theologischen Disziplinen herrschte fortwährend große Betriebsamkeit. In der biblischen Exegese zeichneten sich aus: De Wette, Winer, Fritzsche, Credner, Hitzig, Ewald, Tholuck, Bleek, Lücke, Olshausen, Bunsen, J. Fr. v. Meyer, Lange, Stier etc. Aber eigentliches Leben brachte erst die neutestamentliche Kritik in die moderne Theologie, so zuerst seit 1835 David Friedr. Strauß (gest. 1874), dann die „Tübinger Schule“ unter F. Chr. Baur (gest. 1860), als dessen namhafteste Schüler Zeller, Schwegler, Hilgenfeld zu nennen sind. Neuerdings arbeiten mehr oder weniger in derselben Richtung auch Holsten und Volkmar, Lipsius und Pfleiderer, Holtzmann und Hausrath. 30 Jahre nach dem ersten Erscheinen von Strauß’ „Leben Jesu“ gab das gleichnamige Buch von Renan einen Anstoß zur neuen Untersuchung der geschichtlichen Grundlagen des Christentums und rief mehrere andre Werke hervor, welche gleichfalls die Person Jesu und die von ihm ausgegangenen Wirkungen geschichtlich zu begreifen strebten, und um welche eine ganze Litteratur polemischer Schriften sowie vermittelnder Versuche anschloß. So erschienen 1864 die neue Bearbeitung des „Lebens Jesu“ von D. F. Strauß, die „Untersuchungen über evangelische Geschichte“ von Weizsäcker, das „Charakterbild Jesu“ von Schenkel, bald darauf die „Geschichte Jesu“ von Keim, nachträglich auch noch Schleiermachers und Bunsens Forschungen über das Leben Jesu. Den großartigsten Gedankenbau aber hat nach Schleiermacher Richard Rothe (gest. 1867) in seiner „Ethik“ aufgeführt. Für kirchengeschichtliche Arbeiten erwiesen sich besonders anregend Neander (gest. 1869) und Karl Hase (geb. 1800), während die Dogmengeschichte von F. Chr. Baur, Dorner und Ritschl gepflegt wurde. Die wichtigsten neuern Schriftsteller auf dem Gebiet der katholischen Kirchengeschichte und Dogmatik sind: Hermes, Möhler, Döllinger, Alzog, Ritter. Sonst bietet die neuere theologische Litteratur meist kleinere, dem Angriff, der Verteidigung und der Vermittelung gewidmete Schriften, wie sie das Bedürfnis des Augenblicks, der Kampf auf dem kirchlichen Gebiet hervorriefen. Daneben äußerte sich aber auch, besonders seit 1848, das Bestreben, das Volk wieder lebhafter für religiöse Erbauung zu erwärmen, den kirchlichen Sinn zu heben und die christliche Liebe wachzurufen. Daher ist die theologische Litteratur der letzten Jahre vor allem reich an Streitschriften und asketischen Werken. Von den durch den Druck veröffentlichten gesammelten Kanzelreden haben die von Schleiermacher, Dräseke, Ahlfeld, Hofacker, Nitzsch, Theremin, Krummacher, Harleß, Gerok, Kapff, Beyschlag, Palmer, Beck, Kögel, Müllensieffen, Steinmeyer, Karl Schwarz und Heinrich Lang eine weite Verbreitung erlangt.

Geschichte.

Die Geschichte, die in der deutschen Litteratur gegenwärtig einen so hohen Rang einnimmt und eine fast überwältigende Fülle von Leistungen aufweist, fand schon frühzeitig Bearbeitung und zwar bis ins 14. Jahrh. hinein vorzugsweise von Geistlichen und in lateinischer Sprache. Zahlreiche ihrer Arbeiten, meist auf engere Kreise beschränkt und im beliebten Chronikenstil oder in Form von Biographien abgefaßt, sind durch Sammlerfleiß und chronologische Genauigkeit, mitunter auch durch Richtigkeit und Feinheit des Urteils ausgezeichnet. Mehr Volkstümlichkeit und reichern Gehalt an Mitteilungen aus dem öffentlichen Leben haben allerdings die spätern, in deutscher Sprache geschriebenen Geschichtsbücher, wenn sie auch an politischem Urteil den italienischen und an eigentümlicher Selbständigkeit den französischen Memoiren nicht gleichgestellt werden können. Unter den Historikern in lateinischer Sprache, deren Werke auf unsre Zeit gekommen sind, mögen vorzüglich die Biographen Karls d. Gr.: Einhart, Konrads II.: Wipo, und Friedrichs I. Barbarossa: Otto von Freising, sowie die Geschichtschreiber der Ottonen: Widukind, und der Sachsenkriege: Lambert von Hersfeld, erwähnt werden. Zu den ältesten deutsch geschriebenen Geschichtswerken gehören die „Sächsische Weltchronik“ (Repgowsche Chronik) aus dem Anfang des 13. Jahrh., die „Braunschweiger Reimchronik“ und die Straßburger Chronik des Fritsche Closener (Ende des 14. Jahrh.). In den Anfang des 14. Jahrh. fällt die „Reimchronik“ Ottokars von Steiermark. Andre wichtigere Werke jener Periode sind: das „Elsässische Zeitbuch“ (bis 1386) von Jakob Twinger aus Königshofen; die „Limburger Chronik“ von Johannes Gensbein (gest. nach 1402); die niederdeutsche „Chronik von Bremen“ von G. Rynesberch (gest. 1406) und H. Schene (gest. um 1420; das „Schweizerische Zeitbuch“ von Petermann Etterlin aus Luzern; die „Chronik der Stadt Köln“ von Gottfried Hagen (gestorben vor 1300); die „Duringische Chronik“ (bis 1440) von J. Rothe; die „Geschichte König Sigismunds“ von Eberhard Windek; die „Geschichte des Kostnitzer Konzils“ von Ulr. v. Richenthal; die „Berner Chronik“ (1152–1480) von Diebold Schilling aus Solothurn; die „Magdeburger Schöppenchronik“, die Nürnberger Chronik des Ulmer Stromer, die Breslauer des Peter Eschenloer, die Breisacher Reimchronik über die Burgunderkriege (1432–80) u. a. Im sinnbildlichen Gewand ist die Geschichte Kaiser Maximilians I. dargestellt im „Weißkuning“ von seinem Geheimschreiber Marx Treizsauerwein. Weniger wurde unmittelbar vor und nach der Reformation geleistet; die beliebte Methode, die Universalgeschichte nach den herkömmlichen vier Monarchien (der chaldäischen, persischen, griechischen und römischen) zu behandeln, fand sogar noch durch R. Agricola (gest. 1485) und Sleidanus (gest. 1556) in Deutschland Anwendung.

Erst Philipp Melanchthon drang auf ein gründlicheres Studium der Geschichte und erwarb sich durch die Herausgabe von Carios deutsch geschriebener Chronik (1532), die er bei seinen Vorträgen über Weltgeschichte zu Grunde legte, und den von ihm dazu verfaßten reichhaltigen Kommentar ein großes Verdienst. Die Sprache der Geschichtswerke des 16. Jahrh. ist kindlich-einfach, nach Geist und Ton volkstümlich und dem bürgerlichen Hausverstand entsprechend, später artete sie aus und teilte die allgemein herrschenden Fehler des Ausdrucks. Am bedeutendsten treten hervor: Johann Thurmayr, genannt Aventinus (gest. 1534, Bayrische und Deutsche Chronik); Th. Kantzow (gest. 1542, Pommersche Chronik); Sebastian Frank (gest. 1545, Zeitbuch, Deutsche Chronik); Ägidius Tschudi (gest. 1572, Schweizerische Chronik); Luk. David (gest. 1583, Preußische Chronik); die Selbstbiographien der Ritter Götz von Berlichingen, [763] Hans von Schweinichen und des Sebastian Schertlin von Burtenbach, des Führers der Städte im Schmalkaldischen Krieg, sowie Hans Sastrows; ferner Christ. Lehmann (gest. 1638, Speierisches Zeitbuch), Phil. v. Chemnitz („Geschichte des schwedischen in Deutschland geführten Kriegs“, 1648) und Sam. v. Pufendorf (gest. 1694), der durch sein Lehrbuch der europäischen Staatengeschichte, worin er von einem praktisch-politischen Gesichtspunkt ausgeht und zuerst die Statistik mit der Staatengeschichte in Verbindung bringt, auf die Methodik und den Gang des Geschichtstudiums wesentlichen Einfluß ausgeübt hat. Seine Werke über schwedische und brandenburgische Geschichte zeichnen sich durch strenge Wahrheitsliebe und politisches Verständnis aus. Die Reformation fand an J. Sleidanus (gest. 1556) einen scharfsinnigen und glücklichen Verteidiger und in den von N. Flacius Illyricus (gest. 1575) u. a. mit Geist gearbeiteten „Magdeburgischen Centurien“ ihre gründliche Apologie. Die Masse der Geschichtsdarstellungen war aber bis in das 18. Jahrh. hinein geist- und kritiklos, entweder bloß eine trockne Aufzeichnung der Thatsachen oder nur der Theologie und der Jurisprudenz dienende Werke. Die großen Sammelwerke aus dem 17. Jahrh., wie das „Theatrum europaeum“ (1618–1738, von Ph. Abelin begonnen) und das „Diarium europaeum“ (1657–83) von Mart. Mayer, sind ohne Geschmack und Kritik zusammengestellt. Nachdem darauf Rechtsgelehrte, wie J. P. v. Ludewig (gest. 1743) und N. H. Gundling (gest. 1731), die deutsche Geschichte von der publizistischen Seite aufgefaßt und dargestellt haben, war es vor allen G. W. Leibniz (1646–1716), welcher eine kritische Behandlung der ältern deutschen Geschichte anbahnte und in seinen erst neuerdings gedruckten „Annales imperii occidentis“ in fast mustergültiger Weise dieselbe behandelte. Ihm schlossen sich Graf H. von Bünau (gest. 1762, „Deutsche Kaiser- und Reichshistorie“), Maskow (gest. 1761, „Geschichte der Deutschen“), Gatterer (gest. 1799, „Handbuch der Universalhistorie“) und L. v. Schlözer (gest. 1809, „Vorstellung der Universalhistorie“) an. Die beiden letztern sind die Begründer der Weltgeschichte in Deutschland. Auch an Chronisten und Sammlern der deutschen Geschichtsquellen allgemeiner wie besonderer Art fehlte es während dieses Zeitraums nicht. Daneben rief die Teilnahme, welche die Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 18. Jahrh. erregte, mehrere geschichtliche Zeitschriften und andre Werke hervor, so die „Staatskanzlei“, Schmauß’ „Bücherkabinett“, die „Europäische Fama“, das „Göttingische historische Magazin“ u. a. Über die Theorie der Geschichtschreibung schrieben zuerst J. A. Ernesti (gest. 1781) und J. J. Griesbach (gest. 1812), welche die Grenzen der historischen Glaubwürdigkeit bestimmten.

Der Aufschwung der Litteratur und der Philosophie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. übte auch auf die Entwickelung der Geschichtschreibung in Deutschland einen bedeutenden u. fördernden Einfluß. Die Schriften Lessings („Erziehung des Menschengeschlechts“), besonders aber Herders („Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“) und die geschichtlichen Werke Schillers gaben ihr leitende Ideen, freiern Geist, tiefern Gehalt, großartige Anschauungen und eine geschmackvolle, ästhetische Form. Wenn die poetische und philosophische Auffassung Herders, der die geschichtlichen Vorgänge allerdings von den Wolken herab betrachtete, von dem realistischen Schlözer heftig bekämpft wurde, so diente dies nur dazu, auf eine schärfere Kritik der Forschung als ein wesentliches Erfordernis hinzuweisen und so die echte Geschichtschreibung zu fördern. Schon Spittler (gest. 1810) zeigt in seinen Werken, namentlich in dem „Entwurf der Geschichte der europäischen Staaten“, einen erheblichen Fortschritt in der Forschung, Auffassung und Form. Dohms (gest. 1820) „Denkwürdigkeiten meiner Zeit“ sind die ersten den großen englischen und französischen Mustern ebenbürtigen deutschen Memoiren. Heerens (gest. 1842) „Ideen über Politik, Verkehr und Handel der Völker des Altertums“ machten bereits den Versuch, über die Schranken der politischen und kirchlichen Geschichte hinauszugehen. Johannes v. Müller (gest. 1809) lieferte in seiner „Geschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft“ und den „Vierundzwanzig Büchern allgemeiner Geschichte“ Werke, welche durch die edle Gesinnung und die glänzende, hinreißende und erschütternde Darstellung Epoche machten. Auch die historischen Werke Schillers („Abfall der Niederlande“ und „Der Dreißigjährige Krieg“) zeichnen sich sowohl durch meisterhafte Darstellung als durch große, weite Gesichtspunkte aus.

