Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 7 (1887), Seite 134137
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Geometrie. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 134–137. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Geometrie (Version vom 11.01.2023)

[134] Geometrie (griech., „Erdmessung“) bezeichnete ursprünglich s. v. w. Feldmeßkunst. Aber sehr bald wurde der Inhalt reicher, und bereits Platon klagte, daß die „so herrliche und ausgedehnte Wissenschaft des Raums einen so ungeschickt gewählten Namen führe“. Gegenwärtig verstehen wir unter G. ganz allgemein die Lehre von den räumlichen Gebilden. Da nun aber diese sehr verschiedener Art sein können, unterscheidet man verschiedene Unterabteilungen der geometrischen Wissenschaft; eine andre Reihe von Unterscheidungen wird herbeigeführt durch die verschiedene Betrachtungsweise der räumlichen Objekte.

Die theoretische G., welche von allen Anwendungen auf wirklich vorhandene Dinge absieht und den Körper lediglich als allseitig begrenztes Raumstück (ohne Rücksicht auf dessen materielle Beschaffenheit) betrachtet, teilt sich zunächst ein in G. von einer, zwei, drei Dimensionen oder G. der Linie (Longimetrie), der Ebene (Planimetrie) und des Raums (Stereometrie). Die Betrachtung der nicht ebenen (doppelt gekrümmten) Kurven und Flächen gehört mit zur Stereometrie. Untersucht man aber die Eigenschaften der räumlichen Gebilde [135] einmal in Bezug auf die Größe, das andre Mal in Bezug auf die Lage, so erhält man einerseits eine G. des Maßes (der metrischen Relationen), anderseits eine G. der Lage. Erstere war bis ins 17. Jahrh. die einzig gepflegte, und erst von da ab begann man auch den zweiten Zweig zu kultivieren, welcher wohl auch als neuere, projektivische, organische G. bezeichnet wird. In neuester Zeit pflegt man wohl auch eine besondere „G. der Anzahl“ abzutrennen, zu deren Charakterisierung folgendes Beispiel dienen möge: in einer Ebene sind n willkürlich gezogene gerade Linien gegeben, in wieviel Punkten durchschneiden sich dieselben? Alle Fragen, welche sich auf den Zusammenhang der räumlichen Gebilde beziehen, pflegen in eine besondere Disziplin vereinigt zu werden, die sogen. Analysis situs. Was die Einteilung der G. in eine niedere oder elementare und höhere betrifft, so ist dieselbe nicht prinzipiell, sondern nur durch pädagogische Gründe gerechtfertigt. Erstere behandelt in der Ebene die gerade Linie und den Kreis, letztere alle übrigen krummen Linien. Im Raum sind analog die Ebene, die Kegel-, Cylinder- und Kugelfläche der elementaren Betrachtung zugänglich, alle andern Oberflächen sowie die Kurven doppelter Krümmung aber Objekte der höhern G. Was nun schließlich die Methoden anlangt, mit deren Hilfe man die Eigenschaften der Raumgrößen zu erforschen bestrebt ist, so unterscheidet man eine synthetische und eine rechnende oder analytische G. Die synthetische verwirft grundsätzlich alle Hilfsmittel des Kalküls und bedient sich allein der Konstruktion; da sich auf diese Weise die von der Größe unabhängigen Beziehungen besonders leicht studieren lassen, so trägt die G. der Lage einen streng synthetischen Charakter. Im Raum wird eine rein konstruktive Behandlung der kompliziertern gestaltlichen Verhältnisse halber oft sehr schwierig, und man bedient sich dann, um die Anschauung zu erleichtern, eines eignen geometrischen Wissenszweigs, der sogen. deskriptiven (beschreibenden oder darstellenden) G. oder Projektionslehre, welche die Betrachtung räumlicher auf diejenige ebener Gebilde reduziert. Hierher gehören: die Perspektive, die Projektion auf zwei senkrechte Ebenen (darstellende G. im engern Sinn), die Axonometrie etc. Die synthetische G. kam besonders durch die klassischen Arbeiten der griechischen Mathematiker zu Ehren, welche ausschließlich in diesem Sinn arbeiteten und sogar jeden arithmetischen Satz in geometrischer Form darzustellen liebten. Ganz anders war das Verfahren der Inder, welche sich um Lagebeziehungen gar nicht kümmerten und die G. als ein Anhängsel der Arithmetik