MKL1888:Deutsche Litteratur im Jahre 1891

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Deutsche Litteratur im Jahre 1891“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Deutsche Litteratur im Jahre 1891“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 19 (Supplement, 1892), Seite 181186
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia:
Wiktionary-Logo
Wiktionary:
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Deutsche Litteratur im Jahre 1891. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 19, Seite 181–186. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Deutsche_Litteratur_im_Jahre_1891 (Version vom 09.03.2023)

[181] Deutsche Litteratur im Jahre 1891. Daß jetzt auf allen Gebieten des litterarischen Lebens eine mächtige Bewegung vorhanden ist, die zu dem vor wenigen Jahren noch allgemein beklagten Stillstand in wohlthuendem Gegensatz steht, läßt sich nicht leugnen. Mag man von dieser Bewegung denken, wie man will, unter allen Umständen ist sie wertvoller als der Stillstand, denn sie allein ist Leben. Die Bewegung aber zu schildern, die Richtung zu erfassen, in welche sie die aufgeregten Geister führt, ist schwer für denjenigen, der mitten in ihr steht, und dessen Gesichtsfeld leicht von dem nahen Kleinen verdeckt wird zu ungunsten des ferner stehenden und darum ungesehenen, ungekannten Großen. Dem Zeitgenossen ist die eigne Zeit am schwierigsten erfaßbar. Darum können es nur tastende Linien sein, die unsre Übersicht des litterarischen Gesamtlebens im letzten Jahre zu ziehen versuchen wird, immer gewärtig, vom nächsten Tage eines bessern belehrt zu werden. Denn die Wandlung der Schriftsteller und Ideen wetteifert in unsern Tagen zuweilen mit der Schnelligkeit der Maschinen, man muß immerfort auf Überraschungen gefaßt sein.

Zunächst dürfte wohl die Beobachtung unbestritten bleiben, daß in dem abgelaufenen Jahr der Kampf gegen das alleinseligmachende Dogma der naturwissenschaftlichen Methode eine Verschärfung gefunden hat. Hier ist der Brennpunkt der ganzen Geistesbewegung unsrer Zeit. Es handelt sich um den Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Empirismus und Spekulation. Sein Gepräge erhielt das 19. Jahrh. von den Naturwissenschaften und ihrem Materialismus: sie haben das Muster für alle andern wissenschaftlichen Disziplinen gebildet, der Begriff „Wissenschaft“ ist von ihnen geholt worden. Nun hat man die Mängel dieser Richtung erkannt, und nun strebt man, über sie hinauszukommen. Den Kampf eröffnet hat der anonyme Verfasser von „Rembrandt als Erzieher“, der eine heftige Gegenbewegung hervorgerufen hat, eine Flut von Broschüren für und gegen sein leider auch so wenig lesbares Buch. Was von alledem als bleibender Rest zurückblieb, ist die Erkenntnis, daß es mit dem einseitigen Materialismus in Wissenschaft, Kunst und Leben doch nicht so weiter gehen könne. Der Rembrandt-Deutsche hat den Versuch gemacht, den Deutschen seiner Zeit ein Ideal zu geben; wie weit dieser Versuch gelungen ist, läßt sich indes allerdings noch nicht beurteilen; aber jedenfalls hat er überhaupt das eingeschlummerte idealistische Bedürfnis wieder erregt, die Debatte auf Fragen in dieser Richtung gelenkt und die tote Masse in Fluß gebracht. Die vorhandene Erregung in allen Erziehungsfragen kam seinem Buche zu gute; denn die Streitigkeiten über Wert und Zweck des klassischen Sprachunterrichts, über den Unterschied von Gymnasien und Realschulen, über das Ziel der Erziehung überhaupt haben auch endlich die große Menge auf Erwägung idealer Fragen gelenkt und sie aus der Gleichgültigkeit geweckt, in die sie das Vertrauen in die Herrlichkeit des technischen Jahrhunderts gelullt hat. Die Opposition gegen das Dogma der Naturwissenschaften ging indes auch von den engern wissenschaftlichen Kreisen ganz spontan aus. Insbesondere bedeutsam wurde die scharfe Kritik der verschiedenen Methoden des Geschichtsbetriebs, welche der geistvolle Jenenser Historiker Ottokar Lorenz in seinem Werke „Die Geschichtswissenschaft“ übte. Es ist im Grunde derselbe Geist hier wie im Rembrandt-Deutschen, der sich gegen das Mechanisieren des Geistes auflehnt, mit Nachdruck auf den tiefen Unterschied der zwei Gebiete: Natur und Geschichte verweist und die Forscher zur Erkenntnis der Notwendigkeit auch der Wahl verschiedener Methoden führt. Es handelt sich in diesem Streit nicht um eine von seiten der Historiker drohende Geringschätzung der Naturwissenschaften, wie mit Vorliebe von denen angenommen wird, welche bloß deswegen schon Front gegen die Warner machen, weil sie jeden Angriff auf die Hegemonie der Naturwissenschaften als eine Verstärkung der Kirche betrachten. Nichts ist abgeschmackter als diese Vermutung, die oft geradezu zur Verdächtigung wird, wie z. B. in Wien, wo dem geistvollen Rektor der Wiener Universität in dieser Beziehung vielfach unrecht gethan wurde. Adolf Exner hat nämlich für den wogenden Kampf in seiner Aufsehen erregenden Rektoratsantrittsrede „Über politische Bildung“ eine glückliche Formel gefunden, indem er das geflügelte Wort schuf: „Die einseitige Befangenheit der Geister in den naturwissenschaftlichen Denkformen ist der Zopf des neunzehnten Jahrhunderts“. Daß es sich dabei nicht um Verachtung der Naturwissenschaften handelt, ist selbstverständlich; wohl aber ist es eine berechtigte Notwehr der Historiker und aller derjenigen, die etwas weiter als die Materialisten sehen. Dieser Kampf um den Idealismus findet seinen monumentalen Ausdruck auch in der glänzend geschriebenen und von wahrhaft modern humanem Geist erfüllten Ethik Friedrich Paulsens und hat in der letzten Zeit auch ein besonderes Organ gefunden in den von Hans Schmidkunz in München herausgegebenen Flugschriften: „Gegen den Materialismus“, die mit einer von Moriz Carriere geschriebenen Abhandlung: „Materialismus und Ästhetik“ begonnen haben.

