MKL1888:Kulturgeschichte

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Kulturgeschichte“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 10 (1888), Seite 293294
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Kulturgeschichte. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 10, Seite 293–294. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Kulturgeschichte (Version vom 09.01.2022)

[293] Kulturgeschichte, die Geschichte des innern Lebens der Menschheit in seiner natürlichen Entwickelung sowohl nach der materiellen als besonders nach der geistigen Seite, im Gegensatz zu der früher schlechthin als Weltgeschichte bezeichneten politischen oder Staatengeschichte, ein jüngerer, aber in neuerer Zeit mit besonderer Vorliebe gepflegter Zweig der allgemeinen Geschichtschreibung. Man hatte früher allzusehr den Einfluß einzelner Persönlichkeiten auf die Geschicke der Völker und selbst der Gestaltung des intimen Lebens derselben in den Vordergrund gestellt, eine sehr natürliche Erscheinung, wenn man bedenkt, daß ehemals die Fürsten und Machthaber nicht nur häufig selbst (wie z. B. Julius Cäsar) die Geschichte ihrer Thaten geschrieben haben, sondern auch stets einen bedeutenden Einfluß auf die Geschichtschreibung behielten, indem sie dieselbe von besoldeten Staatshistoriographen besorgen ließen. Diese Art der Geschichtschreibung schlägt aber naturgemäß den Einfluß der einzelnen Persönlichkeit auf die Geschichte der Völker zu hoch an, sie vergißt, daß auch die leitende Persönlichkeit mehr oder weniger nur ein Kind ihrer Zeit zu sein pflegt, sie artet gar leicht in Heroenkultus oder Parteilichkeit aus und vernachlässigt das Studium der Völker nach ihrem allgemeinen sozialen und geistigen Zustand, als ob es sich bei ihnen um willenlose, nach jeder Richtung lenkbare Massen handelte, deren Auge und Verstand in der Regierung allein verkörpert wären, und denen fast jede Individualität abginge. Obwohl für eine solche Auffassung der Geschichte in den Anfängen der Kultur eine gewisse Berechtigung liegen mag, sofern wirklich die meisten Völker mit Zuständen in die Geschichte eintraten, in denen sie von einzelnen begabten Personen gelenkt und einer höhern Kultur entgegengeführt werden mußten, so zeigt sich die Schwäche der erstern Art von Geschichtschreibung sogleich in der Schilderung derjenigen Perioden, in denen die Völker sich zu fühlen beginnen und geistige Bewegungen die Oberhand gewinnen, die von innen heraus zu Reformen führen, oder in denen die Völker selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen. In der Schilderung solcher Zustände zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen K. und Staatengeschichte darin, daß letztere eigentlich nur das Geschehene registriert und von einem festgefaßten subjektiv-modernen Standpunkt aus zu erklären und zu beurteilen sucht, während die K. mehr in das innere Leben der Zeit zu dringen und von innen heraus die Geschehnisse als Folgen eines natürlichen Entwickelungsvorganges zu erklären und zu verstehen sucht. Der Mensch ist bei ihr nicht das unbedingt freie Wesen, sondern ein Produkt seiner Zeit, der Arm und das Sprachrohr des Zeitgeistes selber, in einem solchen Grade, daß er gewöhnlich mit seinen Mitmenschen in Konflikt gerät, sobald er aus dieser bestimmten Kulturepoche heraustritt oder seiner Zeit vorauseilt. Dieses Eindringen erfordert somit ein Hinausgehen über die schriftlichen und künstlerischen Denkmäler der Zeiten und eine Vertiefung in das gesamte soziale Leben, Wohnungsart, Hygieine, Kleidung, Möbel und Geräte, Lebensweise, Ernährung, Sitten und Gebräuche, Rechtsanschauungen, Glauben und Aberglauben der einzelnen Epochen. Die Kulturgeschichtsforschung tritt fomit durchaus in keinen wirklichen Gegensatz zur Geschichtschreibung, sie verkennt keineswegs die Wichtigkeit einer genauen Feststellung der Begebenheiten und den Wert einer unparteiischen Darstellung derselben; allein sie umfängt wie ein allgemeiner Hintergrund die epische Darstellung, sie sucht die Schlüssel zu einem tiefern Verständnis und zu einem genauern Eindringen in die Ursachen der geschichtlichen Ereignisse zu geben und erklärt dadurch sattsam das große Interesse, welches sie in neuerer Zeit erregte.

