Londons unterirdische Reinigungsadern

Textdaten
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Autor: H. B.
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Titel: Londons unterirdische Reinigungsadern
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 462–463
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Londons unterirdische Reinigungsadern.
Ein Wink für Deutschlands Großstädte.

Wieder sind Rachegeister für Unreinlichkeit, schlechte Luft, Kost und Wirthschaft auf dem ersten Wege der Cholera unterwegs. In Deutschland scheint man sich nicht viel daraus zu machen, während in dem entlegneren England, wo Sinn, Bildung und Anstalten für öffentliche Gesundheitspflege – ganz besonders seit der Cholera – ungemein entwickelt sind, Staats- und Gesundheitsbehörden, Gesandte, Consuln und specielle sachverständige Missionäre sich vereinigen, um das Wesen dieser Rachegeister kennen zu lernen und den Feind möglichst gerüstet zu empfangen.

Sie sind gerüstet, wie kein Volk in der Welt, namentlich in London. Gerüstet mit einem zweiundachtzig englische Meilen langen Systeme massiver, weiter Auffange-Cloaken (intercepting sewers), welche den Inhalt der 1300 englische Meilen langen älteren Cloaken unter den verschiedenen Stadttheilen entlang in sich aufnehmen, um ihn ganz unten in das Meeresbereich der Themse abzuleiten, von wo die Spülicht- und Exkrementen-Masse nicht mehr in das Londoner Bereich zurückgefluthet werden kann, außerdem in den ungeheueren, stets stark bewegten Wassermassen so verdünnt wird, daß schädliche Ausdünstung nicht mehr möglich ist. Dies mit einem Kostenaufwande von etwa fünfundzwanzig Millionen Thalern unternommene Riesenwerk ist jetzt in der Hauptsache vollendet und in diesem Frühjahr vom Prinzen von Wales feierlich eingeweiht worden; es ist die großartigste That unterirdischer Ingenieur-Kunst.

Suchen wir uns von diesem Londoner Cloakensystem nun eine Vorstellung zu machen, so weit dies ohne Bild und Ortskenntniß dem Leser möglich sein mag. Die neuen großen Auffange- und Ableitungs-Canäle bestehen aus drei gigantischen Haupttunnels, die sich vom äußersten Westen unter der Stadt hin nach dem äußersten Osten senken und die alten Canäle und Cloaken in rechten Winkeln durchschneiden und zwar etwas tiefer, als letztere liegen, damit diese ihren Inhalt kräftig fallen lassen. Diese großen Tunnels führen allen Cloaken-Inhalt vierzehn Meilen weit östlich von der Londonbrücke meerwärts zunächst in Reservoirs am Ufer, aus welchen sie während der Fluthzeit in die abwärts sich wälzenden Wassermassen entleert werden. Hat man sich erst über Benutzung dieses Düngerreichthums geeinigt, so kann man ihn von diesen Reservoirs aus verwerthen. Wenigstens existiren darüber verschiedene Pläne. Um alle Stadttheile auf dem hügeligen Terrain in die Gewalt dieser Haupttunnels zu bekommen, mußten auf jeder Seite der Themse drei verschiedene Tiefen von Tunnels gezogen werden, Hoch-, Mittel- und Tief-Cloaken.

Der Hochtunnel für den höchsten und größten Theil der Stadt vom Norden herunter beginnt auf den im Norden von London sich erhebenden Höhen von Hampstead und drainirt zehn Quadratmeilen. Ein Theil derselben liegt so niedrig, daß ein Zweigtunnel unmittelbar in die Tief-Cloake ablenkt, während der Hochtunnel über der Erde wie ein hoher Eisenbahnbau fortläuft. Doch muß er auf seinem zehnmeiligen Wege, rund, bis zwölf Fuß im Durchmesser, noch ganz andere Schwierigkeiten überwinden. So läuft er häufig unmittelbar unter Häusern und Straßen, die während der Aushöhlung und Mauerung zum Theil durch eisernes Säulenwerk gestützt werden mußten. An einer andern Stelle war ein Weg unter dem Neuen Flusse (New River) und [463] dann wieder unter einer großen Eisenbahn hindurchzuarbeiten, und sogar unter einem Canale hin blos vierundzwanzig Zoll tief unter dessen Bett, so daß auf die genialste Weise innerhalb dieser vierundzwanzig Zoll für Wasserdichtigkeit gesorgt werden mußte. Größere Schwierigkeit gab es noch bei Tunnelirung der südlichen Haupt-Cloake zu überwinden, da sie tausend Fuß lang dicht unter Häusern und Straßen wegläuft. An anderen Stellen drang beim Tunneliren das Wasser so mächtig ein, daß man es nur durch Pumpwerke, die in jeder Minute achttausend Gallonen (eine Gallone enthält etwa zehn Pfund destillirten Wassers) emporrissen, zu bewältigen im Stande war.