Weiter hinaus als zu diesem allgemeinen Vorpostengefecht einer wirklich neuen Zeit sind wir indes noch nicht gelangt. Eine führende Persönlichkeit, die ihr Ideal zum Ideal einer großen Menge von Anhängern gemacht hätte, ist nicht aufgetreten; vielmehr steht die schöne Litteratur als der eigentliche Ausdruck[WS 1] des Zeitgeistes noch immer im Banne von Dichtern, die keine Deutschen sind, Zolas, Ibsens, Tolstois, Bourgets, Dostojewskis etc. Es ist nicht zu leugnen, daß die Anregungen, welche die deutsche Litteratur vom Ausland erhalten hat, hauptsächlich dazu beigetragen haben, den eingetretenen Stillstand zu heben. Der Naturalismus in Deutschland hat zwar keine oder doch nur sehr wenig Blüten getrieben, denen man eine bleibende Dauer zuerkennen kann; so z. B. ist das beste Buch Sudermanns: „Frau Sorge“, nicht wenig von Gottfried Keller beeinflußt und darum gar nicht so naturalistisch wie manche seiner spätern, minderwertigen Arbeiten. Dennoch muß man den deutschen Naturalisten bei aller Kritik ihrer Manieren und ihrer Leistungen zugestehen, daß sie Leben in die Bücherwelt gebracht haben. Es soll ihnen nicht [182] abgeleugnet werden, daß sie den sich so breit machenden Surrogaten der Poesie, dem kulturhistorischen Roman, der Kostümlyrik, dem Feuilletondrama, ein Ende bereitet haben. Die alten Ästhetiker haben zwar immer diese Surrogate bekämpft, aber die feinen alten Herren haben sie nicht vernichtet, das gelang erst der Grobheit der Naturalisten; und derbe Hiebe scheinen im litterarischen Kampfe ebensowenig entbehrlich zu sein wie im politischen Krieg. Mehr aber als dieser negative Erfolg läßt sich beim unbefangensten Wohlwollen den Naturalisten doch nicht nachsagen. Die Nachahmung der Ausländer und die Verrohung des Geschmacks können sie doch wohl nicht als Ruhmestitel ansprechen. Und nun, am Ausgang des Jahres 1891, ist die Situation die, daß auch von ihnen zum Rückzug geblasen und die Erkenntnis verbreitet wird: so, mit der Verneinung eines jeden Ideals geht’s nicht weiter in der Kunst. Es sind gerade die nicht am wenigsten Begabten, welche sich der Losung „Überwindung des Naturalismus“ anschließen und sie in vielfachen, wenn auch nicht geglückten künstlerischen Versuchen in That umzusetzen streben: Hermann Bahr, Heinz Tovote. In der genannten Flugschriftenreihe hat eins ihrer als Kritiker angesehenen Mitglieder, Ola Hansson („Der Materialismus in der Litteratur“), den Bruch mit dem Naturalismus eines Zola und Ibsen geradezu verkündet. In seinen „Alltagsfrauen“ steht Hansson noch auf wesentlich naturalistischem Boden, indem er hier Psychophysiologie des Weibes betreibt; in der wenig später herausgegebenen Flugschrift erklärt er dem dichtenden Materialismus den Krieg. Man sieht, wie schnell die „Läuterungen“ vor sich gehen, und es steht zu erwarten, daß der Naturalismus eine zwar aufregende, aber kurze Episode im deutschen Litteraturleben bleiben wird. Auch zu dieser raschen Wandlung hat das Ausland den Anstoß gegeben. In den Kreisen der Jüngstdeutschen ist jetzt der von Georg Brandes angepriesene Friedrich Nietzsche der Prophet des Tages. Wunderlich genug, daß in der Zeit der alles nivellierenden sozialistischen Theorien der Philosoph des Geistesstolzes seinen Einzug hält, nachdem ihn die nordischen Heerführer auf den Schild erhoben haben. Nun glauben die jungen Deutschen sich in der Schwärmerei für den „deutschen“ Denker ganz gehen lassen zu dürfen, und die Lehren des Zarathustra von „über gut und böse“ sind das allerneueste Evangelium der einer eignen Persönlichkeit ermangelnden Geister. Was daraus nun entstehen wird, liegt im dunkeln Schoße der Zukunft verborgen.

Dies zur allgemeinen Charakteristik des letzten litterarischen Jahres. Auf allen Gebieten der Litteratur herrscht eine rege Thätigkeit, die wir nun, soweit wir sie kennen lernen konnten, betrachten wollen.

Lyrik.