behandelten. Ihnen verdankt die rechnende G. ihre Entstehung, welche, von den Arabern wesentlich gefördert, im 16. und 17. Jahrh. die Synthese fast ganz verdrängte. – Man unterscheidet in der Regel eine algebraische und eine analytische G., obwohl dieser Unterschied ein rein konventioneller ist. Erstere hat die allgemeine Aufgabe zu lösen, aus den bekannten Stücken einer Figur die noch nicht bekannten zu berechnen und die Bedingungen festzustellen, unter welchen eine solche Berechnung möglich ist. Befinden sich unter diesen Stücken Winkel, so muß auf eine Hilfswissenschaft, die Trigonometrie (s. d.), zurückgegriffen werden, welche in einem vorbereitenden Teil, der sogen. Goniometrie, die Beziehungen normiert, nach welchen Winkel und Längen verglichen werden können. Was die Trigonometrie für das Dreieck ist, das sind Polygonometrie und Polyedrometrie für das ebene Polygon und für das Polyeder. Die algebraische G. besitzt zur Auflösung der ihr gestellten Probleme allerdings gewisse ein für allemal feststehende Formeln, nicht aber einen unveränderlichen Mechanismus, welchem sich jeder spezielle Fall ohne weiteres einordnen ließe. Einen solchen hat aber die analytische G. in ihren Koordinatensystemen (vgl. Koordinaten). Sie eignet sich besonders zur Untersuchung der krummen Linien und Oberflächen, so daß man häufig die Begriffe „analytische G. der Ebene“ und Kurvenlehre als identisch betrachtet.

Der theoretischen G. steht die praktische gegenüber, welche sich mit der Anwendung auf wirklich vorhandene Gegenstände beschäftigt. Gewöhnlich rechnet man die Ausmessung und Berechnung von Flächen und Körpern nicht zur praktischen G., sondern bezieht jene ausschließlich auf solche Objekte, welche in Einer Ebene liegen. Sobald jedoch die auszumessenden Flächen eine Größe erreichen, welche es nötig macht, die Krümmung der Erdoberfläche zu berücksichtigen, tritt an die Stelle der gewöhnlichen praktischen G. die höhere, die Geodäsie (s. d.).

Geschichte der Geometrie.

Die Erfindung der G. verliert sich in die vorhistorische Zeit. Jedenfalls war sie zunächst ausschließlich empirisch betriebene Feldmeßkunst, und erst allmählich sah man die Notwendigkeit ein, ihr ein theoretisches Fundament zu geben. Über die Art und Weise, wie sich dieser Fortschritt vollzog, gibt uns in interessantester Weise die G. der Ägypter Aufschluß, welche wir teils aus Denkmalsinschriften, teils aus überlieferten Papyrusrollen (darunter besonders der hochwichtige Papyrus Rhind, das vollständige Vademekum eines Feldmessers des 4. Jahrtausends v. Chr.) ziemlich genau kennen. Neben dieser praktischen G. bildete sich in den Priesterschulen des Nillandes eine wissenschaftliche Raumlehre heran, wie denn von verschiedenen alten Autoren die geometrische Richtung des ägyptischen im Gegensatz zu der arithmetischen des babylonischen Volkes ausdrücklich hervorgehoben wird. Als dann in den griechischen Stämmen der wissenschaftliche Trieb erwachte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, die benachbarten orientalischen Kulturländer zu besuchen und dort sich so viel Wissen anzueignen, als nationale Engherzigkeit gestatten wollte. So lernte im 7. Jahrh. v. Chr. Thales von Milet in Ägypten Sonnenfinsternisse vorherbestimmen und eignete sich eine Reihe elementarer geometrischer Lehrsätze an, mit deren Hilfe er für den Hafen seiner Vaterstadt einen einfachen Distanzmesser konstruierte. Nach ihm waren es die ionischen Philosophen, welche die G. pflegten und erweiterten. Vor allen aber ist Pythagoras zu nennen (568–470). Zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs gab Hippokrates von Chios die erste Quadratur einer krummlinigen Figur (der sogen. Monde), löste das Problem der zwei mittlern Proportionallinien und schrieb zuerst Elemente der G. Ungefähr um dieselbe Zeit behandelten die Sophisten Antiphon und Bryson das Problem der Kreisquadratur in ganz rationeller Weise. Platon (429–348), welcher keinen der G. Unkundigen zu seinen Vorlesungen zulassen wollte, suchte der jungen Disziplin die ihr noch fehlende systematische Grundlage zu geben und schuf oder förderte doch wesentlich die Lehre vom Irrationalen und von den Kegelschnitten. Unter seinen unmittelbaren Nachfolgern ragen besonders hervor Hippias, der für die Aufgabe von der Kreisquadratur eine eigne transcendente Kurve, die Quadratrix, ersann, sowie Menächmos und Aristäos. Das 3. Jahrh. v. Chr. ist die eigentliche Blütezeit der hellenischen [136] G., ihm gehört das glänzende Dreigestirn Eukleides (um 300), Apollonios (um 200) und Archimedes (287–212) an. Der erstgenannte verfaßte die uns erhaltenen „Elemente der G.