Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Arbeitsschulen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 761
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Arbeitsschulen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 761. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Arbeitsschulen (Version vom 13.06.2024)

[761] Arbeitsschulen, Unterrichtsanstalten, in welchen den Schülern nicht sowohl bildende Kenntnisse als nützliche gewerbliche Fertigkeiten beigebracht werden. Schon im vorigen Jahrhundert brach sich vielfach die Überzeugung Bahn, daß beide Arten des Unterrichts in der Volksschule zu verbinden seien, da diese vorwiegend die Jugend der arbeitenden Klassen vorzubilden habe, für deren glückliches Fortkommen neben einem bescheidenen Maß geistiger Bildung ganz besonders die Geschicklichkeit der Hände von Bedeutung zu sein schien. An vielen Orten suchte man auch durch die Handarbeiten den Schülern einen kleinen Verdienst zu sichern, um so den Schulbesuch zu befördern und ärmere Eltern für den Ausfall an häuslicher Arbeit zu entschädigen. Nach dem Vorgang A. H. Franckes in Halle und Heckers in Berlin und im Anschluß an Locke und Rousseau nahmen die sogen. Philanthropen auch für die Zöglinge aus höhern Ständen, als Gegengewicht gegen die einseitige Ausbildung des Geistes, Handwerksübungen in ihren Lehrplan auf. So schien es um 1800, als würde sich die Verbindung der Arbeits- oder Industrieschule mit der Lernschule allgemein einbürgern. Herzog Peter von Holstein-Oldenburg ordnete dieselbe für seine holsteinischen Besitzungen an (1796), und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen empfahl sie 1799 in einer auf die Reform der Volksschule bezüglichen Kabinettsorder. Indes ist in Deutschland nur der Unterricht der Mädchen in weiblichen Arbeiten wirklich allgemein eingebürgert oder wenigstens allgemein vorgeschrieben; die Anleitung der Knaben zu Handfertigkeiten findet sich meist nur in Internaten, wie Waisen-, Rettungshäusern, Blinden-, Taubstummenanstalten etc. Seit einigen Jahren ist im skandinavischen Norden, zuerst in Finnland und dann mit größerm Erfolg in Schweden, die Sache des Arbeitsunterrichts in Verbindung mit den Bestrebungen zur Hebung des Haus- und Handfleißes, namentlich der ländlichen Bevölkerung (Handslöjd, Hemslöjd), neu angeregt worden. Ein königlicher Erlaß vom 11. Sept. 1877 empfahl allen schwedischen Schulbehörden die Einführung des Slöjdunterrichts und stellte staatliche Beihilfe für dieselbe in Aussicht; an den Seminaren zu Karlstad und Kalmar wurde derselbe ebenfalls in den Lehrplan aufgenommen, und der reiche Menschenfreund Abrahamson in Nääs bei Gotenburg errichtete ein eignes Slöjdseminar. Schon vorher war die Bewegung, freilich mit minder durchgreifendem Erfolg, durch den Rittmeister v. Clauson-Kaas (s. d.) nach Dänemark übertragen und hatte durch dessen Reisevorträge und Ausstellungen auch im übrigen Europa, namentlich in Deutschland, Aufmerksamkeit erregt. Verschiedene Vereine für das Wohl der arbeitenden Klassen (Berlin, Waldenburg i. Schl., Leipzig, Görlitz, Osnabrück etc.) nahmen die Sache in die Hand, bei Bekämpfung des Notstandes in Oberschlesien 1879–80 trat ihr auch die preußische Regierung näher und sandte 1880 eine Kommission von Schulmännern nach Dänemark und Schweden, um die dortigen Erfolge zu prüfen. Doch hat der Staat eine allgemeinere Einführung abgelehnt und die Sache der Vereinsthätigkeit anheimgestellt, welche an mehreren Stellen durch namhafte staatliche Zuschüsse unterstützt wird. Ein allgemeiner deutscher Verein zur Beförderung des Handfertigkeitsunterrichts wurde 1881 unter Vorsitz von A. Lammers in Bremen begründet. Derselbe hielt seine vierte Jahresversammlung 1884 in Osnabrück, wo von verschiedenen Seiten über erfreulichen Fortgang der Sache berichtet werden konnte. Vgl. Clauson-Kaas, Die Arbeitsschule neben der Lernschule (im „Arbeiterfreund“, Berl. 1876, Heft 2 u. 3); Wilski, Denkschrift über den dänischen Hausfleiß (das. 1877, Heft 6); Hansen, Der Hausfleiß im Norden (das. 1878, Heft 2); Salomon, Arbeitsschule und Volksschule (a. d. Schwed., Wittenb. 1881); J. Meyer, Der Handfertigkeitsunterricht und die Schule (Berl. 1881); Götze, Ergänzung des Schulunterrichts durch praktische Beschäftigung (Leipz. 1880).