Auch hier sind die edelsten Früchte nicht auf dem Baume des Naturalismus gewachsen, der seiner innersten Natur nach zur Lyrik gar kein Verhältnis hat. Es ist nur eine Folge der äußerlichsten Kameraderie, wenn einzelne lyrische Dichter von den Naturalisten in Berlin und München als die ihrigen ausposaunt werden, wie Detlev v. Liliencron. Seine neuen Gedichte („Der Heidegänger und andre Gedichte“) zeigen keine neue Wendung seines nicht zu bezweifelnden Talents; er ist oft glücklich im originellen Bilde, in einer neuen Metapher, wenn auch gesucht originell; aus seiner Lyrik fühlt man in der That den Deutschen von dem Geschlecht nach 1870, in dem der Soldatenstolz nicht gering ist; ein schön empfundenes Naturbild gelingt ihm auch nicht selten; aber er stammelt öfters, anstatt zu singen, er beherrscht nicht die Form. Ludwig Fuldas Gedichte scheinen weitaus formgewandter, aber es ist nur eine äußerliche Reimgewandtheit, Nachempfindung vieler Originale; ansprechend sind nur Fuldas Sinnsprüche. Ganz neu sind Richard Dehmel („Erlösungen“) u. Felix Dörmann („Neurotica“), beide Erotiker, ungeklärt, aber begabt. Ein andrer neuer Mann ist der Wiener J. J. David, der in seiner Lyrik, die jedenfalls echt ist, den Nachdruck auf das Charakteristische legt, auf die unmittelbare Energie des Gefühls, mitunter auf Kosten der Form und Sprachschönheit. Auch die Gedichte „Zum Licht!“ von Herm. Hango verdienen der Erwähnung, weil sie ein echtes Talent bekunden, das allerdings noch nicht fertig ist. Die Gedichte des Schauspielers Konrad Löwe sollen auch nicht ganz übersehen werden, so gering ihr eigentlicher poetischer Gehalt auch ist. Die wohlthuendsten Erscheinungen in der Lyrik rühren aber nicht von den jüngsten Lyrikern her. Rudolf Baumbachs „Thüringer Lieder“ brechen sein mehrjähriges Schweigen als Sänger und zeigen neben den alten liebenswürdigen Zügen des Sprachmeisters und Anakreontikers eine Wandlung des Dichters zum Ernst, zum Humor des ältern Mannes, der sich schon außerhalb des Reigens der Jugend fühlt. Max Kalbeck hat in seiner Sammlung „Aus alter und neuer Zeit“ eine Auswahl aus seinen frühern Gedichten getroffen und sie mit neuentstandenen vermehrt. Ohne eine starke Persönlichkeit zu zeigen, mutet Kalbeck durch sein seltenes Formgefühl, seine frischen, volkstümlichen Töne wohlthuend an; er versucht sich in allen metrischen Künsten mit Geschick. Ein andrer Wiener Kritiker, der geistvolle Alfred v. Berger, hat sich auch als Lyriker von origineller Persönlichkeit bekundet. Seine Gedichte zeigen uns beinahe typisch die beschauliche Philosophennatur; sie teilen auch sehr schöne Gelegenheitsgedichte (z. B. auf Raimund) mit. Hieronymus Lorms philosophische Lyrik ist wieder neu vermehrt erschienen, und der schwäbische Humorist Ludwig Eichrodt hat die ganze reiche lyrische Produktion seines Lebens in zwei starken Bänden (wohl allzu starken) gesammelt herausgegeben: ein unerschöpfliches Buch von Schwänken und Scherzen. P. K. Rosegger hat seine „Gedichte“ in hochdeutscher Sprache, die bisher zerstreut und gelegentlich, teils in seine Erzählungen verflochten, teils selbständig in Zeitschriften erschienen sind, gesammelt, und sie zeigen uns den frischen, temperamentvollen Dichter von allen Seiten: als begeisterten Steirer und freigeistigen Gottsucher, als witzigen Erotiker und träumerischen Naturfreund. Aus dem Nachlaß einzelner verstorbener Dichter sind gerade im verflossenen Jahr mehrere wertvolle Sammlungen erschienen. So vor allen: Fr. Theodor Vischers „Allotria“, ein wahres Labsal für Männer, die Humor haben und schneidige Satire lieben! Was sind die „Epigramme aus Baden“ für ein Schatz! Und die Lieder des biedern Schartenmayer! Ein deutscher Rabelais, der den derben Ton mit der feinsten Bildung seiner Zeit vereinigen konnte, spricht uns aus diesem Bande entgegen. Auch aus dem Nachlasse Scheffels sind Gedichte gedruckt worden, die jedoch nur biographisches Interesse erregen können. Zwei Tiroler Lyriker verdienen genannt zu werden, deren Gedichte erst nach ihrem Tode gesammelt und herausgegeben wurden: Anton v. Schullern und Hans v. Vintler. Die litterarische Tageskritik, die sich nur an die Fersen der Lärmmacher heftet, hat allerdings von Schullern kaum Notiz genommen, [183] aber wenn Mörikes Idyllen jemals eine gute Nachfolge fanden, so geschah es in den Idyllen Schullerns; übrigens kann er mit den Liebesgedichten und Naturbildern seinem Landsmann Gilm füglich gleichgestellt werden. Vintlers lyrische Muse ist ganz anders geartet: eine frische, lustige Dirne, mit der Neigung zum Spott und Hohn, angriffslustig und witzig, doch auch nachdenklich zuzeiten und weich. – Von der Lyrik dichtender Frauen verdienen die Gedichte von Ilse Frapan genannt zu werden, wenn sie auch nicht das halten, was man nach einzelnen ihrer Novellen erwartet hätte. Carmen Sylva hat auch in diesem Jahr 3 Bände lyrischer Gedichte: „Heimat“, „Handwerkerlieder“, „Meerlieder“, erscheinen lassen.

Drama.