Die Erschütterungen und politischen Wechselfälle der Napoleonischen Kriege unterbrachen einigermaßen die gelehrte schöpferische Arbeit in Geschichtsforschung und Geschichtschreibung, ohne bei der Zersplitterung und Enge des öffentlichen Lebens im damaligen Deutschland zu Darstellungen der zeitgenössischen Geschichte, zur Abfassung von Memoiren u. dgl. anzuregen. Dagegen machte sich nach dem Frieden 1814 der Einfluß der romantischen Schule in der Belebung des Interesse an der Geschichte, besonders des Mittelalters, bemerkbar. Aus der Begeisterung für die Glanzzeit des deutschen Mittelalters ging das große Werk Fr. v. Raumers (1781–1873): „Geschichte der Hohenstaufen“, hervor, in welchem auf Grund umfassender Quellenstudien nicht bloß die Personen, sondern auch die Zustände treu und lebendig geschildert werden und der wahre Geist des Mittelalters uns entgegentritt. Gegenüber den reaktionären kirchlichen und politischen Tendenzen der Historiker der romantischen Schule, welche für das Mittelalter mit seiner Hierarchie und seinem Feudalwesen schwärmten, vertrat Rotteck (gest. 1840) in seiner „Allgemeinen Weltgeschichte“ die liberalen Grundsätze der Aufklärung und des philosophischen Fortschritts. Schlosser (1776–1861) faßte in seiner „Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung“ und in seiner „Universalhistorischen Übersicht der Geschichte der Alten Welt und ihrer Kultur“ das geistige Leben der Vergangenheit in seiner Gesamtheit und Wechselwirkung, Politik, Litteratur, Sitte und Denkweise auf und schilderte in seiner „Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts“ in demselben Umfang diese Zeiten vom Standpunkt des Rechts und der Moral mit herbem Ernst und zuweilen stoischem Rigorismus. In der Mitte zwischen Rotteck und Schlosser steht Luden (gest. 1847), einst als Lehrer und Geschichtschreiber von bedeutender Wirkung. In der stillen Friedenszeit nach dem Befreiungskrieg, in welcher die Gelehrten von ihren Studien in keiner Weise durch das öffentliche Leben abgezogen wurden, die Regierungen vielmehr die deutschen Hochschulen argwöhnisch von jeder Beschäftigung mit der Politik zurückhielten, vollzog sich nun ein wichtiger Umschwung in Grundsätzen und Zielen der Geschichtsforschung. Der Urheber desselben war B. S. Niebuhr (1776–1831), der die Geschichte Roms kritisch untersuchte. Nicht zufrieden, das Widersprechende der traditionellen Geschichte nachzuweisen und die Irrtümer in den bisherigen römischen Geschichtsdarstellungen aufzudecken, [764] bemühte er sich zugleich, „die unter der Hülle der Sagendichtung verborgene Wahrheit zu erkennen und ans Licht zu bringen, die ältesten Zustände in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit wiederherzustellen, aus den brauchbaren Werkstücken ein neues historisches Gebäude aufzuführen“. Es gelang ihm dies in glänzender Weise, so daß sein Werk das Muster für alle fernern Versuche, die Geschichte des Altertums zu erforschen und darzustellen, wurde. Man begnügte sich bald nicht mehr mit der kritischen Untersuchung der Schriftsteller, sondern zog auch andre Quellen, Inschriften, Denkmäler u. a. hervor und verwertete die Ergebnisse der Sprachwissenschaft zur Aufhellung der Urgeschichte sowie die Politik und Nationalökonomie zur Erkenntnis der staatlichen und wirtschaftlichen Zustände. Nicht bloß die römische Geschichte, sondern auch die Griechenlands, namentlich aber die des Orients wurde auf diese Weise ganz umgestaltet, zumal da gleichzeitig großartige Entdeckungen an Bauwerken, Denkmälern und Inschriften gemacht wurden. Die zahlreichen Abhandlungen und Spezialgeschichten über die Geschichte des Altertums wurden in Dunckers „Geschichte des Altertums“, Curtius’ „Griechischer Geschichte“, Droysens „Geschichte des Hellenismus“ und Mommsens „Römischer Geschichte“ gewissermaßen zusammengefaßt.

Niebuhrs neue kritische Methode wurde bald auch auf die mittlere und neuere Geschichte übertragen. Hierzu trug wesentlich bei die Stiftung der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ durch Stein, welche die Herausgabe des großen Quellenwerks Monumenta Germaniae historica (s. d.) durch Pertz veranlaßte. Dasselbe lieferte das Quellenmaterial für eine Geschichte des deutschen Mittelalters, nach den Grundsätzen der Niebuhrschen Methode bearbeitet, in unerschöpflicher Fülle und regte zu Neubearbeitungen der mittelalterlichen Geschichte an. Die strenge Kritik bei der Sammlung und Sichtung des Materials führte zu dem Streben nach objektiver Wahrheit in der Auffassung und Darstellung, welches besonders bei dem berühmtesten neuern Geschichtschreiber, Leop. Ranke (geb. 1795), und bei seiner Schule hervortritt. Ranke selbst hat eine Reihe von Geschichtswerken über die deutsche Reformation, die Päpste, Frankreich und England im 16. und 17. Jahrh. u. a. m. geschaffen, welche durch Beherrschung des kritisch gesichteten Materials, welthistorischen Blick, geistreiche Auffassung und künstlerisch vollendete Darstellung ausgezeichnet und wahre Kunstschöpfungen sind, bei denen aber völlige Objektivität des Standpunktes entweder nicht erreicht wird, oder sich in allzu großer Herzenskälte und Indifferenz äußert. Besser gelang die Bewahrung strenger Objektivität manchen Historikern der Rankeschen Schule in der Darstellung mittelalterlicher Personen und Begebenheiten, wie Stenzel, Waitz, Köpke, Jaffé, Winkelmann u. a. Aber auch in der Behandlung des Mittelalters machten sich in größern Werken Standpunkt und Temperament der Verfasser geltend: so ist Wilh. Giesebrechts (geb. 1814) großes Werk über die deutsche Kaiserzeit von patriotischem Geiste durchweht, während Heinr. Leo (gest. 1878) in seinen Geschichtswerken vom christlich-konservativen Standpunkt aus gegen Aufklärung und Revolution eifert und die Konvertiten Hurter (gest. 1865) und A. Fr. Gfrörer (gest. 1861) sowie Joh. Janssen (geb. 1829) offen die päpstliche Hierarchie verteidigen und ultramontane Grundsätze vertreten. Noch weniger war die Zurückdrängung der politischen und religiösen Anschauungen der Geschichtschreiber bei der Behandlung der neuern Geschichte möglich, da die Reformation, die Gegenreformation, der Dreißigjährige Krieg, das Emporkommen Preußens, endlich die Verfassungsgeschichte der modernen Staaten immer von Protestanten und Katholiken, Kleindeutschen und Großdeutschen, Liberalen und Konservativen verschieden beurteilt werden. Den gemäßigt liberalen Standpunkt vertreten besonders Dahlmann (1785–1860) und Gervinus (1805–71), mehr den nationalen Häusser (gest. 1867), v. Sybel (geb. 1817), Droysen (gest. 1884) und Treitschke (geb. 1835). Hervorragendes leistete die neuere Geschichtschreibung in der Bildung eines guten, teilweise glänzenden Stils und lebendiger, anschaulicher, charaktervoller Darstellung. Sie beschränkte sich nicht auf Deutschland, sondern bearbeitete auch die Geschichte andrer Staaten und strebte immer danach, das Einzelne im Zusammenhang der Weltgeschichte zu begreifen. Es gibt kaum einen Staat, dessen Geschichte nicht von einem Deutschen dargestellt worden wäre. Ferner waren die deutschen Geschichtschreiber auch bemüht, für die neuere Geschichte das vorhandene Material kritisch zu sichten und neues aus Bibliotheken und Archiven zusammenzutragen. Gefördert wurde dies Unternehmen namentlich durch die Errichtung der „Historischen Kommission“ bei der königlichen Akademie in München durch König Max II. (1858) und durch die Publikationen der preußischen Archivverwaltung, welche die Veröffentlichung größerer Aktensammlungen möglich machten. Hierdurch wurden nicht nur die Kenntnisse erweitert, sondern auch vielfach durch Vertiefung der Forschung die Wahrheit genau ermittelt und das Urteil geläutert. So entwickelte sich in Deutschland in Geschichtsforschung und Geschichtschreibung ein reges Leben und Arbeiten, durch die Seminare an den Hochschulen, ferner durch Historische Vereine (s. d.) in allen Landschaften begünstigt und sich über alle Zeiten und Länder erstreckend, in lebendigem Zusammenhang mit den Hilfswissenschaften sowie andern Wissenschaften. Der deutsche Bienenfleiß speicherte zahllose Schriften und Abhandlungen geschichtlichen Inhalts auf. Ihre Ergebnisse wurden dann von Zeit zu Zeit in Geschichtswerken, welche die Geschichte einer Zeit oder eines Volkes umfaßten, oder in Weltgeschichten (besonders der von Ranke und von Weber) zusammengefaßt. Auch die Biographie wurde mehr und mehr gepflegt, und einige vorzügliche Lebensgeschichten erschienen von Droysen („Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg“), Varnhagen v. Ense, Springer („Chr. Friedr. Dahlmann“), Freytag („Karl Mathy“), Arneth („Prinz Eugen von Savoyen“), Strauß („Ulrich von Hutten“) u. a. Am langsamsten entwickelte sich die Memoirenlitteratur (s. Memoiren), was allerdings auch mit den politischen Verhältnissen zusammenhing. Vgl. Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie (Münch. 1885). – Über die übrigen historischen Disziplinen, wie Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Kirchengeschichte, Litteraturgeschichte[WS 1] etc., s. die betreffenden Artikel.

Übrige Wissenschaften.

Die Entwickelung der übrigen Wissenschaften historisch zu verfolgen, ist, wie schon erwähnt, hier nicht der Ort; es kann allenfalls nur eine Anzahl Autoren, besonders der neuesten Zeit, als Repräsentanten namhaft gemacht werden, deren Werke sich nicht nur durch Gediegenheit des Inhalts, sondern auch durch schöne Darstellung auszeichnen und daher teilweise Anspruch haben dürften, zum Bestand der Nationallitteratur hinzugezogen zu werden. In dieser Rücksicht sei zunächst an die staatsrechtlichen und politischen Schriften eines Bluntschli („Geschichte [765] des allgemeinen Staatsrechts“, „Deutsche Staatslehre für Gebildete“), Robert v. Mohl, Lor. v. Stein, J. Waitz, Fr. v. Holtzendorff, Rud. Gneist u. a., an die nationalökonomischen von Fr. List, W. Roscher, Schäffle, W. H. Riehl („Naturgeschichte des Volkes“), Knies etc. erinnert. Auf dem Gebiet der Altertumskunde dürfen Böckhs klassisches Werk „Der Staatshaushalt der Athener“ und Schömanns „Griechische Altertümer“ nebst Becker-Marquardts „Römischen Altertümern“, ferner Friedländers „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms“ und die ähnlichen Schilderungen aus der altgriechischen und altrömischen Welt: „Charikles“ und „Gallus“ von A. W. Becker, endlich Prellers „Griechische Mythologie“, O. Jahns Werk „Aus der Altertumswissenschaft“ und Lehrs „Populäre Aufsätze aus dem Altertum“ angeführt werden; in andrer Richtung verlangen die Schriften von Grimm („Deutsche Rechtsaltertümer“ u. a.), Weinhold („Altnordisches Leben“, „Deutsche Frauen im Mittelalter“), Schultz („Höfisches Leben“) etc. Erwähnung. Ausgezeichnetes auf dem Gebiet der Ästhetik leisteten Fr. Vischer, Mor. Carriere, Ad. Zeising, der Dramaturg Rötscher, Rob. Zimmermann; auf dem der Sprachwissenschaft Laz. Geiger und Steinthal („Ursprung der Sprache“). Die Erdkunde hat (von der Unzahl von Reisebeschreibungen und Handbüchern abgesehen) in den Werken K. Ritters, des Begründers der wissenschaftlichen Geographie, und O. Peschels („Geschichte der Erdkunde“, „Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen“, „Neue Probleme“, „Völkerkunde“) meisterhafte Erzeugnisse aufzuweisen. Ein besonders starkes Kontingent hierher gehöriger Bücher haben die Naturwissenschaften gestellt, seitdem man begonnen, die großen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschungen unsrer Zeit in ansprechender und gemeinverständlicher Darstellung zu verarbeiten und so in die allgemeine Bildung mit aufzunehmen. Obenan steht in dieser Richtung Al. v. Humboldt, der in seinen klassischen, schon oben genannten Schriften: „Ansichten der Natur“ und „Kosmos“ zur Popularisierung der Naturwissenschaft (im edelsten Sinn des Wortes) den Anstoß gab. Für diese wirkte seitdem in gediegener Weise: Lor. Oken, der Physiolog K. Fr. Burdach, der Chemiker Liebig („Chemische Briefe“), der Geolog Bernh. v. Cotta („Geologische Bilder“, „Geologie der Gegenwart“), M. J. Schleiden („Die Pflanze und ihr Leben“, „Studien“, „Das Meer“), E. A. Roßmäßler („Das Wasser“, „Der Wald“, „Die Jahreszeiten“), Herm. Burmeister („Geschichte der Schöpfung“, „Geologische Bilder zur Geschichte der Erde“), K. G. Carus („Symbolik der Menschengestalt“, „Vergleichende Psychologie“, „Psyche“), Karl Vogt („Zoologische Briefe“, „Physiologische Briefe“, „Vorlesungen über den Menschen“), K. E. v. Baer, („Reden“), Mädler („Astronomische Briefe“, „Der Himmel“), Bessel („Populäre Vorlesungen über wissenschaftliche Gegenstände“), Fr. v. Kobell („Mineralogie“), Helmholtz („Populäre wissenschaftliche Vorträge“), M. Willkomm, F. Unger („Botanische Briefe“, „Geschichte der Pflanzenwelt“, „Die Urwelt“), Grisebach („Die Vegetation der Erde“), A. E. Brehm („Illustriertes Tierleben“), Fr. v. Tschudi („Tierleben in der Alpenwelt“), O. Schmidt („Naturgeschichtliche Darstellungen“), K. Oppel („Tiergeschichten“), Moleschott („Kreislauf des Lebens“), Fr. Ratzel („Sein und Werden der organischen Welt“), E. Häckel („Natürliche Schöpfungsgeschichte“), der Ethnograph A. Bastian u. a. Auch Bernsteins „Naturwissenschaftliche Volksbücher“ sind mit Auszeichnung hier anzureihen. Endlich haben auch die Publizistik sowie die litterarische Forschung und Kritik in der neuesten Zeit einen ungemeinen Aufschwung genommen, dem die Teilnahme des Publikums fördernd entgegenkommt. Zahlreiche Zeitschriften sorgen für Unterhaltung und Belehrung, wie anderseits eine Reihe großer, in immer neuen Auflagen erscheinender „Encyklopädien“ und Sammelwerke andrer Art, wie die von Virchow und v. Holtzendorff herausgegebenen Sammelwerke: „Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge“ und „Deutsche Zeit- und Streitfragen“, denen eine Reihe ähnlicher Sammlungen folgte, für Verbreitung der mannigfaltigsten Kenntnisse in den weitern Schichten des Volkes erfolgreich wirken. Die litterarische Forschung hat sich vorzugsweise den klassischen Größen zugewendet, deren Werke in zahlreichen, zum Teil ausgezeichneten kritischen Ausgaben erscheinen; aber auch die Erscheinungen dritten und vierten Ranges erfreuen sich nicht weniger sorgfältiger Betrachtung. Alte, lange vergriffene oder verschollene Werke werden ihrer Bedeutung wegen oder als Kuriosa in Neudrucken der Mitwelt vorgeführt, und nebenher gehen umfangreiche „Bibliotheken“ der deutschen wie der ausländischen Litteratur (in zum Teil vorzüglichen Übersetzungen), meist mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen ausgestattet. Kurz, man ist emsig bemüht, den gesamten litterarischen Besitzstand der Deutschen gleichsam inventarisch festzustellen und einer kritischen Sichtung zu unterziehen. Als Hauptgegenstände aber der litterarischen Untersuchung, mit welcher eine bis ins einzelnste gehende, mitunter wohl auch auf Abwege geratende biographische Forschung Hand in Hand geht, sind Goethe, Shakespeare und Dante zu nennen, deren Kultus und Studium in besonders erscheinenden „Jahrbüchern“ ihren Mittelpunkt haben. So gewährt die d. L. der neuesten Zeit ein Bild der regsten und vielseitigsten Geschäftigkeit und zeigt sowohl auf dem Felde der dichterischen Produktion als auf wissenschaftlichem Gebiet eine fast unübersehbare Schar hervorragender Kräfte thätig, wenn auch auf dem erstern unser Jahrhundert, die „Zeit der Epigonen“, epochemachende und weltbewegende Erscheinungen, wie das 18. sie hervorgebracht, nicht zu erzeugen vermochte.

