Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Mathematik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 11 (1888), Seite 339340
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Mathematik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 11, Seite 339–340. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Mathematik (Version vom 13.12.2021)

[339] Mathematik (v. griech. mathēma, „Wissenschaft“), nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die Wissenschaft von den Eigenschaften der Größen und den Gesetzen ihrer Verbindung, also Größenlehre. Man unterscheidet reine und angewandte M., je nachdem man die Größen an sich oder in ihrer Anwendung auf andre Wissenschaften und auf das praktische Leben betrachtet. Eigentümlich ist der reinen M. die in der Natur ihrer Begriffe und Methoden begründete Sicherheit ihrer Lehren, die jeden Zweifel und jede Ungewißheit ausschließt, weshalb man unter mathematischer Gewißheit oder Wahrheit sprichwörtlich eine absolute, vollkommene versteht. Zur reinen M. gehören die Arithmetik im engern Sinn (höhere Arithmetik oder Zahlentheorie) oder die Lehre von den Eigenschaften der Zahlen, die allgemeine Arithmetik und Algebra (s. d.), welche die Gesetze der Zahlenverbindungen (des Rechnens) entwickeln, die verschiedenen Teile der Infinitesimalrechnung (s. d.) sowie die Geometrie (s. d.) mit Einschluß der mathematischen Bewegungslehre (Phoronomie oder Kinematik). Doch sind strenge Systematiker geneigt, die Geometrie der angewandten M. zuzurechnen, weil unsre Kenntnis der Grundeigenschaften des Raums der äußern Erfahrung entnommen ist. Die angewandte M. teilt Klügel („Mathematisches Wörterbuch“, Bd. 3) in die physische und in die technische. Zur erstern gehören die theoretische Mechanik mit ihren Unterabteilungen (Statik und Dynamik fester, tropfbarflüssiger and gasförmiger Körper, als neuer Zweig die graphische Statik), die mathematische Physik (mathematische Akustik und Optik, [340] mechanische Wärmelehre, einzelne Teile der Lehre von der Elektrizität und vom Magnetismus), die Astronomie mit Chronologie und Gnomonik, die mathematische Statistik und Psychologie, die Kristallographie. Die wichtigste Anwendung der M. in diesen Wissenschaften besteht darin, daß man mit ihrer Hilfe die Hypothesen, durch welche man die Thatsachen der Erfahrung zu erklären sucht, in alle ihre Konsequenzen verfolgt und damit auf ihre Stichhaltigkeit prüft. Die technische angewandte M. hat es mit den Anwendungen der M. auf das praktische Leben zu thun; sie umfaßt die praktische (kaufmännische, juristische und politische) Arithmetik, die praktische Geometrie (Feldmeßkunst, Nivellieren, Markscheidekunst), die praktische Mechanik und Maschinenlehre, die Hochbaukunst, die Straßen- und Eisenbahn-, Wasser- und Bergbaukunst, die Kriegswissenschaften und die Nautik. Die ersten Anfänge einer wissenschaftlichen Behandlung der M. treffen wir bei Indern, Chinesen, Chaldäern und Ägyptern. Die Inder haben sich namentlich um Arithmetik und Algebra verdient gemacht, auch noch in späterer Zeit, wo Aryabhatta (um 500 n. Chr.), Brahmagupta (um 600) und Bascara Acharya (1150) zu nennen sind. Von dem mathematischen Wissen der Ägypter haben wir erst vor einigen Jahren durch den von Eisenlohr übersetzten Papyrus Rhind des Britischen Museums, ein unter der Herrschaft der Hyksos verfaßtes Lehrbuch, genauere Kunde erlangt. Von den Völkern des klassischen Altertums haben die Griechen vorzüglich die Geometrie zu hoher Blüte entwickelt. Zu den ältesten griechischen Geometern zählen Thales, Pythagoras und Platon; die höchste Meisterschaft entwickelten Eukleides, Archimedes und Apollonios, neben denen noch Eratosthenes, Hipparchos, Konon, Nikomedes, Menelaos, Ptolemäos, Serenos, Diokles, Proklos, Eutokios u. a., besonders aber Pappos zu erwähnen sind. Um Arithmetik und Algebra haben sich bei den Griechen besonders Eukleides, Nikomachos und Diophantos große Verdienste erworben (vgl. Nesselmann, Die Algebra der Griechen, Berl. 1842). Nur dürftig war das mathematische Wissen der Römer (vgl. Cantor, Die römischen Agrimensoren, Leipz. 1876). In hoher Blüte standen aber die mathematischen Wissenschaften bei den Arabern, von denen sie, zum Teil durch Vermittelung jüdischer Gelehrten, der abendländischen Christenheit übermittelt wurden. Von den Arabern erhielten die Abendländer auch durch Leonhard von Pisa (Fibonacci) um 1200 das indische (sogen. arabische) Zahlsystem. Nach dem Wiederaufblühen der Wissenschaften erwarben sich besonders Purbach, Regiomontanus, Michael Stifel, Albrecht Dürer bei den Deutschen, Ramus und Vieta bei den Franzosen, Pacioli, Tartaglia, Cardano, Bombelli bei den Italienern Verdienste um die Förderung der M. Aus dem 17. Jahrh. ist zunächst die Erfindung und Berechnung der Logarithmen durch Justus Byrg, Lord Napier und Briggs zu erwähnen; ferner begegnen uns Kepler, Cavaleri, Roberval, Fermat, Pascal, Desargues, Descartes, Wallis, Huygens, Galilei; vor allen aber sind die Schöpfer der Infinitesimalrechnung, Newton und Leibniz, zu nennen. Mit diesem neu gewonnenen Forschungsmittel wurden nachher durch die Bernoulli, Euler, Maclaurin, Taylor, Moivre, d’Alembert, Lagrange, Laplace, Legendre u. a. auf den verschiedensten Gebieten der Analysis und ihrer Anwendungen die glänzendsten Resultate erlangt; auch die Geometrie, die man über den analytischen Arbeiten ziemlich vernachlässigt hatte, gewann durch die Arbeiten von Stewart, Maclaurin, Lambert, Monge, Poncelet, Steiner, v. Staudt, Möbius einen neuen Aufschwung, und neue Methoden, deren Keime zum Teil in bis dahin nicht gewürdigten Sätzen der Alten liegen, gaben der rein geometrischen Forschung einen großen Teil der Allgemeinheit, welche man als ausschließliches Eigentum der Analysis betrachtet hatte. Aber daneben wurden die Fortschritte der Analysis nicht aufgehalten, wie die Leistungen von Gauß, Jacobi und Abel, Cauchy, Dirichlet, Riemann, Clebsch u. a., zum Teil noch lebenden zeigen. Vgl. Montucla, Histoire des mathématiques (Par. 1797–1802, 4 Bde.); Bossut, Versuch einer allgemeinen Geschichte der M. (a. d. Franz. von Reimer, Hamb. 1804, 2 Bde.); Suter, Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Zürich 1873–76, 2 Bde.); Hankel, Zur Geschichte der M. im Altertum und Mittelalter (Leipz. 1874); Gerhardt, Geschichte der M. in Deutschland (Münch. 1878); Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Leipz. 1876); Cantor, Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker (Halle 1863); Derselbe, Vorlesungen über Geschichte der M. (Leipz. 1880, Bd. 1); Marie, Histoire des sciences mathématiques et physiques (Par. 1883–1888, 12 Bde.); Günther, Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter (Berl. 1887). Das Gesamtgebiet der reinen M. umfaßt Schlömilch, Handbuch der M. (Bresl. 1879–81, 2 Bde.).