“, welche bis auf die neueste Zeit als Muster eines Lehrbuches galten. Außerdem erweiterte er die Wissenschaft durch mehrere selbständige Werke, von denen wir die „Data“ noch besitzen, während die „Porismen“ (nach Chasles’ Auffassung die analytische G. der Alten) verloren sind. Apollonios bereicherte die noch junge Lehre von den Kegelschnitten durch eine Reihe der schönsten Erfindungen. Archimedes endlich gründete die Elemente der Mechanik auf geometrische Gesetze und löste annähernd die Aufgabe von der Rektifikation des Kreises. In demselben Jahrhundert lebten auch Eratosthenes (geb. 276), der die erste Gradmessung vornahm, und Heron, von dem die schöne Formel für den Inhalt eines Dreiecks durch seine drei Seiten herrührt. Er war auch der erste, der die praktische G. wissenschaftlich bearbeitete. Mit ihm schließt die eigentliche Glanzzeit der griechischen G. ab. Doch sind noch viele bedeutende Namen auch in der folgenden Periode zu nennen, so Hipparch (um 140), der wahrscheinliche Begründer der sphärischen Trigonometrie, Theodosios (um 100), der über die Kugel schrieb, u. a. Aus der Zeit nach Christi Geburt führen wir an Menelaos und vor allen den Astronomen Ptolemäos, dessen Blütezeit mit der Regierung des Kaisers Hadrian zusammenfällt. Ihm verdankt sowohl die sphärische als die ebene Trigonometrie ihre systematische Begründung. Von spätern Geometern sind zu erwähnen Pappos (im 3. Jahrh. n. Chr.), dessen „Mathematische Sammlungen“ ein kostbares Denkmal der ältern griechischen Mathematik bilden, und der Neuplatoniker Proklos (um 450), dessen philosophisch-historischer Kommentar zu einem Teil des Eukleides noch heute nicht ohne Wert ist. Noch später lebte Eutokios, der Erklärer des Archimedes. Von den dem Mittelalter angehörenden griechischen Geometern nennen wir Psellos, Moschopulos und Pediasimos, welch letzterer einen Lehrbegriff der elementaren G. abfaßte. Bei den Römern fand die G. nur insoweit Beachtung, als man ihrer für die Bedürfnisse des täglichen Lebens unmittelbar bedurfte. Statt wissenschaftlicher Mathematiker gab es demnach ausschließlich Feldmesser, deren uns erhaltene Schriften den handwerksmäßigen Standpunkt der Mehrzahl klar hervortreten lassen. Eine rühmliche Ausnahme macht allein der Hydrotechniker Julius Frontinus. Auf einem höhern Standpunkt steht die (allerdings in ihrer Echtheit vielfach angefochtene) G. des Boethius (gest. 524), der letzte Schlußstein römisch-griechischer Kultur vor der hereinbrechenden Barbarei des Mittelalters.

Die folgenden fünf Jahrhunderte können wir völlig aus der Geschichte der G. streichen; was man allenfalls noch wußte, ersehen wir aus der von Alkuin für Karls d. Gr. Schulen verfaßten Beispielsammlung, die womöglich noch unter den römischen Standpunkt heruntergeht. Erst in der G. des Franzosen Gerbert (gest. 1002) finden wir wieder Spuren selbständigen Denkens. Bald darauf begannen mit Atelhart von Bath und Gerhard von Cremona (1114–1187) die Übersetzungen der griechischen G. Einen höchst wesentlichen Fortschritt bekundet die „Practica geometriae“ des Leonardo Fibonacci (1220), dem die Algebra so viel verdankt. Campanus lieferte eine verbesserte Bearbeitung des Eukleides. Als die bedeutendsten Geometer des Mittelalters sind jedoch Nikolaus Oresme (gest. 1389), der in seinen „Latitudines“ bereits den Koordinatenbegriff des Descartes antizipierte, und Thomas v. Bradwardine, Urheber einer scharfsinnigen Theorie der Sternpolygone (um 1340), zu erwähnen.