Litteratur.

Als Hilfsmittel für das Studium der Geschichte der deutschen Litteratur sind zu nennen: Koberstein, Grundriß der Geschichte der deutschen Nationallitteratur (Leipz. 1827; 6. Aufl. von K. Bartsch, 1872–1874, 5 Bde.); Gervinus, Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (das. 1835–42, 5 Bde.; 5. Aufl. von Bartsch, 1871–74); Vilmar, Geschichte der deutschen Nationallitteratur (Marb. 1847; 22. Aufl. 1885, 2 Bde.); Wackernagel, Geschichte der deutschen Litteratur (Basel 1851–53, unvollendet; 2. Aufl. von E. Martin, 1879, Bd. 1); Gödeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung (Dresd. 1859–81, 3 Bde.; 2. Aufl. 1884 ff.); Heinr. Kurz, Geschichte der deutschen Litteratur mit ausgewählten Stücken (Leipz. 1851–59, 3 Bde.; 7. Aufl. 1876–82, 4 Bde.); Roquette, Geschichte der deutschen Dichtung (Stuttg. 1862, 2 Bde.; 3. Aufl. 1878–79); Edm. Höfer, Deutsche Litteraturgeschichte für Frauen (das. 1876); Stern, 50 Jahre deutscher Dichtung (2. Aufl., Leipz. 1877); v. Leixner, Illustrierte Geschichte des deutschen Schrifttums (Leipz. 1880–1881, 2 Bde.); W. Scherer, Geschichte der deutschen Litteratur (Berl. 1883). Die Litteratur der neuen und neuesten Zeit insbesondere behandelten: Hillebrand, Die deutsche Nationallitteratur des 18. Jahrhunderts [766] (Gotha 1845–47, 3 Bde.; 3. Aufl. 1875); Hettner, Litteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts (Braunschw. 1862–72, 4 Bde.; 3. Aufl. 1879); Gruppe, Leben und Werke deutscher Dichter (Münch. 1864–68, 5 Bde.; 2. Ausg., Leipz. 1872); Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert (Leipz. 1875–80, 4 Bde.); Löbell, Die Entwickelung der deutschen Poesie von Klopstocks erstem Auftreten bis zu Goethes Tod (Braunschw. 1856–65); Lemcke, Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit (Bd. 1: von Opitz bis Klopstock, Leipz. 1873; neue Ausg. 1882); Julian Schmidt, Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland von Leibniz bis auf Lessings Tod (das. 1861–1864, 2 Bde.); Derselbe, Geschichte der deutschen Litteratur im 19. Jahrhundert (das. 1853, 2 Bde.; 5. Aufl. 1866–67, 3 Bde.); Hettner, Die romantische Schule (Braunschw. 1850); Haym, Die romantische Schule (Berl. 1870); Brandes, Die romantische Schule in Deutschland (a. d. Dän. von Strodtmann, das. 1873); R. Prutz, Die d. L. der Gegenwart (Leipz. 1847; 2. Aufl. 1860, 2 Bde.); Gottschall, Geschichte der deutschen Nationallitteratur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Bresl. 1855, 2 Bde.; 5. Aufl. 1881, 4 Bde.). In betreff der altdeutschen Litteratur im besondern sind Uhlands „Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage“ (Stuttg. 1865–68, 7 Bde.), Gödeke, Deutsche Dichtung im Mittelalter (Hannov. 1854), anzuführen. Wertvolle Monographien sind außerdem: Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen (Leipz. 1854–56, 2 Bde.); Mörikofer, Die schweizerische Litteratur im 18. Jahrhundert (das. 1861); R. Prutz, Der Göttinger Dichterbund (das. 1841); Tittmann, Die Nürnberger Dichterschule (Götting. 1847); Barthold, Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft (Berl. 1848). Vgl. auch Schwab und Klüpfel, Wegweiser durch die Litteratur der Deutschen (4. Aufl., Leipz. 1872; mit Nachträgen).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 224229
korrigiert
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[224] Deutsche Litteratur (1885–90). Die in der Entwickelung der deutschen Litteratur schon mehrmals erlebte Thatsache, daß irgend ein Programm lärmend als das Evangelium der Zukunft verkündet ward, während die eigentliche poetische Schöpferkraft seitab von oder im geraden Gegensatz zu diesem Programm sich bethätigt, scheint sich nach gewissen Erfahrungen der letzten fünf Jahre wieder einmal erneuern zu wollen. Wie am Eingang dieses Jahrhunderts die anspruchsvolle Kritik der jungen Romantik jede nicht romantische Produktion für unzulässig und veraltet erklärte (während doch Schillers Hauptdramen, Jean Pauls bedeutendste Romane, Hebels alemannische Lieder und Erzählungen erst geschaffen wurden), wie um 1830 die jungdeutsche Schule die Ablösung der Dichtung durch den „Kultus der Prosa“, die ausschließliche Geltung der tendenziösen Halbpublizistik oder doch der Heineschen Negation verkündete (während die eigentlich schöpferischen Talente sich der künstlerischen Formen für die Darstellung des Lebens nach wie vor bedienten und schließlich selbst die Jungdeutschen zwangen, in den Weg der angeblich Überwundenen einzulenken), wie nach 1840 das Alleinrecht der politischen Lyrik behauptet, jede nicht politisch gefärbte Schöpfung als totgeboren bezeichnet wurde (während man wenige Jahre später zugeben mußte, daß die wenigen bleibenden Schöpfungen des Jahrzehnts der politischen Lyrik eben nicht angehört hatten): so entfaltet sich auch in der unmittelbaren Gegenwart die deutsche schöne Litteratur und ihr Publikum, wenig berührt von der mit so großem Geräusch in Szene gesetzten Bewegung, welche die Zukunft der Litteratur dem sogen. Naturalismus zuspricht. Mußte schon die Wiederholung des Vorganges, daß eine kleine Gruppe von Schriftstellern sich im ausschließlichen Besitz der lebens- und gestaltungskräftigen Anschauung wähnt, während das Leben selbst mit der Unerschöpflichkeit, der Fülle und Vielseitigkeit seiner Erscheinungen ihrer tendenziös engen Begriffe spottet, Mißtrauen erregen, richtete die Polemik, die von der angeblich naturalistischen Schule gegen alle Dichter andrer Richtung geführt ward und wird, durch ihre Maßlosigkeit und Einseitigkeit sich selbst, so gelang es auch den Talenten der „naturalistischen Schule“ selbst nur in beschränktem Maß, durch ihre Lebensauffassung und Darstellung [225] zu interessieren. Die stärksten Beweise für die gestaltende, poetisch offenbarende Kraft naturalistischer Lebensdarstellung wurden und werden bis zur Stunde nicht deutschen, sondern ausländischen Schriftstellern entnommen, und grundverschiedene Begabungen: Flaubert und Daudet, Zola, die Goncourts, de Bourget und eine Reihe andrer Franzosen, Turgenjew und Dostojewskij, die Norweger Ibsen und Kielland werden als Anreger und Propheten einer Lebensdarstellung genannt, die an Stelle der Phantasie die Beobachtung, an Stelle der seitherigen Welt- und Menschenanschauung eine neue, angeblich naturwissenschaftliche setzen und die großen Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auf die Darstellung anwenden will. Die Vorkämpfer dieser jüngsten Schule trennen sich freilich schon dadurch wieder voneinander, daß die einen eine Erneuerung der abgelebten und schal gewordenen Poesie verheißen, während die andern den Ersatz der Poesie durch eine lebenschildernde Litteratur, die wissenschaftliches Gewicht und wissenschaftliche Zuverlässigkeit besitzen werde, als das Endziel der Bewegung bezeichnen. Noch ganz abgesehen von den Leistungen und der möglichen Entwickelungsfähigkeit der Talente, die sich mehr oder minder zu diesem Programm bekannt haben, entbehrt das Programm selbst, das eine große Umwälzung und Erneuerung der deutschen Litteratur ankündigt, der wünschenswerten Klarheit.

Das Mißverhältnis zwischen den Ansprüchen und Selbstschätzungen der „modernsten“ deutschen Poeten und ihren thatsächlichen schöpferischen Leistungen erwies sich im verflossenen Jahrfünft denn auch so stark, daß das Publikum in eine Art unbehaglicher Verwirrung gesetzt ward und zum Teil nicht einmal wußte und ahnte, worin denn nun das Neue und Außerordentliche des Dargebotenen liegen solle. Die Bevorzugung gewisser Themen des Geschlechtslebens, eine rücksichtslose Brutalität wirkten derart abstoßend, daß im Schoß der naturalistischen Schule selbst alsbald Kämpfe entstanden, weil man zwar darüber einig war, daß der „heuchlerischen Prüderie“ und der „großen Gesellschaftslüge“ Krieg bis aufs Messer angekündigt werden müsse, aber keineswegs alle Genossen der Richtung das natürliche Schamgefühl und das Taktgefühl verleugnen mochten, das in andern Zeiten auch die naturwüchsigsten Talente bewährt haben. Als Vertreter des Naturalismus traten Hermann Heiberg (Novellen; die Romane „Die goldene Schlange“, „Apotheker Heinrich“, „Ausgetobt“), Karl Bleibtreu, der eigentliche Heißsporn unter den jüngsten (mit halbnovellistischen Schlachtbildern, mit Gedichten und Dramen, dem Roman „Größenwahn“), M. G. Conrad (mit den Novellen „Totentanz der Liebe“, den Romanen „Was die Isar rauscht“ und „Die klugen Jungfrauen“), D. von Liliencron (Gedichte, „Eine Sommerschlacht“, Novellen), Hermann Friederichs, Karl Henckell, Konrad Alberti, Hermann Conradi etc. hervor, deren Werke sich gutenteils sowohl der genießenden Aufnahme als einer ernsten Beurteilung entziehen. Mit einer Reihe anfänglich wüster und platt-geschmackloser Romane versuchte Max Kretzer das Berliner Leben, namentlich das Leben der Proletarier, zu schildern, rang sich aber in einigen spätern Darbietungen, namentlich in „Meister Timpe“, zu klarerer Darstellung und größerer Innerlichkeit hindurch, was hoffentlich typisch für die Bestrebungen der ganzen Richtung sein wird.

Jedenfalls war unter all diesen Werken nichts, was die Empfindung und den Geschmack weiterer Lebenskreise berührt und gefesselt oder die Teilnahme an den poetischen Schöpfungen andern Ursprungs, andern Ziels und andern Stils geschwächt hätte. Wie weit auch die Ungunst der Zustände, die Verwirrung und Verwilderung des Publikums und namentlich die willkürliche Urteilslosigkeit gediehen sind, so hat es auch in den letzten fünf Jahren weder an innerlich wertvollen noch an äußerlich fesselnden poetischen Schöpfungen gefehlt. Selbst in der Lyrik, die immer mehr nur ein Bedürfnis der schaffenden, immer weniger der genießenden und teilnehmenden Naturen scheint, gewannen einige Erscheinungen über den engsten Kreis hinaus, in denen sonst der lyrische Poet gekannt ist, Gehör und Nachklang. So der liebenswürdig sinnige Heinrich Seidel mit seinen „Gedichten“, den „Idyllen und Scherzen“, der auch als Novellist in seinen „Vorstadtgeschichten“, „Novellen“ u. a. hauptsächlich durch die Unmittelbarkeit der lyrischen Stimmung und einen feinen Humor wirkt, so Johannes Trojan, an dessen Lyrik gleichfalls der Scherz und die Neigung zum Gnomischen überwiegt, ferner Felix Tandem (C. Splitterer), dessen Erstlingsgedichte, namentlich aber die „Schmetterlinge“, zum Köstlichsten und Eigentümlichsten der neuern deutschen Lyrik zählen, die Lieder und Gedichte des Dichtermusikers Peter Cornelius, die freilich frühern Jahrzehnten angehören und 15 Jahre nach dem Tode des Dichters durch Ad. Stern veröffentlicht wurden, die bedeutenden und für eine Frau in seltenem Grad eigentümlichen Gedichte von Isolde Kurz. Unter der neuen lyrischen Sammlung schon anerkannter Dichter, soweit sie nicht bloß Neuauflagen waren, sind L. Pfaus „Gedichte“, A. Fitgers „Winternächte“, Stephan Milows „Deutsche Elegien“, Paul Heyses „Spruchbüchlein“, Albert Mösers „Singen und Sagen“, Edwin Bormanns „Liederhort in Sang und Klang“, Emil Rittershaus’ „Buch der Leidenschaft“ hervorzuheben. Natürlich fehlt es nicht an einer Unzahl neuer Namen, und die gebildete Sprache, die für die Poeten dichtet und denkt, bewährt noch immer ihre alte Kraft, obschon sie daneben den greuelvollsten Dilettantismus, der alle Lyrik in Verruf gebracht hat, keineswegs ausschließt. Von neuen Namen mögen Heinr. Vierordt, Johannes Prölß („Trotz alledem“), Frida Schanz genannt sein. Der didaktischen und philosophischen Lyrik gehörten O. von Leixners „Dämmerungen“, Heinr. Harts „Weltpfingsten“, Jul. Harts „Sansara“ an, auch die Epigrammatiker B. Sutermeister, Albert Gehrke dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die lyrisch-epische Dichtung (denn von epischer Dichtung im strengern Sinn des Wortes ist wenig zu berichten) erhielt mannigfache Vermehrungen, ohne sich großer Bereicherungen rühmen zu können. Die Mehrzahl hierher gehöriger Werke rührte von ältern, längst anerkannten Dichtern her, so die Mythe „Memnon“ von A. Grafen Schack, das hübsche Gedicht „Kaiser Max und seine Jäger“ von Rud. Baumbach, „Der dicke König“ von Hans Herrig, die nicht eben glückliche ägyptische Erzählung „Elifên“ von Georg Ebers. Die Perle der erzählenden Dichtungen, das „Spielmannsbuch“ von Wilhelm Hertz, enthielt Nachdichtungen mittelalterlicher Abenteuer, aber in so künstlerisch freier Weise, so vollendeter dichterischer Form, daß sie beinahe als eignes Eigentum des poetischen Übertragers zu betrachten sind. Als epische Versuche jüngerer Dichter zeichneten sich „Der Weg nach Eden“ von Karl Kösting, „Die Kinder von Wohldorf“ von Ferd. Avenarius aus.