Ihre eigne Geschichte beginnt mit der Bevorzugung der Sittengeschichte in der allgemeinen Geschichtschreibung, gewissermaßen mit einem Blick hinter die Kulissen des Welttheaters, die aber leider anfangs meist in eine aus den Memoiren der Zeit geschöpfte Geschichte der Höfe von seiten abgedankter Staatsbeamten und Höflinge ausartete, als ob die Schilderung des Volkslebens gar keine Aufmerksamkeit [294] verdient hätte und den Poeten überlassen bleiben müßte. In späterer Zeit traten die Interessen an der religiösen, litterarischen und rechtsgeschichtlichen Entwickelung zu der bloßen Schilderung der sittengeschichtlichen Zustände hinzu, und in dieser Richtung haben namentlich Montesquieu, Voltaire und Gibbon im vorigen Jahrhundert der modernen Kulturgeschichtschreibung vorgearbeitet. Eine erhebliche Vertiefung mit Anbahnung eines universalgeschichtlichen Standpunktes erfuhr die Geschichtschreibung sodann durch Herder, der mit seinen „Ideen zur Geschichte der Menschheit“ (1784) die neue Epoche der Geschichtschreibung einleitete, während Heeren in seinen „Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt“ (1793) namentlich den Einfluß der Handelsbeziehungen auf die Wege der Kultur darlegte. Das in unserm Jahrhundert mächtig geförderte Studium der Anthropologie und Ethnologie bereitete der allgemeinern Auffassung des Problems zuerst eine wissenschaftliche Grundlage, indem sie zeigte, von welchen Zuständen man auszugehen habe, um die untersten Kulturstufen zu begreifen. In dieser Richtung ist das Werk von H. Klemm („Allgemeine K.“, Leipz. 1842–53, 10 Bde.) bahnbrechend geworden. Einen fernern wichtigen Anstoß gab sodann H. T. Buckle in seiner „Geschichte der Zivilisation in England“ (zuerst 1857), in welcher der Einfluß der natürlichen Bedingungen (Bodengestaltung, Klima etc.) auf die Entwickelung der Individualität der Völker in Betracht gezogen wurde, ein Gesichtspunkt, der in dem neuen Buch von Ratzel, „Anthropogeographie“ (Stuttg. 1882), ganz in den Vordergrund tritt. Das Auftreten Darwins, die von ihm eingeleitete Zurückforderung des Menschen für die Naturgeschichte, die mit Eifer in Angriff genommenen Studien über das Auftreten der vorhistorischen Menschen in Europa und andern Ländern, die damit gewonnenen Vergleichspunkte der Menschen aller Zeiten und Zonen untereinander haben zu einer mächtigen Bewegung auf diesem Gebiet geführt, deren Ziel dahin geht, die allgemeine K. zu einer Entwickelungsgeschichte der Menschheit auszubauen, in welcher Beziehung namentlich die Schriften von E. Tylor („Early history of mankind“, 1870; deutsch, Leipz. 1873) und Lubbock („The origin of civilization, and the primitive condition of man“, 1870; deutsch, Jena 1875) von Einfluß gewesen sind. Casparis „Urgeschichte der Menschheit“ (2. Aufl., Leipz. 1877, 2 Bde.) ist namentlich in psychologischer Beziehung ideenreich, dagegen behandelt Herbert Spencers „Prinzipien der Sociologie“ (1. Bd., deutsch, Stuttg. 1877) speziell die Entstehung der Staatsformen, Sitten und Gebräuche. Die äußersten Konsequenzen dieser naturalistischen Auffassung der K. zieht Hellwald in seiner „K. in ihrer natürlichen Entwickelung bis zur Gegenwart“ (3. Aufl., Augsb. 1883), worin er die Notwendigkeit der alten Priesterherrschaften, Tyrannei und Sklaverei etc. als unvermeidlicher Durchgangsstufen der Entwickelung darstellt. Die Übergangszeit von der Vorgeschichte zur Geschichte behandelt Lenormant in seinen „Anfängen der Kultur“ (deutsch, Jena 1875, 2 Bde.). Von den fernern Werken, die teils die K. mehr im allgemeinen, teils besondere Abschnitte (Sittengeschichte) und Zeitepochen behandeln, seien erwähnt: W. Wachsmuth („Europäische Sittengeschichte“, Leipz. 1831–39, 5 Bde., und „Allgemeine K.“, das. 1850–52, 3 Bde.), G. F. Kolb („K. der Menschheit“, 3. Aufl., das. 1884, 2 Bde.), O. Henne Am-Rhyn („Allgemeine K.“, 2. Aufl., das. 1877–78, 6 Bde.; „K. des deutschen Volkes“, Berl. 1886), Lippert („K. der Menschheit in ihrem organischen Aufbau“, Stuttg. 1886), G. Hoyns („Die alte Welt in ihrem Bildungsgang als Grundlage der Kultur der Gegenwart“, Berl. 1876), Riehl („Kulturstudien aus drei Jahrhunderten“, 4. Aufl., Stuttg. 1873), H. Rückert („K. des deutschen Volkes in der Zeit des Übergangs aus dem Heidentum in das Christentum“, Leipz. 1853), Joh. Scherr („Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“, 8. Aufl., das. 1882), Karl Grün („K. des 16. Jahrhunderts“, das. 1872), J. J. Honegger („Grundsteine einer allgemeinen K. der neuesten Zeit“, das. 1868–1874, 5 Bde.; „Kritische Geschichte der französischen Kultureinflüsse in den letzten Jahrhunderten“, Berl. 1875; „Allgemeine K.“, Leipz. 1882 ff.), Noiré („Das Werkzeug und seine Bedeutung für die Entwickelungsgeschichte der Menschheit“, Mainz 1880). Von ausländischen Werken sind vor allen zu nennen die des wesentlich auf dem Standpunkt Buckles stehenden Amerikaners J. W. Draper („History of the intellectual development of Europe“, New York 1864, 2 Bde.; deutsch von Bartels, 3. Aufl., Leipz. 1886, und „History of the conflict between religion and science“, 1875; deutsch, Leipz. 1875) sowie Leckys „History of the rise and influence of the spirit of rationalism in Europe“ (Lond. 1865, 2 Bde.; deutsch von Jolowicz, 2. Aufl., Leipz. 1873, 2 Bde.) und „History of European morals from Augustus to Charlemagne“ (Lond. 1869, 2 Bde.; deutsch, Leipz. 1871, 2 Bde.). Von Bilderwerken sind zu erwähnen: Hirths „Kulturgeschichtliches Bilderbuch“ (Münch. 1883 ff.), Essenweins „Kulturgeschichtliche Bilderbogen“ (Leipz. 1885). Vgl. Jodl, Die Kulturgeschichtschreibung (Halle 1878).