Im Osten besaßen die Chinesen schon in der Zeit vor Christo tüchtige geometrische Kenntnisse, wie sie denn ein auf das rechtwinkelige Dreieck mit den Seiten 3, 4, 5 basiertes Meßinstrument kannten. An sie schließen sich die Inder an, deren erster bekannter Astronom, Aryabhatta (um 450 n. Chr.), bereits als tüchtiger Mathematiker gerühmt wird. Der hervorragendste indische Geometer ist aber Brahmegupta, dessen um 628 erschienene „G.“ in einer Reihe eleganter Betrachtungen über solche Vierecke gipfelt, welche sich aus rationalen Zahlen bilden lassen. Vier bis fünf Jahrhunderte später lebte Bhaskara Acharya, dessen Werke eine bedeutende Ausbildung der indischen Trigonometrie bekunden. Aus indischen und griechischen Quellen entnahmen die Araber ihre wissenschaftlichen Kenntnisse und verschmolzen beides zu einem eigenartigen Ganzen. Mathematisch Neues leisteten dieselben vor allem in der Trigonometrie, wo sie die unbehilflichen Sehnen der Griechen abschafften und nach indischer Art mit Sinus und Kosinus rechneten; ja, Ibn Junis erfand um 1000 n. Chr. sogar die Tangenten. Omar Alkhayami lehrte kubische Gleichungen durch Kegelschnitte konstruieren, und der Marokkaner Ibn Haitham (Alhazen) ging in seiner geometrischen Optik weit über seine griechischen Vorbilder hinaus.

Die ersten Schriften, welche der Occident beim Wiedererwachen der Wissenschaft kennen lernte, waren arabischen Ursprungs. Hierzu kam allmählich die durch den Fall von Byzanz (1453) so wesentlich geförderte Kenntnis der griechischen Originale, deren Verbreitung die eben erfundene Buchdruckerkunst großen Vorschub leistete. Die bedeutendsten Geometer dieser Periode sind der Astronom Peurbach (1423–61) und sein großer Schüler Regiomontanus (1436–76), welch letzterer besonders die Trigonometrie förderte. In deutscher Sprache schrieben der Baumeister Roriczer (1486) und der Maler Albrecht Dürer (1525) über G. Das 16. Jahrh. sah die großartige Entwickelung der Trigonometrie durch Kopernikus, Rheticus, Pitiscus u. a.; der jüngere Apian bezeichnet durch seine meisterhafte Karte von Bayern eine neue Epoche in der Geschichte der praktischen G., und am Ausgang des Jahrhunderts finden wir die Niederländer Stevin, Girard und Snellius, den Erfinder der Triangulationsmethode, sowie den Franzosen Vieta. Im J. 1615 schrieb der Astronom Kepler seine tiefsinnige „G. der Fässer“, in welcher er die ersten Keime zu einer G. unendlich kleiner Größen niederlegte. In ähnlichem Sinn arbeiteten die Italiener Cavalieri (1598–1647) und der Franzose Roberval (1602–1675), vor allen aber der berühmte Fermat (1601–1665), der auch mit dem Wesen der rechtwinkeligen Koordinaten bereits vertraut war. Um dieselbe Zeit ließen Desargues (1593–1662) und Pascal (1623–1662) die reine G. im Sinn der Alten wieder aufleben. Den wichtigsten Fortschritt bezeichnet jedoch Descartes (1596–1650), der eigentliche Schöpfer der analytischen G., in dessen Fußstapfen nun fast alle zeitgenössischen Gelehrten traten, von denen wir besonders den Niederländer Huygens (1629–95) namhaft machen, den seine Untersuchungen über die Pendeluhr auf die Lehre von den Evoluten leiteten. Die höhere Kurvenlehre bildeten noch Wallis (1616–1703), Barrow (1630–77), Tschirnhaus (1651–1708) weiter aus und legten so den Grund zu der nun [137] folgenden Schöpfung der Differentialrechnung durch den Deutschen Leibniz (1646–1716) und den Engländer Newton (1642–1727). Auf der von diesen Neuern eingeschlagenen Bahn schritten unzählige andre fort. Wir nennen die acht Mitglieder der Familie Bernoulli, Leonhard Euler (1707–83), den Begründer der analytischen Trigonometrie, Cotes (1682–1716), dessen Name in der Lehre von der Kreisteilung