Drama.

Auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung herrschte im Zusammenhang mit eigentümlichen, vielfach verworrenen, [226] einander direkt widerstreitenden, sich in ihrer Wirkung lähmenden oder geradezu vernichtenden Bestrebungen in der litterarischen und theatralischen Welt jene wunderliche Anarchie, die es möglich macht, daß von der einen Seite der Niedergang, der letzte Bankrott des deutschen Dramas und von der andern ein nie zuvor erhörter Aufschwung desselben verkündet wird. Bei den Propheten des Aufschwungs begegnen wir hier der demütigsten Unterordnung unter die naturalistischen Krafteffektstücke der Franzosen und Russen, dort wiederum einem in der That allzu bescheidenen Anschmiegen an die Anfänge des deutschen Dramas. Sowohl die „freie Bühne“, die nur mit Wagnissen experimentiert, als das Volkstheater, welches auf die dramatische Gestaltung im engern Sinn verzichtet, sind ein Memento mori an die bestehende Bühne, die sich mit Vorliebe „real“ nennt, thatsächlich aber immer stärker und bedenklicher von falschen Herkömmlichkeiten und willkürlichen Voraussetzungen beherrscht wird. Während sich die maßgebenden Hoftheater gegen den Strom frischen Lebens abdämmen und von der dramatischen Poesie die unmöglichste Rücksichtnahme auf unglaubliche Vorurteile und ewig unerratbare Bedenken heischen, öffnen sie zugleich der frivolsten Zerstreuungssucht wie der geschmacklosesten Verwilderung Thür und Thor, fahren dabei aber fort, einen dramatischen Messias zu erwarten, der ihren und den höchsten Ansprüchen des Lebens zugleich genügen soll. Natürlich richtet sich dieser die lebendige Wechselwirkung zwischen Bühne und Dichtung hemmende Zustand weniger gegen die historische Tragödie als gegen das bürgerliche Trauerspiel und Schauspiel, die um so unzweifelhafter das eigentliche Bedürfnis der Zeit sind, als hier auch die reichsten Perioden unsrer Litteratur und die glücklichsten dramatischen Talente verhältnismäßig wenig bleibende Schöpfungen hinterlassen haben. Das historische Trauerspiel, einst das Ehrgeizziel der meisten deutschen Dichter, ist wirklich nicht bloß um der flacher gewordenen Weltanschauung und Empfindung der Durchschnittsbildung willen in den Hintergrund getreten, sondern weil innerhalb der modernen Welt sich die Zahl der im alten Sinn tragischen Konflikte verengert hat, dafür aber eine ungeheure Zahl neuer Konflikte aus dem Leben erwachsen ist, die nicht schlechthin in die Formen der alten Tragik aufgehen wollen. Daß zu dieser tiefer liegenden Ursache der Umbildung der Tragödie in ein Schauspiel mit unblutigem und doch tragischem Ausgang auch die Lebensanschauung herrschender Gesellschaftsklassen, die im Grund nur die Tragik des Bankrotts kennen und anerkennen, das Ihrige beiträgt, ist zu unzählige Male erörtert, um hier des Breitern wiederholt zu werden. Gleichwohl erfreut sich die Schöpfung auch des modernen Tragikers, sofern sie nur nicht bloßer Nachklang zu den gewaltigen Werken alten Stils, zu Shakespeare und Schiller, ist, noch immer gewisser Erfolge. Die stärksten hatte E. v. Wildenbruch aufzuweisen, zu dessen frühern Tragödien und Schauspielen sich die Dramen „Die Herrin ihrer Hand“, „Christopher Marlow“, „Das neue Gebot“, „Der Fürst von Verona“, „Die Quitzows“, „Der Generalfeldoberst“ gesellten, von denen namentlich „Die Quitzows“ ein tieferes Interesse erregten. Von R. Voß traten die Tragödien „Mutter Gertrud“, „Brigitta von Wisby“, „Alexandra“ und „Eva“ hervor, die letztgenannten dem modern sozialen Drama zustrebend, alle von einer gewissen Bedeutung und alle durch einen unaustilgbar krankhaften Zug beeinträchtigt, welcher die reinen Wirkungen eines phantasievollen, hochstrebenden Talents in Frage stellt. Von sonstigen Erscheinungen auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung seien noch genannt: „Die Rosen von Tyburn“ von A. Fitger, „Thassilo“ von Ferd. v. Saar, „Eine neue Welt“ (Kolumbus) und „Gerold Wendel“ von Heinr. Bulthaupt, „Der Schmied von Ruhla“ und „Alexander Borgia“ von J. Riffert. Die Dramen von K. Bleibtreu: „Byron“, „Schicksal“, „Vaterland“ gehören der schon charakterisierten naturalistischen Richtung an, und auch aus ihnen leuchtet hervor, daß der Wille und die Fähigkeit, neue Tiefen der Natur zu enthüllen, Leben darzustellen, vom Drang des litterarischen Effekts stark überwogen wird. Von Werken, die ihren Weg über die Bühnen gemacht haben und nun in die Litteratur eintraten, erschienen die auf Berliner Boden erwachsenen Schauspiele von O. Blumenthal: „Die große Glocke“, „Ein Tropfen Gift“, das historische Intrigenlustspiel „Der Kriegsplan“ von J. v. Werther, das Schauspiel „Die Philosophin“ von Fr. Spielhagen, die Lustspiele „Das Recht der Frau“ und „Die wilde Jagd“ von K. Fulda, das dem Münchener Gärtnerplatztheater angehörige, der bayrischen Volks- und Dialektpoesie verwandte Schauspiel „Das Austragstüberl“ von Neuert und Schmidt. Die größere Zahl der bürgerlichen Schauspiele und Lustspiele kommt und geht mit dem Tag und beansprucht weder, noch verdient sie eine tiefere bleibende Teilnahme. Durch eine Folge von Aufführungen, die aus Dilettantenkreisen heraus in den verschiedensten Städten veranstaltet wurden, gelangte das für Worms schon 1883 gedichtete „Lutherfestspiel“ von Hans Herrig zu außerordentlicher Volkstümlichkeit; für die Eröffnung der Wormser Volksbühne schrieb der Dichter ein ähnliches Festspiel mehr lyrisch-epischen als dramatischen Gehalts: „Drei Jahrhunderte am Rhein“. Als eine phantastisch-originelle Dichtung erweist sich das Bühnenmärchen „Die letzten Menschen“ von Wolfgang Kirchbach, von dem auch ein Lustspiel, „Der Menschenkenner“, hervortrat.

Roman und Novelle.

Im ähnlichen Verhältnis wie die dramatische Produktion zur theatralischen, mit einem geradezu erdrückenden Übergewicht des Handwerksmäßigen, Fabrikmäßigen gegenüber dem Poetischen, innerlich Belebten steht auch in den Lieblingsformen der Zeit, in Roman und Novelle, die einem poetischen Bedürfnis entstammte, dem künstlerischen Sinne nach irgend einer Richtung genügende erzählende Dichtung der Unterhaltungslitteratur gegenüber, welch letztere durch das Bedürfnis der zahllosen Blätter und Blättchen ins sinnlos Massenhafte gesteigert wird.

So waren es denn auch in der Romanlitteratur vor allen längst bewährte Dichter, von denen die wertvollsten und unzweifelhaft lebensvollsten Schöpfungen der letzten Jahre ausgingen. Ein Meister wie Gottfr. Keller fügte der Reihe seiner unvergänglichen Schöpfungen den satirischen und doch in der Gestalt seiner Helden tief poetischen Roman „Martin Salander“ hinzu; P. K. Rosegger gab in dem Bauernroman „Jakob der Letzte“ ein tragisches Bild aus dem Kampf zwischen den alten Besitzverhältnissen und der menschenvernichtenden Kraft des allmächtigen Kapitals; Paul Heyse stellte in der zum Roman erweiterten Novelle „Die Geschichte der Stiftsdame“ eins jener Frauenschicksale dar, für die er den feinen Blick, den innersten Anteil und die Darstellungskunst wie wenige besitzt. Aus der Reihe der Zeitromane erregten Fr. Spielhagens „Was will das werden?“ und „Ein neuer Pharao“, die stark realistischen, aber durch und [227] durch lebensvollen kleinern Romane Fontanes: „Cecile“, „Irrungen – Wirrungen“, der Roman „Dunst und Geld“ von Karl Frenzel, endlich die größern Erzählungen von Marie v. Ebner-Eschenbach: „Zwei Komtessen“, „Das Gemeindekind“ und „Die Unverstandene auf dein Dorfe“ mit Recht starken Anteil. Von poetischer Kraft zeugten die Romane und Novellen der früh verstorbenen Margarete v. Bülow, namentlich „Jonas Briccius“, ferner „Der Sohn der Volskerin“ und „Die neue Circe“ von Richard Voß, der auch in Roman und Novelle die eigentümliche Mischung echt poetischer Empfindungs- und Darstellungskraft und krankhafter Unwirklichkeit zeigt, deren bei seinen Dramen gedacht werden mußte. Bedeutend und geistreich, aber mehr durch Reflexion als durch poetische Erfindung und Charakteristik getragen erschienen die Romane „Die Sebalds“ und „Zwei Wiegen“ von Wilhelm Jordan. Mit den Romanen „Die Krankheit des Jahrhunderts“ von Max Nordau, „Hymen“ von Oskar v. Redwitz, der Romanfolge „Berlin“ von Paul Lindau, den Romanen „Dunkle Existenzen“ und „Menschenschicksale“ von Konrad Telmann beginnt eine Reihe von Darstellungen, in denen entweder ein unerfreulicher Vorwurf durch die Würze des Räsonnements, der pikanten Szenen genießbar und anziehend gemacht werden soll, oder die poetische Absicht der Verfasser weit über die darstellende Kunst und Kraft hinausgeht. Von dem fast allzu produktiven Wilhelm Jensen erschienen die Romane „Runensteine“, „In der Fremde“, die Novellensammlungen „Aus stiller Zeit“ und „Aus schwerer Zeit“, überall wieder die außerordentliche Phantasie und Stimmungskraft des Dichters, aber auch den Zug zum Manierismus besthätigend, der ihm wie vielen Poeten der Gegenwart eigen ist. Die Romane von Aug. Niemann („Eulen und Krebse“, „Am Hofe“ u. a.), von Robert Byr, L. Haidheim, E. A. König, Max Ring, C. Rosenthal-Bonin, auch die etwas anspruchsvollern von Ossip Schubin neigen schon alle nach der mehr oder minder fesselnden, meist stark gewürzten Unterhaltungslitteratur hinüber.

Im humoristischen Roman behauptete (von Keller abgesehen) noch immer Wilh. Raabe mit seinen eigentümlichen, um der Komposition und klaren Handlungsführung selten, um der Tiefe der Stimmung und der genialen Blicke in das Menschenleben und -Wesen fast immer zu lobenden kleinen Romanen mit und ohne historischen Hintergrund das Feld. Von ihm reihten sich die Bücher: „Das Odfeld“, „Im alten Eisen“, „Zum wilden Mann“ den früher erschienenen humoristischen Bildern aus deutschem Leben, aus einer verschwindenden Kulturwelt würdig an. Größern Erfolg als Raabes poetische Auffassung und Darstellung hatte die witzig-satirische der Buchholzbücher von Jul. Stinde: „Die Familie Buchholz“, „Buchholzens in Italien“, „Buchholzens im Orient“ etc., in welchen das durchschnittliche Berlinertum zugleich verspottet und verherrlicht ward, die übrigens in ihrer locker-lässigen Form kaum noch den Namen von Romanen in Anspruch nehmen können. Ein humoristischer Roman von frischer Bewegung war „Moderne Argonauten“ von Frank Harkut.

Der historische Roman ward in der jüngsten Vergangenheit zum Gegenstand der heftigsten, leidenschaftlichsten Angriffe, die ebensosehr über das Ziel hinausschossen, als eine gewisse Bildungsphilisterei den Wert geschichtlicher Stoffe ohne echt poetische Belebung traurig überschätzte und, wie die immer neu auftauchenden Romane aus antiken, byzantinischen und völkerwanderlichen Zeiten beweisen, zu überschätzen fortfährt. Die Acht, welche die naturalistische Ästhetik und Kritik über jede nicht aus der unmittelbarsten Gegenwart geschöpfte Erfindung ausspricht, ist um deswillen undurchführbar und sinnlos, weil der gute historische Roman, der zugleich ein echt dichterisches Werk ist, sich immer wieder an die Gegenwart richten wird. „Das Tagesgelärm der augenblicklichen Wortführer der Aktualität ist so knabenhaft, daß es jede wahrhafte Widerlegung ausschließt; nur völlige Kenntnislosigkeit von dem, was überhaupt Dichtung ist, und wo die Dichtung ihre Kraft birgt, gibt sich in dem ganzen Lärm kund.“ (Jensen.) Gleichwohl darf das nicht verkannt werden, daß der historische Roman in eben dem Maß an Lebenskraft verlor, als seine litterarischen Pfleger der Forderung, daß auch er gelebt, innerlich erlebt und angeschaut sein müsse, zu gunsten irgend welcher Neben- und Unteraufgaben auszuweichen begannen. In dem in Rede stehenden Jahrfünft wurde die historische Romanfolge „Die Ahnen“ von Gustav Freytag, in deren letzten Teilen die poetischen Motive und Gestalten empfindlich hinter die kulturhistorischen und politischen Momente zurücktraten, zu Ende geführt. Starkes und eignes Leben, glänzende Phantasie, die doch allzusehr auf den Bildungsvoraussetzungen eines gelehrten und vielwissenden Geschlechts beruht und darum in ihren Motiven und Gestalten oft der Einfachheit entbehrt, offenbaren die neuern historischen Erzählungen von Konrad Ferdinand Meyer: „Die Richterin“, „Die Hochzeit des Mönchs“, „Die Versuchung des Pescara“. Von Ad. Stern erschien der Roman „Camoëns“, der die historisch-dunkle und rätselvolle spätere Lebensgeschichte des großen portugiesischen Heldendichters poetisch zu erhellen unternimmt. Weitere historische Romane waren: „Der große Kurfürst in Preußen“ von Ernst Wichert, „Aphrodite“ und „Nero“ von Ernst Eckstein, „Die Gred“ von Georg Ebers, „Das Schatzhaus des Königs“, „Octavia“ von Wilhelm Walloth, die Folge kleiner Romane aus der Völkerwanderung von Felix Dahn, denen allen gegenüber das Wort gilt, daß keine poetische Gattung der Welt aus andern als poetischen Gründen vorhanden sein darf, daß der schlechteste Dienst, der sich dem historischen Roman und der historischen Novelle leisten läßt, der ist, sie für eine Art didaktischer Dichtung in Prosa zu erklären. Nur wo der historische Roman Anlaß wird, gewisse Seiten des Lebens, gewisse Erscheinungen und Empfindungen, gewisse Gestalten darzustellen, ohne welche das poetische Bild der Menschheit wesentlich ärmer sein würde, nur wo ein Stück Leben entweder ausschließlich oder doch mit ergreifender Stärke und Deutlichkeit gerade nur am historischen Vorgang oder auf historischem Hintergrund darzustellen ist, kann der historische Roman mit dem, der das allen vertraute Leben des Tags erfaßt, in die Schranken treten.