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 47
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[47] Arbeitsschulen (Handfertigkeitsunterricht). Neuere Litteratur: J. Meyer, Geschichtliche Entwickelung des Handfertigkeitsunterrichts (Berl. 1882); Elm, Der deutsche Handfertigkeitsunterricht in Theorie und Praxis (Weim. 1883); Gelbe, Der Handfertigkeitsunterricht (Dresd. 1885); Seidel, Der Arbeitsunterricht (Tübing. 1886); Rom, Praktische Einführung in die Knaben-Handarbeit (Leipz. 1889); Götze, Aus der Lehrerbildungsanstalt des deutschen Vereins für Knabenarbeit (das. 1889).


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 4546
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[45] Arbeitsschulen. Unter dieser Überschrift ist bisher (vgl. Bd. 1 u. 17) über das Streben, auch bei den Knaben den Unterricht in gewissen Handfertigkeiten allgemein einzuführen, und namentlich über die Fortschritte des deutschen Vereins für erziehliche Knabenhandarbeit berichtet worden. Der Verein und mit ihm die Sache, die er vertritt, haben aus den letzten Jahren bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Die Frage des Handarbeitsunterrichts für die männliche Jugend beschäftigt immer weitere Kreise. In Frankreich ist dieser Unterricht durch Erlaß des Unterrichtsministers vom 28. März 1882 allgemein und pflichtig in sämtlichen Volks- und Bürgerschulen sowie demgemäß in den Lehrerbildungsanstalten eingeführt worden. Nach neuern amtlichen Berichten sind thatsächlich 180 Normalschulen (Seminare) und 220 höhere Volksschulen in Frankreich mit eignen wohlbesetzten Werkstätten ausgerüstet, während in 12,000 Volksschulen die Handarbeit der Knaben mit einfachern Mitteln betrieben wird. Amtliche Einfügung dieses neuen Zweiges in den Lehrplan der öffentlichen Volksschule ist ferner vom Jahre 1891 an durch ein neues Schulgesetz in Norwegen festgesetzt worden. In den übrigen Ländern der gebildeten Welt steht wenigstens dieser Gegenstand überall mit im Vordergrund der öffentlichen Interessen und wird gleicherweise vom pädagogischen wie vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus immer mehr gewürdigt. Das deutsche Handfertigkeitsseminar zu Leipzig, dessen verdienter Leiter, Dr. W. Götze, jetzt ganz in den Dienst des [46] Vereins übergetreten ist, entfaltet rege Thätigkeit und hat in den letzten beiden Jahren je drei Lehrkurse (Ostern, Juli, August) von 4–8 Wochen unter zahlreicher Beteiligung von Lehrern aller Stufen abgehalten. Gleichzeitig wird aus Schweden berichtet, daß das dortige Slöjdseminar zu Nääs bei Gotenburg geradezu großartige Ausdehnung angenommen hat. Es enthält außer der Wohnung des bekannten Vorstehers Otto Solomon (Björkenääs) Werkstätten für etwa 100 Zöglinge mit den entsprechenden Räumen für Vorträge, gesellige Zusammenkünfte, Wohnung etc. In dem Jahrzehnt von 1879 bis 1889 sind dort gegen 1100 Lehrer aller Schularten für den Handfertigkeitsunterricht ausgebildet; davon etwa 900 aus Schweden, von den übrigen die Mehrzahl aus England und Finnland. Namentlich englische Lehrer strömen in Scharen herbei, so daß z. B. im letzten Jahre von 130 englischen Bewerbern über 100 zurückgewiesen werden