So überreich die gegenwärtige Produktion von Romanen und Novellen ist, da das Publikum der Leihbibliotheken, womit sie rechnet, einen unersättlichen Magen dafür hat, so muß man es dennoch als den charakteristischen Zug der Litteratur bezeichnen, daß im Mittelpunkt ihres Interesses wesentlich das Theater steht. Dahin streben alle Bemühungen der stärkern Talente, nicht bloß weil das Drama die schwierigste und bedeutendste dichterische Form ist, sondern weil es auch den reichsten Ruhm und den reichsten Ertrag bietet; in unsrer anspruchsvollen Zeit, in der die Dichter sich nicht mehr, wie einst einmal, mit einem Dachstübchen begnügen wollen und auch nicht können (denn der Dichter soll ja Weltmann sein!), spielt die Aussicht auf reiche Tantiemen eine große Rolle. Die Möglichkeit dazu ist ja gegeben, Thatsachen beweisen es, daß einzelne Dichter und Komponisten sich mit einem einzigen durchschlagenden Erfolg ein sorgenfreies Leben gesichert haben, darum wollen es viele so haben, und der Erfolg auf der Bühne ist ja auch der berauschendste. Daher die Erscheinung, daß Dichter, die schlechtweg nur als Erzähler leistungsfähig sind, wie z. B. F. Spielhagen, doch unentwegt die Bühne zu erobern suchen und von einem ehrenvollen Begräbnis zum andern wandern. Dem Chronisten aber liegt es ob, klar zu sehen, und Spreu von Weizen, Berufene von Unberufenen zu scheiden.

Wir wollen auch hier mit den Naturalisten anfangen, die im Drama den Spuren Ibsens und Strindbergs folgen und durch Darstellung des Peinlichen eine Wiedergeburt der Kunst erwarten. So Gerhard Hauptmann, der in „Vor Sonnenaufgang“ die Erblichkeitsfrage behandelt, die Frage, ob ein Mann ein Mädchen aus einer Trinkerfamilie heiraten kann; dieser Mann des Stückes ist ein unklarer, unreifer Mensch, und damit fällt das Stück. Ganz und gar unter dem Eindruck von Ibsens kleinstädtischen Dramen sind Hauptmanns „Einsame Menschen“ geschrieben worden. Sein unreifer Held wäre viel mehr in einer Komödie als in einem ernsten Stück am Platz, und das ist der Fehler des hypochondrisch ernsten Werkes, das in den Gestalten der Eltern Vockerat und der jungen Frau Käthe Zeugnis für das ungewöhnliche Talent Hauptmanns ablegt. Ludwig Fuldas schmiegsames Talent steht auch in der naturalistischen Strömung, er ist aber doch noch vorsichtig genug, mit dem Naturalismus nur zu kokettieren, ihn äußerlich zu verwenden, innerlich aber zur alten guten Rührkomödie zu halten, so im „Verlornen Paradies“. In der „Sklavin“ hat er die Stellung des Weiber zum Manne im Geiste der Norweger behandelt. Viel wuchtiger ist Ernst v. Wildenbruchs Dramatik, dessen „Neuer Herr“ und „Haubenlerche“ auch in dieser Strömung liegen, aber doch nicht ganz in ihr sich verlieren. Wildenbruch steht jetzt ohne Zweifel in einiger Verwirrung; er macht dem Modegeschmack Zugeständnisse, ohne die volle Kraft, seiner Herr zu werden. Die „Haubenlerche“ mit ihrer urwüchsigen Munterkeit scheint aus dem Gegensatze zur Hypochondrie Ibsens entstanden zu sein, aber dieser Gedanke ist nicht durchgeführt, sondern wird mit einem modisch-naturalistischen Motiv verquickt. Sudermann hat mit seinem zweiten Werk: „Sodoms Ende“, keinen so großen Erfolg wie mit der „Ehre“ errungen; er hat hier in seltsamer Weise naturalistische Neigungen mit der Form der alten Sittenkomödie vereinigt, doch aber wieder seinen wahren, dramatischen Beruf bewiesen. Ähnlich schafft auch der begabte Richard Voß, der es nur leider zu keiner Harmonie in sich selbst gebracht hat und, anstatt rein tragisch zu wirken, den Zuschauer peinigt und quält, so in „Alexandra“ und „Schuldig!“. Seine „Pastorin“ konnte sich nicht erhalten. Über Stücke wie Hermann Bahrs „Mutter“, Arno Holz’ und Johannes Schlafs „Familie Selicke“ wird sich bald der Staub des Antiquars lagern.