Das Gleiche gilt vom ethnographischen Roman, in welchem ein fremdartiges Volksdasein und Landschaftsleben die poetischen Motive entweder bestreiten oder verstärken muß. Die bedeutendste Erscheinung auf diesem Gebiet war „Ein Kampf ums Recht“ von Karl Emil Franzos, in welchem das alte tragische Motiv vom versagten Recht und der daraus hervorgehenden Gewaltthat, auf die Verhältnisse des europäischen Ostens, Halbasiens, angewendet, eine Erfindung und Handlung der wirksamsten Art ergab. Vom Verfasser des gleichen Romans traten außerdem die Erzählung „Die Schatten“ und „Tragische Novellen hervor.

Die Novelle, die noch immer vielseitig, um nicht [228] zu sagen allseitig gepflegt wird, hat einen ihrer ersten deutschen Meister in Theodor Storm verloren, nicht ohne daß derselbe noch in seinen letzten erzählenden Schöpfungen, namentlich in der ergreifenden, lebenswarmen und tiefen Novelle „Der Schimmelreiter“, als ganzer Dichter und echter Erzähler sich erwies. Von sonst anerkannten Vertretern der künstlerischen, poetisch-lebensvollen Novelle veröffentlichte Paul Heyse wiederum einige Bände seiner Novellen, unter denen einzelne (wie „Himmlische und irdische Liebe“) zu den besten Gebilden des Dichters zu rechnen sind. Der immer jugendfrische H. W. Riehl gab in der Sammlung „Lebensrätsel“ aufs neue ein paar seiner besten Erzählungen. Von entschiedener poetischer Begabung zeugten die „Neuen Dorf- u. Schloßgeschichten“ von Marie Ebner-Eschenbach. Neben der anerkannten Novellistin verdienen die prächtigen „Hamburger Novellen“ von Ilse Frapan, die auf weimarischen Traditionen beruhenden höchst lebendigen „Ratsmädelgeschichten“ von Helene Böhlau mit aller Anerkennung hervorgehoben zu werden. Ihnen schlossen sich die schwäbischen „Aus meiner Heimat“ von H. Villinger an. In „Wolken und Sonnenschein“ sammelte ein Dichter von Kraft und Eigentümlichkeit wie Lud. Anzengruber, der trotz des stärksten Realismus die Poesie nicht verleugnet, seine leider letzten Dorfgeschichten. Mit allen Reizen poetischer Kleinmalerei wirkten die „Vorstadtgeschichten“ von Heinrich Seidel, die „Waldnovellen“ von Jul. Stinde, die Novellen „Schicksale“ von Ferd. v. Saar, die „Kleinen Geschichten“ von Richard Leander-Volkmann. Aus der modernen Gesellschaftswelt schöpfte in seinen „Neuen Novellen“ Ernst v. Wildenbruch, in einer Reihe von einzelnen und gesammelten Novellen Alfred Friedmann und zahlreiche andre; in den Kreis der Dialektpoesie trat Richard Weitbrecht mit „Allerhand Leut’, Schwobagschichta“ zurück.

Geschichtliche und biographische Litteratur.

Auf dem Gebiet der Litteratur-, der Kunstgeschichte, der Geschichte und Biographie herrschte zwar auch in der vorliegenden Periode der Trieb zur Einzelforschung, zur genauen urkundlich nicht bloß belegten, sondern in den Urkunden selbst vorgeführten Wahrheit entschieden vor und schränkte die Zahl der Werke, die nach dem Vorzug künstlerischer Darstellung strebten, mehr und mehr ein; gleichwohl sind auch aus neuester Zeit eine Anzahl Werke zu verzeichnen, die der Nationallitteratur im engern Sinn eingereiht werden müssen. Voran sieht hier Heinrich v. Treitschkes „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“, die bis zum Schluß des vierten Bandes gedieh, gleich sehr durch die Macht und den Stolz vaterländischer Gesinnung, die warme Lebensfülle, den Farbenreichtum ihrer Erzählung, den Reiz eines ganz individuellen, männlichen Stils, den Scharfblick eines gebornen Politikers und die ganze Gründlichkeit eines ernsten Forschers ausgezeichnet, die Entwickelung des geistigen wie die des realen Lebens der Nation mit gleichem Anteil begleitend, aber freilich weit von der kühlen Objektivität entfernt, die das Ideal so vieler Historiker geworden ist. Ein gewaltiges Stück vaterländischer Geschichte behandelte Heinrich v. Sybel in „Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I.“ hauptsächlich aus den preußischen Staatsakten. Ein durch Glanz der Darstellung und die geistige Beherrschung eines unsäglich ungleichen und bröckeligen Materials ausgezeichnetes Werk war die „Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter“ von Ferd. Gregorovius. Unter den historischen Biographien verdient vor allen „Scharnhorst“ von Max Lehmann, ferner das Buch „König Friedrich von Württemberg und seine Zeit“ von A. Pfister, eine verspätete Apologie des ersten Schwabenkönigs, hervorgehoben zu werden. Historische Erinnerungen (Memoiren) von Männern, die selbst im Mittelpunkt großer Ereignisse und Wandlungen gestanden haben, traten ungewöhnlich zahlreich hervor. Das bedeutendste Werk dieser Art sind die im Auftrag der Familie von Fr. Nippold herausgegebenen „Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen“, deren beide erste Bände die Zeit von 1771 bis 1811 umfassen. Inhaltlich wichtig und durch Geist und Lebhaftigkeit der Darstellung ausgezeichnet sind die Erinnerungen des regierenden Herzogs Ernst II. von Koburg-Gotha: „Aus meinem Leben und meiner Zeit“, neben denen die Aufzeichnungen des sächsischen Diplomaten Grafen Vitzthum: „Berlin und Wien“, „St. Petersburg und London“, „London, Gastein und Sadowa“, obschon frisch und anschaulich geschrieben, die Erinnerungen von Karl Biedermann: „Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte“, die „Lebenserinnerungen“ von Fr. Ötker in die zweite Linie traten. Mehr der Litteratur als der Geschichte gehörten die interessanten „Erinnerungen aus meinem Leben“ von Gustav Freytag und „Ein halbes Jahrhundert“, Aufzeichnungen des Grafen F. A. von Schack, die „Jugendjahre“ von Wilhelm Wackernagel, die „Jugendeindrücke u. Erlebnisse“ von Georg Weber, die „Geschichte meines Lebens“ von Alfred Meißner sowie die „Lebenserinnerungen“ von Levin Schücking an. Die „Stationen meiner Lebenspilgerschaft“ von R. Hamerling, „Aus dem Leben und den Erinnerungen eines norddeutschen Poeten“ von Heinrich Zeise zeigen minder scharfes Gepräge, um so schärferes die von Felix Bamberg herausgegebenen „Tagebücher“ des Dichters Friedrich Hebbel, Aufzeichnungen, die zu den wichtigsten und unvergänglichsten Zeugnissen der deutschen Litteratur- und Kulturgeschichte der Jahre von 1840 bis 1863 zählen. Nicht minder wichtig und fesselnd, obschon aus einer völlig andern Welt stammend, eine geradezu gegensätzliche Natur offenbarend erschienen die „Lebenserinnerungen eines deutschen Malers“ von dem liebenswürdigen Ludwig Richter, die denn auch außerordentliche Verbreitung fanden.

Die Briefe, welche neu veröffentlicht wurden, reichten freilich zum großen Teil in die ersten Jahrzehnte dieses, ja in die letzten des vorigen Jahrhunderts zurück. Der Goethelitteratur gehörten außer vielen im „Goethe-Jahrbuch“ zuerst veröffentlichten und nun noch in die chronologische Sammlung aller Goethebriefe in der Weimarischen Ausgabe der Werke übergehenden Briefe, der „Briefwechsel zwischen Goethe und Carlyle“, der „Briefwechsel zwischen Goethe und Rochlitz“ reihen sich der großen Zahl verwandter Veröffentlichungen völlig ebenbürtig an. Weiter zurück reichen „Geblers und Nicolais Briefwechsel“ (hrsg. von Werner) und „Herders Briefwechsel mit Nicolai“ (hrsg. von O. Hoffmann). Der Gegenwart nähern wir uns mit „Friedr. Schlegels Briefen an seinen Bruder August Wilhelm“, dem „Briefwechsel zwischen Jakob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus“, dem „Briefwechsel Andersens mit dem Großherzog von Sachsen-Weimar“, dem „Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike“ und mit „Geibels Briefen an den Freiherrn von der Malsburg“. Neben die Briefe der Gelehrten und Schriftsteller traten diesmal in bedeutsamer Weise die Künstlerbriefe. Außer den „Jugendbriefen“ von Robert Schumann beschäftigte der „Briefwechsel zwischen Richard Wagner und Franz Liszt“ große Kreise des deutschen [229] Publikums weit über die musikalischen Kreise hinaus. Anschaulich, so bedeutend als liebenswürdig sind die „Briefe aus Italien“ von Julius Schnorr v. Carolsfeld, die in die römisch-deutsche Künstlerkolonie des zweiten und dritten Jahrzehnts unsers Jahrhunderts zurückversetzen. Eine Natur und ein Frauenleben von ungewöhnlicher Vorzüglichkeit erschließen die in dem Buch „Emma Förster“ gesammelten Briefe der Tochter Jean Pauls. Nach Inhalt und Reiz der Form gleich wertvoll ist der „Briefwechsel der Bildhauer Fr. Rauch und Ernst Rietschel“, herausgegeben von Karl Eggers, der auch „Rauch und Goethe, urkundliche Mitteilungen“ veröffentlichte. Die „Reisebriefe K. M. v. Webers an seine Gattin“ waren zum größern Teil schon in der Weber-Biographie von M. M. v. Weber mitgeteilt. Als völlig neu erschienen die „Briefe zwischen Mendelssohn und Moscheles“, „Ferdin. David und die Familie Mendelssohn“. Der „Briefwechsel und die Tagebuchblätter“ von Arnold Ruge, das durch seine brieflichen Mitteilungen allein wichtige Buch „Zeit und Menschen“ von Feod. Wehl, auch das zu einem vollen Lebensbild ausgestaltete, aber durch Tagebuchblätter und Briefe gehaltreiche Buch „Aus dem Leben der Dichterin Amalie v. Helvig“ von Henriette v. Bissing nähern sich schon mehr der ungeheuern Anzahl von Werken, die durch ihren Stoff, durch Mitteilung von Material ein gewisses Interesse beanspruchen, ohne der höhern Forderung in sich geschlossener künstlerisch reifer Darstellung zu genügen. Auf dem Gebiet der litterarischen Biographie sind eine Reihe von Werken zu verzeichnen, die diesem Ideal besser entsprechen. Das klassische biographische Werk „Herder“ von R. Haym gelangte mit seinem zweiten Teil zum erfreulichsten Abschluß. Erich Schmidts „Lessing“, Franz Munckers „Klopstock“ und ganz neuerdings Paul Nerrlichs umfassende Biographie „Jean Paul“ legten nicht bloß vom rühmlichen Forscherfleiß, sondern auch von Geschmack und Darstellungskunst ihrer Verfasser Zeugnis ab. Schiller erhielt in O. Brahm, R. Weltrich, E. Minor neue Biographen; Goethes Leben und Dichten ward von dem Jesuiten A. Baumgartner in das Licht einer Auffassung gerückt, nach der es überhaupt eine Todsünde ist, der römischen Kirche und ihrer Weltanschauung nicht gedient zu haben. Aus der sonstigen biographischen Litteratur über Goethe sind die „Abhandlungen zu Goethes Leben und Werken“ von H. Düntzer, „Goethe in der Epoche seiner Vollendung“ von O. Harnack und die neuen „Goethestudien“ von V. Hehn hervorzuheben. Der Geschichte der klassischen und romantischen Periode der deutschen Litteratur gehörten auch „Salomon Geßner“ von Heinr. Wölfflin, „Chr. Fr. Daniel Schubart“ von Hauff, „Wieland und Reinhold“ von R. Keil, „J. Gaudenz von Salis-Seewis“ von Ad. Frey, „G. L. Kosegarten“ von L. Franck, „Novalis’ Leben, Dichten und Denken“ von Schubart an. Unter den Biographien neuerer Dichter war die des allbeliebten J. V. v. Scheffel von Johannes Prölß, obwohl durch die Aufnahme unverarbeiteten Materials allzusehr in die Breite gezogen, die eingehendste und liebevollste. Durch eine biographische Meisterleistung erhielt Friedr. Althaus das Gedächtnis seines früh verschiedenen Bruders, des Dichters und Publizisten Theodor Althaus. Auch „Emanuel Geibel“ von Litzmann, „Heine“ von R. Prölß, „Annette v. Droste-Hülshoff“ von Hüffer, „Ottilie Wildermuths Leben“ von ihren Töchtern Agnes Willms und Adelheid Wildermuth, „Theod. Storm“ von Schütze sind hier zu nennen. Biographien hervorragender Gelehrten waren „H. W. J. Thiersch’ Leben“ von P. Wigand (mit interessanten autobiographischen Mitteilungen), „Rich. Lepsius“ von G. Ebers, „Hermann Hettner“ von Ad. Stern. Von deutschen Biographien ausländischer Dichter und Denker kam das große biographische Buch „Frau v. Staël“ der Lady Blennerhasset (gebornen Gräfin Leyden) zum Abschluß. Das Buch über „L. Holberg und seine Zeitgenossen“ von Georg Brandes und das über „Beaumarchais“ von A. Bettelheim erregten mit Recht die Teilnahme litterarischer Kreise. Von R. Marenholtz erschienen zwei Bücher über „Voltaire“ und „J. J. Rousseau“, von W. Kreiten („Mitglied der Gesellschaft Jesu“) Biographien von Voltaire und Molière, von dem Ultramontanen Sebastian Brunner ein warm geschriebenes christliches Lebensbild aus dem 13. Jahrh.: „Fra Jacopone da Todi“, von H. Conrad eine interessante Studie: „W. M. Thackeray“ und eine andre über „G. Eliot“. Endlich ist auch die ursprünglich englisch geschriebene Chopin-Biographie unsers Landsmannes F. Niecks zu erwähnen, die in W. Langhans einen Übersetzer fand. Unter den zahlreichen Essays sei der „Zwölf Bilder aus dem Leben“, der letzten Veröffentlichung Fanny Lewalds, gedacht.