Andere dieser mächtigen Tunnels sind dicht unter großen Eisenbahnen, auf denen fast immer ankommende und abgehende Züge donnern, hindurchgehöhlt und gemauert worden ohne jegliche Unterbrechung des Verkehrs oben darüber. Das merkwürdigste Ingenieur-Kunststück ward aber bei Ausführung der Mittel-Cloake über der unterirdischen Metropolitan-Eisenbahn hin glücklich vollendet. Der Tunnel besteht hier aus einem Aquäduct von Gußeisen mit 150 Fuß Spannung, 2800 Centner von Gewicht. Da er wegen des Falles blos zwei und einen halben Zoll über dem unterirdischen Eisenbahntunnel hinweggelegt werden mußte und der Verkehr der Eisenbahn darunter nicht gestört werden sollte, wurde jene gigantische Eisenröhre zunächst fünf Fuß über ihrer nothwendigen Lage auf ein ebenso gigantisches Rüstwerk gelegt und dann vermittelst der Gewalt „hydraulischer Böcke“ erst in die richtige Lage hinuntergetrieben. Ja, diese zweiundachtzig Meilen langen tunnelirten Mauerwerke unter Straßen und Häusern, unter Flüssen, Canälen, über und unter Eisenbahnen hin bilden eine lange Heldengeschichte unterirdischer Ingenieurkunst.

Der Nord-Mittel-Tunnel drainirt über siebenzehn Geviertmeilen der Stadt und läuft vom Nordwesten unter den mittleren Theilen Londons, unter Eisenbahnen und Canälen hin nach der nordöstlichen Vorstadt Bow, wo er sich in den Hoch-Tunnel ergießt. Der Tief-Tunnel drainirt außer den vierzehn Quadratmeilen seines Terrains in der Stadt noch über elf Geviertmeilen der westlichen Vorstädte und mußte in dem Stadttheile Chelsea so tief gesenkt werden, daß sein Inhalt, um an der Themse hinunter wieder Fall zu bekommen, mit Dampfmaschinen in das obere Ende des Tief-Tunnels gepumpt wird. Ein Theil davon macht das noch nicht vollendete Innere der großartigen granitnen Einuferung der Themse aus, die vom Parlamentsgebäude bis in die Gegend der Paulskirche eine lange, prächtige Terrasse bis 450 Fuß breit am nördlichen Ufer entlang bilden wird, oben heiter und prächtig durch Park- und Blumenanlagen, macadamisirte Fahr- und kiesige Fußwege mit Palästen und Villen an der Seite, und unten belebt durch ewigen, dichten Omnibus-Dampfschiff-Verkehr, im Innern außer durch den Cloaken-Tunnel und anderes Geäder durch eine unterirdische Eisenbahn minirt, die in allen Richtungen zum Theil unter einander hin theils gegraben werden, theils projectirt sind. Dieser Theil des großen Cloakensystems ist noch nicht fertig, weil das Einuferungswerk erst bis zu einem gewissen Grade vollendet sein muß. Man arbeitet aber an beiden mit vielen Tausenden von Menschen- und Dampfpferdekräften.

Jenseits des Einuferungswerkes läuft dieser Tunnel bis nach dem Tower hinunter neben einer neuen unterirdischen, der „Inner-Cirkel“-Eisenbahn hin bis nach der Haupt-Pumpstation, wo der Inhalt sechsunddreißig Fuß hoch gehoben werden muß, damit man ihn dann wieder weiter abwärts fördern kann. Ein anderer hier ausmündender Tunnel fließt in ein Pumpwerk, das mit 1,140 Pferdekraft die hier zusammenströmende Flüssigkeit, und zwar 15,000 Cubikfuß pro Minute, 36 Fuß hoch pumpt. Es ist die „Abbey-Mühlen“-Station, das größte Dampf-Pumpwerk. Dies und alle anderen sind großartige Kunstwerke, um das riesige Adersystem der Auffange-Cloaken in ihrem unter Thal und Hügel und den verschiedensten Hebungen und Senkungen des Terrains immer abwärts gerichteten Laufe an allen Stellen, wo die unterirdische Vertiefung nicht fortgesetzt werden kann, durch Mechanik und Dampf fünfzehn bis vierzig Fuß zu heben, von welchen Höhen dann dem natürlichen Laufe der Flüssigkeiten der Weg bis zum Ende wieder freisteht.

Man wird leicht begreifen, daß auf diese Weise alle Schwierigkeiten der Terrainbildung überwunden werden können und man im Stande sein würde, diese Flüssigkeiten sogar bergauf laufen zu lassen. Man brauchte nur jedesmal, so oft die betreffende Cloake in aufsteigendem Terrain nicht mehr in schiefer Ebene abwärts gelegt werden könnte, immer ein Pumpwerk anzulegen und den Strom in die Höhe zu heben, um ihn dann wieder in dem Cloaken-Tunnel abwärts zu leiten, bis eine neue künstliche Hebung nothwendig würde. Wie man auf diese Weise hügeliges Terrain entwässern kann, so würden sich Ebenen, wie z. B. die Berlins, noch leichter drainiren lassen, so daß der seit Jahren wiederholte Einwand, in dem ebenen Berlin gehe so Etwas gar nicht an, auf der größten Unwissenheit und Feigheit des Unternehmungsgeistes beruht.