fortlebt, Clairaut (1713–65), welcher zuerst über doppelt gekrümmte Kurven schrieb, Parent (1666–1716), der des Cartesius G. von der Ebene auf den Raum ausdehnte, Cramer (1704–52), der ein meisterhaftes Lehrbuch der Kurventheorie lieferte, sowie Maclaurin (1698–1746), Simson (1687–1768) und Stewart (1717–85) als Vertreter der synthetischen G. Der Schweizer Lambert (1728–77) bearbeitete wissenschaftlich die Perspektive. An der Schwelle des 19. Jahrh. treten uns entgegen Lagrange (1736–1813), Laplace (1749–1827), Legendre (1752–1833) und Monge (1746–1818), der Begründer der deskriptiven G. Um jene Zeit begann jene schon früher vorhandene Spaltung der Raumlehre in synthetische und analytische G. bestimmtere Formen anzunehmen. Während Carnot (1753–1823), Poncelet (1788–1867), Steiner (1796–1863), v. Staudt (1798–1868) und M. Chasles vor allen die erstere Richtung pflegten, ward auch die analytische Richtung nicht vernachlässigt. Möbius (1827) schrieb seinen „Baryzentrischen Kalkül“, der neue Bahnen für jene eröffnete; in einer Reihe von Werken lehrte Plücker (1801–68) die Theorie der algebraischen Kurven und Oberflächen allgemein behandeln, und durch eine Reihe schwieriger zahlentheoretischer Untersuchungen gelang es Poinsot (1777–1859), die Stereometrie durch vier neue regelmäßige Körper, die sogen. Sternpolyeder, zu bereichern. In der neuesten Zeit hat sich der erwähnte Unterschied zwischen synthetischer und analytischer G. zu verwischen begonnen, besonders infolge der zusammenfassenden Arbeiten von Clebsch (1833–72). Die Geodäsie verdankte dem von Newton ausgehenden Streit über die eigentliche Gestalt der Erde neue Anregung. Die dadurch veranlaßten Gradmessungen, unter denen besonders die von Maupertuis (1698–1759) und Bouguer (1698–1758) veranstalteten hervorragen, nötigten zur Verbesserung der vorhandenen und zur Erfindung neuer Hilfsmittel; die theoretische Seite der Wissenschaft fand reiche Förderung durch Männer wie Oriani (1752–1832), Gauß (1777–1855) und Bessel (1784–1846). Was diese Disziplin zu leisten vermag, davon liefert die gegenwärtig in der Vollendung begriffene europäische Gradmessung das sprechendste Zeugnis.

[Litteratur.] Die Elementargeometrie behandeln: Kunze, Lehrbuch der G. (2. Aufl., Jena 1851); Lübsen, Ausführliches Lehrbuch der G. (12. Aufl., Leipz. 1885); Schlömilch, Grundzüge einer wissenschaftlichen Darstellung der G. des Maßes (6. Aufl., das. 1883, 2 Tle.); Baltzer, Die Elemente der Mathematik, Bd. 2 (6. Aufl., das. 1883). Für Trigonometrie seien erwähnt die Lehrbücher von Dienger (3. Aufl., Stuttg. 1867), Lübsen (14. Aufl., Leipz. 1884), Brockmann (2. Aufl., das. 1880); für darstellende G. die Lehrbücher von Gugler (4. Aufl., Stuttg. 1880), Klingenfeld (Nürnb. 1871–74, 2 Bde.), Fiedler (3. Aufl., Leipz. 1883), Schlesinger (Wien 1870), v. Peschka (das. 1883–84, 3 Bde.), Wiener (Leipz. 1884 ff., 2 Bde.). Unter dem großen Reichtum von Lehrbüchern der analytischen G. mögen hervorgehoben werden: Fort und Schlömilch, Lehrbuch der analytischen G. (5. Aufl., Leipz. 1883–86, 2 Bde.); Joachimsthal, Elemente der analytischen G. der Ebene (2. Aufl., Berl. 1871); Salmon, Analytische G. der Kegelschnitte (deutsch von Fiedler, 4. Aufl., Leipz. 1878); Derselbe, Analytische G. der Kurven im Raum und der algebraischen Flächen (3. Aufl., das. 1880), letztere zwei umfassende Handbücher, welche besonders die neuern Anschauungen berücksichtigen; Baltzer, Analytische G. (das. 1882). Die neuere G. endlich behandeln: v. Staudt, G. der Lage (Nürnb. 1860); Reye, G. der Lage (2. Aufl., Hannov. 1877–1880, 2 Tle.); Zech, Höhere G. in ihrer Anwendung auf Kegelschnitte und Flächen zweiter Ordnung (Stuttg. 