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 185190
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[185] Deutsche Litteratur. Eine Jahresübersicht des litterarischen Lebens und der litterarischen Produktion kann, wenn sie nicht zur reinen Aufzählung von Schriftstellernamen und Büchertiteln werden soll oder eines von jenen weit auseinander liegenden Gnaden- oder Jubeljahren der Dichtung behandelt, in denen sich eine Reihe hochbedeutender Erscheinungen zusammendrängt, kaum anders als gewisse allgemeine Sätze und Beobachtungen, die im vergangenen Jahre gegolten haben und im nächsten wiederum gelten werden, wiederholen. Das seit unsrer letzten Übersicht der deutschen Litteratur verflossene Jahr zeichnete sich leider minder durch die Erweckung neuer, vielversprechender Talente, durch Vollendung oder Hervortreten besonders epochemachender Schöpfungen als durch die Verluste an hervorragenden Vertretern denkwürdig aus, die die deutsche Litteratur im gedachten Zeitraum betroffen haben. Rasch nacheinander sind Ludwig Anzengruber, Gottfried Keller, der greise Eduard v. Bauernfeld, Gustav zu Putlitz, von vielen minder gekannten Namen zu schweigen, vom Tode entrafft worden; einige von ihnen an der spätesten Grenze des Lebens und poetischer Schöpferkraft, andre, wie Anzengruber, aus der Mitte ihres Strebens und ihrer Thätigkeit, in allen aber verlor das deutsche litterarische Leben der Gegenwart maßgebende und vorbildliche Persönlichkeiten, deren Zahl sich mehr und mehr zu lichten beginnt. Muß ein falscher Autoritätsglaube und eine chinesische Autoritätsgeltung unbedingt jedem geistigen und künstlerischen Gebiet zum Unheil gereichen, so hat umgekehrt der völlige Mangel bewährter und allgemein anerkannter geistiger Autoritäten leicht eine gewisse Anarchie, eine Koterieherrschaft anspruchsvoller Mittelmäßigkeiten im Gefolge, die man der deutschen Litteratur künftiger Jahrzehnte unmöglich wünschen kann. Mit gutem Rechte richtet sich die Hoffnung der ernsten Freunde der Litteratur auf die kräftigere Entfaltung mancher Begabung, die mit einzelnen Anläufen Bedeutendes verheißen hat, ohne doch bisher zur Bedeutung im höchsten Sinne des Wortes gelangt zu sein. Es ist nutzlos, fortgesetzt auf die Flut der Überproduktion zu schelten, da diese einerseits mit geschäftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen, namentlich mit der Unzahl der Zeitungen und Zeitschriften, anderseits mit dem gesteigerten, geradezu nervösen Abwechselungsbedürfnis der Zeit im Zusammenhang steht. Es ist ein Irrtum, an wachsende Lesesucht und Bücherleidenschaft zu glauben, und wenn in diesen Dingen ein statistischer Nachweis möglich wäre, würde sich wahrscheinlich eine starke Abnahme des Lesebedürfnisses herausstellen, die stärkere Teilnahme an den Tageserscheinungen der Litteratur wird durch beständig größere Gleichgültigkeit gegen die wertvollen und bleibenden Schöpfungen der Vergangenheit erkauft. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, daß der eifrigste Leser nicht im stande sein wird, auch nur den zehnten Teil der Neuheiten der Nationallitteratur im engern Sinne, der in Deutschland alljährlich auf den Büchermarkt geworfen wird, zu genießen, um zu dem bezeichneten Resultat auch noch dasjenige einer unerfreulichen Zersplitterung der Teilnahme und des Urteils zu erhalten. Der Mangel maßgebender kritischer Zeitschriften, die wenigstens in den Kreisen der Bildung ein gewisses Gleichmaß zu fördern vermöchten, ist gleichfalls so oft beklagt wie die Überproduktion; am Ende aber muß man zugestehen, daß eine sachliche und eingehende Würdigung der Massenerscheinungen die Kräfte einer litterarischen Zeitschrift beinahe ebenso sehr übersteigen würde wie die Kraft des einzelnen Beurteilers.

Lyrische und epische Dichtung, Drama.

Bemerkenswert ist die Thatsache, daß eine gewisse Teilnahme an den Darbietungen der lyrischen Dichtung, die eine Zeitlang vollständig geschwunden schien, sich wieder zu zeigen beginnt. Auf die ersten Regungen dieser Teilnahme, die immer noch täuschende sein können, gründet sich die Wiederbelebung des Cottaschen „Musenalmanachs“, der am Schlusse des Jahres unter Otto Brauns Redaktion zum erstenmal neu erschienen ist und fortgesetzt werden soll. Unter den ältern Dichtern, deren Lyrik eine allmähliche Verbreitung gewinnt, ließ Theodor Fontane, dessen lebensvolles und echtes, dazu anspruchsloses Talent sich neuerdings einer lang versagten Würdigung erfreut, seine „Gedichte“ in neuer, eigentümlich und erfreulich vermehrter Auflage erscheinen. Von Hermann Lingg erschien eine neue Sammlung von Gedichten („Jahresringe“), welche die Eigenart und die erkannten Vorzüge des Poeten wieder aufweisen, einzelne Perlen Linggscher Lyrik einschließt, aber eine weitere innere Entwickelung oder Steigerung nicht bekundet. Von anerkannten Lyrikern veröffentlichte Adolf Wilbrandt „Neue Gedichte“, Wilhelm Jensen eine Sammlung: „Im Vorherbst“, Albert Möser eine vierte lyrische Sammlung: „Singen und Sagen“, und eine mannigfach umgearbeitete, in ihrem formellen Werte noch gesteigerte Neuauflage der ersten Sammlung seiner „Gedichte“. Richard Volkmann-Leander hinterließ als Scheidegruß „Alte und neue Troubadourlieder“, in denen die liebenswürdige und sonnige Natur des Lyrikers noch einmal zu Wort kam. [186] Hervorzuheben sind ferner die „Gedichte“ von Fr. Eggers, die von Felix Dahn eingeleiteten Gedichte von L. Rafael, die Sammlung „Homo sum“ von Julius Hart, in der freilich die Reflexion, die nicht vollständig in poetisches Fleisch und Blut umgewandelt ist, eine beträchtliche Rolle spielt, der Dichter aber in einer Einleitung: „Die Lyrik der Zukunft“, seine besondere Weise apologetisch vertritt. Der Spruchpoesie gehören die Sprüche und Stachelreime Otto v. Leixners: „Aus der Vogelschau“, die „Modernen Xenien“ Ernst Ziels und die satirischen Gedichte „Mit der Diogeneslaterne“ von Albert Gehrke an. Die revolutionär-pessimistische Flüchtlingspoesie vertritt mit entschiedenem Talent und wilder Leidenschaftlichkeit Karl Henckell in seinem „Diorama“.

Von den zahlreichen epischen Dichtungen, die meist wohl besser als gereimte Erzählungen zu bezeichnen wären, haben nur einige wenige die Teilnahme eines größern Publikums gewinnen können. Vielleicht verbreitet sich nichts so langsam als größere erzählende Gedichte. Ad. Sterns „Johannes Gutenberg“, von dem eine neue durchgesehene Auflage erschien, hat zu diesem Erfolg 17 Jahre gebraucht; ein Gedicht wie Konr. Ferdinand Meyers „Engelberg“ ist im gleichen Zeitraum erst in dritter, die prächtigen „Seegeschichten“ von Heinrich Kruse erst in zweiter Auflage erschienen. Eine Ausnahme bilden die erzählenden Dichtungen von Jul. Wolff, die durch eine neue: „Die Pappenheimer“, ein Reiterlied, vermehrt wurden und gleich Scheffels „Trompeter von Säckingen“ eine Reihe von Nachahmern hinter sich dreinziehen. Der Landsknechtston spielt in der erzählenden Dichtung der neuesten Zeit eine große Rolle; Gedichte, wie „Der Helfensteiner“, ein Sang aus dem Bauernkrieg von Joseph Lauff, tauchen immer häufiger auf, und die Mode hat am Vorwalten dieses Tones so gut ihren Anteil wie an der Vorliebe für die Butzenscheiben bei der Hausausstattung. Einen Versuch, einen modernen Stoff in ein episches Gedicht zu zwingen, unternahm Julius Grosse in seinem „Volkramslied“, dem freilich die epische Einheit des Stils und die lebensvolle Unmittelbarkeit gebricht. Vorzügliche kleinere erzählende Dichtungen bot Adolf Pichler in der Sammlung „Neue Marksteine“. Mit Dichtungen, wie „Nikephoros“ von Fritz Löwe, eine Erzählung in Versen aus der Zeit der Christenverfolgungen, „Die Wogenbraut“ von Adolf Volger, gerät man schon auf das Gebiet der wohlgemeinten Versuche. Eine besondere, mehr charakteristische als poetisch wertvolle, künstlerisch reife Leistung war das Gedicht „Eine Fahrt ins neue Deutschland“ von Armin Meinrad, in welchem ein aus Amerika wiederkehrender Flüchtling von 1849 seine Eindrücke von unsern politischen Zuständen derb und drastisch schilderte. An poetischen Übersetzungen hat es gleichfalls nicht gefehlt, die wertvollsten darunter waren die vier Bände „Italienische Dichter“, in denen Paul Heyse die Resultate langjähriger Beschäftigung mit der italienischen Dichtung, Studien und Meisterstücke der Übersetzungskunst vereinigte.

Die dramatische Dichtung zeigt die alten Gegensätze eines Litteraturdramas, das auf die Bühne Verzicht leistet, aber schon seit Jahrzehnten nur noch in den seltensten Fällen ein lesendes Publikum gewinnen kann, und eines bühnengerechten Schau- und Lustspiels von so ausgeprägter poetischer und litterarischer Wertlosigkeit, daß bei den meisten Werken dieser Gattung und dieses Stils auf die Verewigung durch den Druck verzichtet wird. Unverkennbar aber ist man dieses Zustandes allseitig müde, und in dem Maße, wie sich die Aussichten der akademischen Dramatiker verringern, die lediglich den Lebensinhalt früherer Tage immer neu wiederholen, um gewisse Formen zu retten, wird man auch der ganz gehaltlosen, ausschließlich auf die Bühnenkonvenienz und Rollentradition gestellten Theaterstücke müde, deren Leere und Nichtigkeit man sich kaum mehr in dem zum bloßen Schwanke herabgebrachten Lustspiel und der Posse gefallen läßt. Zwischen beiden äußersten Polen zeigen sich Keime und Ansätze einer wirklichen Gestaltung, Werke, die freilich vielfach noch den Charakter des Experiments tragen, aber den Glauben an eine Neubelebung auch unsrer dramatischen Dichtung aufrecht erhalten. Daß diese Neubelebung von der Freien Bühne (s. d.) oder der Volksbühne ausgehen wird, läßt sich in Zweifel ziehen. Versuche, wie die von Gerhard Hauptmann: „Vor Sonnenaufgang“ und „Das Friedensfest“, von K. Bleibtreu: „Ein Faust der That“, „Das Halsband der Königin“ (Tragikomödie), Max Halbe: „Ein Emporkömmling“, Arno Holz und Johannes Schlaf: „Die Familie Selicke“, können Anlässe zu litterarischer Diskussion bieten, aber keine Eindrücke hinterlassen, wie sie von der Bühne auch der naturalistisch Gestimmte fordert. Man braucht deshalb noch gar nicht gering von diesen Versuchen zu denken, aber unter allen Umständen entsprechen dieselben keinem Gefühl u. Bedürfnis der Massen. Näher diesem Bedürfnis kommen offenbar schon H. Sudermann mit seinen Dramen „Die Ehre“ und „Sodom“ sowie Heinr. Bulthaupt mit „Der verlorne Sohn“. Von Ernst v. Wildenbruch erschienen zwei in ihrer Stoffwahl und Behandlung so grundverschiedene Dramen, daß man in einer andern als unsrer experimentierenden Periode sie schwerlich einem und demselben Dichter zugeschrieben haben würde. Während „Der Generalfeldoberst“, ein phantastisch-historisches und patriotisches Drama aus dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges, sich den Versuchen nähert, der historischen Dramatik lyrische Frische und lebendige Beweglichkeit durch eine neue Versbehandlung zurückzugewinnen, stellt „Die Haubenlerche“ ein peinliches Stück modernen Lebens dar und ist ohne alle Frage von den Bestrebungen des Naturalismus beeinflußt. Unter den ältern dramatischen Dichtern hat Paul Heyse mit gewohnter Unermüdlichkeit zwei neue Schau- und Lustspiele: „Ein überflüssiger Mensch“ und „Gott schütze mich vor meinen Freunden“, und das Volksschauspiel „Weltuntergang“ geschaffen; von Ad. Wilbrandt erschien ein dramatisches Gedicht: „Der Meister von Palmyra“, und ganz neuerdings ein Lustspiel: „Der Unterstaatssekretär“, von O. Gensichen eine Tragödie: „Michael Ney“, von Fr. Koppel-Ellfeld ein „Albrecht der Beherzte“ (Gelegenheitsdrama zum 800jährigen Jubiläum des Hauses Wettin), von A. Weimar eine „Vittoria Accoramboni“.