Eine andre Gruppe bilden die Dichter der ältern Generation, die mit feinster Bildung und wirklicher Begabung dennoch nicht das Theater erobern können. Hans Hopfens „Hexenfang“, ein geistvoll phantastisches Lustspiel, interessierte nur kurze Zeit. Paul Heyse schreibt jetzt fast nur Dramen; diese Bemühungen um die Bühne, so nachhaltig, so ehrenwert und doch so erfolglos, muten fast tragisch an. So hatte er mit seinem geistreichen Trauerspiel „Die schlimmen Brüder“ ausgesprochenen Mißerfolg; sein geistvolles Schauspiel: „Wahrheit?“ brachte es nur zu einem Achtungserfolg in München. Beim Lesen entzücken die schönen Verse und Gedanken seiner Dramen. Nicht viel besser ergeht es dem viel schlichtern Martin Greif, dessen Dramen so vielen urteilsfähigen Kritikern (Otto Lyon, G. Klee u. a.) gefallen und sich doch nicht die Bühne sichern können. Seine zwei neuen Stücke: „Ludwig der Bayer“, ein vaterländisches Schauspiel, und die Liebestragödie „Francesca da Rimini“, haben manchen dichterischen Reiz; in die „Francesca“ sind lyrische Perlen verflochten. Auch Graf Schack hat einen Band Lustspiele gebracht. Von den Wiener Poeten ist allerlei zu verzeichnen. Ludwig Dóczys „Maria Szechy“ betrat allerdings noch nicht die Bühne, hat aber schon in der Buchform Freunde gewonnen. Dem Dichter Karl v. Wartenegg wurde für seinen „Ring des Offterdingen“, ein Drama im Stil der ältern Österreicher Prechtler und Mosenthal, der erste Preis in der Preiskonkurrenz des deutschen Volkstheaters zuerkannt; bei der Aufführung fiel es mit seiner billigen Rhetorik und einfältigen Handlung trotz des geschickten ersten Aktes durch. Auch P. K. Rosegger ist unter die Dramatiker gegangen mit einem Volksstück: „Am Tage des Gerichts“, das gar keine gering zu schätzende Bühnenwirkung hat; jedenfalls ist der zweite Akt ein humoristisches Kabinettsstück. Zu erwähnen wären noch: Ganghofer und Brociner: „Die Hochzeit von Valeni“, eine richtige Boulevardtragödie, Triesch und Schnitzer: „Hand in Hand“, ein mißglückter Versuch in der Art von Fuldas „Verlornem Paradies“, Müller-Guttenbrunns „Irma“, eine viel zu spät nachhinkende Nachahmung der französischen Kokottenkomödie, die gleich verschwand, Ganghofers Charakterlustspiel: „Die Falle“ etc. Eins der interessanten Ereignisse im Gebiete der dramatischen Kunst von 1891 war die Aufführung der Tragödie „Meister Manole“ von Carmen Sylva, ohne dauernden Erfolg [184] trotz der glänzendsten Hilfsmittel: ein schreckliches Stück, das die Einmauerung eines lebenden Weibes auf die Bühne bringt, und doch auch nicht ohne echt poetische Szenen. Von allen den vielen dichtenden Frauen, die leben, hat nur Marie Ebner-Eschenbach Talent zum Drama, was schon Otto Ludwig vor mehr als 30 Jahren (1860) bei Lektüre ihrer „Maria von Schottland“ anerkannt hat; sie wurde aber schon vor vielen Jahren vom Theater abgeschreckt; jetzt schreibt sie zuweilen dialogisierte Novellen, die nach Darstellung durch feine Schauspieler Sehnsucht erwecken; eine davon: „Ohne Liebe“, ist denn auch mit Erfolg auf der Berliner „Freien Bühne“ gegeben worden.

Epische Litteratur.