1856); Chasles, Traité des sections coniques (Par. 1865); Cremona, Einleitung in eine geometrische Theorie der ebenen Kurven (a. d. Ital. von Curtze, Greifsw. 1865); Steiner, Vorlesungen über synthetische G. (Leipz. 1867, 2 Tle.); Gretschel, Organische G. (das. 1868); Schröter, Theorie der Oberflächen zweiter Ordnung etc. (das. 1880). Für ein zusammenhängendes Studium der analytische und synthetische Betrachtungsweisen zusammenfassenden geometrischen Auffassung eignen sich am besten die klassischen Lehrbücher von Hesse: Ebene G. der geraden Linie und des Kreises (Leipz. 1865) und Analytische G. des Raums (3. Aufl., das. 1877); Clebsch, Vorlesungen über G. (das. 1876). Die Geschichte der G. behandelt Chasles in seinem „Aperçu historique“ (Par. 1837, 2. Aufl. 1875; deutsch von Sohnke, Halle 1839); für die neuern Fortschritte der Wissenschaft ist desselben Autors „Rapport sur les progrès de géométrie“ (Par. 1870) zu vergleichen. Für die ältere Geschichte der G. sind maßgebend: Bretschneider, Die G. und die Geometer vor Euklides (Leipz. 1870); Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik (das. 1880). Wer schließlich die neuern Versuche der G., sich von der gewöhnlichen Raumanschauung zu emanzipieren, d. h. die nicht Euklidische G., kennen lernen will, greift am besten zu folgenden beiden Schriften: Frischauf, Absolute G. (Leipz. 1872); Derselbe, Elemente der absoluten G. (das. 1876); vgl. ferner: J. C. Becker, Abhandlung aus dem Grenzgebiet der Mathematik und der Philosophie (Zürich 1870); Killing, Die nicht euklidischen Raumformen (Leipz. 1885). Alle in das Gebiet der praktischen G. einschlagenden Fragen behandeln Bauernfeinds „Elemente der Vermessungskunde“ (6. Aufl., Stuttg. 1879).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 372373
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[372] Geometrie. Die allgemeinen Grundbegriffe: Körper, Fläche, Linie, Punkt, wie die besondern: Punkt, Gerade, Ebene (Abstand, Richtung, Winkel), sind Grenzbegriffe (s. d.), welche sich im Laufe der Jahrtausende aus der sinnlichen Erfahrung entwickelt haben. Die Fläche ist das zweien materiellen Körpern Gemeinsame, welches sie gegeneinander abgrenzt; an der Ausbildung dieses Begriffes hat der Tastsinn hervorragenden Anteil, insofern das tastende Organ den einen der beiden aneinander grenzenden Körper ausmacht. Die Linie, als das mehreren Flächen Gemeinsame, verdanken wir zumeist dem Auge. Punkt als Körperecke ist das mehreren Linien Gemeinsame. Der geometrische Körper geht aus dem natürlichen durch Absehen von allem Materiellen hervor; er ist der von den Grenzflächen des materiellen Körpers eingeschlossene Raum. Oft werden Fläche, Linie, Punkt als Grenzbegriffe erklärt, indem man eine Reihe bildet von Körpern, deren Tiefe, von Flächen, deren Breite, von Linien, deren Länge mehr und mehr schwindet. Diese Erzeugungsart der Grundbegriffe schließt indes einen Zirkelschluß ein; um z. B. vom Schwinden einer Fläche reden zu können, muß die Fläche als Begrenztes vorgestellt werden, und diese Vorstellung setzt den Begriff der Linie bereits voraus. Der genannte Grenzprozeß führt vielmehr zu den Begriffen: Körper-, Flächen-, Linienelement. Ebenso fehlerhaft ist es, den Körper aus der Fläche, die Fläche aus der Linie, die Linie aus dem Punkte durch Bewegung zu erzeugen. Der Raum selbst ist starr und unbeweglich; Bewegung eines Punktes im geometrischen Sinne bedeutet die Möglichkeit einer ununterbrochenen (stetigen) Zusammenfassung von Punkten, und der Begriff einer solchen Stetigkeit geht erst aus dem der Linie hervor. Allerdings hat der Punkt auch unabhängig von der Linie eine begriffliche Existenz; als Ort, als Stelle, als