MKL1888:Stoïker
[343] Stoïker, griech. Philosophenschule, welche sich gleichzeitig mit dem Epikureismus entwickelte und ihren Namen von dem Säulengang (stoa) hat, wo der Gründer derselben, Zenon aus Kittion auf Kypros, in Athen zu lehren pflegte (340–260 v. Chr.). Zenons Lehrbegriff ward zum Teil im Kampf mit der jüngern Akademie durch seine nächsten Schüler und Anhänger, Kleanthes aus Assos in Troas, Chrysippos aus Soli in Kilikien (280–210), bestimmter ausgebildet, während andre, wie Ariston aus Chios und Heryllos aus Karthago, sich ihm vorzugsweise nur in der Strenge der sittlichen Denkart angeschlossen zu haben scheinen. Ein allgemeines Merkmal der Lehre der S. liegt in dem Bemühen, die Philosophie in einer einfachen und gemeinverständlichen Form und mit vorherrschender Rücksicht auf das praktische Leben zu entwickeln, daher die eigentliche Bedeutung derselben in ihrer Ethik zu suchen ist, welcher sie zwar die Physik beiordnen, weil diese die allgemeinsten Grundbestimmungen für jene darbiete, die Logik aber unterordnen, so daß diese ihnen mehr für ein Werkzeug als für einen Teil der Philosophie gilt. In der Logik ward die Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis statuiert, insofern alle Vorstellungen in einem Leiden der Seele durch den Eindruck des Vorgestellten bestehen sollen. In Übereinstimmung hiermit geht auch ihre Physik von dem Satz aus, daß alles, was Ursache sei, Körper sei, welcher Begriff bei ihnen wesentlich durch den Gegensatz von Thun und Leiden bestimmt wird. Demgemäß unterscheiden sie die Materie als das qualitätslose leidende und Gott als das thätige und bildende Prinzip, so jedoch, daß nicht das eine wirklich getrennt von dem andern existiere, sondern die wirkliche Kraft in dem Stoff selbst vorhanden sei. So wie daher die Welt vernünftig und göttlich ist, so hat auch jeder einzelne Teil seinen besondern Anteil an der allgemeinen Vernunft. Diese bestimmte schon Zenon, sich an die Naturlehre des Heraklit anschließend, als ein denkendes, lebendiges Feuer, welches sich in stetigen Übergängen und nach einem bestimmten unausweichlichen Gesetz in die Elemente und die daraus entstehenden besondern Bedingungen verwandle, um nach periodischem Kreislauf wieder in die ursprüngliche Einheit zurückzukehren (Weltverbrennung). In genauem Zusammenhang mit dieser Physik steht der oberste Grundsatz der Ethik, welcher für deren höchsten Endzweck die Übereinstimmung mit der Natur erklärt. Die Unabhängigkeit der sittlichen Gesinnung stellten sie der äußerlich erscheinenden Handlung und deren zufälligen Umständen gegenüber. Einer selbständigen Fortbildung war das System an sich nicht fähig. Die wesentlichste Umbildung erfuhr die stoische Lehre durch Panaitios und Posidonios, welche auch hauptsächlich ihre Verpflanzung nach Rom bewirkten. Durch Wechselwirkung der stoischen Philosophie und des römischen Geistes aufeinander entwickelte sich hier aus ersterer eine räsonnierende praktische Popularphilosophie von zum Teil fromm-erbaulichem Charakter. Unter dem Despotismus der Cäsaren erhielt der Stoizismus eine politische Bedeutung, denn zu ihm flüchteten sich größtenteils die Oppositionsmänner; er wurde ein Gegenstand der Verfolgung, bis er mit Marcus Aurelius Antoninus auf den Kaiserthron kam und kaiserliche Fürsorge demselben noch einmal Geltung und Anhang erwarb. Nach der Zeit der Antonine verschwindet er völlig aus der Geschichte, in dem allgemeinen philosophischen und religiösen Synkretismus aufgehend, in welchen die antike Weltanschauung sich auflöste. Vgl. Tiedemann, System der stoischen Philosophie (Leipz. 1776, 3 Bde.); Ravaisson, Essai sur le stoïcisme (Par. 1856); Noack in der Zeitschrift „Psyche“, Bd. 5 (Leipz. 1862); Winckler, Der Stoizismus (das. 1878); Weygoldt, Die Philosophie der Stoa (das. 1883); Ogereau, Essai sur le système philosophique des stoïciens (Par. 1885); L. Stein, Die Psychologie der Stoa (Berl. 1886–88, 2 Bde.); Zeller, Philosophie der Griechen, Bd. 3.