Der Volksbühne, deren Existenz zur Zeit noch eine bestrittene ist, und die ein festes Heim nur in dem neuerrichteten Bühnenhaus in Worms gefunden hat, von H. von Maltzahn in der Schrift „Die Errichtung deutscher Volksbühnen“ vertreten, von R. Prölß in „Das deutsche Volkstheater“ bekämpft wurde, gehörten die inzwischen im Buchhandel veröffentlichten Lutherschauspiele von Otto Devrient: „Luther“, und von A. Trümpelmann: „Luther und seine Zeit“, das Schauspiel „Hutten und Sickingen“ von A. Bungert, „Gustav Adolf in Erfurt“ von Ottomar Lorenz an. Alle diese und ähnliche poetischen Versuche wenden sich nicht an die stehenden Theater, sondern an eine für einen bestimmten Aufführungszweck und ausschließlich für diesen zusammentretende Spielgenossenschaft, die namentlich in [187] kleinern Städten den kläglichen Liebhaberbühnen den Garaus machen und Ziele erreichen könnte, die immerhin bedeutend wären. Unter dieser Voraussetzung brauchte die theatralische Berufskunst die Konkurrenz dieser Volksbühne, die immer nur eine Festbühne zu sein vermöchte, nicht zu fürchten, und alles käme darauf an, daß die Dichtung für diese Art der theatralischen Unterhaltung von vornherein nur in den besten Händen ruhte und die dramatische Poesie nicht etwa durch eine Folge von poetisch kraftlosen, lediglich aus Situationsbildern und lyrisch-rhetorischen Erläuterungen bestehenden Volksschauspielen gefährdet werde, die am Ende so verderblich wirken müßten wie die bloßen Fabrikate der sogen. praktischen Bühnenschriftstellerei. Von vornherein würde es nicht auszuschließen sein, daß die Volksbühne mit ihren Aufführungen in den Dienst gewisser patriotischer, religiöser und Parteitendenzen träte, eine Gefahr, die inzwischen noch lange nicht so groß ist als die des seelenlosen Schlendrians schlechter Theater.

Roman und Novelle.

Nach wie vor stehen der Roman und die Novelle im Vordergrund aller „belletristischen“ Produktion in der deutschen wie in allen andern europäischen Litteraturen; aus rein äußerlichen wie innerlichen Gründen wächst die Zahl der Prosa-Epen ins Ungemessene, und die Masse entzieht sich schon längst der Beurteilung und jeder andern Gruppierung als der nach dem Umfang der einzelnen Werke. Zum Glück ist es noch immer möglich, die Darbietungen, die sich in einer oder der andern Weise über die Menge erheben, leicht zu unterscheiden, obschon die flache Alltagsbelletristik mit Zuhilfenahme der sozialen Fragen und des modischen Pessimismus einige Stufen höher zu kommen versucht, während auch die Berufenen durch eine Vielproduktion, die mehr in die Breite als in die Höhe strebt, unwillkürlich hinabgleiten. Wenn die Prosa an sich der Gefahr schnellerer Veraltung ausgesetzt ist als die poetische Darstellung in gebundener Rede, so läuft die neueste Erzählungskunst diese Gefahr doppelt und dreifach. Im Drange, die fieberische Hast und Erregung des modernen Lebens wiederzugeben, mit neuen Reizmitteln die erschlafften Nerven der Lesewelt aufzustacheln, gelangt ein Stil voll nervöser Unruhe, voll kurzatmiger Ausrufungen, voll jäher Sprünge und übergangsloser Gegensätze zur Herrschaft, der dem Bestand und der künftigen Geltung und Wirkung selbst gehaltreicher und interessanter Werke unsrer Tage Schlimmes weissagt.

Der historische Roman droht sich mehr und mehr in den archäologischen aufzulösen, der ohne eigentlich poetische Aufgabe, ohne poetisches Motiv im engern Sinne sich die Wiedergabe entschwundener Zeiten und Zustände zur ausschließlichen Aufgabe setzt. Ein leiser Zug zur Überschätzung des historischen Hintergrundes und der wissenschaftlich belegbaren Sittenschilderung geht selbst durch ein wahrhaft poetisches Meisterwerk mit lebendiger Gestaltung und tragischer Stimmung, wie „Die Versuchung des Pescara“ von K. F. Meyer, hindurch. Von den Schriftstellern, die in einer gewissen regelmäßigen Folge historische Romane zu veröffentlichen pflegen, ließ Felix Dahn eine geschichtliche Erzählung aus dem Jahre 1000 v. Chr.: „Weltuntergang“, Ernst Eckstein „Die Numidierin“, Novelle aus dem altrömischen Afrika, W. Walloth die historischen Römerromane: „Tiberius“ und „Ovid“, Georg Ebers „Josua“, eine Erzählung aus biblischer Zeit, erscheinen. Von sonstigen historischen Romanen wären „Sinkende Zeiten“, aus den Tagen des letzten Hansakriegs, von Ernst Jungmann, „Apollonia von Celle“, eine Familiengeschichte aus der Reformationszeit, von A. von der Elbe (Auguste von der Decken), „Der tolle Christian in Paderborn“, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und mit katholischer Tendenz, von H. Keiter, „Die letzten Mönche vom Oybin“, aus dem 16. Jahrh., von Johannes Renatus zu nennen.

Die Romane aus der Gegenwart überwiegen die historischen nicht nur der Zahl nach. Alle Gärung und aller innere Widerspruch wie das reiche, aber verworrene äußere Leben unsrer Zeit lagert sich in einer Fülle von Romanen ab, die, bald naiv auf die überlieferte Erfindung und Kompositionsweise aufgebaut, bald auf die vergleichende Beobachtung gestützt, mannigfache Lebensbilder, aber nicht, wie der Roman früherer Tage, ein Weltbild zu geben versuchen. Kein einziger unter den zahlreichen Romanen des letzten Jahres nimmt den Anlauf, ein Weltbild aufzustellen, selbst Romanfolgen verzichten hierauf, und der Spezialismus, der das Losungswort bereits nicht mehr in der Wissenschaft allein ist, scheint sich auch der Kunst bemächtigen zu wollen. Allerdings ist nur ein ganz geringfügiger Teil der neuesten Erzähler von einem eigentlich künstlerischen Geiste beseelt, der innerhalb des Rahmens seiner Aufgabe und seiner Begabung die Vollendung sucht und erstrebt, die Mehrzahl begnügt sich mit der Wirkung des Augenblicks und ist sich der Kurzlebigkeit ihrer Schöpfungen voll bewußt. Die poetisch wertvollsten, stimmungsreichsten und durch ihre Form eine längere Dauer verheißenden Romane erweisen sich meist als erweiterte Erzählungen. Zu diesen rechnen wir mehr oder minder: „Der eiserne Rittmeister“ von Hans Hoffmann, wohl der vorzüglichste Roman des verflossenen Jahres, „Unsühnbar“ von Marie Ebner-Eschenbach, von welcher Dichterin auch ein Band neuer vorzüglicher Novellen: „Miterlebtes“, erschien, die talentvollen, obschon noch allzusehr unter dem Banne der naturalistischen Doktrin stehenden Romane von Hermann Sudermann: „Der Katzensteg“ und „Frau Sorge“, „Frau Minne“, Künstlerroman von Theophil Zolling, „Die Bergpredigt“ von Max Kretzer, „Wahrheit“ von Karl Frenzel, die beiden neuen Romane von Wilhelm Jensen: „Ein Doppelleben“ und „Die Kinder vom Ödacker“, von denen besonders der letztere von den eigentümlichen Vorzügen der Jensenschen Erzählungskunst getragen erscheint, „Der Lar“, eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte von Wilhelm Raabe, wiederum eines jener halb humoristischen, halb elegischen Gebilde, in denen der Dichter zur Meisterschaft gediehen ist.

Eine immer wachsende Anzahl von Romanen und Novellen bezeichnet sich ausdrücklich als Berliner Geschichten oder haben, wenn sie sich nicht so bezeichnen, die Reichshauptstadt, ihre Gesellschaftskreise und Typen zum Mittelpunkt der Darstellung gemacht. Die Berechtigung wie die Gefahr des Berliner Romans liegen so auf der Hand, daß es müßig erscheint, sie immer wieder hervorzuheben. Am Ende befreit die Besonderheit des Stoffes unter keinen Umständen von den Gesetzen der Kunstgattung, und an Erfindungen und Ausführungen, die in der Reichshauptstadt spielen, lassen sich keine andern Maßstäbe anlegen als an Erzählungen überhaupt. Unter allen Schriftstellern, die im Augenblick den Berliner Roman pflegen, ist Theodor Fontane durch wahres poetisches Talent und die genaueste Kenntnis aller Zustände und Menschenklassen Berlins offenbar der berufenste, und sein kleiner Roman „Stine“ überragt durch Lebendigkeit und Feinheit der Darstellung ganze Reihen von Romanen, die sich abmühen, getreue Sittenbilder [188] zu geben, und entweder ganz einseitig und unzulänglich sind, oder durch tendenziöse Absichtlichkeit der poetischen Wirkung völlig verlustig gehen. Zu den bessern Werken der Gattung zählen: „Dunst aus der Tiefe“ von Hermann Heiberg, „Adams Söhne, Evas Töchter“ von E. Vely. Daran schließen sich der durch einen Prozeß bekannt gewordene Roman „Die Alten und die Jungen“ von Konrad Alberti, „Im Liebesrausch“ von Heinz Tovote und zahlreiche Nachahmungen, die hier nicht aufgeführt zu werden brauchen. Ganz wohlthuend berührt es gegenüber dem Grundton fast all dieser Berliner Geschichten, wenn Jul. Rodenberg in dem kleinen humoristischen Roman „Herrn Schellbogens Abenteuer“ ein Stücklein aus dem alten Berlin zum besten gibt.

Aus der großen Zahl der sonst erschienenen, nicht gerade in Berlin spielenden und doch modernen Romane seien „Der Weltfahrer“ von Wolfgang Kirchbach, „Die Tochter Rübezahls“ von Rud. v. Gottschall, „Tante Carldore“ von Jul. Grosse, „Camilla“ von Ernst Eckstein, „Zwei Ehen“ von Alfred Friedmann, „Hofluft“ von Nataly v. Eschstruth, „Amors Bekenntnisse“ von August Niemann, „Ausgewanderte“ von Mite Kremnitz, „Glück“ von Oskar v. Redwitz, „Bludička“, Roman aus dem slawischen Volksleben von Ossip Schubin, „Nach uns die Sündflut“ von E. A. König, „Der Mäcen“ von Detlef v. Liliencron, „Des Armen Schuld“ von Karl v. Weber, „Es klopft!“ von Carmen Sylva, „Die Waffen nieder“ von Bertha v. Suttner, „Am Kreuz“, ein Passionsroman aus Oberammergau, von Wilhelmine v. Hillern, „Nach Jahr und Tag“ von Konrad Telmann hier genannt. Das Register könnte in dem Augenblick sehr vergrößert werden, in dem man die ersichtlich nur für den Bedarf der illustrierten Blätter und der Leihbibliotheken geschriebenen Romane hereinzuziehen begönne, womit noch nicht gesagt sein soll, daß alle aufgezählten Arbeiten sich weit über das Niveau bloßer Unterhaltungslitteratur und in die reinern Regionen poetischer Schöpfung erhüben.

Die Novelle ist nach wie vor eifrig gepflegt worden, und da sie sich ihrer Natur nach der raschen und im Grunde industriellen Ausbeutung widersetzt, so hat sich auf ihrem Gebiet der poetische und künstlerische Drang und Trieb lebendiger erhalten als auf dem weitern Felde des Romans. Freilich fehlt es auch in der Erzählung an einer Art der Produktion nicht, die sich mit der flüchtigen Skizze, der bloßen Andeutung begnügt, das Zeichen für die Sache setzt und sich die sinnlich anschauliche und lebendig beschreibende Ausgestaltung erläßt. Das Bedürfnis zahlreicher Feuilletons, kurze und knappe Geschichten zu erhalten, hat auch in der deutschen Litteratur eine Gattung von Novellen ins Leben gerufen, die, den amerikanischen und englischen short stories verwandt, mehr auf litterarischen Effekt als auf Lebenswärme und Lebenswiedergabe abzielen, deren Kürze daher mit der preiswerten Kürze der echten alten Novelle in keiner Weife verwechselt werden darf. Aus der Fülle der wirklichen Novellen ragen durch echte Gestaltung und Vorzüge des Stils die „Florentiner Novellen“ von Isolde Kurz, die neue Folge der „Littauischen Geschichten“ von Ernst Wichert, die prächtigen beiden Sammlungen: „Zwischen Elbe und Alster“ und „Bescheidene Liebesgaben“, Hamburger Novellen von Ilse Frapan, „Im Zwielicht“, zwanglose Geschichten von Hermann Sudermann hervor. Ihnen schließen sich an: „Das Glück der Erde“, Novellen von Gottfried Böhm, „Frühlingsstimmen“ von Otto Roquette, „Auf der Reise“, drei Novellen von Adolf Stern, „Gemütliche Geschichten“ aus einer schweizerischen Kleinstadt von J. V. Widmann, „Aus vier Dimensionen“, humoristische Novellen von O. v. Leixner, „In der Irre“, Novellen von Dito und Idem, „Neue Geschichten des Majors“ von Hans Hopfen, „Sizilianische Geschichten“ von Konrad Telmann. Mit den Novellen „Eva in allerlei Gestalten“ von Moritz v. Reichenbach, den „Neuen Novellen“ von Hans Arnold, „Fallobst“, wurmstichige Geschichten von Heinz Tovote, „Im kühlen Grunde und andre Geschichten“ von Julie Ludwig, „Menschen und Schicksale“ von Fritz Lemmermayer, „Im Cölibat“, Klostergeschichten von Anton Ohorn betreten wir schon wieder zerklüftetern Boden. Dafür versetzen uns die prächtigen Märchen „Es war einmal“ von Rudolf Baumbach, die feinsinnigen Skizzen „Aus dem Kleinleben“ von Hermine Villinger und vollends die „Gesammelten Schriften“ von Heinrich Seidel auf sichern poetischen Grund zurück, wenn eben dieser Grund auch eng umschränkt ist.