Einzelnes im Raume gehört er zu den besondern Grundbegriffen. Diese alle werden, obwohl es keine befriedigende Definition gibt, mit Leichtigkeit in dem Bewußtsein eines jeden hervorgerufen, da sie auf unsrer eignen körperlichen Verfassung beruhen. Der idealistischen Erklärung des Punktes (als Grenzabschluß der Ortsbestimmung) von Fresenius: „Der mathematische Punkt ist im Raume das objektive Abbild der im Subjekt empfundenen Unteilbarkeit des Bewußtseins“, steht realistisch gegenüber: „Punkt ist die Raumempfindung des Zellkerns“. Zahllos sind die vergeblichen Versuche, die gerade Linie und die Ebene zu definieren. Die Gerade hängt eng mit den Grundbegriffen Abstand und Richtung zusammen. Den Abstand oder die Strecke zwischen zwei Punkten verdanken wir wohl zumeist der innern Empfindung, äußerlich dem gespannten Seile, der Richtschnur. Geht man vom Linienelement als einer bestimmten Länge aus, so läßt sich der Abstand zweier Punkte definieren als diejenige Verbindung derselben, welche die geringste Anzahl Linienelemente enthält. Richtung, fast gleichbedeutend mit Strahl, der über den einen Endpunkt unbegrenzt verlängerten Strecke, danken wir zumeist dem Lichte, dann auch der Schwere, die uns aufrecht zu gehen zwingt, aber auch der innern Empfindung des Überganges von einer Raumvorstellung auf die andre. Der Übergang von der Strecke zur Geraden geschieht durch die reihenbildende Kraft der Beziehungen: rechts und links. Die Gerade ist ihrer Entstehung nach unbegrenzt; daß sie unermeßlich sei, d. h. also nicht in sich zurückkehre, ist eine willkürliche Annahme (s. Parallelenaxiom). Am häufigsten dient als Erklärung der Geraden ihre Eigenschaft, durch zwei ihrer Punkte bestimmt zu sein, namentlich in der Form: eine Gerade ändert ihre Lage bei keiner Bewegung, bei welcher zwei ihrer Punkte fest bleiben. Auch für die Ebene, welche wir als Symmetrieebene der beiden Körperhälften in uns empfinden, lassen sich nur Eigenschaften angeben, von denen jede einzelne mehr oder weniger häufig als Definition benutzt worden ist, aus der mittels Fehlschlüssen die andern abgeleitet wurden. Erwähnenswert sind die Erklärungen von Bolzano: „Die gerade Linie ist diejenige Linie, welche außer der Länge keine zweite Dimension, also keine Breite, und die Ebene diejenige Fläche, welche keine dritte Dimension, also keine Tiefe voraussetzt.“ Der Grundbegriff Winkel endlich wird am einwandfreiesten erklärt als Stück der Ebene, zwischen zwei Strahlen, die von demselben Punkte ausgehen, d. h. also Grenze des Kreissektors bei über jedes Maß wachsendem Radius.

Die nichteuklidische G., auch imaginäre (Lobatschewsky) oder absolute (Bolyai) genannt, rührt von Gauß her, der etwa um 1792 zu der Einsicht kam, daß unser Parallelenaxiom keine Denknotwendigkeit sei. Gauß hat nicht nur Bolyai, sondern durch Vermittelung von Bartels auch Lobatschewsky beeinflußt. Letzterer hat in einem Vortrag vor der physikalisch-mathematischen Fakultät zu Kasan 26. Febr. 1826 die erste Geometrie veröffentlicht, welche unser Parallelenaxiom fallen läßt. Die nichteuklidische G. nimmt an, daß es durch jeden Punkt A zu jeder Geraden g zwei verschiedene Geraden QAP und Q′AP′ gibt (Fig. 1), welche die [373] Schneidenden von den Nichtschneidenden trennen (s. Parallelenaxiom: Fall 1b), symmetrisch zu der Senkrechten AB von A auf g. Diese Geraden heißen die Parallelen durch A zu g und werden als Rechts- und Linksparallele unterschieden; man sagt, sie schneiden g rechts und links im Unendlichen, und die gerade Linie gilt also in der nichteuklidischen G. als im Unendlichen nicht geschlossen. Da der Kreis stets geschlossen zu denken ist, auch wenn sein Radius über

Fig. 1.