Hier ist die Produktion nun so gewaltig, daß es nicht in der Möglichkeit eines einzelnen liegt, sie zu übersehen und den Schein der Parteilichkeit zu vermeiden. Immerhin sei der Überblick dieser von den Leihbibliotheken und Zeitschriften um die Wette geförderten Thätigkeit weniger Berufenen und vieler Unberufenen gewagt. Soviel Neues auch jeder Tag bringen mag, der Erzähler und Romanschreiber aus allen Ecken und Enden des lieben Vaterlandes herbeischafft, so lebenskräftig und schreiblustig erweisen sich doch auch die nun einmal beglaubigten Schriftsteller, und diesen sei der Vortritt gewährt. Die Weihnachtsdichter haben die zäheste Arbeitskraft: Georg Ebers fehlt so wenig wie Felix Dahn, der uns „Odhins Rache“ bescherte; in den vorjährigen „Batavern“ hat Dahn gezeigt, daß sich naturalistische Elemente auch im historischen Roman gut verwenden lassen; wunderlich genug haben seine Freunde die „Bataver“ eines Bismarck würdig gefunden. Erfreulicher ist die echte Dichtergestalt Wilhelm Raabes, sein „Stopfkuchen“ ist eine wunderliche, aber gehaltvolle Erzählung. Theodor Fontanes Roman „Quitt“ ist halb modern, halb romantisch, halb Dostojewskische Verbrecherseelenanalyse, halb märchenhafter Idealismus. Sein Roman „Unwiederbringlich“ ist weitaus weniger spannend, von gänzlich verschiedenem Charakter, ebenso ruhig, als „Quitt“ aufregend, mit vielen schönen Stimmungsbildern aus Kopenhagen und seinem Hofleben im J. 1864. Eins der allerschönsten Bücher Fontanes: „Kriegsgefangen. Erlebtes 1870“, ist endlich nach 20 Jahren in zweiter Auflage erschienen und wird sich wohl seine Anerkennung sichern. Roseggers neue Bücher: „Der Schelm aus den Alpen“ und „Hoch vom Dachstein“, sind Sammlungen nicht immer vollwertiger, im ganzen aber frisch, ernst oder humorvoll empfundener kleiner Geschichten, deren einzelne Perlen in ihrer Art sind. Die „Judith Trachtenberg“ von K. E. Franzos gestaltet sich zu einer Apologie der Juden gegen den polnischen Adel, wirkt mit starken Mitteln und unwahrer Sentimentalität. Auch die neue Erzählung Hans Hopfens: „Der Stellvertreter“, bedeutet keinen Fortschritt des Dichters des „Alten Praktikanten“. Heinrich Seidels „Sonderbare Geschichten“ bezeugen wieder seine Meisterschaft in der stimmungsvollen Naturschilderung, aber keinen Fortschritt über seinen „Leberecht Hühnchen“. In Alfred Biese („Deutsche Schriften f. Litt. u. Kunst“, hrsg. von Eugen Wolff, 1. Reihe, 5. Heft, Kiel 1891) hat Seidel einen Ritter gefunden, der ihn an den Gipfel des deutschen Humors u. zunächst an Jean Paul und Reuter rückt. Das wird wohl kein andrer unterschreiben. Julius Rodenberg hat seinen gemütvollen Humoresken: „Des Herren Schellenbogens Abenteuer“, eine neue Sammlung kleinerer Stücke folgen lassen: „Klostermanns Grundstück“. Hans Blum hat in seiner Renaissancegeschichte „Der Kanzler von Florenz“ das tragische Schicksal Nicolo Macchiavellis behandelt: reicher an historisch-politischem Geist als an Poesie. Hermann Heiberg hat seinen zahlreichen Romanen auch diesmal einen Band Berliner Sittenmalerei zugesellt: „Todsünden“. Theophil Zollings „Kulissengeister“, Ossip Schubins „Thorschlußpanik“, Ernst Ecksteins „Dombrowsky“ befriedigen die Bedürfnisse des großen Lesepublikums in ihrer Weise. Und ebenso haben die zahlreichen Romandichter und Novellisten, denen wir jahraus jahrein in unsern Zeitschriften und Familienblättern begegnen, redlich geschaffen, ohne der Litteratur des Jahres ein besonderes Gepräge zu verleihen. Dennoch sind einige besonders denkwürdige Erscheinungen auf diesem Gebiete zu verzeichnen, die mehr als bloß das Tagesbedürfnis befriedigen, und diesen wollen wir uns nun zuwenden. Da sei zuerst der neuen Dichtung des Züricher Meisters Konrad Ferdinand Meyer: „Angela Borgia“, gedacht. Sie war die bedeutendste Erscheinung der Erzählungslitteratur des letzten Weihnachtsmarktes, aber im Vergleich mit seinen eignen Meisterwerken eine schwächere Arbeit; doch prägen sich auch die Hauptszenen und Charaktere dieser Novelle dem Leser unvergeßlich ein. Die Erzählung: „Margarete“ von Marie v. Ebner-Eschenbach ist eins ihrer aus früherer Zeit stammenden Werke, das nur erst jetzt in die Öffentlichkeit kam; doch ist der Geist der berühmten Aphorismen-Schreiberin nicht zu verkennen. Ihr sehr spärlich produzierender Landsmann Ferd. v. Saar hat wieder ein schmächtiges Bändchen Novellen: „Frauenbilder“, mit feiner Kunst der Charakteristik veröffentlicht. Hans Hoffmann hat sich mit seinem deutschen Don Quichotte: „Der eiserne Rittmeister“, in die vorderste Reihe der Erzähler gestellt. Diesem humoristischen Werk mit geschichtlichem Hintergrund ließ er nun zwei Bände Novellen folgen, die in der Gegenwart spielen und ein beliebtes Motiv der Humoristen (das Schulmeisterleben) in geistreichster Art, ganz originell behandeln: „Das Gymnasium zu Stolpenburg“ und „Ruhm“. Seit Jean Paul ist der lebensunkundige, mit der Jugend jung gebliebene Schullehrer Gegenstand mehr oder minder würdigen Humors. Hoffmann hat den Kern des Motivs in dem allgemeinen Verhältnis des Menschen zum Nebenmenschen, in der Fähigkeit des einzelnen, auf den Willen des andern zu wirken, erfaßt und die schwere Kunst des Disziplinhaltens zum Ausgang seiner psychologischen Betrachtung genommen. Wie geistvoll er nun dieses Verhältnis variiert, wie lebenswahre und fesselnde Gestalten rührender und heiterer Art er in seiner Lehrergesellschaft zeichnet, mit welch vornehmer Bildung er die menschlichen Schwächen und gelehrten Übel des Standes beleuchtet, die Satire zum Humor verklärend: das ist von unvergänglicher Schönheit. Keine geringere Anerkennung verdienen Hoffmanns „Geschichten aus Hinterpommern“, die sich zu einer Apologie der Heimat des Dichters zuspitzen. Auch Paul Heyses „Weihnachtsgeschichten“ muß man als eine Bereicherung unsrer Novellenpoesie bezeichnen, so wenig Lärm sie auch in der parteiischen Tageskritik gemacht haben. Mit wie reinen Händen weiß Heyse seinem Schönheitsideal zu opfern! Wie fern steht seiner Sinnlichkeit alle Frivolität der Nachahmer der Franzosen! Wie wohlthuend ist es, das Ohr im Wortklang seiner geklärten Prosa zu baden! Eine ganz originelle Schöpfung ist Karl du Prels hypnotisch-spiritistischer Roman: „Das Kreuz am [185] Ferner“. Auch die neuen Novellen „Enge Welt“ von Ilse Frapan darf man zu den wertvollern Erscheinungen rechnen; sie bietet in der That jene vielgesuchte Vereinigung von Realismus und Poesie; die Frapan hat die Kraft, bis in jene Tiefe zu steigen, wo das Bewußtsein sich zum Instinkt verdunkelt, und doch zugleich die klare sittliche Weltanschauung zu bewahren; freilich schreibt sie ungleich, der neuere Band: „Bittersüß“, steht nicht mehr auf der Höhe der frühern, weder im Humor noch im Ernst. Auch die kleinen Erzählungen: „Auch ein Roman“, von echt schwäbischer Frische, die Hermine Villinger brachte, dürfen hierher gerechnet werden.