Zwischen der Dichtung und der historischen Litteratur im engern Sinne stehen jene persönlichen Erinnerungen und Schilderungen zwischen inne, die durch Gegenständlichkeit und Stimmungsfülle sich der poetischen Darstellung nähern, und deren unerreichte Muster in unsrer Litteratur Goethes „Aus meinem Leben“ und „Heinrich Stillings Jugendjahre“ sind und bleiben. Zu den jüngsten Erscheinungen dieser Art gehören die „Jugenderinnerungen“ von Karl Gerok, das Büchlein „Aus meiner Jugendzeit“ von Heinrich Hansjakob, die Erinnerungen „Aus dem Alumnat“ von G. Wustmann. Auch die „Vischer-Erinnerungen“ von Ilse Frapan, die „Erinnerungsblätter aus dem Leben einer deutschen Lehrerin“ von Bertha Buchwald fallen unter diese kleine Gruppe, während Gustav Freytags vielbesprochene Erinnerungsblätter „Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone“, obschon aus persönlichsten Eindrücken hervorgegangen und gewiß lebendig und anschaulich genug durch das Gewicht des Stoffes und der Betrachtungen, nach der Seite der historisch-politischen Werke hinüberneigen.

Geschichte, Biographie, Litteraturgeschichte etc.

Das Gebiet der historischen Litteratur, soweit dieselbe über die bloße Forschung und kritische Spezialuntersuchung hinaus der Nationallitteratur im engern Sinne angehört und sich an das große gebildete, nicht an das Publikum der Fachgenossen wendet, hat wie in den vorhergehenden Jahren beträchtlichen Zuwachs erfahren. Das große zeitgeschichtliche Werk Heinrich v. Sybels: „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Kaiser Wilhelm I.“, ist bis zum fünften Bande und damit bis zur kriegerischen Katastrophe des Jahres 1866 und der ersten Neuordnung der deutschen Verhältnisse durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes vorgeschritten und hat den gewaltigen Anteil des ehernen Kanzlers, des Fürsten Bismarck, an Deutschlands Neuaufrichtung noch viel klarer und zusammenhängender überschauen lassen, als es bis dahin möglich war. Auf ein außerordentliches Material unmittelbarer Zeugnisse und Urkunden gestützt, geistvoll übersichtlich geordnet und durchgeführt, nahm und nimmt die Sybelsche Darstellung die Teilnahme aller Deutschen der Gegenwart aufs stärkste in Anspruch und ist von jenem frischen Hauch des persönlichen Miterlebens, der Miterfahrung durchweht, der sich meist nur bei Geschichtschreibern ihrer eignen Zeit findet. Von allgemeiner Wichtigkeit und Bedeutung reihen sich die „Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen“, persönliche Erinnerungen von bedeutendstem Gehalt, [189] Zeugnisse aus den Zeiten der Napoleonischen Fremdherrschaft und des Befreiungskriegs, dem Buche über die zeitgenössische Geschichte unmittelbar an. Von den vielgenannten „Denkwürdigkeiten“ des Grafen K. F. von Vitzthum erschien der letzte Teil unter dem Separattitel: „London, Gastein und Sadowa“; von den Erinnerungen Herzog Ernsts II. von Sachsen-Koburg-Gotha „Aus meinem Leben und meiner Zeit“ ward der dritte Band veröffentlicht, ohne indessen den Erwartungen in dem Maße Rechnung zu tragen wie die Anfänge des interessanten Werkes. Als ein interessanter Beitrag zur Geschichte der 30er und 40er Jahre trat der erste Band der „Lebenserinnerungen“ von Julius Fröbel, dem bekannten Führer der deutschen Demokratie im Jahre 1848, hervor.

Die Säkularfeier der französischen Revolution ist nicht ohne einige bedeutende litterarische Erscheinungen vorübergegangen. Ein neues, auf das beste und mannigfach neues Material gegründetes Werk: „Das Leben Mirabeaus“, von Alfred Stern gehört zu den besten Monographien, die wir deutscherseits über Menschen oder Zustände der Revolutionsperiode besitzen. Als interessante Studie verdient das Buch „Die konservativen Elemente Frankreichs am Vorabend der Revolution“ von Eugen Guglia hervorgehoben zu werden. Als Bruchstück und Probe einer beabsichtigten größern so anschaulichen wie eingehenden Geschichte der großen Umwälzung erschien aus dem Nachlaß des Freiherrn Ernst von Stockmar „Ludwig XVI. und Marie Antoinette auf der Flucht nach Montmedy“, eine Episode, die lebhaft beklagen läßt, daß der Verfasser das Werk nicht ausführen konnte.

Von historischen Werken, die wert und fähig sind, ein größeres gebildetes Publikum zu fesseln, sei zunächst die groß angelegte „Deutsche Geschichte im Zeitraum der Gründung des preußischen Königtums“ von Hans v. Zwiedineck-Südenhorst hervorgehoben. In gedrängter Fassung und populärem Ton, aber tüchtig und selbständig schrieb Otto Kämmel eine übersichtliche „Deutsche Geschichte“. Hierher gehören ferner die Werke von Richard Schück: „Brandenburg-Preußens Kolonialpolitik unter dem Großen Kurfürsten“, und von C. Grünhagen: „Schlesien unter Friedrich dem Großen“; etwas ferner liegende Stoffe behandelten Markus Landau in „Geschichte Karls VI. als König von Spanien“ und Fritz Hönig in „Oliver Cromwell“. Zur Geschichte der Gegenwart führen wieder Kecks „Leben des Generalfeldmarschalls E. v. Manteuffel“, G. v. Natzmers „Kaiser Wilhelm I., die Prinzeß Elise Radziwill und die Kaiserin Augusta“ und H. v. Poschingers „Ein Achtundvierziger. Lothar Buchers Leben und Werke“. Mehr kulturgeschichtlichen Gepräges und Wertes waren das interessante Buch von Ludwig Laistner: „Das Rätsel der Sphinx“, Grundzüge einer Mythengeschichte; ferner die Bücher von Ludwig v. Hörmann: „Die Jahreszeiten in den Alpen“, Bilder aus dem Natur- und Volksleben; F. A. Stocker: „Basler Stadtbilder“, Schilderungen alter Häuser und Geschlechter; Albert Borchert: „Das lustige alte Hamburg“, und K. Rhamm: „Dorf und Bauernhof im altdeutschen Lande“. Eine umfassendere, von andern Gesichtspunkten ausgehende Übersicht der in den letzten Jahren erschienenen Geschichtswerke gibt der besondere Artikel Historische Litteratur.

Unter den neu veröffentlichten Briefen und Briefwechseln fand sich neben einzelnem Unbedeutenden, dessen Hervorziehen auf der falschen Voraussetzung beruht, daß alles Material zur Geschichte bedeutender Zeiten und Menschen im ganzen Umfang der Nachwelt vermittelt werden müsse, doch auch sehr Wertvolles. Die Herausgabe der Briefe des Fürsten Bismarck: „Bismarcks politische Briefe von 1849 bis 1889“, ist natürlich als eine durchaus vorläufige anzusehen, die ihre entscheidende Ergänzung in späterer Zeit finden muß. Auf dem Gebiet der Litteratur- und Kunstgeschichte waren die von der Goethe-Gesellschaft herausgegebenen „Briefe von Goethes Mutter an ihren Sohn, Christiane und August v. Goethe“ die wichtigste Erscheinung. Gleichfalls als Veröffentlichung der Goethe-Gesellschaft erschien das von Otto Harnack herausgegebene Buch „Zur Nachgeschichte der italienischen Reise“, Goethes Briefwechsel mit Freunden und Kunstgenossen in Italien 1788–90. Diesen Goethebriefen schlossen sich „Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm“, herausgegeben von O. Walzel, die „Briefe von Jakob und Wilhelm Grimm an Georg Fr. Benecke, 1808–29“ an. Der „Briefwechsel zwischen Rauch und Rietschel“ ward mit dem zweiten Bande zu Ende geführt, der „Briefwechsel zwischen Moritz v. Schwind und Eduard Mörike“ durch Jakob Bächtold mitgeteilt. Von tieferm Gehalt und seltner Originalität erscheint der „Briefwechsel Friedrich Hebbels“, den Fr. Bamberg herausgibt, und von dem der erste Teil hervortrat.

Die Zahl der litteraturgeschichtlichen Werke war wie immer groß, allein nur ein kleiner Teil derselben kann nach Stoff und Ausführung Anspruch auf die Teilnahme andrer als der engsten Fachkreise erheben. Eine neue „Allgemeine Geschichte der Litteratur“ begann G. Karpeles, eine vortreffliche „Geschichte der deutschen Litteratur in der Schweiz“ Jakob Bächtold, eine gedrängte Darstellung der neuesten deutschen Litteratur: „Die deutsche Nationallitteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart“, von der schon zwei Auflagen vorliegen, schrieb Ad. Stern. – Zur Geschichte der klassischen Epoche der deutschen Litteratur dienen die fortgeführten umfassenden Schiller-Biographien von O. Brahm und R. Weltrich; ferner die umfassende Zusammenstellung und Aneinanderreihung von „Goethes Gesprächen“ durch W. v. Biedermann. Das Buch „Wieland und Reinhold. Originalmitteilungen als Beiträge zur Geschichte des deutschen Geisteslebens im 18. Jahrhundert“ von Robert Keil ist hauptsächlich durch die Briefe Wielands wichtig. Die Sammlung der „Goetheschriften“ von Kuno Fischer gedieh bis zum dritten Teile. Von Berthold Litzmann wurden zwei interessante und gehaltreiche Werke in „Friedrich Ludwig Schröder“, Beitrag zur deutschen Litteratur- und Theatergeschichte, und „Friedrich Hölderlin“ veröffentlicht.

Von Schriften zur Geschichte der neuern und neuesten deutschen Litteratur waren einige autobiographische die wichtigsten. In erster Reihe steht hier „Finder und Erfinder“, Lebenserinnerungen von Friedrich Spielhagen. Auch „Aus bewegtem Leben“, Erinnerungen aus 30 Kriegs- und Friedensjahren von Hans Wachenhusen, fesselt durch die bunte Mannigfaltigkeit der Erlebnisse des Verfassers. Ein umfassendes Lebensbild: „Gustav Kühne“, von Edgar Pierson, gründet sich hauptsächlich auf den Briefwechsel des jungdeutschen Schriftstellers mit berühmten Zeitgenossen. Diesen wichtigern Büchern reihen sich die Schriften: „Aus dem Leben Karl Böttichers“ von Clarissa Lohde-Bötticher, „Katholische Erzähler der neuesten Zeit“ von H. Keiter, „Aus der Heimat Hamerlings“ von Joseph Allram, „Richard Gosche, Erinnerungsblätter für seine Freunde“, „Richard Wagner und die Tierwelt“ von Hans von Wolzogen an. Die biographischen und polemischen Schriften, die in dem Streite über die Autorschaft der Romane Alfred [190] Meißners zwischen dem anklagenden Franz Hedrich und den Freunden Meißners, Robert Byr u. a., ausgetauscht wurden, waren so unerquicklich als nur je ein Kapitel in der Geschichte des Verfalls einer Litteratur.

Von allgemeinerer Bedeutung waren Werke wie „Der deutsche Roman“ von Karl Rehorn, „Der moderne Roman“ von Hellmuth Mielcke und „Die Dramaturgie des Schauspiels“ von Heinrich Bulthaupt, die in ihrem zweiten Teile Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Gutzkow und Laube behandelte. Ein größeres Werk von R. M. Werner: „Die lyrische Dichtung“, versuchte einem seither unbebautem Felde der ästhetischen Untersuchung reichere Ernten abzugewinnen.

An Untersuchungen und Darstellungen auch der außerdeutschen Litteraturgeschichte hat es auch im vorigen Jahre nicht gefehlt. Von A. Birch-Hirschfeld ward der erste Teil einer umfassenden „Geschichte der französischen Litteratur seit Anfang des 16. Jahrhunderts“, von Adolf Schaeffer eine neue „Geschichte des spanischen Nationaldramas“ in der Periode Lope de Vegas und Calderons geschrieben. Der Gegenwart und ihren allzusehr auf das eigne Leben gewendeten Interessen näher stand ein Buch wie „Naturalismus, Nihilismus, Idealismus in der russischen Dichtung“ von Erwin Bauer.

Gehaltvolle und formell abgerundete Versuche (Essays) traten hervor in den Sammlungen „Fünfzehn neue Essays“ (vierte Folge) von Hermann Grimm, „Von und aus Schwaben, Geschichte, Biographie und Litteratur“ von Wilhelm Lang, mit dem 7. Bändchen nunmehr abgeschlossen; „Pandora“, vermischte Schriften von Ad. Fr. Graf Schack, „Vorträge und Versuche“ von Ludwig Geiger, „Gespräche und Monologe“, vermischte Schriften von Ad. Wilbrandt, die sich sämtlich an ein Publikum der Bildung und des allgemeinen Interesses für litterarische und künstlerische Erscheinungen wenden, ein Publikum, das sich leider eher mindert als vergrößert.

Diejenige Reiselitteratur, die der schönen Litteratur hinzugezählt werden muß, da sie weder eine wissenschaftliche noch eine praktische Bedeutung beanspruchen kann, aber lebendige und unterhaltende Schilderungen gibt, hat gleichfalls eine Reihe von Bereicherungen gefunden. Am glücklichsten und fesselndsten waren hier wohl die Skizzen „Aus dem Orient“ von Paul Lindau, flüchtige Aufzeichnungen von großem Reiz und scharfem Blick für alles, was den Verfasser besonders interessiert. Hierher gehören ferner die Bilder und Skizzen „Aus dem Oldenburger Lande“ von F. Bucholtz, „Eine Maienfahrt durch Griechenland“ von Georg Behrmann, die anschaulichen und abenteuerlichen Fahrten des Spezialartisten der „Gartenlaube“, R. Cronau: „Aus dem wilden Westen“, „Russische Wanderbilder“ von Alfred Charpentier, und die Reisebriefe „Von Kiel bis Samoa“ des Obermatrosen Adolf Thamm, der bei der Katastrophe der deutschen Schiffe in Samoa beim Untergang des Kanonenboots Eber seinen Tod fand.[WS 2]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe unter Litteratūr.
  2. Siehe auch den Artikel im 19. Band: Deutsche Litteratur im Jahre 1891.