jedes Maß hinauswächst, so geht hier der Kreis von unendlich großem Radius nicht in eine Gerade über, sondern in eine ebenfalls gleichförmige, in sich verschiebbare Linie: den Grenzkreis. Auch im Grenzkreis bildet jede Sehne mit ihren Radien gleiche Winkel. Der Winkel BAP heißt der Parallelwinkel für die Distanz AB. Da jede Senkrechte auf AB zwischen A und B den Strahl AP schneidet und jede hinter B nicht schneidet, so nimmt der Parallelwinkel mit wachsender Distanz beständig ab, und zwar von 90° für die Distanz 0 bis zu 0° für die Distanz ∞. Es gehört also zu jeder bestimmten Distanz ein bestimmter Parallelwinkel und umgekehrt; und da die Parallelen sich mehr und mehr einander nähern, bis sie im Unendlichen zusammentreffen, so sind in der nichteuklidischen G. alle Streifen, d. h. Stücke der Ebene zwischen zwei Parallelen, einander gleich. Dies ist

Fig. 2.

der wesentlichste Unterschied zwischen ihr und unsrer G. Wendet man (Fig. 2) den Streifen BAP um die Achse g, so entsteht ein neuer Streifen zwischen AP und απ, von dem der vorige die Hälfte ist; und doch sind beide gleich und lassen sich durch Schieben zur Deckung bringen. Hier hat man einen schlagenden Beweis dafür, daß die Beziehungsbegriffe Teil-Ganzes einerseits und kleiner-größer anderseits für das Unendlichgroße auseinanderfallen (s. Grenzbegriff). Zwei Nichtschneidende derselben Ebene besitzen eine kürzeste Verbindung, welche auf beiden zugleich senkrecht steht, und von der aus die Abstände jeder von der andern nach beiden Seiten hin gleichmäßig ins Unendliche zunehmen. Hieraus folgt sofort, daß im Dreieck die Winkelsumme kleiner als zwei Rechte ist, im Viereck also kleiner als vier Rechte, und daraus, daß nie mehr als zwei Punkte einer Geraden von einer andern gleichen Abstand haben. Der Ort der Punkte, welche von einer gegebenen Geraden gleichen Abstand haben, ist also keine Gerade, sondern eine eigenartige, gleichförmige, in sich verschiebbare Linie: die Abstandslinie. Man sieht, daß die Eigenschaften unsrer Geraden in der nichteuklidischen G. sich auf die Gerade als kürzeste Linie, den Grenzkreis als Grenzfall des Kreises und die Abstandslinie verteilen. Wie zu erwarten, werden die Flächensätze durch die Abstandslinie erhalten; es gilt der Satz: die Flächen zweier Dreiecke verhalten sich wie die Unterschiede ihrer Winkelsummen von 180°. Es gibt ein absolut größtes Dreieck, dessen Seiten einander parallel, also dessen Winkel alle drei = 0° sind; es wird mittels der Distanz des Parallelwinkels von 45° konstruiert, und seine Fläche ist endlich. In der nichteuklidischen G. existiert ein natürliches Längenmaß: der Abstand k, für welchen das Verhältnis konzentrischer entsprechender Grenzbogen gleich der Zahl e, der Basis des natürlichen Logarithmensystems, ist. Die nichteuklidische G. findet auf der „Pseudosphäre“ Beltramis ihre Versinnlichung. Vgl. Fresenius, Die psychologischen Grundlagen der Raumwissenschaft (Wiesb. 1868); Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellungen (Leipz. 1873); Simon, Elemente der G. (Straßb. 1890); Derselbe, Zu den Grundlagen der nichteuklidischen G. (das. 1891); Schotten, Inhalt und Methode des planimetrischen Unterrichts (Leipz. 1890); Frischauf, Elemente der absoluten G. (das. 1876); Klein, in Bd. 9 ff. der „Annalen“; Simon, Elemente der G. mit Rücksicht auf die absolute G. (Straßb. 1890).