Von neu aufgetretenen Dichtern verdienen die „Wiedergebornen“ und der Roman „Das Blut“ von J. J. David alle Aufmerksamkeit; ein freundliches Talent mit gesunder Natürlichkeit ist Joachim v. Dürow: „Strahlendorf und Reetzow“. In dem schweizerischen Bauerndichter Joseph Joachim trat eine neue Kraft voller Mark und Saft hervor. Seine zweibändige Volksgeschichte „Die Brüder“ gibt ein umfassendes, an Gedanken und Gestalten gleich reiches Bild des gesamten schweizerischen Volkslebens der Gegenwart mit edler freimütiger Tendenz: ein rechter Abkömmling von Jeremias Gotthelf. Ein andrer Schweizer, Wilhelm Sommer, kommt erst nach seinem Tode mit den „Elsässischen Erzählungen“ zur weitern Anerkennung; Sommer ist ein begabter und liebenswürdiger Erzähler, dessen allzu früher Tod (1888) lebhaft zu bedauern ist. Auch aus dem Lager der Naturalisten sind viele Romane und Novellen gekommen, die freilich nach ihrem eignen Ausdruck zur „Übergangslitteratur“ gehören: Versuche, Studien, Experimente auf Grundlage der naturalistischen Ästhetik, die so irreführenderweise vom Dichter die „Objektivität“ des Naturforschers fordert. Es ist keine Freude, in diesen tobenden Höllen-Breughel von Stürmern und Drängern hineinzuschauen, doch seien die hervorragendsten Gestalten angemerkt, die sämtlich kein abschließendes Urteil gestatten. Der Theoretiker der naturalistischen Ästhetik, Wilhelm Bölsche, ist nun auch als Romanschreiber aufgetreten: „Die Mittagsgöttin“, in der mit allen naturalistischen Zuthaten der Kampf zweier Weltanschauungen, der sensualistischen und der spiritualistischen, dargestellt wird. Große Exzesse gestattete sich Konrad Alberti im Roman: „Das Recht auf Liebe“. Dem ersten Kokottenroman: „Im Liebesrausch“, hat Heinz Tovote einen zweiten: „Frühlingssturm“, nachgeschickt: ohne Zweifel ein Fortschritt in künstlerischer Beziehung, in der Technik und Charakteristik, überall vortreffliche Schilderungen der Sinnlichkeit, die in der Novelle „Der Erbe“ freilich ans Empörende grenzte. Ein verwandter Erotiker ist Felix Holländer in den Romanen „Jesus und Judas“ und „Magdalena Dornis“. Johannes Schlaf: „In Dingsda“, pflegt im modischen Stil nicht ohne Geschick das Stimmungsbild.

Memoiren. Biographien. Litterarhistorie.