Die Süd- und Surrey-Seite Londons liegt zum Theil viel tiefer, als der Spiegel der Themse und wurde manchmal ziemlich stark überfluthet, abgesehen davon, daß Feuchtigkeit und Wasser nicht selten in Souterrains und Parterres von unten auf drang. Deshalb waren hier für die neuen Auffange-Cloaken mancherlei besondere Vorkehrungen nöthig, die aber nur für Ingenieurs von Fach besonderes Interesse haben und sich ohne Zeichnungen und weitläufige Auseinandersetzungen nicht gut allgemein verständlich machen lassen. Wir beschränken uns deshalb auf allgemeine Angaben.

Der Hochtunnel auf dieser Seite drainirt zwanzig Quadratmeilen und schließt eine Menge südliche und südöstliche Vororte ein. Die Länge beträgt blos vier und eine halbe Meile, die Tiefe stellenweise bis fünfunddreißig Fuß unter der Oberfläche. Der Tieftunnel drainirt ebenfalls zwanzig Quadratmeilen, die zum Theil fünf bis sechs Fuß tiefer liegen, als die Fluth-Themse. Für diese Theile hatte das jetzige Cloakensystem den Werth, als wären sie zwanzig Fuß höher gelegen, abgesehen von den sonstigen gesundheitlichen Wirkungen. Die Länge dieses Tunnels beträgt zehn Meilen und die Weite steigt von vier bis zwölf Fuß Durchmesser. Der unterirdische Weg, den er zurücklegt, sinkt unter Woolwich bis zu achtzig Fuß unter der Oberfläche. Die große Arsenal- und Maritim-Vorstadt wurde in ganzer Länge in dieser Tiefe unterminirt, ohne daß oben Jemand Etwas davon bemerkte. Die Dampf-Pumpwerke auf dieser Seite heben die Flüssigkeiten dieser Cloaken-Tunnels von zehn bis dreißig Fuß und zwar an der Hauptstelle 10,000 Cubikfuß in der Minute. Auch die Einrichtungen, durch welche ungewöhnlichen Regenmassen und schweren Platzregen im Falle zu großer, plötzlicher Anhäufung Auswege geboten werden, sind in technischer Hinsicht höchst interessant, allein eine eingehende Beschreibung würde hier zu weit führen.

Das Bild von diesem dreizehnhundert Meilen langen unterirdischen Reinigungs-Geäder mit den neuen, aus 318,000,000 Steinen gemauerten, 82 Meilen langen Pfort-Adern, die täglich bis 63,000,000 Cubikfuß unreine Säfte ableiten (mit Regenwasser und in Rücksicht auf vermehrte Bevölkerung) – dieses Bild wird nur vollständig, wenn man sich mehrere Tausend Meilen Gas-, mehrere tausend Meilen Reinwasserröhren, unterirdische Luftröhren für „pneumatischen“ Postverkehr, unzählige elektrische Drahtleitungen, mehrere unterirdische Canäle und fertige, alle fünf Minuten hin und herdonnernde und eine Menge im Bau begriffene unterirdische Eisenbahnen hinzudenkt. Das Städteungeheuer London ist unter der Erde beinahe großartiger, als auf dem Boden. Im Innern unten circulirt eine ungeheure Masse Venen und Arterien und Verkehrsblut. Aber drüber, über dem Straßenverkehr, fehlt’s freilich auch nicht. Die Bogen, auf denen sich Verbindungs-Eisenbahnen über Häuser und Straßen hinschwingen, zählen sich nach vielen Hunderten und vermehren sich täglich. An diesen Bahnen hin ziehen sich dichte Reihen von elektrisch lebendigen Drähten. Dazu kommen die Stadtpost-und Privat-Telegraphendrähte, die an manchen Stellen die Stadt so dicht übersponnen haben, daß man wie durch ein Sieb in den Himmel hineinsieht. Alles unter, in, auf und über London ist intensivste, massenhafteste Circulation. Verkehrs- und Lebensblut-Bewegung in civilisirtester, fieberhafter Heftigkeit und Schnelligkeit. Diese massenhaft pulsirenden Säfte und Kräfte schlagen elektrisch in Dampf- und Segelschiffen fortwährend nach aller Welt hinaus bis in die fernsten Häfen und Länder und wallen und pochen eben so regelmäßig in dieses Herz der Welt zurück.

In Bezug auf Verkehrsbewegung, ideelle und materielle Circulation und Communication war London schon längst Muster für alle Welt. Es war auch schon vorher, medicinisch-statistisch erwiesen, die gesundeste Großstadt der Erde. Nach Vollendung dieses Riesenwerkes für fortwährende Reinigung aller Lebenssäfte wird die Sterblichkeit noch tiefer sinken und jeder der 318,000,000 Steine zum Brod für verlängertes, gesunderes Leben werden, während wir in Deutschland für Vernachlässigung öffentlicher Gesundheitsbedingungen immer theurer mit unserem Leben zahlen.
H. B.