mußten. Auch die Regierungen haben in Deutschland angefangen, der Bewegung Aufmerksamkeit zuzuwenden. Bereits 1886 bewilligte der Landtag im Königreich Sachsen 5000 Mk. jährlich zur Förderung des Arbeitsunterrichts. Im März 1889 ging auch im preußischen Landtag die Forderung von 14,000 Mk. für den neuen Staatshaushaltsetat anstandslos durch, wovon 5000 Mk. dem Verein überwiesen sind, denen der Reichskanzler aus Reichsmitteln den gleichen Betrag hinzugefügt hat. Unter den günstigsten Anzeichen konnten so der neunte Kongreß für erziehliche Knabenarbeit in Hamburg (29. Sept. 1889) und der zehnte zu Straßburg (23. Aug. 1890) abgehalten werden. Beidemal waren staatliche Behörden, städtische Verwaltungen, Vereine etc. in größerer Zahl vertreten und Gäste aus andern Ländern erschienen. Besonders bedeutsam gestaltete sich die Hamburger Versammlung, wo in beredten Vorträgen der Lehrer Rißmann aus Berlin das Interesse des Lehrerstandes und der Direktor des Hamburger Kunstgewerbemuseums, Justus Brinckmann, das Interesse des Gewerbestandes an der Förderung der Knabenhandarbeit darlegten. Nach dem Bericht des Abgeordneten von Schenkendorf bestehen (in Deutschland) die meisten A. im Königreich Sachsen, sodann in Schlesien, Provinz Sachsen, Elsaß-Lothringen, Thüringen. Er zählte (abgesehen von Werkstätten, die in Erziehungsanstalten, öffentlichen und privaten, bestehen) 65 A. an 60 Orten. Unter den Lehr- und Erziehungsanstalten, an denen der Arbeitsunterricht für die männliche Jugend eingeführt ist, befinden sich 12 Lehrerseminare, 13 Volks- und Privatschulen, 14 Waisenhäuser, 45 Knabenhorte. Im ganzen sollen 1889 in Deutschland wenigstens 180 Schülerwerkstätten an 107 Orten mit 5500 Zöglingen bestanden haben. Lehrend waren in diesen Werkstätten etc. 199 Lehrer und 48 Handwerker thätig. Mit den Kongressen für erziehliche Knabenarbeit waren auch Ausstellungen von Schüler- und Lehrerarbeiten verbunden, die neben manchen erfreulichen Erzeugnissen aber doch zeigten, was auch die Verhandlungen ergaben, daß die Ansichten über die Ziele, welche auf diesem Gebiet zu erstreben sind, noch recht weit auseinander gehen. Neben wahren Kunstprodukten, deren Herstellung den damit beschäftigten Knaben schwerlich erfrischende Erholung gegenüber der eigentlichen Schularbeit gewährt hat, sah man auch sehr einfache und rohe Arbeiten, die für die ästhetische Bildung keinen rechten Wert haben. Der Berichterstatter der „Deutschen Schulzeitung“ über die Straßburger Ausstellung empfiehlt als besonders glücklich den Lehrgang des Gymnasiallehrers Fischer zu Zabern i. Els., der in naturgemäßer Folge vom Leichtern zum Schwerern fortschreitet und die Handfertigkeitsübungen thunlichst eng an das Zeichnen schließt. Auch der Beschluß des zehnten Kongresses, daß der Handarbeitsunterricht „in den städtischen Volksschulen wie an den höhern Lehranstalten, besonders aber in den Lehrerbildungsanstalten überall da, wo die Voraussetzungen gegeben sind, wahlfrei einzuführen sei“, kam nicht ohne lebhaften Widerspruch solcher Schulmänner zu stande, die von der „wahlfreien“ Einführung entweder Mißerfolg oder Überbürdung, diese namentlich an den Lehrerseminaren, befürchteten.