Charakteristisch für die Gegenwart ist das große Interesse, das sie an der Geschichte nicht in der künstlerischen Form eines Ranke, sondern in den elementarern Formen der unverarbeiteten Dokumente und Quellen der Geschichtschreibung nimmt. Die Zeit der Kulturschildereien scheint vorüber zu sein, die Zeit der Memoiren ist gekommen. Die Lebenserinnerungen, die ein alter, vielerfahrener Mann nach einem erfahrungsreichen Leben niederschreibt, sind allerdings Geschichte in der wärmsten persönlichen Form, auf die Biographie des einzelnen und der Generation hat ja auch Meister Ranke feine großen Werke gegründet. Doch ist das Memoirenschreiben bei den Deutschen noch nicht sehr ausgebildet, und vorläufig treten Sammlungen von Briefen an ihre Stelle. Litterarhistorisch stand das abgelaufene Jahr im Zeichen Franz Grillparzers und Theodor Körners, deren hundertste Geburtstage mit allem Aufwand litterarischer Ehren gefeiert wurden. Die Grillparzer-Litteratur fand durch das „Jahrbuch der Grillparzer Gesellschaft“ (hrsg. von Karl Glossy in Wien) eine Bereicherung; die zahlreichen Briefe des Dichters aus allen seinen Lebensstufen haben neues Licht über seinen allzu empfindsamen Charakter gestreut; nicht am wenigsten auch der ausgezeichnete Kommentar Glossys. Dazu sind noch zu nennen: die Jubiläums-Ausgabe der Gedichte Grillparzers von August Sauer, die Grillparzer-Studien von Adolf Lichtenheld, die Biographie des Dichters von Richard Mahrenholtz, die freilich mangelhaft in Thatsachen und Beurteilung ist, „Grillparzers Kunstphilosophie“ von Emil Reich. Die Körner-Litteratur fand in dem stattlichen Prachtwerk von Rudolf Brockhaus („Zum 23. September 1891, Briefe, Dichtungen etc. von und an Körner“) Bereicherung; die liebenswürdigste Gabe spendete aber Alfred v. Arneth, der Sohn von Körners Braut Antonie Adamberger, indem er in seine (nicht im Buchhandel erschienene) „Lebenserinnerungen I“ die Aufzeichnungen seiner Mutter aufnahm, die zum Schönsten gehören, was eine deutsche Frau geschrieben haben mag. Auch die Litteratur über Nikolaus Lenau wurde durch L. A. Frankls Ausgabe seiner an Sophie Löwenthal gerichteten Liebesbriefe stattlich bereichert, und in größerer Stille schritt die Sophien-Ausgabe von Goethes Werken mit dem Abdruck seiner Tagebücher und der „Aristeia“ der Mutter vor. Auf Grundlage des reichen Materials, das in den letzten Jahren aus dem Goethe-Archiv in die Welt trat, besonders der zahlreichen Briefe von Goethes Mutter, schrieb Karl Heinemann ihre Biographie in einer besonders dem Frauenpublikum anmutenden Form. Neue Beiträge zur Goethe-Litteratur lieferten Robert Keils „Goethe-Strauß“, J. Herzfelder, „Goethe in der Schweiz“, Kuno Fischers „Goetheschriften“. In der Schiller-Litteratur macht Jakob Minors monumentale Biographie Fortschritte, ein umfängliches Werk, das sich die Vereinigung des gesamten Wissens von Schiller und seiner Zeit zum Ziel setzt. In entgegengesetzter Methode schreibt Kuno Fischer über Schiller: analytisch, von innen heraus den Genius erklärend. Das wichtigste Ereignis auf dem Gebiete der Litterarhistorie war aber der Abschluß des im größten Stil angelegten Werkes: „Lessing“ von Erich Schmidt. Hier ist auf Grundlage einer erstaunlichen Belesenheit eine Darstellung des Lebens und Entwickelungsganges von Lessing im Geiste der neuen Kunstgeschichte gegeben worden; Schmidt unterscheidet sich von seinem Vorgänger Danzel wie der Weltmann vom Stubenphilosophen: er ist eleganter, konkreter, künstlerischer als dieser, der ihm als Philosoph überlegen sein mag. Schmidt erzählt fesselnd, Danzel kritisiert mehr. Zur Geschichte der neuern Litteratur verdienen Erwähnung: Julius Rodenbergs Buch über Franz Dingelstedt, die formvollendete, auf neuen Quellen beruhende Lebensgeschichte Otto Ludwigs, die Adolf Stern im ersten Band seiner Ausgabe des Dichters bringt, und die Beiträge zur Kenntnis und Kritik Johann Nestroys, die M. Necker am Schluß der Nestroy-Ausgabe von Ganghofer und Chiavacci veröffentlicht hat. Über [186] Robert Hamerling hat sein langjähriger, intimster Freund, P. K. Rosegger, ein wertvolles Buch „Persönlicher Erinnerungen“ veröffentlicht, wozu auch die von Albert Möser gedruckten Briefe Hamerlings an Möser gesellt werden dürfen. Von den wenigen eigentlich biographischen Werken, die erschienen sind, heben wir Hayms Biographie Max Dunckers als ganzes Kunstwerk hervor; sie hat mit ihrer Beleuchtung des deutschen Kronprinzen und nachmaligen Kaisers Friedrich viel Aufsehen gemacht. Desgleichen Ludwig Anzengrubers Leben von Anton Bettelheim, gleichfalls das Werk eines Freundes und Fachmannes; eine kleine Selbstbiographie, ergänzt durch einen alten Aufsatz von Karl Müllenhoff, schrieb Klaus Groth, und Lebenserinnerungen im eigentlichen Sinn erschienen von Felix Dahn, Wilhelm Lübke, Thekla v. Gumpert. Von den neuen Briefwechseln, die erschienen, sind es folgende, denen eine dauernde Bedeutung für unsre Litteratur zukommt: der Briefwechsel Friedrich Hebbels (Bd. 1), der eine höchst willkommene Ergänzung seiner Tagebücher ist, und die unter dem Titel „Zur eignen Lebensgeschichte“ von Alfred Dove herausgegebenen Briefe Leopold v. Rankes, die uns den unpersönlichen Geschichtschreiber herzlich nahe bringen, ebenso wie die Erinnerungen an Döllinger von Luise v. Kobell aus einem vertrauten langjährigen Umgang und nach gleichzeitigen Tagebuchnotizen. Ein kleines Meisterwerk in dieser Art veröffentlichte auch Adolf Frey in seinen „Erinnerungen an Gottfried Keller“, die uns den Menschen und Dichter vielfach neu beleuchten. Der Briefwechsel Mörike-Storm, herausgegeben von Jakob Bächtold, ist eine wichtige Ergänzung der schon vorhandenen Briefwechsel Mörikes mit H. Kurz und M. v. Schwind, beleuchtet aber mehr Storm als Mörike, denn jener hat fleißiger geschrieben. Von Sammlungen kritischer Studien und Essays seien genannt: Der dritte Band von Döllingers „Akademischen Vortragen“, aus seinem Nachlaß von Lasson herausgegeben; die „Episteln und Vorträge“ von Wilhelm Jordan; die Beiträge zur Ästethik und Geschichte der Poesie „Aus meiner Studienmappe“ von Friedrich Spielhagen (Essays über Auerbach, Frenzel, Edgar Poe u. a.); die „Litterarischen Essays“ von Ernst Gnad. Eins der merkwürdigsten kritisch-ästhetischen Werkchen ist das „Kunstbüchlein“ vom Wiener Dichter Richard Kralik, das in der wahrhaft klassischen Form eines Organons die paradoxesten Forderungen aufstellt. Nicht leicht hat ein andrer Ästhetiker tiefere Einsichten in das Wesen der Poesie als Richard Kralik, er sagt viel Beherzigenswertes; aber indem er die alten Sagen als den einzigen würdigen Stoff der Poesie bezeichnet, die nicht ein Abbild ihrer Zeit geben, nicht neue Motive aufsuchen, sondern immerfort die über allem Wandel der Zeiten erhabenen Sagenstoffe behandeln soll, isoliert sich Kralik, man kann sagen, von der ganzen Litteratur, von beiden Parteien, den Idealisten und Naturalisten. Gerade als wir diese Übersicht schließen, erscheint das umfangreiche Buch von Johannes Proelß über das „Junge Deutschland“, das durch Erschließung neuer Quellen (z. B. des Archivs der Cottaschen Buchhandlung) eine Bereicherung unsrer Kenntnisse jener Zeit bildet. Das „Junge Deutschland“ von Georg Brandes (6. Band seiner „Hauptströmungen“) hat in eleganter Form eine fesselnde, aber keine erschöpfende Darstellung geboten; Proelß ist viel gründlicher, wenn er auch in der Wertschätzung Gutzkows und der andern zu weit gehen dürfte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: viele|mehr und Zeile darunter: eigentlich-|Ausdruck